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Hans Albert Richard

Gunter Kullmer

Biomechanik
Anwendungen mechanischer
Prinzipien auf den menschlichen
Bewegungsapparat
2. Auflage
Biomechanik
Hans Albert Richard · Gunter Kullmer

Biomechanik
Anwendungen mechanischer Prinzipien
auf den menschlichen Bewegungsapparat
2. Auflage

Unter Mitwirkung von Dr. med. Dietrich Nöcker


Hans Albert Richard Gunter Kullmer
Fakultät für Maschinenbau – FAM Fakultät für Maschinenbau – FAM
Universität Paderborn Universität Paderborn
Paderborn, Deutschland Paderborn, Deutschland

ISBN 978-3-658-28332-2 ISBN 978-3-658-28333-9 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-658-28333-9

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Lektorat: Thomas Zipsner

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Vorwort

Das vorliegende Lehr- und Übungsbuch „Biomechanik“ mit anwendungsnahen Beispielen und
Übungsaufgaben beschäftigt sich insbesondere mit der Anwendung der Technischen Mechanik
auf den menschlichen Bewegungsapparat.
Unter dem Motto „Lasst Bilder und Skizzen sprechen“ werden zunächst in einem Anfangska-
pitel Definitionen sowie Aufgaben und Fragestellungen der Biomechanik dargestellt und for-
muliert. Dies soll die Motivation, sich mit dem Inhalt des Buches auseinander zu setzen, erhö-
hen und es dem Leser von Anfang an ermöglichen, auch notwendige Details in einem Gesamt-
zusammenhang zu sehen. Erst nach diesem Anfangskapitel werden dann alle wesentlichen
Grundlagen und ihre Anwendungen dargestellt.
Diese Vorgehensweise hat sich in zahlreichen Lehrveranstaltungen, welche von den Autoren
an der Universität Paderborn gehalten werden, bewährt. Sie führt zu einer hohen Aufmerk-
samkeit von Beginn an und einer aktiven Mitwirkung der Studierenden in Vorlesungen und
Übungen.
Zunächst beschäftigt sich dieses Buch mit der Statik des Stützapparats des Menschen, mit der
Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats sowie der Kinematik und Kinetik der Bewegun-
gen. D. h. die wesentlichen Grundlagen der Mechanik werden kurz und allgemeinverständlich
dargestellt und finden dann Anwendung auf den menschlichen Bewegungsapparat. Zahlreiche
besonders hervorgehobene Beispiele vertiefen den Stoff. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich
mit dem Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats. Hier werden
die Eigenschaften und die biomechanischen Funktionen der Knochen, Bänder, Sehnen und
Muskeln sowie die Anatomie und Funktion der Gelenke beschrieben. Sehr anwendungsnah ist
auch das Kapitel „Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats“. Dabei steht insbeson-
dere die Anwendung der Finite-Elemente-Methode  diese gehört im Ingenieurbereich zu
einem Standardwerkzeug  auf biomechanische Vorgänge, wie z. B. die Ermittlung von Be-
wegungen und Kraftwirkungen beim Kniegelenk im Vordergrund. Das abschließende Kapitel
„Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin“ beschäftigt sich unter anderem
mit Wurf- und Stoßbewegungen in der Leichtathletik, Fahrradfahren bei Windstille, Rücken-
und Gegenwind, präoperativen Studien, Knochenbrüchen und ihrer Heilung, der Entwicklung
eines künstlichen Kniegelenks und weiteren Praxisbeispielen.
Dieses fachübergreifende Buch wendet sich an Studierende der Ingenieurwissenschaft und
angrenzender Gebiete, sowie an in der Praxis tätige Ingenieure und Naturwissenschaftler, die
ihre Kenntnisse in den Naturwissenschaften oder ihr Ingenieurwissen zur Lösung von biome-
chanischen oder medizinischen Fragestellungen nutzen wollen.
Das Buch soll aber auch als zuverlässiger Ratgeber für Medizin- und Sportstudenten sowie für
in der Lehre oder in der Praxis tätige Mediziner und Sportwissenschaftler dienen. Insbesondere
Orthopäden oder Orthopädietechniker finden in diesem Buch viele grundlegende Anregungen.
Die Biomechanik ist nicht allein durch das Lesen dieses Buches erlernbar. Notwendig sind das
selbständige Bearbeiten und Lösen von Fragestellungen. Dieses Buch versteht sich daher auch
als Arbeitsanleitung. Die zahlreichen Beispiele können und sollen vom Leser nachvollzogen
werden, um somit den eigenen Kenntnisstand zu überprüfen.
VI Vorwort zur 2. Auflage

In diesem Sinne wünschen wir dem Leser viel Freude beim Erlernen und Nachvollziehen der
Grundlagen der Biomechanik und beim Anwenden der in diesem Buch beschriebenen Konzep-
te und Methoden.
Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Herrn Dr. med. Dietrich Nöcker, Paderborn, für die wert-
vollen Ideen und Anregungen und die konstruktiven Diskussionen. Herrn Dipl.-Ing. Andre
Riemer danken wir für das Zeichnen der Bilder und das Übertragen der Texte und Formeln in
das Manuskript sowie für die zahlreichen Anregungen zur Buchgestaltung. Danken möchten
wir auch Frau Dipl.-Ing. Cornelia Glaschick, Frau Dipl.-Ing. Melanie Stephan, Frau Dipl.-Ing.
Annika Schneider, Frau cand. Ing. Nicole Löseke sowie allen derzeitigen und ehemaligen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fachgruppe Angewandte Mechanik der Universität
Paderborn für die Unterstützung dieses Projektes.
Unser Dank gilt insbesondere auch der Stiftung Westfalen, Paderborn (Stifter: Heinz Nixdorf)
für die Förderung zahlreicher in diesem Buch zusammengefasster Forschungsarbeiten.
Danken möchten wir dem Verlag Springer Vieweg für die gewährte Unterstützung und insbe-
sondere Herrn Thomas Zipsner für das Lektorat und die wertvollen Hinweise.

Paderborn, Dezember 2012 Hans Albert Richard und Gunter Kullmer

Vorwort zur 2. Auflage

Die positive Resonanz auf die 1. Auflage hat uns dazu bewogen, das Grundkonzept des Fach-
und Lehrbuchs „Biomechanik“ konsequent fortzusetzen. Wir sind dankbar für die Hinweise,
die dazu führten, dass einige kleine Fehler beseitigt werden konnten. Aufgrund von Anregun-
gen wurde das Kapitel „Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin“ um das
Unterkapitel „Optimierung der Tritttechnik beim Fahrradfahren“ erweitert.
Danken möchten wir dem Verlag Springer Vieweg für die vorzügliche Unterstützung und
insbesondere Herrn Thomas Zipsner für das Lektorat und die wertvollen Hinweise. Dem Leser
wünschen wir viel Erfolg beim Anwenden der Biomechanik.

Paderborn, September 2019 Hans Albert Richard und Gunter Kullmer


Inhaltsverzeichnis

1 Biomechanik – Definitionen, Aufgaben und Fragestellungen ....................................... 1


1.1 Definition der Biomechanik ....................................................................................... 1
1.2 Grundaufbau des menschlichen Bewegungsapparats ................................................. 1
1.2.1 Passiver Bewegungsapparat oder Skelettsystem ........................................... 2
1.2.2 Aktiver Bewegungsapparat oder Muskelsystem ........................................... 3
1.2.3 Lage- und Richtungsbeschreibung beim Bewegungsapparat ........................ 4
1.2.4 Beschreibung der Relativbewegungen beim Bewegungsapparat .................. 5
1.2.5 Gewichtsanteile des menschlichen Körpers .................................................. 7
1.3 Aufgaben der Biomechanik ........................................................................................ 8
1.4 Einteilung der Biomechanik ....................................................................................... 8
1.5 Spezielle Fragestellungen der Biomechanik ............................................................... 9
1.6 Schwerpunkte und Inhalte des Buchs ....................................................................... 13
Literatur zu Kapitel 1......................................................................................................... 14

2 Statik des Stützapparates ............................................................................................... 15


2.1 Kräfte und ihre Wirkungen....................................................................................... 15
2.1.1 Äußere Kräfte, wirkende Lasten.................................................................. 16
2.1.2 Reaktionskräfte und innere Kräfte............................................................... 21
2.1.3 Axiome der Statik ........................................................................................ 22
2.1.4 Zerlegung einer Kraft in verschiedene Richtungen ..................................... 25
2.1.5 Zerlegung einer Kraft in Komponenten....................................................... 26
2.1.6 Rechnerische Ermittlung der resultierenden Kraft eines ebenen
Kräftesystems .............................................................................................. 27
2.1.7 Rechnerische Ermittlung der resultierenden Kraft eines räumlichen
Kräftesystems .............................................................................................. 29
2.2 Momente und ihre Wirkungen.................................................................................. 31
2.2.1 Moment einer Kraft ..................................................................................... 31
2.2.2 Vektordarstellung eines Momentes ............................................................. 32
2.2.3 Ermittlung des Moments einer ebenen Kräftegruppe .................................. 33
2.2.4 Ermittlung des Momentes einer räumlichen Kräftegruppe.......................... 35
2.2.5 Moment eines Kräftepaars ........................................................................... 36
2.3 Gleichgewichtsbedingungen..................................................................................... 37
2.3.1 Gleichgewichtsbedingungen für ebene Probleme ....................................... 37
2.3.2 Gleichgewichtsbedingungen für räumliche Probleme ................................. 38
2.4 Schwerpunkt ............................................................................................................. 39
2.4.1 Schwerpunkt eines Körpers ......................................................................... 39
2.4.2 Schwerpunkt des Menschen bei verschiedenen Körperhaltungen............... 41
2.4.3 Schwerpunkte von Flächen.......................................................................... 43
2.5 Bewegungsapparat als mehrteilige Struktur ............................................................. 46
2.5.1 Passiver Bewegungsapparat ........................................................................ 46
2.5.2 Aktiver Bewegungsapparat ......................................................................... 46
2.5.3 Grundstrukturen der Statik .......................................................................... 47
2.5.4 Gelenke ........................................................................................................ 49
VIII Inhaltsverzeichnis

2.6 Wechselwirkung des Bewegungsapparats mit der Umgebung ................................. 50


2.6.1 Grundlegende Lagerungsarten der Technischen Mechanik......................... 50
2.6.2 Freiheitsgrade, stabile Lagerung und statische Bestimmtheit von
Tragwerken und Körpern ............................................................................ 52
2.6.3 Stützen und Halten beim menschlichen Bewegungsapparat ....................... 53
2.6.4 Haftung, Haftreibung ................................................................................... 54
2.6.5 Gleitreibung ................................................................................................. 56
2.7 Bestimmung von Reaktions- und Kontaktkräften bei einteiligen Systemen ............ 57
2.7.1 Abstrahieren des Systems und Freischnitt ................................................... 57
2.7.2 Ermittlung der Auflagerreaktions- bzw. Haltekräfte mittels der
Gleichgewichtsbedingungen ........................................................................ 58
2.8 Bestimmung von Reaktions- und Zwischenreaktionskräften bei mehrteiligen
Systemen................................................................................................................... 59
2.8.1 Freiheitsgrade, stabile Lagerung und statische Bestimmtheit mehrteiliger
Systeme ........................................................................................................ 59
2.8.2 Freischnitt des Gesamtsystems .................................................................... 61
2.8.3 Freischnitt von Teilsystemen ....................................................................... 61
2.8.4 Ermittlung von Reaktions- bzw. Kontaktkräften und Gelenkkräften .......... 61
2.8.5 Hypothesen zur Berechnung von Stütz- und Haltekräften beim
menschlichen Bewegungsapparat ................................................................ 62
2.9 Bestimmung von inneren Kräften, Schnittgrößen .................................................... 63
2.9.1 Schnittprinzip nach EULER/LAGRANGE ................................................. 63
2.9.2 Ermittlung der Schnittgrößen ...................................................................... 64
2.10 Standfläche und Standsicherheit ............................................................................... 75
2.10.1 Definition der Standfläche ........................................................................... 75
2.10.2 Standsicherheit............................................................................................. 76
2.11 Räumliche Kräftesysteme ......................................................................................... 77
Literatur zu Kapitel 2 ......................................................................................................... 78

3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats .............................................................. 79


3.1 Statik, Elastostatik, Festigkeitslehre ......................................................................... 79
3.1.1 Statik ............................................................................................................ 79
3.1.2 Elastostatik................................................................................................... 79
3.1.3 Festigkeitslehre ............................................................................................ 79
3.2 Belastungs- und Verformungsarten .......................................................................... 80
3.3 Spannungen .............................................................................................................. 81
3.3.1 Beanspruchung durch Normalkräfte bei Zugbelastung ............................... 81
3.3.2 Beanspruchung durch Normalkräfte bei Druckbelastung ............................ 83
3.3.3 Beanspruchung durch Normalkräfte, Querkräfte und Biegemomente......... 84
3.3.4 Beanspruchung durch Torsionsmomente .................................................... 87
3.4 Verformungen........................................................................................................... 88
3.4.1 Verformungen bei einachsigem Zug ........................................................... 89
3.4.2 Verformungen durch Schubbelastungen...................................................... 90
3.4.3 Allgemeine Formänderungen: Verzerrungen .............................................. 90
3.4.4 Stoffgesetze ................................................................................................. 91
3.4.5 Längenänderungen und Federkonstanten von Seilen und Stäben ............... 92
3.4.6 Durchbiegungen von Balken ....................................................................... 93
3.4.7 Verdrehungen infolge Torsionsbelastungen ................................................ 94
Inhaltsverzeichnis IX

3.5 Kombinationen von Belastungen ............................................................................. 96


3.5.1 Überlagerungen von Normalspannungen .................................................... 96
3.5.2 Überlagerung von Normal- und Schubspannungen .................................... 96
3.6 Federschaltung elastischer Systeme ....................................................................... 106
3.6.1 Reihenschaltung elastischer Systeme ........................................................ 107
3.6.2 Parallelschaltung elastischer Systeme ....................................................... 107
Literatur zu Kapitel 3....................................................................................................... 108

4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen .................................................................... 109


4.1 Idealisierungen ....................................................................................................... 109
4.1.1 Massenpunkt .............................................................................................. 109
4.1.2 Massenpunktsystem ................................................................................... 110
4.1.3 Starrer Körper ............................................................................................ 110
4.2 Einteilung der Bewegungen ................................................................................... 111
4.3 Kinematik des Massenpunktes ............................................................................... 111
4.3.1 Bewegungsbahn......................................................................................... 111
4.3.2 Geschwindigkeit ........................................................................................ 112
4.3.3 Beschleunigung ......................................................................................... 113
4.3.4 Geradlinige Bewegung .............................................................................. 114
4.3.5 Bestimmung von Geschwindigkeit und Beschleunigung aus bekannter
Weg-Zeit-Beziehung ................................................................................. 114
4.3.6 Bestimmung von Geschwindigkeit und Weg aus gegebener
Beschleunigung ......................................................................................... 118
4.4 Kinematik des starren Körpers ............................................................................... 126
4.4.1 Freiheitsgrade eines starren Körpers ......................................................... 126
4.4.2 Translation ................................................................................................. 127
4.4.3 Rotation ..................................................................................................... 128
4.5 Kinetik des Massenpunktes .................................................................................... 130
4.5.1 Axiome der Dynamik ................................................................................ 131
4.5.2 NEWTONsches Grundgesetz in kartesischen Koordinaten ...................... 132
4.6 Kinetik des starren Körpers .................................................................................... 132
4.6.1 NEWTONsches Grundgesetz für den starren Körper bei Translation,
Schwerpunktsatz ........................................................................................ 132
4.6.2 NEWTONsches Grundgesetz für starre Körper bei Rotation.................... 133
4.6.3 Massenträgheitsmomente einzelner starrer Körper ................................... 134
4.6.4 NEWTONsche Grundgleichungen für allgemeine ebene Bewegungen .... 135
4.6.5 Anwendungen der NEWTONschen Grundgleichungen ........................... 135
4.6.6 Impulssatz .................................................................................................. 141
4.6.7 Arbeit, Leistung, Energie .......................................................................... 141
Literatur zu Kapitel 4....................................................................................................... 146

5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats ............. 147


5.1 Aufbau und Eigenschaften der Knochen ................................................................ 147
5.1.1 Funktion der Knochen ............................................................................... 147
5.1.2 Mikroskopischer Aufbau der Knochen ..................................................... 148
5.1.3 Aufbau der Kortikalis ................................................................................ 150
5.1.4 Aufbau der Spongiosa ............................................................................... 150
5.1.5 Makroskopischer Aufbau der Knochen ..................................................... 151
X Inhaltsverzeichnis

5.1.6 Formen von Knochen ................................................................................ 152


5.1.7 Materialeigenschaften der Knochensubstanzen ......................................... 153
5.2 Anatomie und Funktionsweise der Gelenke ........................................................... 158
5.2.1 Einteilung der Gelenke .............................................................................. 158
5.2.2 Aufbau und Einteilung der Synarthrosen .................................................. 158
5.2.3 Aufbau der Diarthrosen ............................................................................. 159
5.2.4 Einteilung der Diarthrosen oder echten Gelenke ....................................... 160
5.3 Aufbau und Eigenschaften der Bänder und Sehnen ............................................... 162
5.3.1 Funktion der Bänder .................................................................................. 163
5.3.2 Funktion der Sehnen .................................................................................. 164
5.4 Aufbau und Eigenschaften der Muskeln ................................................................ 165
5.4.1 Einteilung der Muskulatur ......................................................................... 166
5.4.2 Funktion der Skelettmuskeln ..................................................................... 166
5.4.3 Aufbau der Skelettmuskeln........................................................................ 167
5.4.4 Formen der Skelettmuskeln ....................................................................... 168
5.4.5 Zusammenhang zwischen Muskelfaseranordnung und Leistung der
Skelettmuskeln........................................................................................... 170
5.5 Aufbau und Funktionsweise des Kniegelenks ........................................................ 175
5.5.1 Anatomie des Kniegelenks ........................................................................ 175
5.5.2 Menisken des Kniegelenks ........................................................................ 176
5.5.3 Bandapparat des Kniegelenks .................................................................... 177
5.5.4 Kinematik des Kniegelenks ....................................................................... 178
5.5.5 Belastung des Kniegelenks ........................................................................ 179
5.5.6 Alternative Betrachtung der Biomechanik des Kniegelenks ..................... 180
5.6 Anpassung des Bewegungsapparats an die mechanische Belastung ...................... 190
5.6.1 Gestaltung der Lasteinleitung in die tragenden Elemente ......................... 190
5.6.2 Anpassung der Gestalt eines tragenden Elements an die typische
Belastung ................................................................................................... 196
5.6.3 Anpassung der Werkstoffeigenschaften an die lokale Beanspruchung ..... 203
Literatur zu Kapitel 5 ....................................................................................................... 205

6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats ................................................... 209


6.1 Prinzipielles Vorgehen bei Finite-Elemente-Berechnungen ................................... 209
6.2 Modellerstellung und Festlegung der Randbedingungen ....................................... 210
6.3 Modellierung der Materialkennwerte ..................................................................... 211
6.4 Erstellung von FE-Netzen aus CT-Daten ............................................................... 212
6.4.1 Allgemeine Bemerkungen zu CT-Daten.................................................... 213
6.4.2 Ermittlung der Knochengeometrie aus radiologischen Bilddaten ............. 214
6.4.3 FAMGoFEG: Geometrieorientierte FE-Netzgenerierung ............................ 215
6.4.4 FAMVoFEG: Voxelorientierte FE-Netzgenerierung ................................... 217
6.5 Beispiele für FE-Spannungsanalysen ..................................................................... 219
6.5.1 Analyse für ein Kniegelenk ....................................................................... 219
6.5.2 Analyse für ein Hüftgelenk........................................................................ 223
6.6 Simulation der Kniebeuge mit FE-Kontaktanalysen .............................................. 225
6.7 Bewegungsstudien am ebenen Kniemodell ............................................................ 227
6.7.1 Modellbildung ........................................................................................... 227
6.7.2 Definition der Randbedingungen............................................................... 230
6.7.3 Durchführung der FE-Analyse .................................................................. 231
Inhaltsverzeichnis XI

6.7.4 Ergebnisse der FE-Analysen mit ebenem Kniemodell .............................. 232


6.8 Bewegungsstudien am räumlichen Kniemodell ..................................................... 238
6.8.1 Modellbildung ........................................................................................... 239
6.8.2 Definition der Randbedingungen .............................................................. 240
6.8.3 Durchführung der FE-Analyse .................................................................. 241
6.8.4 Auswertung der Ergebnisse ....................................................................... 241
6.8.5 Entwicklung eines räumlichen Kniegelenkmodells auf der Basis der
Hüllflächentheorie ..................................................................................... 244
Literatur zu Kapitel 6....................................................................................................... 248

7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin ................................. 251


7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports ................................. 251
7.1.1 Wurf- und Stoßbewegungen in der Leichtathletik .................................... 251
7.1.2 Fahrradfahren bei Windstille, Rücken- und Gegenwind ........................... 254
7.1.3 Optimierung der Tritttechnik beim Fahrradfahren .................................... 261
7.2 Untersuchung von Heilungsmaßnahmen sowie von Bewegungs- und
Heilungshilfen ........................................................................................................ 278
7.2.1 Betrachtung von REHA-Maßnahmen nach Implantation eines
künstlichen Hüftgelenks ............................................................................ 278
7.2.2 Knochenbrüche und ihre Heilung .............................................................. 284
7.2.3 Entwicklung eines künstlichen Kniegelenks ............................................. 290
7.2.4 Präoperative Studien für einen Unterarm .................................................. 294
Literatur zu Kapitel 7....................................................................................................... 297

Sachwortverzeichnis .............................................................................................................. 300


1 Biomechanik – Definitionen, Aufgaben und Frage-
stellungen

Dieses Lehr- und Übungsbuch „Biomechanik“ beschäftigt sich insbesondere mit den Grundla-
gen der Mechanik und den Anwendungen auf den menschlichen Bewegungsapparat. Bevor mit
der Vermittlung des Basiswissens durch Theorie, anwendungsnahe Beispiele und Übungsauf-
gaben begonnen wird, werden zunächst die verschiedenen Ausprägungen der Biomechanik
erläutert und definiert. Daran schließt sich eine Kurzbeschreibung des Grundaufbaus des
menschlichen Bewegungsapparats an, damit bei der Vermittlung der Grundlagen der Mechanik
bereits auf den Stütz- und Bewegungsapparat des Menschen Bezug genommen werden kann.
Die Aufgaben und die Einteilung der Biomechanik werden in weiteren Kapiteln erläutert. Das
Unterkapitel „Spezielle Fragestellungen der Biomechanik“ soll das Interesse an den weiteren
Inhalten des Buches wecken und es ermöglichen, die notwendigen Details bei der Vermittlung
der Grundlagen in einem Gesamtzusammenhang zu sehen. Die Schwerpunkte und Inhalte der
weiteren Kapitel werden daran anschließend zusammenfassend dargestellt.

1.1 Definition der Biomechanik


Die Biomechanik als fachübergreifende Disziplin hat viele Ausprägungen und Spezialgebiete.
Daher ist es auch schwierig, eine alles umfassende Definition zu geben. In unterschiedlichen
Fachbüchern zur Biomechanik sind, je nach fachlicher Ausrichtung des Autors, verschiedene
Definitionen, bei denen bestimmte Aspekte hervorgehoben werden, zu finden [1-1 bis 1-4]. Da
sich biomechanische Untersuchungen im Allgemeinen mit Menschen, Tieren oder Pflanzen
aber auch mit Zellen beschäftigen, lässt sich die Biomechanik wie folgt definieren:
„Die Biomechanik ist die Anwendung mechanischer Prinzipien auf biologische
Systeme, biologisches Gewebe und medizinische Probleme.“
Nach Kummer [1-4] gehört zu den Aufgaben der Biomechanik auch, dass die Reaktionen eines
Organismus auf mechanische Belastung, die sich z. B. in Form von Anpassungsprozessen
äußern, betrachtet werden.
Im Mittelpunkt dieses Buches steht die Anwendung der Festkörpermechanik auf den mensch-
lichen Stütz- und Bewegungsapparat.

1.2 Grundaufbau des menschlichen Bewegungsapparats


Der menschliche Bewegungsapparat ist die Gesamtheit der Knochen, Gelenke, Bänder und
Skelettmuskeln mit ihren Hilfseinrichtungen wie Sehnen, Sehnenscheiden und Schleimbeuteln.
Es wird unterschieden zwischen dem passiven Bewegungsapparat oder Skelettsystem und dem
aktiven Bewegungsapparat oder Muskelsystem.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
H. A. Richard und G. Kullmer, Biomechanik,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-28333-9_1
2 1 Biomechanik – Definitionen, Aufgaben und Fragestellungen

1.2.1 Passiver Bewegungsapparat oder Skelettsystem


Zu dem passiven Bewegungsapparat oder Skelettsystem gehören die Knochen, die Bänder und
die Gelenke, Bild 1-1. Knochen und Bänder sind lastübertragende Elemente, die für die Statik
des Bewegungsapparats verantwortlich sind und bis auf kleine, elastische Verformungen ihre
Gestalt bzw. Länge auch unter Belastung beibehalten. Gelenke sind besondere Anordnungen
der gelenkbildenden Knochen und Bänder, die bestimmte Bewegungsmöglichkeiten des passi-
ven Bewegungsapparats erlauben. Einige für die Bewegung des Menschen wesentliche Gelen-
ke und Knochen sind in Bild 1-1 bezeichnet. Im Schulter- sowie dem Ellenbogengelenk findet
die Armbewegung und im Hüft- sowie dem Kniegelenk die Beinbewegung statt. Die Knochen,
aus denen diese Gelenke gebildet werden, sind für das Schultergelenk das Schulterblatt sowie
der Oberarmknochen, für das Ellbogengelenk der Oberarmknochen sowie die beiden Unter-
armknochen Elle und Speiche, für das Hüftgelenk das Hüftbein sowie der Oberschenkelkno-
chen und für das Kniegelenk der Oberschenkelknochen, das Schienbein sowie die Knieschei-
be.

Schädel (Cranium)
Schultergelenk
(Articulatio humeri)
Schlüsselbein (Clavicula)
Schulterblatt (Scapula)
Brustbein (Sternum)
Ellenbogengelenk Oberarmknochen (Humerus)
(Articulatio cubiti)
Rippe (Costa)
Wirbelsäule (Columna vertebralis)
Hüftgelenk
(Articulatio coxae) Elle (Ulna)
Speiche (Radius)
Kreuzbein (Sacrum)

Hüftbein (Os coxae)


Kniegelenk Oberschenkelknochen (Femur)
(Articulatio genu)
Kniescheibe (Patella)

Schienbein (Tibia)

Wadenbein (Fibula)

Bild 1-1 Passiver Bewegungsapparat, Skelett und Gelenke


1.2 Grundaufbau des menschlichen Bewegungsapparats 3

1.2.2 Aktiver Bewegungsapparat oder Muskelsystem


Der aktive Bewegungsapparat besteht aus den Skelettmuskeln und ihren Hilfseinrichtungen,
wie z. B. Sehnen und Sehnenscheiden, Bild 1-2. Muskeln können aktiv ihre Länge und Gestalt
ändern und über Sehnen, die die Verbindung zwischen den Muskeln und den Knochen darstel-
len, Kräfte auf den passiven Bewegungsapparat ausüben. Muskeln dienen der aktiven Bewe-
gung, aber auch der Sicherung der Haltung bzw. Statik des gesamten Körpers [1-4 bis
1-7].

a) b)
Schenkelbinden-
spanner
(Tensor fasciae latae)
Zweiköpfiger Großer Gesäßmuskel
Armmuskel „Bizeps“ (Glutaeus maximus) Äußerer
(Bizeps brachii) Schenkelmuskel
Zweiköpfiger (Vastus lateralis)
Schenkelmuskel
Oberarm- (Bizeps femoris)
Verstärkungszug
speichenmuskel der Schenkelbinde
(Brachioradialis) Fingerbeuger (Tractus iliotibialis)
(Flexor digitorum)
Vorderer
Zwillingswadenmuskel Schienbeinmuskel
(Gastrocnemius) (Tibialis anterior)

Bild 1-2 Aktiver Bewegungsapparat, Muskelsystem und Sehnen


a) Arm in der Vorderansicht
b) Bein in der Außenansicht

Da sich Muskeln aktiv nur verkürzen aber nicht verlängern können, sind für die Ausführungen
der möglichen Bewegungen und der Sicherung eines jeden Gelenks mehrere Muskeln erfor-
derlich. Wird ein Muskel für die Bewegung eines Gelenks eingesetzt, bewegt er nicht nur das
Gelenk, sondern dehnt auch den für die Gegenbewegung verantwortlichen Muskel. In Bild 1-2
sind exemplarisch die wichtigsten Muskeln, die in der Vorderansicht des Arms bzw. in der
Außenansicht des Beins sichtbar sind, dargestellt. Dabei ist der längs des Oberarms angeordne-
te, als „Bizeps“ bekannte, zweiköpfige Armmuskel für die Beugung des Arms und die im Un-
terarm befindlichen Flexoren sind für die Beugung der Finger zuständig. Der als „Quadrizeps“
bekannte, vierköpfige Schenkelstrecker, der im vorderen Bereich des Oberschenkels angeord-
net ist, streckt das Bein im Kniegelenk, während der auf der Rückseite des Oberschenkels
angeordnete zweiköpfige Schenkelmuskel das Kniegelenk beugt. In Bild 1-2 ist von dem vier-
köpfigen Schenkelstrecker mit dem äußeren Schenkelmuskel nur der von der Außenseite
sichtbare Kopf dargestellt. Die Bewegung des Beins im Hüftgelenk erfolgt im Wesentlichen
mit Hilfe des großen Gesäßmuskels, der aber auch zusammen mit dem Schenkelbindenspanner
über den Verstärkungszug der Schenkelbinde für die Statik des Beins und des Hüftgelenks
beim Einbeinstand bzw. beim Gehen zuständig ist.
4 1 Biomechanik – Definitionen, Aufgaben und Fragestellungen

1.2.3 Lage- und Richtungsbeschreibung beim Bewegungsapparat


Zur Beschreibung der Lage und der Bewegung eines Körpers im Raum werden in der Regel
ortsfeste, d. h. mit der Umgebung des Körpers verbundene Koordinatensysteme verwendet.
Typisch hierfür sind kartesische Koordinaten, Bild 1-3. Hierzu werden drei zueinander senk-
recht stehende Achsen x, y und z definiert, die paarweise die ebenfalls zueinander senkrecht
stehenden Koordinatenebenen x-y-Ebene, x-z-Ebene und y-z-Ebene aufspannen. Die Bahn-

kurve ist der Verlauf der Position eines Punktes im Raum und wird mit dem Ortsvektor r , der
in kartesischen Koordinaten mit den Komponenten xp, yp und zp dargestellt werden kann, be-

schrieben. Der Geschwindigkeitsvektor v ist immer tangential zur Bahnkurve gerichtet und
drückt die zeitliche Änderung des Ortsvektors aus.

y x-y-Ebene

y-z-Ebene

v
P
Bahnkurve

yp

r
x
Bild 1-3
p Kartesische Koordinaten zur Beschrei-
xp
bung der Lage und Bewegung eines
z Körpers im Raum
x-z-Ebene

Um die Lage und Ausrichtung von Teilen des menschlichen Bewegungsapparats zu beschrei-
ben, werden dagegen in der Anatomie und deshalb auch in der Biomechanik Achsen- und
Ebenenbezeichnungen verwendet, die fest mit dem menschlichen Körper verbunden sind und
sich auf den aufrecht stehenden Menschen beziehen, Bild 1-4.
Die Longitudinal- bzw. Längsachse, die Sagittalachse und die Transversal- bzw. Frontalachse
sind drei zueinander senkrechte Achsen, die sich im Körperschwerpunkt schneiden. Die
Längsachse verläuft von unten nach oben, die Sagittalachse von hinten nach vorne und die
Frontalachse von links nach rechts. Diese Achsen spannen paarweise die anatomischen Ebenen
auf. Die Ebene, die von der Längs- und der Frontalachse aufgespannt wird, und alle dazu pa-
rallelen Ebenen heißen Frontalebenen. Die Ebene, die von der Längs- und der Sagittalachse
gebildet wird, und alle dazu parallelen Ebenen heißen Sagittalebenen, wobei die mittig liegen-
de Sagittalebene, die den Körper symmetrisch in eine linke und eine rechte Hälfte teilt, auch
als Medianebene bezeichnet wird. Transversalebenen sind die Ebene, die von Frontal- und der
Sagittalachse aufgespannt wird und alle dazu parallelen Ebenen.
Da es sich bei den anatomischen Achsen und Ebenen um ein mit dem Körperzentrum mitbe-
wegtes Koordinatensystem handelt, sind die Lage- und Richtungsangaben unabhängig von der
Position des Körpers relativ zur Umgebung. So ist die Wand eines Raums eine Frontalebene,
wenn ein Mensch mit dem Rücken zur Wand steht, aber auch der Boden des Raums eine Fron-
talebene, wenn der Mensch mit dem Bauch auf dem Boden liegt.
1.2 Grundaufbau des menschlichen Bewegungsapparats 5

Längsachse Sagittalebene
Frontalebene

Schwerpunkt

Transversalebene
S

Sagittalachse
Frontalachse

Bild 1-4
Achsbezeichnungen und
Ebenen beim menschli-
chen Bewegungsapparat

1.2.4 Beschreibung der Relativbewegungen beim Bewegungsapparat


Des Weiteren sind in der Anatomie körperbezogene Richtungsbezeichnungen üblich, die die
Ausrichtung von Teilen des menschlichen Körpers zum Gesamtkörper beschreiben, Bild 1-5.
So sind bei den Armen und den Beinen, die Beschreibungen proximal, zum Rumpf gerichtet,
und distal, vom Rumpf weg gerichtet, üblich, wenn ein bestimmtes Ende einer Gliedmaße oder
eines Teils einer Gliedmaße bezeichnet werden soll. Das proximale Femur ist also das rumpf-
nahe Ende des Oberschenkelknochens mit dem kugelförmigen Hüftkopf und das distale Femur
ist das rumpfferne Ende des Oberschenkelknochens mit den beiden walzenförmigen Gelenk-
flächen, die zum Kniegelenk gehören. Die Ausrichtung des Rumpfs wird in Längsrichtung mit
cranial, zum Kopf gerichtet, und caudal, zum Steiß gerichtet, beschrieben. Eine systematische
Anordnung der wichtigsten Richtungsbezeichnungen ist in Bild 1-5 angegeben.
In den Gelenken des menschlichen Bewegungsapparats sind im Wesentlichen nur Drehbewe-
gungen um eine, zwei oder drei zueinander senkrechte Achsen möglich. In der technischen
Mechanik werden diese möglichen Drehfreiheitsgrade mit Hilfe der Drehachsen in dem Ge-
lenk beschrieben. In der Anatomie und damit auch in der Biomechanik ist es üblich, die Bewe-
gung eines Körperteils relativ zu einem anderen Körperteil, das als ruhend angenommen wird,
zu beschreiben, wobei auch nach der Richtung der Relativbewegung unterschieden wird. Für
die Beschreibung der Drehung um eine Gelenkachse existieren somit zwei Ausdrücke für die
beiden entgegengesetzten Relativbewegungen.
6 1 Biomechanik – Definitionen, Aufgaben und Fragestellungen

anterior vorne
distal entfernt,
vom Rumpf weg
cranial dorsal rückenwärts
proximal ventral caudal fußwärts
lateral cranial kopfwärts
caudal
lateral zur Seite hin
medial dorsal medial zur Mitte hin
distal
proximal nah, zum Rumpf hin
posterior hinten
ventral bauchwärts

proximal
anterior posterior
distal proximal
lateral dorsal ventral
anterior caudal cranial
medial lateral medial
distal posterior

Bild 1-5 Anatomische Richtungsbezeichnungen beim menschlichen Bewegungsapparat

1*
3*
(1*) Abduktion Abspreizung

1 (1) Adduktion Heranführung


3
2 (2*) Extension Streckung
2* (2) Flexion Beugung

(3*) Supination Auswärtsdrehung

(3) Pronation Einwärtsdrehung

1* 1

3* 3

Bild 1-6 Relativbewegungen beim menschlichen Bewegungsapparat


1.2 Grundaufbau des menschlichen Bewegungsapparats 7

So wird bei der Relativbewegung des Unterschenkels zum Oberschenkel zwischen Flexion
und Extension im Kniegelenk unterschieden, wenn das Bein im Kniegelenk gebeugt oder ge-
streckt wird, obwohl in beiden Fällen eine Drehung des Unterschenkels relativ zum Ober-
schenkel um dieselbe Transversalachse des Kniegelenks stattfindet.
Aus biomechanischer Sicht ist es allerdings sinnvoll, die beiden entgegengesetzten Relativbe-
wegungen eines Gelenks separat zu betrachten, weil jeweils unterschiedliche Muskeln zum
Einsatz kommen, während dazu bei einem technischen Gelenk in der Regel nur die Drehrich-
tung des Gelenkantriebs geändert werden muss. Die wesentlichen in der Biomechanik üblichen
Bezeichnungen für die Relativbewegungen beim Bewegungsapparat und ihre Bedeutungen
sind in Bild 1-6 zusammengefasst.

1.2.5 Gewichtsanteile des menschlichen Körpers


Für grundlegende mechanische Betrachtungen von zusammengesetzten technischen Strukturen
werden diese in einzelne starre Teilsysteme oder Teile aufgeteilt und für jedes Teilsystem oder
Teil die Masse und die Lage des Schwerpunkts angegeben. Beim menschlichen Körper kann
diese in der Technik übliche Methode ebenfalls sinnvoll angewendet werden. Dazu wird der
menschliche Körper virtuell in Teile zerlegt. Die Körpergelenke, welche die Gliedmaße mit
dem Rumpf verbinden bzw. die die Beweglichkeit der Gliedmaße ermöglichen, sind die natür-
lichen Verbindungsstellen zwischen den einzelnen Körperteilen.

a) b)
7%
43%

43
3,6% 6,5% 60 40
57
43
2,2% 60
40
57
30
0,7% 43
70
11,4% 18,5%
57 45

43
5,3% 55
57
1,8% 43
57

Bild 1-7 Aufteilung des menschlichen Körpers in Körperteile nach [1-11]


a) Prozentuale Massenanteile der Körperteile bezogen auf die Gesamtmasse des Körpers
b) Prozentualer Anteil des Schwerpunktabstands vom Ende des Körperteils bezogen auf
die Länge des Körperteils
8 1 Biomechanik – Definitionen, Aufgaben und Fragestellungen

Außerdem müssen für die Körperteile die Masse und die Schwerpunktslage bekannt sein. Je
nach Aufgabenstellung kann dabei z. B. ein Bein als ein starres Teilsystem, das sich als Ganzes
im Hüftgelenk relativ zum Rumpf bewegt oder als ein aus starren Einzelteilen, dem Ober-
schenkel, dem Unterschenkel und dem Fuß zusammengesetztes Teilsystem betrachtet werden.
Die dafür notwendigen Teilmassen und Teilkörperschwerpunkte sind in Bild 1-7 angegeben.

1.3 Aufgaben der Biomechanik


Wie bereits erwähnt, hat die Biomechanik vielfältige Ausprägungen und somit auch sehr un-
terschiedliche Aufgaben. Bei alltäglichen, beruflichen und sportlichen Betätigungen ist der
menschliche Stütz- und Bewegungsapparat ständig mechanischen Beanspruchungen ausge-
setzt. Die Aufstellung in Bild 1-8 nennt in diesem Zusammenhang wesentliche Aufgaben der
Biomechanik. Diese Zusammenstellung ist bei weitem nicht vollständig, gibt aber einen Ein-
blick in zahlreiche Aufgabengebiete der Biomechanik.

Aufgaben der Biomechanik

· Untersuchung und Simulation von Bewegungsabläufen

· Ermittlung der Belastungen und Beanspruchungen für den gesunden und den erkrankten
Bewegungsapparat

· Erarbeitung von Hinweisen zur schonenden und effektiven Ausführung von Tätigkeiten

· Erarbeitung von Hinweisen zur optimalen Gestaltung von Haushalts-, Arbeits- und Sportgeräten
sowie von Möbeln

· Prävention von Verletzungen des Bewegungsapparats

· Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit

· Erarbeitung geeigneter Operationstechniken

· Gestaltung bzw. Optimierung von Heilungshilfen und Prothesen

· Erarbeitung geeigneter Rehabilitationsmaßnahmen

Bild 1-8 Wesentliche Aufgaben der Biomechanik

1.4 Einteilung der Biomechanik


Die Biomechanik kann z. B. eingeteilt werden in
 Orthopädische Biomechanik
 Arbeitswissenschaft/Arbeitsphysiologie
 Sportbiomechanik.
Diese Arbeitsgebiete und die dazugehörenden Aufgaben sind in Bild 1-9 dargestellt.
1.5 Spezielle Fragestellungen der Biomechanik 9

Biomechanik

Orthopädische Arbeitswissenschaft /
Sportbiomechanik
Biomechanik Arbeitsphysiologie

· Gang- und Bewegungs- · Humanisierung und · Analyse und Optimierung


analysen Ökonomisierung von Arbeits- sportlicher Bewegungs-
vorgängen im beruflichen und techniken
· Zusammenhang zwischen alltäglichen Leben
mechanischer Belastung und · Entwicklung, Analyse und
orthopädischen Beschwerden · Optimierung des mechanischen Optimierung methodischer
Zusammenwirkens von Mensch Übungen
· Prävention mechanischer und Gerät bzw. Maschine
Überbelastungen des Körpers · Entwicklung und Optimierung
· Gestaltung von Arbeitsplätzen von Sportbekleidung, Sport-
· Rehabilitation nach Verletzun- ausrüstung und Sportgeräten
gen des Bewegungsapparats · Gestaltung von Gebrauchs-
gegenständen für Beruf und · Prävention von Verletzungen
· Mechanische Auswirkungen Alltag infolge Überbeanspruchung
auf den Bewegungsapparat bei und unphysiologischer
Verlust bzw. Funktions- · Unfallverhütung Beanspruchung
einschränkungen von
Körpergliedern · Prävention von Schäden des
Bewegungsapparats durch
· Operationstechniken Berufsausübung

· Entwicklung, Optimierung und · Entwicklung von Robotern


Bau von Orthesen, Prothesen
und Implantaten

Bild 1-9 Einteilung und Arbeitsgebiete der Biomechanik

Diese Übersicht zeigt einzelne Arbeitsgebiete und Aufgaben der Biomechanik auf. Spezielle und
detailliertere Fragestellungen sind beispielhaft im nachfolgenden Kapitel erläutert.

1.5 Spezielle Fragestellungen der Biomechanik


Bevor die Grundlagen, Methoden und Anwendungen der Biomechanik im Einzelnen beschrieben
werden, sollen bestimmte Arbeitsgebiete im Folgenden anhand von konkreten Fragestellungen
erläutert werden. Dieses Kapitel soll das Interesse wecken, sich mit dem weiteren Inhalt des
Buches auseinander zu setzen und auch notwendige Details in einem Gesamtzusammenhang zu
sehen. Die hier gestellten Fragen werden in den nachfolgenden Kapiteln und in zahlreichen an-
wendungsnahen und auch abstrakten Beispielen beantwortet.
Fragestellung 1-1 beschäftigt sich mit einer Person die Liegestütze ausführt, Bild 1-10. Das Ge-
samtgewicht der Person kann im Körperschwerpunkt angenommen werden. Von Interesse sind
hierbei u. a. die Kräfte, die von den Händen bzw. von den Füßen aufgenommen werden müssen.
Zudem ist es wichtig die Kräfte im Schultergelenk sowie im Unter- und Oberarm zu kennen.
10 1 Biomechanik – Definitionen, Aufgaben und Fragestellungen

Bild 1-10 Person bei einem Liegestütz

Bei Fragestellung 1-2 soll die Standsicherheit bzw. die Stabilität der Gleichgewichtslage eines
Rugbyspielers untersucht werden, Bild 1-11.
Der Spieler wird durch einen Gegenspieler mit der Kraft FK angeschoben. Von Bedeutung sind
dabei die Haltung des Spielers sowie sein Gewicht G. Es stellt sich somit die Frage: Bei wel-
cher Kraft FK verliert der Spieler sein Gleichgewicht und kippt rückwärts um?

FK

A
Bild 1-11 Rugbyspieler, der durch einen Gegner aus dem Gleichgewicht gebracht werden soll

Fragestellung 1-3 beschäftigt sich mit der Belastung eines Oberschenkelknochens (Femur)
beim Zweibeinstand eines Menschen, Bild 1-12. In diesem Zusammenhang ergeben sich viele
Fragen, die mit den Methoden der Biomechanik, konkret mit den Methoden der Statik und der
Festigkeitslehre gelöst werden können:
a) Welche Kräfte und Momente wirken im Inneren des Oberschenkelknochens?
b) Welchen Spannungen ist der Oberschenkelknochen ausgesetzt?
c) Wie erhöhen sich die Spannungen, wenn sich die Kraft F infolge eines Sprungs oder
Absturzes verdreifacht?
d) Besteht Bruchgefahr für den Oberschenkelknochen?
1.5 Spezielle Fragestellungen der Biomechanik 11

a) b)
F F

Bild 1-12 Kräfte am Oberschenkelknochen (Femur) und daraus resultierende Spannungen im Kno-
chen
a) Wirkende Kraft F
b) Normalspannung  im Knochenschaft

Fragestellung 1-4 beschäftigt sich mit einem Patienten, der nach der Implantation eines künst-
lichen Hüftgelenks physiotherapeutisch behandelt werden soll. Mittels der Biomechanik soll
geklärt werden, ob Bewegungsübungen bei einer Seitenlage des Patienten bei gestrecktem oder
angewinkeltem Bein durchgeführt werden können. Entscheidend sind hierbei die Kräfte, die
übungsbedingt an der Hüftprothese auftreten.

Bild 1-13 Reha-Maßnahmen bei einem Patienten nach der Implantation eines künstlichen Hüftgelenks

Bei Fragestellung 1-5 wird ein Fahrradfahrer bei verschiedenen Fahrsituationen untersucht,
Bild 1-14. Hierzu ergeben sich die Fragen:
a) Welche Kräfte muss der Fahrradfahrer bei bestimmten Fahrsituationen überwinden?
b) Wie groß ist der Energieverbrauch, um eine bestimmte Strecke zu bewältigen?
c) Welche Leistung ist erforderlich, um mit einer bestimmten Geschwindigkeit zu fah-
ren?
d) Wie lange braucht der Fahrradfahrer, um eine bestimmte Strecke zurückzulegen?
e) Welchen Einfluss hat das Gewicht des Fahrradfahrers und des Fahrrads auf die Fahr-
geschwindigkeit?
12 1 Biomechanik – Definitionen, Aufgaben und Fragestellungen

Bild 1-14 Fahrradfahrer

Fragestellung 1-6 beschäftigt sich mit der Entwicklung einer Knieprothese für oberschenkel-
amputierte Personen, Bild 1-15. Hierbei ist unter anderem zu untersuchen, welche Kinematik
beim menschlichen Knie vorliegt, welche Bewegungen das künstliche Kniegelenk ausführen
soll, wie die Standsicherheit des Prothesenträgers gesichert werden kann und wie die techni-
sche Ausführung des künstlichen Gelenks zu gestalten ist.

Bild 1-15 Künstliches Kniegelenk für Ober-


schenkelamputierte

Diese und zahlreiche andere Fragen werden in den folgenden Kapiteln beantwortet. Ausge-
wählte Übungsaufgaben ermöglichen eine selbständige Überprüfung des bereits gelernten
Stoffs und geben Sicherheit beim Umgang mit biomechanischen Fragestellungen.
1.6 Schwerpunkte und Inhalte des Buchs 13

1.6 Schwerpunkte und Inhalte des Buchs


Die Biomechanik als fachübergreifende Disziplin beschäftigt sich mit vielfältigen Aufgaben
und Fragestellungen, siehe u. a. die Kapitel 1.1-1.5 und z. B. [1-1 bis 1-7]. Es ist daher unmög-
lich, alle Aspekte der Biomechanik in einem Buch abzuhandeln. Daher beschränken sich die
Autoren insbesondere auf die Betrachtung der Biomechanik des menschlichen Stütz- und Be-
wegungsapparats, sowie auf die Untersuchung von Bewegungen der Menschen z. B. beim
Sport oder im Alltag. Zudem wird dem Leser sehr schnell deutlich, dass sich hier zwei Ingeni-
eure mit dem Thema auseinandersetzen. Daher steht insbesondere der Zugang aus Sicht der
Mechanik im Vordergrund der Betrachtungen.

Biomechanik des menschlichen Bewegungsapparats

Zusammenhang Biomechanische
Mechanik des Anwendungen
zwischen Aufbau Modellbildung und
Stütz- und der
und Funktion des Finite - Elemente -
Bewegungsapparats Biomechanik
Bewegungsapparats Simulation

Bild 1-16 Schwerpunkte und Inhalte der nachfolgenden Betrachtungen

Wesentliche Schwerpunkte und Inhalte des Buches sind z. B. in Bild 1-16 dargestellt. Betrach-
tet werden die Mechanik des Stütz- und Bewegungsapparats, der Zusammenhang zwischen
Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats, die biomechanische Modellbildung und die
Anwendung der Finite-Elemente-Methode zur Analyse und Simulation biomechanischer Vor-
gänge. Anwendungen der Biomechanik in Form von Beispielen und Übungsaufgaben verdeut-
lichen in allen Kapiteln die Grundlagen. Spezielle Anwendungen, wie präoperative Studien,
Knochenbrüche und ihre Heilung, die Entwicklung eines künstlichen Kniegelenkes sowie die
Entwicklung einer Operationshilfe werden in einem separaten Kapitel behandelt.

Mechanik des Stütz- und Bewegungsapparats

Festigkeit des Stütz- Kinematik und Kinetik


Statik des Stützapparats
und Bewegungsapparats der Bewegungen

Bild 1-17 Einteilung der Mechanik des Stütz- und Bewegungsapparats

Eine Betrachtung der Biomechanik erfordert grundlegende, aber auch vertiefte Kenntnisse der
Technischen Mechanik (siehe u. a. [1-8 bis 1-10]). Diese Grundlagen werden in den nachfol-
genden Kapiteln 2, 3, 4 vermittelt. Dabei wird schon relativ schnell Bezug auf den menschli-
chen Stütz- und Bewegungsapparat genommen. Dies bezieht sich sowohl auf die Vermittlung
der Grundlagen sowie die Beispiele und Übungsaufgaben.
14 1 Biomechanik – Definitionen, Aufgaben und Fragestellungen

Eine Einteilung der Mechanik des Stütz- und Bewegungsapparats ist in Bild 1-17 gezeigt.
Dabei stehen die klassischen Teilgebiete der Technischen Mechanik, d. h. die Statik, die
Festigkeitslehre sowie die Kinematik und Kinetik im Mittelpunkt.

Literatur zu Kapitel 1
[1-1] Donskoi, D.D.: Grundlagen der Biomechanik. Verlag Bartels & Wernitz, Berlin,
1975
[1-2] Mc Ginnis, P.M.: Biomechanics of Sport and Exercise, Human Kinetics. Cham-
paign, U. S., 1999
[1-3] Hüter-Becker, A.; Dölken, M. (Hrsg.): Biomechanik, Bewegungslehre, Leistungs-
physiologie, Trainingslehre. Thieme Verlag, Stuttgart, 2005
[1-4] Kummer, B.: Biomechanik, Form und Funktion des Bewegungsapparats. Deutscher
Ärzte Verlag, Köln, 2005
[1-5] Weineck, J.: Sportanatomie. Spitta Verlag GmbH, Balingen, 1996
[1-6] Rauber, A.; Kopsch, F.: Anatomie des Menschen, Band I, Bewegungsapparat.
Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 1987
[1-7] Tittel, K.: Beschreibende und funktionelle Anatomie des Menschen. Gustav Fischer
Verlag, Stuttgart, 1990
[1-8] Richard, H.A., Sander, M.: Technische Mechanik. Statik. Verlag Springer Vieweg,
Wiesbaden, 2012
[1-9] Richard, H.A., Sander, M.: Technische Mechanik. Festigkeitslehre. Verlag Vie-
weg + Teubner, Wiesbaden, 2011
[1-10] Richard, H.A., Sander, M.: Technische Mechanik. Dynamik. Verlag Vie-
weg + Teubner, Wiesbaden, 2011
[1-11] Wirhed, R.: Sportanatomie und Bewegungslehre. Verlag Schattauer, Stuttgart, 2001
2 Statik des Stützapparates

Die Mechanik beschäftigt sich mit der Lehre von den Kräften und Momenten sowie den Be-
wegungen, Spannungen und Verformungen, welche diese bei Körpern sowie anderen natürli-
chen oder technischen Strukturen hervorrufen.
Die Statik, als wichtiges Teilgebiet der Mechanik, beinhaltet die Lehre von den Kräften und
die Lehre vom Gleichgewicht. Betrachtet werden im Allgemeinen tragende Strukturen, die
sich permanent oder momentan in Ruhe oder im Gleichgewicht befinden.
Die Grundlagen der Statik dienen im Wesentlichen dazu
 sich einen Überblick über die wirkenden Kräfte zu verschaffen,
 die resultierende Wirkung dieser Kräfte zu ermitteln,
 die Wirkung von Kräften auf die Teilstrukturen zu bestimmen,
 die Kräfte an den Aufstandspunkten oder in den Gelenken zu ermitteln,
 die in den Teilstrukturen wirkenden inneren Kräfte und Momente zu ermitteln,
 die Standsicherheit von Geräten, Körpern und sonstigen Strukturen zu überprüfen und
 Haft- und Gleitreibungssituationen in Natur und Technik zu verstehen.

2.1 Kräfte und ihre Wirkungen


Kräfte treten überall auf – beim Menschen, in der Natur, in der Technik, im Verkehr, im Sport
usw. Die wichtigste Kraft beim Menschen ist sein Körpergewicht. Dieses muss von seinem
Stützapparat getragen und weitergeleitet werden. Zudem ist der Mensch in der Lage, Lasten zu
tragen. Auch bei Bewegungen von Körpern sind im Allgemeinen Kräfte im Spiel. Das Verhar-
ren von Körpern in Ruhe wird ebenfalls durch Kräfte garantiert.
Insbesondere die Lösungen der in Kapitel 1.5 dargestellten Fragestellungen erfordert eine
intensive Beschäftigung mit der physikalischen Größe „Kraft“.
Kräfte können z. B. auftreten als
 äußere Kräfte (wirkende Lasten)
 Reaktionskräfte bzw. Auflagerkräfte und
 innere Kräfte.
Die Unterscheidung der Kräfte ist für das Lösen praktischer Fragestellungen der Statik von
großer Bedeutung.
Zunächst gilt es herauszufinden, welche Kräfte bei der gegebenen Problemstellung überhaupt
wirksam sind. Diese Kräfte oder Lasten bezeichnet man als äußere Kräfte oder wirkende Las-
ten.
Die äußeren Kräfte bzw. die wirkenden Lasten, z. B. auch Gewichtskräfte, rufen dann Auf-
standskräfte, Bodenreaktionskräfte, Gelenkkräfte und Kräfte, die zwischen Teilstrukturen
auftreten, hervor. Diese werden in der Statik zusammenfassend als Reaktionskräfte bezeichnet.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
H. A. Richard und G. Kullmer, Biomechanik,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-28333-9_2
16 2 Statik des Stützapparates

Die äußeren Kräfte, d. h. die wirkenden Lasten, sowie die Reaktionskräfte verursachen auch
innere Kräfte in den Strukturen bzw. Teilstrukturen, z. B. in den Knochen des Menschen. Die
inneren Kräfte gilt es zu ermitteln, um die Belastbarkeit einer Struktur oder einer Teilstruktur
überprüfen zu können.

2.1.1 Äußere Kräfte, wirkende Lasten


Äußere Kräfte treten bei ruhenden und bewegten Körpern auf.
Eine stets wirkende Kraft ist die Gewichtskraft. Diese wird im Allgemeinen mit dem Formel-
zeichen G bezeichnet. Die Gewichtskraft errechnet sich aus der Masse m des Körpers und der
Fall- oder Schwerebeschleunigung g mit der Beziehung
G  m g (2.1).

Sie greift im Schwerpunkt an und ist stets zum Erdmittelpunkt gerichtet, Bild 2-1. Die Ge-
wichtskraft hat, wie jede andere Kraft, die physikalische Grundeinheit Newton, abgekürzt N.

FB = m·a

G = m·g

Bild 2-1 Gewichtskraft G und Beschleunigungskraft FB bei einem Läufer, der sich in der Startphase
befindet

Bewegungen und insbesondere Bewegungsänderungen erfolgen unter dem Einfluss von Kräf-
ten. Bei Bewegungen treten neben der Gewichtskraft im Allgemeinen zusätzlich noch Be-
schleunigungs- oder Verzögerungskräfte auf.
Die Beschleunigungskraft FB errechnet sich aus der Masse m und der Beschleunigung a nach
dem Grundgesetz der Mechanik:
FB  m  a (2.2).

Die Kraftrichtung entspricht der Richtung der Beschleunigung, Bild 2-1.


Bei Kreisbewegungen und bei Bewegungen auf einer gekrümmten Bahn wirkt stets eine Flieh-
kraft. Sie errechnet sich aus der Masse m des Körpers auf der Bahn, dem Radius r der Kreis-
bahn oder dem momentanen Radius der gekrümmten Bahn, der Winkelgeschwindigkeit  der
Kreisbewegung oder der Bahngeschwindigkeit v mit der Formel:

v2
FF  m  r   2  m  (2.3).
r
2.1 Kräfte und ihre Wirkungen 17

Die Fliehkraft wirkt bei der Kreisbewegung stets in radialer Richtung.

a) b) gekrümmte Bahn

v
2
F F = m·r·ω 2 FF = m·r·ω 2 = m· vr
ω m ω m
r r
M

momentaner
Krümmungskreis
Bild 2-2 Fliehkraft FF bei der Kreisbewegung bzw. einer Bewegung einer Masse auf einer gekrümm-
ten Bahn (z. B. beim Diskus- oder Hammerwurf oder bei der Kurvenfahrt mit einem Auto)
a) Masse m bewegt sich auf einer Kreisbahn
b) Bewegung auf einer gekrümmten Bahn

Gewichtskraft, Beschleunigungskraft und Fliehkraft sind Massenkräfte, werden aber auch


Volumenkräfte genannt, wobei sich die Masse m aus dem Volumen V und der Dichte  des
Materials errechnet:
m V  (2.4).

Massenkräfte wirken über das Volumen verteilt, werden jedoch idealerweise als im Schwer-
punkt des Körpers oder des Teilkörpers angreifende Kräfte dargestellt, siehe Bild 2-1, Bild 2-2
und Beispiel 2-1.
Neben den Massen- bzw. Volumenkräften kommen als äußere Kräfte auch Flächenkräfte vor.
Hierzu zählen z. B. Windkräfte auf einen Körper oder ein Sportgerät oder verteilte Kräfte, die
bei flächenhaftem Kontakt zwischen zwei Körpern oder einem Körper und der Unterlage über-
tragen werden.
Die Flächenkraft oder Flächenlast wird in der Statik mit p bezeichnet und kann z. B. aus der
resultierenden Kraft F und der Bezugsfläche A mit der Beziehung
F
p (2.5)
A
errechnet werden. Die Einheit der Flächenlast ist damit z. B. N/m2 oder N/mm2.
Neben Volumen- und Flächenlasten verwendet man in der Mechanik noch zwei wichtige Idea-
lisierungen
 die Linienlast und
 die Punktkraft oder Einzelkraft.
Die Linienlast q ist als Kraft pro Länge definiert und errechnet sich z. B. nach der Gleichung
F
q (2.6),
l
wobei F die Kraft und l die Länge darstellt. Die Einheit ist z. B. N/m oder N/mm.
18 2 Statik des Stützapparates

Der Begriff Einzelkraft wird verwendet, wenn z. B. eine Kraftübertragung zwischen zwei
Körpern auf kleiner, nahezu punktförmiger Berührfläche erfolgt oder wenn Massenkräfte und
Flächenlasten idealisiert als Einzelkräfte betrachtet werden, die im Schwerpunkt der Massen
oder der Flächen angreifen. Die Einheit der Einzelkraft F ist z. B. N oder kN. Diese Idealisie-
rung ermöglicht den leichten Zugang zur Mechanik und insbesondere zur Statik und erlaubt
z. B. die Lösung von vielen Fragestellungen in Kapitel 1.5.
Die Einzelkraft stellt einen Vektor dar. Zur Lösung der Fragestellungen der Statik können
somit die Gesetzmäßigkeiten der Vektorrechnung herangezogen werden, siehe z. B. [2-1].

F
Wirkungslinie
KM
Kräftemaßstab
Kraftangriffspunkt

Bild 2-3 Darstellung einer Einzelkraft

Die Einzelkraft ist im Allgemeinen gekennzeichnet durch Größe, Richtung (Wirkungslinie)


und Angriffspunkt. Zeichnerisch wird die Einzelkraft als Pfeil (gerichtete Strecke, Vektor)
dargestellt, Bild 2-3. Der Vektorcharakter wird durch den Pfeil über dem Buchstaben deutlich:

F kennzeichnet Größe und Richtung der Einzelkraft,

F  | F | kennzeichnet den Betrag, d. h. die Größe der Einzelkraft.
Für die zeichnerische Darstellung ist die Einführung eines Kräftemaßstabes notwendig. Das
heißt die dargestellte Länge der Kraft entspricht einer bestimmten Größe der Kraft. Zum Bei-
spiel kann der Länge von 1 cm eine Kraft von 10 N entsprechen.
Bei der Lösung von Fragestellungen der Biomechanik (siehe z. B. Kapitel 1.5) wird häufig auf
den Vektorpfeil über dem Formelzeichen verzichtet. Dies geschieht in der Regel dann, wenn
die Kraftrichtung eindeutig bekannt ist (siehe auch Bild 2-1 und Bild 2-2). Der Kraftpfeil gibt
in diesem Fall die Richtung der Kraft an, die Größe wird durch den Betrag bestimmt, z. B.
F = 10 N.
Eine Kraft kann man nicht unmittelbar beobachten, man spürt jedoch ihre Wirkung. Man er-
fährt z. B. die Kraftwirkung, wenn man ein Gewicht in der Hand hält oder eine schwere Last
über längere Zeit trägt.
Kräfte führen aber auch zu Bewegungsänderungen und zur Verlängerung oder Verkürzung
(d. h. zu Verformungen) von Körpern. Es ist eine wichtige Aufgabe des Ingenieurs und des
Biomechanikers, Kräfte, die man nicht sehen kann, gedanklich sichtbar zu machen. Damit
beschäftigt sich das nachfolgende Kapitel.
2.1 Kräfte und ihre Wirkungen 19

Beispiel 2-1
Für den dargestellten menschlichen Körper mit der Gesamtmasse m sind die prozentualen
Gewichtsanteile der Körperteile bezogen auf das Gesamtgewicht des Körpers und die dazu-
gehörenden Schwerpunkte angegeben (siehe linke Skizze und Bild1-7 in Kapitel 1.2.5).
Man berechne
a) das Gesamtgewicht,
b) das Gewicht des Kopfes,
c) das Gewicht des Oberkörpers,
d) das Gewicht eines Arms sowie
e) das Gewicht eines Beins
und zeichne sie in die rechte Skizze ein.
Geg.: m = 90 kg, g = 9,81 m/s2.
7%

43% GK

6,5%
3,6% GOA

2,2% GA
GUA

0,7% GH
G OK
11,4% 18,5% GOS

GB
5,3%
GUS
1,8%

GF

Lösung:
a) Gesamtgewicht der Person
m m
G  m  g  90 kg  9,81  882,9 kg   882,9 N
2
s s2
b) Gewicht des Kopfes
7 7 m
GK  m K  g  m g   90 kg  9,81  61,8 N
100 100 s2
20 2 Statik des Stützapparates

c) Gewicht des Oberkörpers


43 43 m
GOK  mOK  g  m g   90 kg  9,81  379,6 N
100 100 s2
d) Gewicht eines Arms
6,5 6,5 m
GA  m A  g  m g   90 kg  9,81  57,4 N
100 100 s2
Davon entfallen auf den Oberarm:
3,6
GOA  mOA  g   m  g  31,8 N
100
den Unterarm:
2,2
GUA  mUA  g   m  g  19,4 N
100
die Hand:
0,7
GH  mH  g   m  g  6,2 N
100
e) Gewicht eines Beins
18,5 18,5 m
GB  mB  g  m g   90 kg  9,81 2  163,3 N
100 100 s
Davon entfallen auf den Oberschenkel:
11,4
GOS  mOS  g   m  g  100,7 N
100
den Unterschenkel:
5,3
GUS  mUS  g   m  g  46,8 N
100
den Fuß:
1,8
GF  mF  g   m  g  15,9 N
100
Alle Gewichte sind zum Erdmittelpunkt gerichtet.

Beispiel 2-2
Eine PKW-Fahrerin mit der Gesamtmasse m fährt mit einer Geschwindigkeit v in eine Kurve
mit einem minimalen Kurvenradius r.
Man ermittle
a) die Fliehkraft, die auf den Kopf der Fahrerin einwirkt und
b) die Fliehkraft auf den Oberkörper.
2.1 Kräfte und ihre Wirkungen 21

Geg.: Gesamtmasse m = 60 kg, Kopfmasse mk = 7 % von m, Masse des Oberkörpers


mOk = 43 % von m, v = 72 km/h = 20 m/s, r = 50m
Lösung:
a) Fliehkraft, die auf den Kopf einwirkt
v2 7 v2 7 20 2  m 2 kg  m
FF, K  mK   m   60kg  2  33,6 2  33,6 N
r 100 r 100 s  50m s
b) Fliehkraft auf den Oberkörper
v2 43 v2 43 20 2  m 2
FF, OK  mOK   m   60kg  2  206,4 N
r 100 r 100 s  50m

2.1.2 Reaktionskräfte und innere Kräfte


Reaktionskräfte sind z. B durch äußere Kräfte oder wirkende Lasten hervorgerufene Stütz-,
Halte-, Kontakt- oder Lagerkräfte. Innere Kräfte in Körpern und Tragstrukturen werden eben-
falls durch äußere Kräfte verursacht.
Die Zusammenhänge zwischen äußeren Kräften, Reaktionskräften und inneren Kräften sollen
am Beispiel einer Person, die an einem Seil ein Paket trägt, verdeutlicht werden.

a) b) c) d)
Hand R = FH R = FH

Seil S

S
Paket,
Masse m

G = m·g G G

Bild 2-4 Verdeutlichung von äußerer Kraft, Reaktionskraft und innerer Kraft bei einer Person, die mit
einer Hand ein Paket trägt
a) Darstellung des Gesamtsystems Paket, Seil, Hand
b) Im Schwerpunkt des Pakets wirkt die Gewichtskraft G = m · g als äußere Kraft
c) Durch gedankliches Lösen des Seilgriffs von der Hand wird die Handkraft FH als Reak-
tionskraft R sichtbar
d) Durch gedankliches Aufschneiden des Seils wird die Seilkraft S als innere Kraft erfahr-
bar

In Bild 2-4a ist das Gesamtsystem dargestellt, bei dem ein Paket über eine Schnur (Seil) mit
Griff von der Hand einer Person gehalten wird. Die Masse des Pakets ist m, die Schnurmasse
ist im Vergleich zur Masse des Paketes vernachlässigbar.
22 2 Statik des Stützapparates

Im Schwerpunkt des Pakets wirkt die Gewichtskraft G = m · g als äußere Kraft, Bild 2-4b. Die
Handkraft R = FH, Bild 2-4c, stellt die Reaktionskraft dar. Sie wird erst sichtbar durch das
gedankliche Lösen des Schnurgriffs (des Seilgriffs) von der Hand. Dieses Vorgehen nennt man
in der Mechanik „Freischneiden“. Dies bedeutet, das Teilsystem „Paket mit Schnur“ wird
gedanklich vom Teilsystem „Hand“ gelöst. Die von der Hand auf die Schnur wirkende Kraft
wird als Reaktionskraft R = FH eingezeichnet. Mit den Methoden der Statik kann dann die
Reaktionskraft ermittelt werden. Sie wirkt der Gewichtskraft entgegen und ist in diesem Fall
betragsmäßig genau so groß wie die Gewichtskraft, also R = FH = G.
Natürlich muss auch die Schnur eine Kraft übertragen. Auch diese ist zunächst nicht zu erken-
nen. Sie wird erst durch das gedankliche Aufschneiden der Schnur als innere Kraft oder
Schnur- bzw. Seilkraft erfahrbar, Bild 2-4d. Um die Schnur auch nach dem Aufschneiden
straff zu halten, muss jeweils am oberen und am unteren Schnurende eine betragsmäßig gleich
große Schnurkraft S wirken. Diese innere Kraft S ist in dem betrachteten Fall betragsmäßig
ebenso groß wie die Gewichtskraft, d. h. S = G. Dies wird u. a. durch Betrachtung des unteren
Teilsystems in Bild 2-4d deutlich.

2.1.3 Axiome der Statik


Axiome sind Grundtatsachen, die durch die Erfahrung bestätigt werden. Man unterscheidet das
Gleichgewichtsaxiom, das Linienflüchtigkeitsaxiom, das Wechselwirkungsgesetz und das
Axiom vom Kräfteparallelogramm.

2.1.3.1 Gleichgewichtsaxiom
Das Gleichgewichtsaxiom lautet:
„Zwei Kräfte sind im Gleichgewicht, wenn sie auf derselben Wirkungslinie liegen, ent-
gegengesetzt gerichtet und gleich groß sind.“
Dieses Axiom wird in Bild 2-5 verdeutlicht.

F2
gemeinsame Wirkungslinie
der Kräfte F1 und F 2

F1 = -F2
Bild 2-5 Gleichgewicht zweier Kräfte

Die Kräfteaddition ergibt:


  
F1  F2  0 (2.7).

Gleichgewicht bedeutet somit, dass keine resultierende Kraft wirkt. Die Vektorsumme ergibt
einen Nullvektor.
 
Die Kräfte F1 und F2 bilden eine Gleichgewichtsgruppe. Ein Körper, der sich im Gleichge-
wicht befindet, bleibt auch unter der Wirkung einer Gleichgewichtsgruppe im Gleichgewicht.
In Bild 2-4c bilden z. B. R und G eine Gleichgewichtsgruppe. Auch sind in Bild 2-4d jeweils R
und S sowie G und S im Gleichgewicht.
2.1 Kräfte und ihre Wirkungen 23

2.1.3.2 Linienflüchtigkeitsaxiom
Das Axiom von der Linienflüchtigkeit des Kraftvektors lautet:
„Der Angriffspunkt einer Kraft kann auf der Kraftwirkungslinie beliebig verschoben
werden, ohne dass sich an der Wirkung auf einen starren Körper etwas ändert.“

beliebiger
starrer Körper
F
B
F

Kraftwirkungs- Kraftwirkungs-
linie linie
Bild 2-6 Axiom von der Linienflüchtigkeit des Kraftvektors

Das Axiom wird durch das Bild 2-6 verdeutlicht. Die Kraft kann im Punkt A, im Punkt B oder
an einem anderen Punkt der Wirkungslinie angreifen, die Wirkung auf den starren Körper ist
stets dieselbe.
Alle Körper in Natur und Technik sind verformbar. Die Lösung von Fragestellungen der Statik
kann jedoch sehr vereinfacht werden, wenn man die Verformungen vernachlässigt, d. h. die
Strukturen als starr betrachtet. Ein starrer Körper erfährt auch unter Belastung keine Verfor-
mung.
Im Gegensatz zum starren Körper ist beim verformbaren Körper die Lage des Kraftangriffs-
punktes wesentlich, da die Verformungen des Körpers unter anderem vom Kraftangriffspunkt
abhängen. Eine Verschiebung einer Kraft auf ihrer Wirkungslinie ändert aber auch beim ver-
formbaren Körper die globale Wirkung auf den Körper nicht.
Die Tatsache, dass man die Kraft auf ihrer Wirkungslinie verschieben darf, bedeutet aber
nicht, dass man die Kraft beliebig in der Ebene verschieben kann. Eine Parallelverschiebung
einer Kraft ändert auch die globale Wirkung auf den Körper, da sie zusätzlich ein Drehmoment
und somit eine Drehwirkung hervorruft.

2.1.3.3 Wechselwirkungsgesetz
Dieses Axiom lässt sich wie folgt formulieren:
„Die Kräfte, die zwei Körper aufeinander ausüben, sind gleich groß, entgegengesetzt
gerichtet und liegen auf derselben Wirkungslinie.“
Dies bedeutet auch:
„Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich“
oder
„actio = reactio“.
Dieses Gesetz ist für das Verständnis der Mechanik insgesamt, aber insbesondere auch der
Statik von großer Wichtigkeit. Es soll daher anhand eines Beispiels noch näher erläutert wer-
den.
24 2 Statik des Stützapparates

a) b) „Freischnitt”

Hand Wand
FW FH

Wirkungs-
linie
Bild 2-7 Erläuterung des Wechselwirkungsgesetzes
a) Hand drückt gegen eine Wand
b) „Freischnitt“ macht die wirkenden Kräfte sichtbar

Die Hand, die gegen eine Wand drückt, erfährt von der Wand eine gleich große Gegenkraft,
Bild 2-7. Die Kraftwirkungen werden jedoch erst deutlich, wenn man beide Körper gedanklich
trennt. Das heißt, die Körper müssen gedanklich „freigeschnitten“ werden, Bild 2-7b.
Dann sind die Kraftwirkungen auf jeden Körper zu betrachten: die Kraft FH, welche die Hand
auf die Mauer ausübt und ebenso die Reaktionskraft FW, die von der Mauer auf die Hand
wirkt. Die Gegenkraft FW liegt auf der selben Wirkungslinie wie die Handkraft
 FH und ist
betragsmäßig ebenso groß: FW = FH, aber entgegengesetzt gerichtet: FW   FH . Damit sind
beide Kräfte auch im Gleichgewicht (siehe Gleichgewichtsaxiom, Kapitel 2.1.3.1).
Das Wechselwirkungsgesetz gilt für Nah- und Fernkräfte (siehe auch Beispiele in [2-1] sowie
Bild 2-4).

2.1.3.4 Axiom vom Kräfteparallelogramm

a) b)
Wirkungslinie
der Kraft F1

Wirkungslinie
der Resultierenden
F1
F2
F=R F1

R
F2 Wirkungslinie
der Kraft F2

Bild 2-8 Ermittlung der Resultierenden zweier Kräfte


a) mit dem Kräfteparallelogramm
  
b) durch Vektoraddition (aus F1 und F2 wird die Resultierende R bestimmt)
2.1 Kräfte und ihre Wirkungen 25

Dieses Axiom lautet:


„Zwei Kräfte, die am selben Angriffspunkt angreifen, setzen sich zu einer Kraft zusam-
men, deren Größe und Richtung sich als Diagonale des von beiden Kräften aufge-
spannten Parallelogramms ergibt.“
Das Axiom beschreibt das Superpositionsprinzip
 der Kraftwirkungen,
 Bild 2-8a. Das bedeutet,
die resultierende
  Kraft R ersetzt die Kräfte F1 und F
2 . Ebenso werden die Teilwirkungen
von F1 und F2 durch die resultierende Wirkung von R ersetzt.
Für die Zusammensetzung zweier Kräfte zu einer Resultierenden können auch die Gesetzmä-
ßigkeiten der Vektoraddition herangezogen werden (siehe Anhang A2 in [2-1]). Rechnerisch
ergibt sich somit
  
F1  F2  R (2.8).
 
Bild 2-8b zeigt die zeichnerische Darstellung der Addition der Kräfte F1 und F2 .

2.1.4 Zerlegung einer Kraft in verschiedene Richtungen

a) b)
Wirkungslinie (Richtung) WL1
der Kraft F1 (WL1 )
F1

F
F
F2

Wirkungslinie (Richtung)
der Kraft F2 (WL2 ) WL 2

c) d)
WL1 F1
F1

F2

WL 2
F2

Bild 2-9 Zerlegung einer


 Kraft nach zwei Richtungen
a) Kraft F soll in die Richtungen der gegebenen Wirkungslinien WL1 und WL2 zerlegt
werden
b) Zerlegung nach dem Kräfteparallelogramm
c) Zerlegung im Kräfteplan
 
d) Die Kräfte F1 und F2 üben auf den Körper eine der Kraft F gleichwertige Wirkung
aus
26 2 Statik des Stützapparates

Bei vielen Aufgaben der Statik und der Biomechanik ist es erforderlich, eine gegebene Kraft in
statisch gleichwertige Kräfte nach verschiedenen Richtungen zu zerlegen. Bei einer zentralen
Kräftegruppe ist eine Zerlegung nach zwei Richtungen eindeutig möglich, wenn die Wirkungs-
linie der zu zerlegenden Kraft durch den Schnittpunkt der beiden gegebenen Wirkungslinien
geht.

Die Zerlegung der Kraft F , Bild 2-9a , kann nach dem Axiom vom Kräfteparallelogramm
erfolgen, Bild 2-9b, oder im Kräfteplan, Bild 2-9c, vorgenommen werden. Die Zerlegung
erfolgt in die Richtungen der gegebenen Wirkungslinie WL1 und WL2.
  
Die ermittelten Kräfte F1 und F2 üben auf den Körper eine der Kraft F gleichwertige Wir-
kung aus.

2.1.5 Zerlegung einer Kraft in Komponenten



Eine Einzelkraft F hat in der Ebene zwei Komponenten, Bild 2-10a. Unter Zugrundelegung
eines kartesischen Koordinatensystems sind dies die Komponenten Fx und Fy. Der Vektor der
 
Kraft lässt sich dann mit den Basisvektoren e x und e y mathematisch wie folgt beschreiben
(siehe auch Grundlagen der Vektorrechnung im Anhang A2 in [2-1]):
  
F  ex  Fx  e y  Fy (2.10).

Der Betrag des Kraftvektors ergibt sich dann mit



F  F  Fx2  Fy2 (2.11).

Für die Kraftkomponenten gilt:


Fx  F  cos  (2.12),

Fy  F  sin  (2.13).

a) b)
y
y
Fy

Fy
F
ey F ey β
α
Fx
α ez γ x
ex
Fz
Fx x
ex
z
Bild 2-10 Zerlegung einer Kraft in Komponenten

a) Einzelkraft F und ihre Komponenten Fx und Fy in der Ebene

b) Einzelkraft F und ihre Komponenten Fx, Fy und Fz im Raum
2.1 Kräfte und ihre Wirkungen 27

Im Raum hat eine Kraft F drei Komponenten, nämlich Fx , F y und Fz , Bild 2-10b. Für den
  
Kraftvektor folgt mit den Basisvektoren ex , e y und ez :
   
F  ex  Fx  ey  Fy  ez  Fz (2.14).

Der Betrag des Kraftvektors errechnet sich mit



F  F  Fx2  Fy2  Fz2 (2.15).

Geometrisch stellt sich der Betrag des Vektors als Diagonale des aufgespannten Quaders dar.
Mit den Raumwinkeln ,  und  zwischen F und den Koordinatenachsen lassen sich die
Kraftkomponenten wie folgt schreiben:
Fx  F  cos  (2.16),

Fy  F  cos  (2.17),

Fz  F  cos  (2.18).

2.1.6 Rechnerische Ermittlung der resultierenden Kraft eines ebenen Kräfte-


systems

Die resultierende Kraft R einer
 ebenen
 Kräftegruppe ergibt sich zeichnerisch und rechnerisch
als Vektorsumme der Kräfte F1 ... Fn des ebenen Kräftesystems (siehe auch Bild 2-11):
     n 
R  F1  F2  F3  ...  Fn   Fi (2.19).
i1

a) b)
y y
F3
F3y

F2y F2
R
Ry
F1 F1
F1y
F2 ey αR
F3
x ex x

F1x F2x F3x


Rx

Bild 2-11 Ermittlung der resultierenden Kraft eines ebenen


 Kräftesystems

a) Ebene Kraftgruppe mit den Kräften F1 , F2 und F3
b) Zerlegung der Kräfte in die Kraftkomponenten
 F1x, F2x, F3x und F1y, F2y, F3y und
Ermittlung der Resultierenden R mit den Komponenten Rx und Ry
28 2 Statik des Stützapparates

Die Komponenten der Resultierenden ergeben sich aus der jeweiligen Summe der Kraftkom-
ponenten:
n
Rx  F1x  F2x  F3x  ...  Fnx   Fix (2.20),
i 1

n
R y  F1y  F2y  F3y  ...  Fny   Fiy (2.21).
i 1

Der Betrag der Resultierenden kann nun aus den Komponenten Rx und Ry ermittelt werden:

R  R  Rx2  R y2 (2.22).

Die Richtung der Resultierenden ergibt sich mit


 Ry 
 R  arctan  
 (2.23).
 Rx 

Der Kraftvektor R lässt sich dann wie folgt schreiben:
  
R  e x  Rx  e y  R y (2.24).

Beispiel 2-3

α α

Ein Turner mit dem Körpergewicht G hängt wie dargestellt am Reck, wobei die Arme die
Winkelstellung  einnehmen.
Man ermittle die Kräfte, welche die Hände auf die Reckstange ausüben
a) zeichnerisch und
b) rechnerisch: allgemein und für die Winkel  = 30°, 15° und 5°.
Geg.: Körpergewicht G = 700 N,  = 5°, 15°, 30°
2.1 Kräfte und ihre Wirkungen 29

Lösung:
a) Zeichnerisch: Die Kraft in den Armen für die Winkel  = 30°,  = 15°,  = 5°

FA30° = 404 N
FA15° = 362 N FA5° = 351 N

G
G G 200 N

b) rechnerisch: die Kraftkomponenten FAx und FAy sowie die Armkraft FA


FAx

G
FAy 
2
α
FAy G
FA FAx  FAy  tan    tan 
2
2 2
2 2 G G G
FA  FAx  FAy        tan 2    1  tan 2 
2 2 2

  30 FAy  350 N FAx  202,1 N FA  404,1 N

  15 FAy  350 N FAx  93,8 N FA  362,3 N

  5 FAy  350 N FAx  30,6 N FA  351,3 N

2.1.7 Rechnerische Ermittlung der resultierenden Kraft eines räumlichen Kräf-


tesystems
Die resultierende Kraft R einer räumlichen Kräftegruppe errechnet sich aus der Vektorsumme
der wirkenden Kräfte (siehe Bild 2-12):
     n 
R  F1  F2  F3  ...  Fn   Fi (2.25).
i 1

Die drei Komponenten Rx, Ry und Rz ergeben sich aus der jeweiligen Summe der Komponen-
ten der Einzelkräfte:
n
Rx  F1x  F2x  F3x  ...  Fnx   Fix (2.26),
i 1
30 2 Statik des Stützapparates

n
R y  F1y  F2y  F3y  ...  Fny   Fiy (2.27),
i 1

n
R z  F1z  F2z  F3z  ...  Fnz   Fiz (2.28).
i 1

a) y b) y R
F2
F1 F1y Ry
F2y βR αR

F1z x γR x
F1x F2z Rz
F2x Rx
F3
z z

Bild 2-12 Ermittlung der Resultierenden einer räumlichen Kräftegruppe


 
a) Räumliche Kräftegruppe mit den Kräften F1 , F2 und F3 sowie den jeweiligen
Komponenten F1x, F1y, F1z usw.
b) Resultierende Kraft R der Kräftegruppe mit den Komponenten Rx, Ry und Rz
  
Mit den Basisvektoren e x , e y und ez und den Komponenten Rx, Ry und Rz lässt sich die Re-
sultierende auch wie folgt darstellen:
      
R  e x  R x  e y  R y  ez  Rz  e x   Fix  e y   Fiy  ez   Fiz (2.29).

Der Betrag der Resultierenden ergibt sich mit der Formel



R  R  Rx2  R y2  Rz2 (2.30).

Beispiel 2-4

Bei einer Ganganalyse werden Kräfte,


welche der Fuß auf die Messplatte aus-
übt, im dreidimensionalen Raum ge-
messen. Die Kraftkomponenten sind Fx,
Fy und Fz.
Fy
Fx
Fz
2.2 Momente und ihre Wirkungen 31

Man ermittle
a) den Betrag der resultierenden Kraft F,
b) die Winkel  R,  R und  R der Kraft F in Bezug auf die Koordinaten x, y und z des
räumlichen Kräftesystems,

c) den Kraftvektor F
Geg.: Fx = 200 N, Fy = 50 N, Fz = 600 N,
Lösung:
a) Betrag der resultierenden Kraft F

F  Fx2  Fy2  Fz2  200 2  50 2  600 2 N  634,4 N

b) Winkel  R,  R und  R
Fx 200 N
 R  arccos  arccos  71,6
F 634,4 N
Fy 50 N
 R  arccos  arccos  85,5
F 634,4 N
Fz 600 N
 R  arccos  arccos  19,0
F 634,4 N

c) Kraftvektor F
      
F  ex  Fx  e y  Fy  ez  Fz  ex  200 N  e y  50 N  ez  600 N

2.2 Momente und ihre Wirkungen


Neben der physikalischen Größe „Kraft“ spielt die physikalische Größe „Moment“ in der Sta-
tik und insbesondere auch in der Biomechanik eine bedeutende Rolle. So kann für eine belie-
bige Kräftegruppe nicht nur eine resultierende Kraft, sondern auch ein resultierendes Moment
ermittelt werden.

2.2.1 Moment einer Kraft


Betrachtet man einen beliebigen Körper, auf den eine Kraft F einwirkt, so ruft die Kraft bezüg-
lich eines Bezugspunkts oder Drehpunkts, der außerhalb der Kraftwirkungslinie liegt, ein
Moment
M  F l (2.31)
hervor, Bild 2-13. l ist hierbei der Hebelarm, d. h. der senkrechte Abstand des Bezugs- oder
Drehpunkts (z. B.: A) von der Wirkungslinie der Kraft, Bild 2-13a. Das Moment oder Dreh-
moment M ersetzt somit die Drehwirkung der Kraft bezüglich des gewählten Bezugspunkts,
siehe Bild 2-13b.
32 2 Statik des Stützapparates

Ein Moment M wird in der ebenen Statik in der Regel als gekrümmter Pfeil (Drehpfeil) darge-
stellt. Es besitzt die Dimension Kraft mal Länge. Häufig wird die Einheit Nm verwendet.

a) beliebiger starrer b)
Körper

A A

l M = F·l

Bild 2-13 Moment einer Kraft


a) Die Kraft F wirkt im Abstand l vom Drehpunkt A des Körpers
b) Das Moment M = F·l ersetzt die Drehwirkung der Kraft F bezüglich des
Drehpunktes A

2.2.2 Vektordarstellung eines Momentes



Das Moment einer Kraft stellt einen Vektor dar. Der Momentenvektor M errechnet sich aus

dem Ortsvektor r und der wirkenden Kraft F mit dem Vektorprodukt
  
M  rF (2.32).

a) b)
M M
0
φ
0 l = r·sinφ r
φ

M φ
r
φ
F

Bild 2-14 Definition des Momentenvektors  


a) Räumliche
 Darstellung: Der Momentenvektor M steht senkrecht auf der von r und
F gebildeten Belastungsebene
b) Ebene Darstellung (Draufsicht): Das Moment M wird als Drehpfeil dargestellt; l ent-
spricht dem Hebelarm der Kraft F
  
M steht somit senkrecht auf der von r und F aufgespannten Ebene und wird in der Regel 
als Doppelpfeil dargestellt. Die Fläche des Parallelogramms entspricht dem Betrag von M ,
Bild 2-14a. Dieser ergibt sich mit der Formel

M  M  F  r  sin  (2.33).
2.2 Momente und ihre Wirkungen 33

Aus der Draufsicht, Bild 2-14b, erkennt man, dass der Ausdruck rsin dem zuvor definierten
Hebelarm l entspricht.
y

My

ey
ex Mx
ez x
Mz

Bild 2-15 Moment im Raum mit den Komponenten Mx, My und Mz

Bei einem räumlichen Kräftesystem hat der Momentenvektor im kartesischen Koordinatensys-


tem die drei Komponenten Mx, My und Mz, Bild 2-15. Mit diesen Komponenten und den Ba-
  
sisvektoren ex , e y und ez lässt sich der Momentenvektor wie folgt schreiben:
   
M  e x  M x  e y  M y  ez  M z (2.34).

Für den Betrag des Momentes gilt dann:



M  M  M x2  M y2  M z2 (2.35).

2.2.3 Ermittlung des Moments einer ebenen Kräftegruppe


Teilt man eine Kraft in Komponenten auf, so gilt:
„Das Moment einer Kraft errechnet sich aus der Summe der Momente der Kraftkom-
ponenten“
Bei einem ebenen Kräftesystem zeigt der Momentenvektor stets senkrecht zur Kraftebene. Die
Kraftkomponenten Fx und Fy liegen in der x-y-Ebene, somit hat der Momentenvektor nur eine
Komponente Mz, Bild 2-16a. Diese errechnet sich mit der Beziehung
M z  M  Fy  x  Fx  y (2.36).

Bei einer ebenen Kräftegruppe ergibt sich das resultierende Moment M aus der Summe der
Momente der einzelnen Kräfte. Die Summe der Momente der einzelnen Kräfte ist auch gleich
dem Moment der resultierenden Kraft R. Alle Momente sind auf denselben Bezugspunkt zu
beziehen.
34 2 Statik des Stützapparates

a) b)
z z
Fy
y y F
M M 1y
F1 F2
x x1 F1x F2y
ey Fx
ez y x2
y1 y2 F2x
0 ex x 0 x
Kraftebene Kraftebene
(x-y-Ebene) (x-y-Ebene)
Bild 2-16 Ermittlung des Momentes einer ebenen Kräftegruppe
a) Momentenvektor zeigt bei einem ebenen Kräftesystem stets senkrecht zur Ebene, er hat
in einem kartesischen Koordinatensystem (Kräfte in x-y-Ebene) nur eine Komponente Mz
b) Ebene Kräftegruppe mit den Kräften F1 und F2 sowie den Kraftkomponenten F1x, F1y,
F2x und F2y

Beim ingenieurmäßigen Vorgehen wird in der Regel nur die Wirkung
 der Kraftkomponenten

betrachtet. Dazu zerlegt man die Kräfte Fi in ihre Komponenten Fix und Fiy , Bild 2-16b.
Der Betrag des Momentes bezüglich des Bezugspunktes 0 berechnet sich dann unter der Be-
achtung des mathematisch positiven Drehsinns wie folgt:

: M 0  M z  M  F1y  x1  F1x  y1  F2y  x 2  F2x  y 2 (2.37).

Beispiel 2-5

F1
F2

a
2

B
a
2 l
A
F3
F4
b
An der skizzierten Scheibe greifen die Kräfte F1, F2, F3 und F4 an.
Man bestimme die Momente der Kräfte bezüglich der Punkte A und B.
Geg.: F1 = F2 = F3 = 200 N, F4 = 400 N, a = 20 mm, b = 80 mm
Lösung:
a) Moment der Kräfte bezüglich des Punktes A
A: M A  F1  0  F2  a  F3  0  F4  b  36 Nm
2.2 Momente und ihre Wirkungen 35

b) Moment der Kräfte bezüglich des Punktes B


a a
B: M B   F1  b  F2   F3   F4  0  16 Nm
2 2
Die negativen Vorzeichen zeigen, dass die Momente um A und B nicht linksdrehend, son-
dern rechtsdrehend sind. Man erkennt zudem, dass die resultierenden Momente vom Be-
zugspunkt abhängig sind.

2.2.4 Ermittlung des Momentes einer räumlichen Kräftegruppe


Bei einer beliebigen Lage einer Kraft im Raum hat der Momentenvektor im kartesischen Ko-
ordinatensystem die drei Komponenten Mx, My und Mz, Bild 2-17.
Diese Komponenten errechnen sich dann für die jeweiligen Drehachsen:
M x  Fz  y  Fy  z (2.38)

M y  Fx  z  Fz  x (2.39)

M z  Fy  x  Fx  y (2.40).

Die Kraftkomponenten Fy und Fz bewirken ein Moment um die x-Achse. Fz liefert dabei ein
rechtsdrehendes (positives) Moment um die x-Achse mit dem Betrag Fz·y, das in Richtung der
positiven x-Achse zeigt. Fy führt zu einem linksdrehenden (negativem) Moment um die x-
Achse mit dem Betrag - Fy·z.
Man erkennt, dass bezüglich der y-Achse nur die Kraftkomponenten Fx und Fz ein Moment
besitzen, während Fy und Fx ein Moment bezüglich der z-Achse hervorrufen, Bild 2-17.

Fy
F
Fx
My
r Fz

Mz y x
Mx
z

z x

Bild 2-17 Ermittlung der Komponenten
 Mx, My und Mz eines Momentes M mit den Komponenten Fx,
Fy und Fz der Kraft F

Bei einer beliebigen räumlichen Kräftegruppe lässt sich das resultierende Moment ebenfalls
mit den Kraftkomponenten ermitteln. Für i Kräfte ergeben sich die Komponenten MRx, MRy,
und MRz
n

M Rx   Fiz  yi  Fiy  z i  (2.41),
i 1
36 2 Statik des Stützapparates

n
M Ry   Fix  z i  Fiz  xi  (2.42),
i 1

n

M Rz   Fiy  xi  Fix  y i  (2.43).
i 1

des resultierenden Momentes M R .

2.2.5 Moment eines Kräftepaars


„Zwei gleich große, entgegengesetzt gerichtete Kräfte auf parallelen Wirkungslinien
bilden ein Kräftepaar“, Bild 2-18a.
Die Wirkung eines Kräftepaars ist bestimmt durch sein Moment, siehe z. B. Bild 2-18:
M 1  F1  a (2.44),

M 2  F2  b (2.44).

Das Moment eines Kräftepaars ist unabhängig vom Bezugspunkt.

a) b)

F1 M1 = F1·a
a F2
=
M2 = F2·b
F1 b

F2

Bild 2-18 Wirkung von Kräftepaaren


a) Zwei Kräftepaare, F1·a und F2·b, belasten einen Körper
b) Die Wirkung der Kräftepaare kann durch die Momente M1 und M2 dargestellt werden

Mehrere Einzelmomente addieren sich unter Berücksichtigung des Drehsinns in ihrer Wir-
kung. Für die Momente in Bild 2-18b ergibt sich unter der Beachtung des mathematisch posi-
tiven Drehsinns das Gesamtmoment M:

: M   M 1  M 2   F1  a  F2  b (2.45).

Beispiel 2-6
An einem Röhrenknochen – idealisiert als Hohlzylinder mit dem Durchmesser d und der
Länge l – greifen die Kräfte F1, F2, F3 und F4 an.
Man bestimme die Momente, die um die x-, y- und z-Achse wirken.
Geg.: F1 = F, F2 = F, F3 = 2F, F4 = 3F
2.3 Gleichgewichtsbedingungen 37

y l
F3
F1

d x
z

F2 F4
Lösung:
a) Moment um x-Achse
d d d d d d d
M x  F1   F2   F4   F   F   3F    F 
2 2 2 2 2 2 2
b) Moment um y-Achse
M y   F4  l  3F  l

c) Moment um z-Achse
d
M z  F3   F d
2

2.3 Gleichgewichtsbedingungen
In Kapitel 1 sind u. a. Fragestellungen der Biomechanik formuliert, die es durch Anwendung
der bisher beschriebenen Grundlagen und mit den noch zu formulierenden Gleichgewichtsbe-
dingungen zu lösen gilt. Ein Körper oder eine Struktur ist im Gleichgewicht, wenn keine resul-
tierende Kraft und kein resultierendes Moment vorhanden sind. D. h. die Summen aller von
außen wirkenden Kräfte und Momente müssen Null sein. Mit diesen Überlegungen lassen sich
die Gleichgewichtsbedingungen der Statik formulieren.

2.3.1 Gleichgewichtsbedingungen für ebene Probleme


Ein Körper oder eine Struktur kann durch Kräfte (Einzelkräfte oder beliebige ebene Kräfte-
gruppen), Momente und Kräftepaare belastet sein. Die Belastungsgrößen versuchen den Kör-
per zu verschieben und zu verdrehen.
In der Ebene besitzt ein ungebundener starrer Körper drei grundlegende Möglichkeiten der
Bewegung:
Zwei Translationen und eine Rotation.
D. h. ein Körper kann durch die wirkenden Kräfte sowohl in x- als auch in y-Richtung ver-
schoben und durch die wirkenden Momente in Rotation versetzt werden (Drehung um ), Bild
2-19.
„Gleichgewicht liegt vor, d. h. Bewegung wird verhindert, wenn keine resultierende
Kraft und kein resultierendes Moment auf den Körper wirken.“
38 2 Statik des Stützapparates

M1

F2
y
F3
x
φ

F1
M2

Bild 2-19 Belastung eines Körpers durch Kräfte und Momente mit den möglichen Verschiebungen in
x- und y-Richtung und der möglichen Verdrehung 

Mit diesen Überlegungen ergeben sich die drei Gleichgewichtsbedingungen der ebenen Statik:
F1x  F2x  F3x  ...  0 (2.46),

F1y  F2y  F3y  ...  0 (2.47),

M F1   M F2   ...  M 1  ...  0 (2.48).

Diese lassen sich in allgemeiner Form wie folgt schreiben:

 Fix  0  (2.49),

 Fiy  0  (2.50),

Mi  0 (2.51).

Gleichgewicht herrscht, wenn die Summe aller Kräfte in x-Richtung gleich null, die Summe
aller Kräfte in y-Richtung gleich null und die Summe aller Momente bezüglich eines beliebi-
gen Drehpunktes gleich null sind.
Bei der Anwendung der Gleichgewichtsbedingungen ist auf das Vorzeichen, d. h. auf die Rich-
tung der Kräfte und Momente genau zu achten. Eine in x-Richtung zeigende Kraft ist i. Allg.
positiv einzusetzen und eine entgegengesetzt wirkende Kraft negativ. Ein linksdrehendes Mo-
ment erhält i. Allg. ein positives Vorzeichen, ein rechtsdrehendes Moment ein negatives Vor-
zeichen. Die Vorzeichenrichtung kann auch durch die in den Gleichungen (2.49), (2.50) und
(2.51) dargestellten Pfeile kenntlich gemacht werden.
Bei Gleichgewichtbetrachtungen von Körpern müssen nur die äußeren Kräfte und Momente,
d. h. die wirkenden Lasten und die Lagerreaktionen, berücksichtigt werden. Innere Kräfte
bleiben dabei unberücksichtigt.

2.3.2 Gleichgewichtsbedingungen für räumliche Probleme


Bei räumlichen Kräftesystemen liegt Gleichgewicht
 vor, d. h. Bewegung von Körpern wird
verhindert, wenn keine resultierende Kraft R und kein resultierendes Moment M R wirken.
2.4 Schwerpunkt 39

Betrachtet man die Kräfte und Momente in den Komponenten, so ergeben sich die sechs
Gleichgewichtsbedingungen der räumlichen Statik:

 Fix  0 (2.52),

 Fiy  0 y (2.53),

 Fiz  0 z (2.54),

 M ix  0 x (2.55),

 M iy  0 (2.56),

 M iz  0 z (2.57).

Die Momentenbedingungen, Gleichungen (2.55), (2.56) und (2.57) beziehen sich auf die x-, y-
und z-Achse.

2.4 Schwerpunkt
In der Mechanik unterscheidet man verschiedene Arten von Schwerpunkten. Hierzu zählen der
Schwerpunkt eines Körpers sowie der Schwerpunkt einer Fläche.

2.4.1 Schwerpunkt eines Körpers


Auf alle Körper in Natur und Technik wirkt die Gewichtskraft. Dies bedeutet, jeder Körper,
aber auch jeder Teilbereich des Körpers, unterliegt der Schwerkraft. Für jeden Teilkörper i
ergibt sich somit das Teilgewicht
Gi  mi  g (2.58).

Dabei ist mi die Teilmasse und g die Fall- oder Schwerebeschleunigung. Diese hat auf der Erde
im Mittel den Wert 9,81 m/s2.
Alle Teilgewichte wirken zum Erdmittelpunkt hin, d. h. in vertikaler Richtung. Das Gesamt-
gewicht G des Körpers ergibt sich aus der Summe aller Teilgewichte

G  Gi (2.59).

Diese resultierende Gewichtskraft greift im Schwerpunkt des Körpers an. Sie ist ebenfalls
vertikal gerichtet und kann im Sinne der Raumstatik als resultierende Kraft einer aus parallelen
Kräften bestehenden Kräftegruppe angesehen werden, siehe Bild 2-20.
Die Lage des Schwerpunkts ergibt sich mit dem Momentensatz der Mechanik. Demnach ist die
Summe der Momente der Teilgewichte gleich dem Moment des Gesamtgewichts bezüglich
eines beliebigen Bezugspunkts oder einer beliebigen Bezugsachse.
40 2 Statik des Stützapparates

Teilbereich 1 Teilbereich 2
y Teilbereich 3

S1 S2 S3
S
G1 G2 G3
y1
G
z1 x
x1 yS zS
z xS

Bild 2-20 Schwerpunkt eines Körpers


G1, G2, G3: Teilgewichte des Körpers mit den Schwerpunkten S1, S2 und S3 der Teilbe-
reiche 1, 2 und 3 sowie den Schwerpunktskoordinaten xi, yi und zi
G: Gesamtgewicht des Körpers, das im Körperschwerpunkt S mit den Schwer-
punktskoordinaten xS, yS und zS angreift

Für den in Bild 2-20 dargestellten Körper gilt somit


G  G1  G2  G3 (2.60),

sowie mit dem Momentensatz bzgl. der z-Achse


G  xS  G1  x1  G 2  x 2  G3  x3 (2.61).

Entsprechend gilt der Momentensatz bzgl. der x- und y-Achse. Auf diese Weise erhält man die
Schwerpunktskoordinaten:
G  x  G2  x2  G3  x3
xS  1 1 (2.62),
G

G  y  G2  y 2  G3  y3
yS  1 1 (2.63),
G

G  z  G2  z 2  G3  z 3
zS  1 1 (2.64).
G
Für beliebig viele Teilmassen gelten die Beziehungen:

xS 
 Gi  xi (2.65),
G

yS 
 Gi  yi
(2.66),
G

zS 
 Gi  z i
(2.67),
G

mit G   Gi .
2.4 Schwerpunkt 41

2.4.2 Schwerpunkt des Menschen bei verschiedenen Körperhaltungen


Der Schwerpunkt des Menschen im aufrechten Stand mit angelegten Armen liegt etwa in der
Höhe des Bauchnabels einige Zentimeter vor dem 3. Lendenwirbel. Die Schwerpunkthöhe hS
beträgt ca. 55-57% der Körpergröße hK, Bild 2-21.

S Bild 2-21
hK Schwerpunkt des Menschen beim aufrechten Stand
(mit angelehnten Armen)

hS

Wie Bild 2-22 zeigt, verschiebt sich die Lage des Schwerpunkts bei verschiedenen Körperhal-
tungen.

Bild 2-22 Lage des Schwerpunkts bei unterschiedlichen Körperhaltungen

Beispiel 2-7
Eine Person hängt wie dargestellt am Reck. SO,K ist dabei der Gesamtschwerpunkt von Ober-
körper und Kopf, SB der Teilschwerpunkt der Beine.
Man beantworte und bestimme:
a) Kann sich die Person ohne Mühe in der dargestellten Position halten?
b) Um welche Drehachse wird sich die Person wahrscheinlich auspendeln?
42 2 Statik des Stützapparates

c) Die Teilgewichte für den Oberkörper, den Kopf und die Beine mit Hilfe der prozentualen
Gewichtsangaben in Kapitel 1.2.5 oder Beispiel 2–1.
d) Die Position des gemeinsamen Schwerpunkts von Oberkörper, Kopf und Beinen bezüg-
lich des Schultergelenks.
e) Den Winkel zwischen den gestreckten Armen und dem Oberkörper für den Gleichge-
wichtszustand.
Geg.: Gesamtgewicht der Person G = 650 N, a = 30 cm, b = 70 cm, c = 45cm
Reckstange

Schultergelenk

a S O,K

SB

c
Lösung:
a) Kann sich die Person ohne Mühe in der dargestellten Position halten?
Die Person kann die Position so nicht halten, weil das Gewicht der nach vorne gestreck-
ten Beine ein großes Moment um die Hand bzw. die Reckstange ausübt. Auch um das
Schultergelenk wirkt das gleiche Moment, das auch hier nicht ohne große Mühe im
Gleichgewicht gehalten werden kann.
b) Um welche Drehachse wird sich die Person wahrscheinlich auspendeln?
Die Person wird sich wahrscheinlich so auspendeln, dass die Hand, das Schultergelenk
und der Gesamtschwerpunkt von Oberkörper, Kopf und Beinen auf einer vertikalen Linie
liegen. Die voraussichtliche Drehachse verläuft durch die Schultergelenke.
c) Die Teilgewichte für den Oberkörper, den Kopf und die Beine.
Teilgewicht Oberkörper: Teilgewicht Kopf:
43 43 7 7
GO  G   650 N  279,5 N GK  G   650 N  45,5 N
100 100 100 100
Gesamtgewicht von Oberkörper und Kopf:
GO, K  GO  GK  279,5 N  45,5 N  325 N Gesamtschwerpunkt: SO,K
Teilgewicht Bein:
18,5 18,5
GB  G   650 N  120,25 N
100 100
Gesamtgewicht Beine:
G2B  2GB  2  120,25 N  240,5 N Schwerpunkt: SB
2.4 Schwerpunkt 43

d) Position des Gesamtschwerpunkts des Körpers (ohne Arme)


Gesamtgewicht des Schwerpunkts (ohne Arme):
G(oA)  GO, K  G2B  325 N  240,5 N  565,5 N

Schwerpunktskoordinate xS

xS 
 Gi  xi   Gi  xi 
GO,K  0  G2B  c

240,5 N  45 cm
 19,1 cm
Gi G(oA) G(oA) 565,5 N

yS 
 Gi  yi   GO, K  a  G2B  b   325 N  30 cm  240,5 N  70 cm  47 ,0 cm
G(oA) G(oA) 565,5 N
Reckstange

Schultergelenk y

S O,K x
φ S
GO,K
SB

G 2B

e) Winkel zwischen gestreckten Armen und Oberkörper im Gleichgewichtszustand


xS 19,1 cm
tan     0,406
yS 47,0 cm
  arctan 0,4  22,1
Der Körper (ohne Arme) dreht sich um das Schultergelenk, bis sich der Gesamtschwer-
punkt unter dem Schultergelenk befindet.

2.4.3 Schwerpunkte von Flächen


Kennt man die Flächeninhalte und die Schwerpunktkoordinaten der Teilflächen, so lassen sich
die Schwerpunktkoordinaten der Gesamtfläche, Bild 2-23, wie folgt berechnen:

xS 
 Ai  xi (2.68)
 Ai

yS 
 Ai  yi (2.69)
 Ai
mit der Gesamtfläche A   Ai .
44 2 Statik des Stützapparates

y A1
Ai

A2 Bild 2-23
Si Schwerpunktberechnung einer aus Teilflä-
x1 S1 chen zusammengesetzten Fläche
S S2
xS A1, A2, ..., Ai : Teilflächen
x1, y1, …, xi, yi : Koordinaten der Schwer-
y1 punkte der Teilflächen
yS A = A i : Gesamtfläche
xS, yS : Schwerpunktskoordinaten
der Gesamtfläche
x

Beispiel 2-8
Eine Person mit einem Gesamtgewicht G hat sich zu Übungszwecken einen Schuh mit einem
Teilgewicht GS an einem Fuß befestigt. Die Positionen der Einzelschwerpunkte sind in der
nachfolgenden Tabelle in Bezug auf das Kniegelenk (Koordinatenursprung des x-y-
Koordinatensystems) aufgelistet.
y
x [cm] y [cm]
x
Kniegelenk 0 0
Schwerpunkt Unterschenkel 0 -20
Schwerpunkt Fuß 9 -50
Schwerpunkt Schuh 6 -53

Man ermittle:
a) das Gewicht des Unterschenkels und des Fußes anhand der in Kapitel 1.2.5 angegebenen
Gewichtsanteile des menschlichen Körpers,
b) die Position des Gesamtschwerpunkts von Unterschenkel, Fuß und Schuh bezüglich des
Kniegelenks und
c) das Drehmoment von Unterschenkel, Fuß und Schuh bezüglich des Kniegelenks.
Geg.: G = 850 N, GS = 60 N, Koordinaten x und y entsprechend der Tabelle
Lösung:
a) Gewicht des Unterschenkels und des Fußes
5,3 5,3
Unterschenkel: GUS  G   850 N  45,05 N
100 100
1,8 1,8
Fuß: GF  G   850 N  15,3 N
100 100
2.4 Schwerpunkt 45

b) Position des Gesamtschwerpunkts


y
xS

x
S US
yS Gesamtgewicht des Unterschenkels mit Fuß und Schuh
G US G  GUS  GF  GS  45,05 N  15,3 N  60 N  120,35 N
S
SF

SS
GS GF

x-Abstand des Gesamtschwerpunkts S zum Kniegelenk:

xS 
 Gi  xi   Gi  xi 
45,05 N  0  15,3 N  9 cm  60 N  6 cm
 4,1 cm
 Gi G 120,35 N

y-Koordinate des Gesamtschwerpunkts:

yS 
 Gi  yi 
45,05 N   20 cm   15,3 N   50 cm   60 N   53 cm 
 40,3 cm
G 120,35 N
c) Drehmoment bzgl. des Kniegelenks y
x
lS
α

S
lS ·sinα

Die Gewichtskraft G wirkt senkrecht nach unten und greift im Schwerpunkt S an. lS ist
der direkte Abstand vom Schwerpunkt zum Kniegelenk:

lS  xS2  yS2  4,12 cm 2   40,32 cm 2  40,5 cm


Drehmoment bzgl. Kniegelenk:
M K  G  lS  sin 
In der Ausgangsstellung beträgt das Drehmoment
M K 0  G  xS  120,35 N  4,1 cm  4,93 Nm
Wird das Bein gestreckt, nimmt das Moment sinusförmig zu und erreicht in der
Streckstellung (bei  =90°)
M K 90  G  lS  120,35 N  40,5 cm  48,74 Nm
46 2 Statik des Stützapparates

2.5 Bewegungsapparat als mehrteilige Struktur


Der menschliche Bewegungsapparat ist die Gesamtheit der Knochen, Gelenke, Bänder und
Muskeln mit ihren Hilfseinrichtungen wie Sehnen, Sehnenscheiden und Schleimbeuteln. Es
wird unterschieden zwischen dem passiven Bewegungsapparat oder Skelettsystem und dem
aktiven Bewegungsapparat oder Muskelsystem.

2.5.1 Passiver Bewegungsapparat


Zu dem passiven Bewegungsapparat oder Skelettsystem zählen die Knochen, die Bänder und
die Gelenke (siehe Bild 1–1 und Bild 2-24a).

a) b)
Muskel (Seil)

Sehne (Seil)
Oberschenkel-
knochen (Balken)

vorderes Kreuz- Kniescheibe


band (Seil) (Scheibe, Platte)

hinteres Kreuz-
band (Seil) Kniescheiben-
band (Seil)
Schienbein
(Balken)

Bild 2-24 Prinzipielle Darstellung des passiven und aktiven Bewegungsapparats am Beispiel des Knie-
gelenks
a) Passiver Bewegungsapparat mit den Knochen und Bändern
b) Aktiver Bewegungsapparat mit der Sehne und dem Muskel

Knochen stellen, statisch gesehen, Stäbe, Scheiben, Balken, Schalen oder Körper, die beliebige
Belastungen übertragen können, dar. Stäbe übertragen nur Normalkräfte als Zug- oder Druck-
kräfte. Balken und andere Körper können Normalkräfte, Querkräfte, Biegemomente und Tor-
sionsmomente aufnehmen.
Bänder sind statisch gesehen Seile, in denen nur Zugkräfte wirken.
Gelenke sind bewegliche Verbindungen zwischen Körperteilen, die beliebige Kräfte aber keine
Momente übertragen können.

2.5.2 Aktiver Bewegungsapparat


Der aktive Bewegungsapparat besteht aus den Skelettmuskeln und ihren Hilfseinrichtungen
wie z. B. Sehnen und Sehnenscheiden, Bild 1–2 und Bild 2-24b.
Muskeln stellen statisch gesehen Seile dar, die Zugkräfte übertragen können. Sehnen können
ebenfalls als Seile angesehen werden.
2.5 Bewegungsapparat als mehrteilige Struktur 47

2.5.3 Grundstrukturen der Statik


Der menschliche Bewegungsapparat besteht aus mechanischen Grundstrukturen wie z. B.
Seilen, Stäben, Balken und sonstigen Komponenten. Diese sollen nachfolgend aus statischer
Sicht klassifiziert werden.

2.5.3.1 Seil
Ein Seil ist biegeschlaff. Es kann nur Zugkräfte in Seilrichtung aufnehmen, Bild 2-25. Das Seil
ist damit das einfachste Kraftübertragungselement.

a) b) gedachter Schnitt
F F F N=F

Bild 2-25 a) Das Seil kann nur Zugkräfte in Seilrichtung aufnehmen


b) Im Seilinneren tritt daher nur eine Normalkraft (Zugkraft) N auf, die der äußeren Kraft F
entspricht

Beim menschlichen Bewegungsapparat stellen Bänder sowie Muskeln und Sehnen Seile dar.

2.5.3.2 Stab
Ein Stab hat eine gewisse Biegesteifigkeit. Daher kann er Zug- und Druckkräfte in Stabrich-
tung aufnehmen, Bild 2-26. Die Querschnittsabmessungen einer Stabstruktur sind allerdings
klein gegenüber der Strukturlänge. Im Stabinneren wirkt eine Normalkraft N  F bei Zugbe-
lastung oder N   F bei Druckbelastung.

a) b)
F F F F

F N=F F N = -F

x x

Bild 2-26 Stab: Zug- oder Druckkräfte in Stabrichtung sind übertragbar


a) Zugstab: Normalkraft N = F wird übertragen
b) Druckstab: Normalkraft N = –F wirkt im Stabinneren

2.5.3.3 Balken
Ein Balken, der einer ebenen Belastung ausgesetzt wird, kann nicht nur Kräfte in Balkenrich-
tung, sondern auch quer zu seiner Achse aufnehmen und zudem auch Momente übertragen,
Bild 2-27a.
48 2 Statik des Stützapparates

a) b)
F
q M q MB

N
Q
x
Bild 2-27 Balken bei ebener Belastung
a) Balkenbelastung durch Einzelkraft, Streckenlast, und Biegemoment
b) Innere „Kräfte“ beim Balken: Normalkraft N, Querkraft Q und Biegemoment MB

Schnittgrößen sind bei ebener Balkenbelastung die Normalkraft N, die Querkraft Q und das
Biegemoment M, Bild 2-27b. Diese Schnittgrößen werden durch gedachtes Aufschneiden des
Balkens an einer bestimmten Stelle x mit den Gleichgewichtsbedingungen der Statik ermittelt.
Bei räumlicher Belastung, Bild 2-28a, können Balken oder balkenartige Strukturen im allge-
meinen Fall eine Normalkraft N, zwei Querkräfte Qy und Qz, zwei Biegemomente My und Mz
und ein Torsionsmoment M x  M T übertragen, Bild 2-28b.

a)
l

MT F1 x
y
z MB

F2
b) x
N Mx
x
y Qy
Qz = Q
z
M y= M
Mz

Bild 2-28 Balken oder balkenartige Struktur bei räumlicher Belastung


a) Balkenbelastung durch Einzelkräfte, Biegemoment und Torsionsmoment
b) Schnittgrößen beim räumlich belasteten Balken: Normalkraft N, Querkräfte Qy und Qz,
Biegemomente My und Mz und Torsionsmoment Mx

Balken und balkenähnliche Strukturen sind insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass die
Länge deutlich größer ist als die Querschnittsabmessungen der Struktur.
Röhrenknochen, wie z. B. die Bein- oder Armknochen sowie z. B. die Hand- und Mittelfuß-
knochen können als Balken angesehen werden, die je nach Belastung oder Bewegung des
Menschen einer ebenen oder räumlichen Belastung ausgesetzt sind.
2.5 Bewegungsapparat als mehrteilige Struktur 49

2.5.3.4 Scheiben, Platten, Schalen oder sonstige Strukturen


Scheiben, Platten und Schalen sind Flächentragwerke. Eine Scheibe (die Scheibendicke ist
klein gegenüber den sonstigen Abmessungen) überträgt aus Sicht der Statik lediglich Kräfte in
Scheibenebene. Es liegt also ein ebener Belastungszustand in der Scheibenebene vor. Im
menschlichen Bewegungsapparat existieren nach dieser Definition keine Scheiben.
Platten und Schalen unterliegen in der Regel einer räumlichen Belastung. Eine Platte ist somit
in der Lage auch Kräfte senkrecht zur Ebene sowie Momente zu übertragen. Schalen können
z. B. als gekrümmte Platten aufgefasst werden. Eine Platte ist in diesem Sinne die Kniescheibe.
Schalen sind die Schädelknochen und die Beckenschaufeln.
Sonstige Strukturen (Körperteile), die weder eine längliche oder eine ebene Gestalt haben, sind
in der Lage allgemein dreidimensionale Belastungen und somit innere Kräfte und Momente
(Schnittgrößen) zu übertragen. Beispiele hierfür sind die kurzen Knochen wie Wirbelkörper
sowie Hand- und Fußwurzelknochen.

2.5.4 Gelenke
Der menschliche Bewegungsapparat kann seine Funktion nur erfüllen, wenn die einzelnen
Knochen beweglich miteinander verbunden sind. Die Bewegung ist möglich durch die Gelen-
ke des Skeletts. Als Gelenk wird jede Art der Verbindung zwischen Skelettteilen bezeichnet.
In der Mechanik versteht man Gelenke als bewegliche Verbindungen zwischen Körperteilen
(starren Körpern), die beliebige Kräfte, aber keine Momente übertragen können.
Bild 2-29a zeigt z. B. eine Gelenkverbindung zwischen zwei Körperteilen (Körperteil 1 und
Körperteil 2), z. B. zwei Fingergliedern. Das Gelenk G z. B. ermöglicht eine Drehung um
einen Winkel . Bei ebener Belastung werden die Gelenkkräfte Gx und Gy übertragen, Bild
2-29b. Diese können durch gedankliches Aufschneiden des Gelenks sichtbar gemacht und mit
Hilfe von Gleichgewichtsbetrachtungen für jeden Körperteil ermittelt werden.
Eine eingehende Beschreibung der verschiedenartigen Gelenke des Menschen erfolgt in Kapi-
tel 5.

a) b)
Gy
G Gx
1 1
Gx
2 Gy 2
φ

Bild 2-29 Gelenke als bewegliche Verbindungen zwischen Körperteilen


a) Zwei Körperteile 1 und 2 sind durch ein Gelenk G verbunden
b) Im Gelenk werden z. B. die Gelenkkräfte Gx und Gy übertragen, die durch gedankliches
Aufschneiden des Gelenks sichtbar gemacht werden
50 2 Statik des Stützapparates

2.6 Wechselwirkung des Bewegungsapparats mit der Umgebung


Technische Tragwerke z. B. Brücken, Decken, usw. können ihre Funktion nur erfüllen, wenn
sie stabil gelagert sind. Sie dürfen sich bei den möglichen Belastungen nicht bewegen, d. h.
nicht verdrehen und verschieben. In der Technischen Mechanik unterscheidet man insbesonde-
re drei grundlegende Lagerungsarten. Diese werden im folgenden Kapitel kurz vorgestellt.
Beim menschlichen Bewegungsapparat treten in den Berührflächen zwischen einem Körper
und seiner Umgebung Stütz- und Haltekräfte, so genannte Kontaktkräfte auf. Zudem treten
Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Körperteilen, z. B. in den Gelenken auf. Diese
Stütz-, Halte- und Gelenkkräfte des menschlichen Bewegungsapparats werden im Kapitel 2.6.3
beschrieben.

2.6.1 Grundlegende Lagerungsarten der Technischen Mechanik


Die wichtigsten Auflagerungen, Stützungen und Führungen von Tragwerken lassen sich auf
drei wichtige Grundfälle zurückführen, nämlich das verschiebbare Lager oder Loslager, das
feste Lager oder Festlager und die Einspannung.

2.6.1.1 Loslager bzw. einwertiges Lager


a) b) c)

Tragwerk
oder Körper

Gelenk
Lagerstuhl A d)

y Lagerführung

x N

Bild 2-30 Loslager bzw. einwertiges Lager


a) Lagerung eines Tragwerks oder eines Körpers (z. B. als Rollenlager einer Autobahn-
brücke)
b) Freischnitt des Lagers mit der vom Lager auf das Tragwerk ausgeübten Kraft
c) Reibungsfreier Kontakt zwischen zwei Körpern
d) Lediglich die Normalkraft N wird im Kontaktbereich übertragen

Das Loslager wird auch verschiebbares Stützgelenk genannt, Bild 2-30a. Bei technischen
Strukturen wird sehr häufig das Tragwerk über ein Gelenk mit dem Lagerstuhl verbunden.
Dieser lässt sich dann nur parallel zur Unterlage bzw. zur Lagerführung verschieben. Die vom
Lager auf das Tragwerk übertragene Kraft A wirkt senkrecht zur Führungsebene, Bild 2-30b.
Beim reibungsfreien Kontakt zwischen zwei Körpern, Bild 2-30c, tritt ebenfalls nur eine Kraft
in Richtung der Normalen zur Kontaktfläche auf, Bild 2-30d. Diese Kontaktsituation, die beim
Menschen insbesondere in Gelenken vorkommt, ist ebenfalls ein Loslager. Da ein Loslager
2.6 Wechselwirkung des Bewegungsapparats mit der Umgebung 51

lediglich die Bewegung des Körpers in eine Richtung unterdrückt, hat das Lager nur eine La-
gerbindung: a = 1. Das Lager wird damit als statisch einwertig bezeichnet.

2.6.1.2 Festlager bzw. zweiwertiges Lager


Das Festlager wird auch festes Stützgelenk genannt. Über ein Gelenk ist das Tragwerk bzw.
der Körper mit dem Lagerstuhl verbunden, der auf einer Unterlage befestigt ist, Bild 2-31a.
Das Lager lässt sich nicht mehr verschieben. Die vom Lager zu übertragende Kraft bzw. die
Kraftkomponenten Ax bzw. Ay, Bild 2-31b, sind von den auf den Körper einwirkenden Kräften
und Momenten abhängig.
Beim reibungsbehafteten Kontakt zwischen zwei Körpern oder einem Körper und einer Unter-
lage, Bild 2-31c, treten in der Kontaktfläche eine Normalkraft (normal zur Kontaktfläche) und
eine Tangentialkraft (tangential zur Kontaktfläche) auf, Bild 2-31d.
Das Festlager unterdrückt eine Bewegung in zwei Richtungen, z. B. in x- und y-Richtung, hat
demnach zwei Lagerbindungen (a = 2) und ist somit statisch zweiwertig.

a) b)
Tragwerk
oder Körper

Ax
Gelenk
Ay
y Lagerstuhl ist
fest mit Unterlage
verbunden
x
c) d)
Körper

T
Unterlage N

Bild 2-31 Festlager bzw. zweiwertiges Lager


a) Lagerung eines Tragwerks
b) Freischnitt des Lagers mit den vom Lager auf das Tragwerk ausgeübten Kraftkomponen-
ten Ax und Ay
c) Reibungsbehafteter Kontakt zwischen einem Körper und einer Unterlage
d) Im Kontaktbereich werden eine Normalkraft N und eine Tangentialkraft T übertragen

2.6.1.3 Einspannung
Die Lagerreaktionskraft Einspannung liegt vor, wenn ein Tragwerk oder ein Körper einge-
klemmt oder fest verschraubt oder verbunden ist mit der Umgebung. Eine Einspannung lässt
weder eine Verschiebung in x- oder y-Richtung noch eine Verdrehung zu. Sie besitzt somit 3
Auflagerbedingungen und ist damit statisch dreiwertig (a = 3). Als Lagerreaktionen ergeben
sich die Kräfte Ax, Ay sowie das Einspannmoment ME.
52 2 Statik des Stützapparates

a) b)
Tragwerk
Ax

ME

Einspannung Ay

Bild 2-32 Lagerungsart Einspannung oder dreiwertiges Lager


a) Tragwerk ist eingespannt, eingeklemmt oder eingeschweißt
b) Freischnitt des Lagers mit den Lagerreaktionskräften Ax und Ay und dem Lagerreaktions-
moment oder Einspannmoment ME

2.6.2 Freiheitsgrade, stabile Lagerung und statische Bestimmtheit von Tragwer-


ken und Körpern
Ein nicht gelagerter oder gestützter Körper kann sich frei bewegen. Bei einer ebenen Bewe-
gung hat der Körper drei Freiheitsgrade, nämlich zwei Translationen (z. B. Bewegung in x-
Richtung und Bewegung in y-Richtung) und eine Rotation (d. h. eine Drehung um ), Bild
2-33a. D. h. der Körper hat f = 3 Freiheitsgrade der Bewegung.

a) b)

y φ φ

x
a=2
ages = 0 f=3
ages = 2 f=1
beweglich
beweglich
c) d)

a=2 a=1 a=2 a=2

ages = 3 f=0 ages = 4 f = -1


statisch bestimmt gelagert 1-fach statisch unbestimmt gelagert
Bild 2-33 Lagerungen, Freiheitsgrade und statische Bestimmtheit von Tragwerken und Körpern
a) Nicht gelagerter oder gestützter Körper hat drei Freiheitsgrade der Bewegung (x, y,)
b) Lagerung mit einem Festlager: Körper kann sich drehen, hat also einen Bewegungsfrei-
heitsgrad
c) Lagerung mit einem Festlager und einem Loslager: Körper hat keinen Freiheitsgrad der
Bewegung, ist also statisch bestimmt und stabil gelagert
d) Lagerung mit zwei Festlagern: Körper ist einfach statisch unbestimmt gelagert

Ganz allgemein kann damit festgehalten werden, dass bei ebener Bewegung die Summe der
Freiheitsgrade den Wert drei nicht überschreitet.
Somit erhält man bei einem gelagerten oder gestützten Körper die Anzahl der Freiheitsgrade
mit der Beziehung
2.6 Wechselwirkung des Bewegungsapparats mit der Umgebung 53

f  3  ages (2.70).

In Gleichung (2.70) stellt ages die Summe der Auflagerreaktionen eines gelagerten und gestütz-
ten starren Körpers dar.
Ergibt sich f > 0, so kann sich das Tragwerk oder der Körper bewegen. Ein Tragwerk ist somit
statisch unbrauchbar, siehe auch Bild 2-33b.
Für f = 0 sind in der Regel keine Starrkörperbewegungen mehr möglich und es liegt ein sta-
tisch bestimmtes und stabiles System vor, Bild 2-33c.
Bei statisch bestimmten Systemen können die drei wirkenden Auflagerreaktionen mit den
Methoden der Statik, d. h. mit den drei Gleichgewichtsbedingungen der ebenen Statik (siehe
Kapitel 2.3.1), bestimmt werden.
Ist f < 0, so ist das Tragwerk zwar stabil aber statisch unbestimmt gelagert. Die Auflagerreak-
tionen können nicht mehr allein mit den Methoden der Statik bestimmt werden. Dies bedeutet,
die drei Gleichgewichtsbedingungen der ebenen Statik reichen nicht aus, um die vier Lagerre-
aktionen in Bild 2-33d zu ermitteln. Es muss noch eine weitere Bedingung gefunden werden,
um das Problem zu lösen. Bei verformbaren Tragstrukturen liefern die Verformungen eine
zusätzliche Bedingung, siehe z. B. [2-2]. Beim menschlichen Bewegungsapparat werden z. B.
das Prinzip der momentenfreien Gelenkbelastung und das Prinzip der zwanglosen Stützung
herangezogen, siehe Kapitel 2.8.5.

2.6.3 Stützen und Halten beim menschlichen Bewegungsapparat


Beim menschlichen Bewegungsapparat treten in den Berührflächen zwischen einem Körperteil
und der Umgebung Stütz- und Haltekräfte auf, siehe Bild 2-34. Hierbei werden als Kontakt-
kräfte die Normalkraft N und die Tangentialkraft T übertragen.

a) b)
G
G

T
N
Kontaktfläche
Kontaktnormale N
T

Bild 2-34 Stütz- und Haltekräfte beim Bewegungsapparat


a) Kontaktsituation zwischen Körperteil und Umgebung
b) In der Kontaktfläche werden die Normalkraft N und die Tangentialkraft T übertragen
54 2 Statik des Stützapparates

Nach dem Wechselwirkungsgesetz (Kapitel 2.1.3.3) sind die Kontaktkräfte in beiden Berühr-
flächen gleich groß und entgegengesetzt gerichtet.
Die resultierende Kraft kann, wie in Bild 2-34b gezeigt, in zwei Komponenten zerlegt werden.
Die Normalkraft N stellt eine Druckkraftkomponente senkrecht zu den Kontaktflächen, also in
Richtung der Kontaktnormalen dar. Zugkräfte können durch Kontakt nicht übertragen werden.
Die Tangentialkraft T wirkt tangential in der Berührebene. Tangentialkräfte können bei Kon-
taktsituationen nur durch Haftung (Haftreibung) bzw. Reibung (Gleitreibung) übertragen wer-
den.

2.6.4 Haftung, Haftreibung


Die Grundlagen der zuvor beschriebenen Reibungserscheinungen sollen anhand eines einfa-
chen Körpers, der sich auf einer rauen Unterlage befindet, erläutert werden.
Liegt der Körper auf einer waagerechten Unterlage, Bild 2-35a, und wirkt als äußere Kraft nur
die Gewichtskraft G, so tritt in der Berührfläche lediglich die Normalkraft N auf, Bild 2-35b.
Der Körper befindet sich im Gleichgewicht, die Haftreibungskraft (Haftkraft, Tangentialkraft)
RH (häufig auch mit H bezeichnet) ist null.

a) b) c)
G G
m
F

RH
N
N

Bild 2-35 Ruhender Körper auf einer rauen Unterlage


a) Körper der Masse m liegt auf einer waagerechten Unterlage
b) Freischnitt des ruhenden Körpers mit der Gewichtskraft G und der Normalkraft N
c) Obwohl eine horizontale Kraft F wirkt, befindet sich der Körper in Ruhe. Neben der
Gewichtskraft G und der Normalkraft N wirkt noch die Haftreibungskraft RH

Beim Freischnitt des Körpers, Bild 2-35b, ist die von der Unterlage auf den Körper ausgeübte
Normalkraft N eingezeichnet. Diese ist mit der Gewichtskraft G im Gleichgewicht:
: N G  0  N G (2.71).
Der Betrag der Normalkraft entspricht dem Betrag der Gewichtskraft, Gleichung (2.71).
Auch wenn eine horizontale äußere Kraft F auf den Körper wirkt, Bild 2-35c, bleibt der Kör-
per bis zu einer Grenzkraft in Ruhe. In diesem Fall wird in der Kontaktfläche eine tangentiale
Kraft RH übertragen, welche die Bewegung verhindert. Die so genannte Haftreibungskraft
(Haftkraft) RH tritt stets in solcher Größe und Richtung auf, dass Gleichgewicht herrscht.
Mit den Gleichgewichtsbedingungen für die ebene Statik, Gleichung (2.49) und Gleichung
(2.50), erhält man für diese Situation (Bild 2-35c):
: N G  0  N G (2.72)
2.6 Wechselwirkung des Bewegungsapparats mit der Umgebung 55

 : RH  F  0  RH  F (2.73).

Die Haftreibungskraft RH ist somit so groß wie die tangential zur Berührfläche wirkende äußere
Kraft F. Da Gleichgewicht in x- und y-Richtung herrscht, bleibt der Körper in Ruhe. Haftung
liegt also vor, wenn zwischen den beiden Kontaktflächen keine Relativverschiebung auftritt.
Ein Körper haftet aber nicht unbegrenzt auf einer Unterlage oder einem anderen Körper. Es
existiert für alle Kontaktpaarungen eine Grenzhaftung oder Grenzhaftreibungssituation. Haft-
reibung und damit eine Gleichgewichtssituation liegt nur solange vor, bis die Haftreibungskraft
RH die Grenzhaftungskraft RHmax erreicht. Die Grenzhaftungskraft RHmax ist der Normalkraft N
und dem Haftreibungskoeffizienten µH proportional. Es gilt das so genannte COULOMBsche
Gesetz
RHmax  µH  N (2.74).

Der Haftreibungskoeffizient µH hängt von der Werkstoffpaarung der im Kontakt befindlichen


Körper und von der Oberflächenrauheit der sich berührenden Flächen ab.
Aus den Gleichungen (2.73) und (2.74) ergibt sich die Haftreibungskraft bzw. die Haftbedin-
gung:
RH  F  RHmax (2.75),

siehe z. B. die Situation in Bild 2-35c.

Beispiel 2-9
a) b) α

G
G·cos α

G·sin α
y
x

RH
α
N

Eine Person steht auf einer schiefen Ebene mit dem Neigungswinkel . In der Kontaktfläche
liegt im Idealfall ein Haftreibungskoeffizient von µH1 und im ungünstigsten Fall ein Haftrei-
bungskoeffizient µH2 vor.
Berechnen Sie:
a) die Haftreibungskraft RH sowie die Grenzhaftungskräfte für RHmax1 und RHmax2 für die
Extremsituationen,
b) die maximal möglichen Neigungswinkel 1 und 2 für die Extremsituationen.
56 2 Statik des Stützapparates

Geg.: G = 650 N,  = 10°, µH1 = 0,8, µH2 = 0,2


Lösung:
a) Haftreibungskraft RH sowie Grenzhaftungskräfte RHmax1 und RHmax2
Mit den Gleichgewichtsbedingungen folgt:
: RH  G  sin   650 N  sin 10  112,9 N

: N  G  cos   650 N  cos10  640,1 N

RHmax1  µH1  N  µH1  G  cos   0,8  650 N  cos10  512,1 N

RHmax2  µH2  N  µH2  G  cos   0,2  650 N  cos10  128,0 N

RH  112,9 N  RHmax2  RHmax1

b) maximal mögliche Neigungswinkel für die Grenzsituationen


Neigungswinkel 1:
RH  RHmax1

sin 1
G  sin 1  µH1  G  cos 1  tan 1   µH1
cos 1

 1  arctan µH1  arctan 0,8  38,7


Neigungswinkel 2:
RH  RHmax2

  2  arctan µH2  arctan 0,2  11,3

2.6.5 Gleitreibung
Wirkt auf einen Körper, der sich auf einer Unterlage befindet, eine größere horizontale Kraft
F, Bild 2-36a, oder liegt eine verminderte Reibung zwischen Körper und Unterlage vor, so
bewegt sich der Körper in Richtung von F, Bild 2-36b. Infolge der Kontaktsituation tritt eine
Gleitreibungskraft RG auf, welche die Bewegung erschwert. Diese Widerstandskraft wirkt stets
entgegengesetzt zur Bewegungsrichtung und hängt von der Werkstoffpaarung und der Ober-
flächenbeschaffenheit ab. Die auftretende Normalkraft ist gleich der Gewichtskraft
N G (2.76).
Die Gleitreibungskraft errechnet sich mit der Beziehung
RG  µG  N (2.77).

Der Betrag der Gleitreibungskraft ist somit abhängig von der zwischen dem Körper und der
Unterlage wirkenden Normalkraft N und dem Gleitreibungskoeffizienten µG.
2.7 Bestimmung von Reaktions- und Kontaktkräften bei einteiligen Systemen 57

a) b)
G
F
G
m Bewegungsrichtung
F RG
N

N
RG

Bild 2-36 Gleitreibungssituation


a) Körper der Masse m bewegt sich auf einer Unterlage
b) Neben den äußeren Kräften G und F wirken in der Kontaktfläche die Normalkraft N und
die Gleitreibungskraft RG

Bei Bewegungen mit Gleitreibung treten häufig Beschleunigungen und Verzögerungen auf. Da
Körper, die derartigen Bewegungen unterliegen sich nicht im Gleichgewicht befinden, können
derartige Vorgänge in der Regel nicht mit den Methoden der Statik beschrieben werden. Daher
werden diese Themen überwiegend in der Kinetik (siehe z. B. [2-3]) beschrieben.

2.7 Bestimmung von Reaktions- und Kontaktkräften bei einteiligen


Systemen
Eine wichtige Grundaufgabe der Statik ist die Ermittlung der Auflager- bzw. der Reaktions-
und Kontaktkräfte von Strukturen. Die Vorgehensweise wird anhand eines Beispiels in Bild
2-37 verdeutlicht.

2.7.1 Abstrahieren des Systems und Freischnitt


Viele Systeme oder Teilsysteme in Technik und Natur können als Balken oder balkenartige
Struktur, siehe z. B. Kapitel 2.5.3, angesehen werden. Bild 2-37a zeigt einen Balken, der bei A
in reibungsbehaftetem Kontakt mit der Umgebung steht und bei B durch eine Rolle abgestützt
wird. Die Kontaktstelle bei A kann somit als Festlager (zweiwertiges Lager) und die Rollenab-
stützung bei B als Loslager (einwertiges Lager) abstrahiert werden (siehe Kapitel 2.6.1 und
Bild 2-37b).
Auflagerreaktionen werden der Betrachtung zugänglich, wenn man die Struktur gedanklich
von den Lagern löst. In diesem Freischnitt werden dann neben den äußeren Kräften die Aufla-
gerreaktionen eingezeichnet und wie äußere Kräfte behandelt. Für das in Bild 2-37 dargestellte
System ergeben sich dann die Auflagerkräfte Ax und Ay bei Punkt A und die Auflagerkraft By
bei B, Bild 2-37c.
58 2 Statik des Stützapparates

a) reibungsbehafteter
Kontakt mit Umgebung F
α
Rolle
A B
y a
l
x
b)
F

A B

c)
F

Ax

Ay By

Bild 2-37 Bestimmung der Auflager- bzw. Reaktions- und Kontaktkräfte bei einem Balken oder einer
balkenartigen Struktur
a) Darstellung des Balkens mit äußerer Kraft F sowie der Kontakt- und Stützsituation bei A
und B
b) Abstrahierte Darstellung mit Festlager bei A und Loslager bei B
c) Freischnitt der Struktur mit den Auflagerkräften Ax und Ay bei A und By bei B

2.7.2 Ermittlung der Auflagerreaktions- bzw. Haltekräfte mittels der Gleichge-


wichtsbedingungen
Die Lagerreaktionen lassen sich nun mit den Gleichgewichtsbedingungen der ebenen Statik,
Kapitel 2.3.1 ermitteln. Das System befindet sich nur dann im Gleichgewicht, d. h. es ist stabil
gelagert, wenn alle drei Gleichgewichtbedingungen erfüllt sind. D. h. die Summen aller Kräfte
in x-Richtung und in y-Richtung und die Summe aller Momente um einen beliebigen Punkt,
am zweckmäßigsten um einen Lagerpunkt, müssen null sein.
Für das in Bild 2-37c dargestellte, freigeschnittene System lautet die Gleichgewichtsbedingung
in x-Richtung:
 : Ax  F  cos   0 (2.78).

Gleichgewicht in y-Richtung erhält man für


: Ay  B y  F  sin   0 (2.79).

Die Momentenbedingung um den Lagerpunkt A ergibt unter Beachtung der Drehrichtungen


der Momente:
2.8 Bestimmung von Reaktions- und Zwischenreaktionskräften bei mehrteiligen Systemen 59

A : B y  l  F  sin   a  0 (2.80).

Aus Gleichung (2.80) erhält man die Auflagerkraft im rechten Lager


F  a  sin 
By  (2.81).
l
Gleichung (2.78) liefert die Auflagerkraft
Ax  F  cos  (2.82).

Mit Gleichung (2.79) und Gleichung (2.81) erhält man die vertikale Auflagerkraft im linken
Lager
 a F  l  a   sin 
Ay  F  1    sin   (2.83).
 l l
Weitere Beispiele für die Ermittlung von Auflagerreaktionen finden sich in [2-1].

2.8 Bestimmung von Reaktions- und Zwischenreaktionskräften bei


mehrteiligen Systemen
Der menschliche Bewegungsapparat wird als Gesamtheit aller Knochen, Gelenke, Bänder und
Muskeln mit ihren Hilfseinrichtungen verstanden (siehe Kapitel 2.5). Es handelt sich also um
ein mehrteiliges System, das durch die Gelenke bewegungsfähig ist.
Um die Zusammenhänge besser zu verstehen, werden hier mehrteilige Systeme grundsätzlich
und auch speziell in Bezug auf den menschlichen Bewegungsapparat betrachtet.

2.8.1 Freiheitsgrade, stabile Lagerung und statische Bestimmtheit mehrteiliger


Systeme
Ein freies, nicht gelagertes Einzeltragwerk hat in der Ebene drei Freiheitsgrade, siehe Kapitel
2.6.2. Eine Anzahl von n freien (nicht gelagerten und nicht verbundenen) Teilsystemen hat
somit 3n Freiheitsgrade. Bei realen Systemen wird die Anzahl der Freiheitsgrade um die An-
zahl ages der Auflagerbindungen (Auflagerreaktionen) und die Anzahl zges der Zwischenreakti-
onen (Gelenkkräfte) reduziert. Ein System von n gebundenen Körpern hat somit
f  3n  (ages  z ges ) (2.84)

Freiheitsgrade.
Ein Loslager besitzt bekanntlich eine Auflagerbindung a = 1, ein Festlager zwei Auflagerbin-
dungen a = 2 und eine Einspannung drei Auflagerbindungen a = 3, siehe Kapitel 2.6.1.
Ein Gelenk ist statisch zweiwertig. Entsprechend den Gelenkkräften Gx und Gy (siehe Kapitel
2.5.4) hat ein Gelenk somit zwei Zwischenreaktionen: z = 2.
Auch bei mehrteiligen Tragwerken gilt für f = 0: das Tragwerk ist statisch bestimmt und stabil
gelagert. In der Regel können die Auflagerreaktionen und die Gelenkkräfte mit den Gleichge-
wichtsbedingungen der Statik ermittelt werden.
60 2 Statik des Stützapparates

Für f < 0 ist das System ebenfalls stabil gelagert. Es liegt allerdings eine statisch unbestimmte
Lagerung vor. Das bedeutet, die Gleichgewichtsbedingungen allein reichen nicht aus, um das
Problem zu lösen.

a) F2
G
F1
1 2
b
a

y A B
e
x
c d

b) F2

F1
1 2

Ax Bx

Ay By

c) Gy F2
Gx Gx
F1
1 2
Gy

Ax Bx
Ay By

Bild 2-38 Statische Bestimmtheit, Auflagerkräfte und Gelenkkräfte bei einem System mit Gelenken
a) Zwei Teilsysteme sind mit einem Gelenk verbunden
b) Freischnitt des Gesamtsystems (starrer Körper) mit den wirkenden Lasten und den Auf-
lagerkräften
c) Freischnitt der Teilsysteme mit den Auflagerkräften Ax, Ay, Bx und By sowie den Gelenk-
kräften Gx und Gy

Bei Betrachtungen des menschlichen Bewegungsapparats müssen zusätzliche Bedingungen


oder Hypothesen wie z. B. das Prinzip der momentenfreien Gelenkbelastung oder das Prinzip
der zwanglosen Stützung bzw. des minimalen Muskeleinsatzes herangezogen werden, siehe
Kapitel 2.8.5.
2.8 Bestimmung von Reaktions- und Zwischenreaktionskräften bei mehrteiligen Systemen 61

Ergibt sich f > 0, so kann sich das System bewegen. Es ist somit als statisches Tragwerk un-
brauchbar.
Für das in Bild 2-38a dargestellte System gilt für die Teilsysteme n = 2, für die Gesamtheit der
Auflagerreaktionen ages = 4 und für die Anzahl der Zwischenreaktionen zges = 2. Somit ergibt
sich nach Gleichung (2.84): f  3  2  4  2  6  6  0 Freiheitsgrade. Damit ist das System
statisch bestimmt und stabil gelagert.

2.8.2 Freischnitt des Gesamtsystems


Auch Systeme mit Gelenken können zunächst als starres Gesamtsystem betrachtet werden,
siehe Bild 2-38b. In diesem Fall greifen als äußere Kräfte F1 und F2 an. Als Auflagerreaktio-
nen wirken Ax, Ay, Bx und By. Wendet man die drei Gleichgewichtsbedingungen der ebenen
Statik zur Ermittlung der vier unbekannten Auflagerreaktionen an, so erkennt man, dass eine
Gleichung zur Lösung des Problems fehlt. Diese erhält man durch Freischnitt mindestens eines
Teilsystems und Aufstellen einer Momentengleichgewichtsbedingung um den Gelenkpunkt G.

2.8.3 Freischnitt von Teilsystemen


Neben dem Gesamtsystem kann auch jedes Teilsystem freigeschnitten werden, siehe Bild
2-38c. Dabei schneidet man gedanklich im Gelenk und trägt die Gelenkkräfte entsprechend
dem Wechselwirkungsgesetz, siehe Kapitel 2.1.3.3, entgegengesetzt und betragsmäßig gleich
groß in beide Teilsysteme ein.
Man geht nun von der Tatsache aus, dass das Gesamtsystem nur im Gleichgewicht sein kann,
wenn jedes Teilsystem für sich im Gleichgewicht ist.

2.8.4 Ermittlung von Reaktions- bzw. Kontaktkräften und Gelenkkräften


Obwohl man zunächst die drei Gleichgewichtsbedingungen für das Gesamtsystem aufstellen
und dann Einzelsysteme betrachten kann, ist es häufig sinnvoll, lediglich die Gleichgewichts-
bedingungen für die Einzelsysteme zu verwenden. Auf jeden Fall müssen für die Einzeltrag-
werke auch Momentenbedingungen um die Gelenkpunkte aufgestellt werden.
Für Teilsystem 1 in Bild 2-38c gilt z. B.
 : Ax  F1  G x  0 (2.85)

: Ay  G y  0 (2.86)

G: Ax  b  Ay  c  F1  b  a   0 (2.87).

Die Gleichgewichtsbedingungen für Teilsystem 2 lauten:


 : Bx  G x  0 (2.88)

: B y  G y  F2  0 (2.89)

G: Bx  b  B y  d  F2  d  e   0 (2.90).
62 2 Statik des Stützapparates

Man hat somit sechs Gleichungen mit sechs Unbekannten. Mit den Gleichgewichtsbedingun-
gen lassen sich die sechs unbekannten Größen für das statisch bestimmte Problem ermitteln.

2.8.5 Hypothesen zur Berechnung von Stütz- und Haltekräften beim menschli-
chen Bewegungsapparat
Beim menschlichen Bewegungsapparat kann man bei der Ermittlung von Stütz- und Haltekräf-
ten von verschiedenen Hypothesen ausgehen.
Diese erlauben es u. a. auch statisch unbestimmte Mehrkörpersysteme, wie sie der menschliche
Körper bei vielen Belastungssituationen darstellt, auf mit den Methoden der Statik lösbare
Systeme zurückzuführen.

2.8.5.1 Prinzip der rutschfreien Wechselwirkung mit der Umgebung


„Bei den Stütz- bzw. Haltestellen des Körpers gegenüber der Umgebung ist der Haft-
reibungskoeffizient µH so groß, dass kein Rutschen (keine Relativbewegung) auftritt.“
Das bedeutet, die Haftbedingung (siehe Kapitel 2.6.4 ist erfüllt). Somit ist die Haftreibungs-
kraft (Haftkraft) eine Reaktionskraft, welche durch die Gleichgewichtsbedingungen bestimmt
werden kann.

2.8.5.2 Prinzip der momentenfreien Gelenkbelastung


„Die menschlichen Gelenke werden als ideal reibungsfrei betrachtet und können keine
Momente übertragen.“
Sie nehmen beliebige Kräfte auf, deren Wirkungslinien durch den momentanen Drehpol des
Gelenks verlaufen. Es gelten somit die in den Kapiteln 2.8.1 bis 2.8.4 beschriebenen Konzepte
und Gesetzmäßigkeiten.

2.8.5.3 Prinzip der zwanglosen Stützung bzw. des minimalen Muskeleinsatzes


„Zur Stützung eines Körpers oder von Körperteilen gegenüber der Umgebung oder von
Körperteilen zueinander werden spontan nur so viele Muskeln eingesetzt, wie zur Er-
reichung einer statisch bestimmten und somit zwanglosen Abstützung erforderlich sind“
Bei einer äußerlich statisch unbestimmten Abstützung des Körpers gegenüber der Umgebung,
d. h. die Gleichgewichtsbedingungen reichen nicht aus, um die unbekannten Stützkräfte zu
berechnen, wird durch die biomechanisch sinnvolle Festlegung einer entsprechenden Anzahl
von Körpergelenken, bei denen das Moment der äußeren Kräfte und der Stützkräfte null ist,
ein statisch bestimmtes mehrteiliges Gesamtsystem erreicht. Bei diesen Gelenken muss die
Gelenkdrehung nicht durch Muskelkräfte verhindert werden. Mit diesen zusätzlichen Annah-
men können die Stützkräfte und die inneren Kräfte allein mit den Gleichgewichtsbedingungen
berechnet werden.
2.9 Bestimmung von inneren Kräften, Schnittgrößen 63

2.9 Bestimmung von inneren Kräften, Schnittgrößen


Ein Tragwerk soll so konstruiert und dimensioniert sein, dass seine Tragfähigkeit für alle auf-
tretenden Belastungen gewährleistet ist. Gleiches gilt für den menschlichen Bewegungsappa-
rat. Auch hier müssen die natürlichen mechanischen Beanspruchungen des Menschen ertragen
werden. Dies bedeutet, die Beanspruchungsgrenze des Materials (z. B. des Knochens) darf
nicht überschritten werden. Um dies nachweisen zu können, müssen die in einer Struktur auf-
tretenden inneren Kräfte und Momente, die so genannten Schnittgrößen N, Q und M, ermittelt
werden. Es gilt also herauszufinden, wie die äußeren Kräfte durch die Gesamtstruktur oder
jede Teilstruktur hindurchgeleitet werden.

2.9.1 Schnittprinzip nach EULER/LAGRANGE


Die Ermittlung der resultierenden inneren Kräfte und Momente geschieht mit dem Schnittprin-
zip nach EULER/LAGRANGE. Dabei wird das Tragwerk an den interessierenden Stellen
gedanklich aufgeschnitten (siehe z. B. Bild 2-4 und Bild 2-39a). An diesen Schnittstellen wer-
den die möglichen inneren Kräfte und das innere Moment angenommen und eingezeichnet.

a) b)
F1 F2 F1
M

I
N
y Q
FA FB FA
gedachter
Schnitt
x
c) F2
F1
Q
M M

N N

FA Q FB

Bild 2-39 Schnittprinzip nach EULER/LAGRANGE zur Ermittlung der Schnittgrößen N, Q und M
a) Tragwerk oder Körperteil mit den wirkenden Kräften (äußeren Kräften, Lagerreaktions-
kräften, Gelenkkräften) und dem gedachten Schnitt
b) Die Schnittgrößen N, Q und M verkörpern die resultierende Wirkung der verteilten inne-
ren Beanspruchungen
c) Schnittgrößen am linken und am rechten Schnittufer sind im Gleichgewicht

Bei zahlreichen Körperteilen und bei Balken oder balkenartigen Strukturen treten die Schnitt-
größen
 Normalkraft N
 Querkraft Q und
 Biegemoment M
64 2 Statik des Stützapparates

auf, Bild 2-39b.


Die Normalkraft N wirkt dabei stets normal, d. h. senkrecht, zur Schnittfläche. Die Querkraft Q
ist stets tangential zur Schnittfläche gerichtet. Das Schnittmoment bzw. innere Biegemoment
M bezieht sich auf den Schwerpunkt I der Schnittfläche. Die Schnittgrößen sind in der in Bild
2-39b dargestellten Weise positiv dargestellt.
Natürlich gilt auch für innere Kräfte das Wechselwirkungsgesetz, Kapitel 2.1.3. Demnach sind
Schnittgrößen am linken und am rechten Schnittufer oder am linken und am rechten freige-
schnittenen Strukturteil gleich groß, jedoch entgegengesetzt gerichtet, Bild 2-39c.
Innere Kräfte haben somit keine Wirkung nach außen. D. h. bei Fragen des Gleichgewichts der
Gesamtstruktur und bei der Ermittlung der Lagerreaktionen müssen die inneren Kräfte nicht
berücksichtigt werden.

2.9.2 Ermittlung der Schnittgrößen


Die Ermittlung von N, Q und M erfolgt am abgeschnittenen Tragwerksteil, siehe z. B. Bild
2-39b, mit den Gleichgewichtsbedingungen der Statik, Kapitel 2.3.1. Mit  Fix  0 (  )
erhält man die Normalkraft N, mit  Fiy  0 (  ) ergibt sich die Querkraft Q, mit  M i  0
( I ) bezüglich des Schwerpunkts der Schnittfläche lässt sich das Biegemoment M berechnen.
Die drei unbekannten Schnittgrößen können also mit den drei Gleichgewichtsbedingungen der
ebenen Statik ermittelt werden. Damit ist die Berechnung der Schnittgrößen ein statisch be-
stimmtes Problem.
Haben die Schnittgrößen über die gesamte Strukturlänge (z. B. Balkenlänge) einen stetigen
Verlauf, so spricht man von einem Einbereichsproblem. Ein Mehrbereichsproblem liegt vor,
wenn die Verläufe nicht stetig sind. Dies ist z. B. der Fall, wenn im Mittenbereich eines Bal-
kens Einzelkräfte wirken oder die balkenähnliche Struktur einen Knick aufweist. Bei dieser
Situation sind die Schnittgrößen für jede Teilstruktur getrennt zu ermitteln.

Beispiel 2-10

hS
G hE
β α

b
a
Eine Person mit dem Gesamtgewicht G macht Liegestütze auf dem Boden. Bei den Stützstel-
len findet kein Rutschen statt.
2.9 Bestimmung von inneren Kräften, Schnittgrößen 65

Schneiden Sie das System frei und berechnen Sie:


a) Die Stützkräfte bei den Füßen und den Händen sowie die Momente im Ellenbogen- bzw.
Schultergelenk für den Fall, dass keine Horizontalkräfte wirken,
b) die Stützkräfte bei den Füssen und den Händen sowie die Momente im Ellenbogen- bzw.
Schultergelenk für den Fall, dass die Person die Muskeln zur Stabilisierung des Schulter-
gelenks entlastet,
c) die Stützkräfte bei den Füssen und den Händen sowie die Momente im Ellenbogen- bzw.
Schultergelenk für den Fall, dass die Person die Muskeln zur Stabilisierung des Ellenbo-
gengelenks entlastet,
Beantworten Sie bei der Lösung der Aufgabe unter anderem:
- Wie ändern sich die Normalkräfte bei den drei Fällen?
- Treten bei den betrachteten Fällen Tangentialkräfte auf?
- Wie ist der Zusammenhang zwischen der Tangentialkraft bei den Füßen und bei den
Händen?
- Wodurch entstehen die unterschiedlichen Tangentialkräfte?
- Bei welcher Armstellung ist der Arm am wenigsten belastet?
Geg.: G, a, b, hE, hS, , 
Lösung:
a) Stützkräfte bei den Füßen und den Händen sowie die Momente im Ellenbogen- bzw.
Schultergelenk für den Fall, dass keine Horizontalkräfte wirken

NF NH
b
a
Momentengleichgewicht um den Fuß:
b
Fuß: N H  a  G  b  0  NH  G 
a
Kräftegleichgewicht in vertikaler Richtung:
 b ab
: NF  NH  G  0  N F  G  N H  G  1    G 
 a a
66 2 Statik des Stützapparates

Moment im Ellenbogengelenk: NE
ME

: N E  N H  sin   0  N E  N H  sin  QE
E
: QE  N H  cos   0  QE   N H  cos  hE
β
h h G  b  hE
E : M E  NH  E  0  M E  N H  E  
tan tan  a  tan 
NH

NE ist die Druckkraft und QE die Querkraft im Ellenbogengelenk. Beide verlaufen direkt
durch den Gelenkdrehpunkt. Das Ellenbogenmoment muss durch Muskelkraft aufge-
bracht, während die Kräfte durch passive Strukturen (Knochen, Bänder) übertragen wer-
den.

Moment im Schultergelenk:
MS
QS NS
hS
S : MS  NH  0
S tan

hS hS G  b  hS
 MS  NH  
α tan a  tan 

NH

Wird der Arm gestreckt und senkrecht zum Boden ausgerichtet, erreichen die Winkel 
und  den Wert 90°. tan und tan  werden dann sehr groß, so dass die Momente im El-
lenbogen und in der Schulter verschwinden und die Position ohne besonderen Kraft-
aufwand gehalten werden kann.
b) Wirkungslinie der Handkraft verläuft durch das Schultergelenk, so dass die Schulterge-
lenkmuskulatur entlastet wird

G α
HF
FH
NF
b
a

G b
Fuß: G  b  FH  a  sin   0  FH 
a  sin 
2.9 Bestimmung von inneren Kräften, Schnittgrößen 67

G  b  cos  G b
: H F  FH  cos   0  H F   FH  cos    
a  sin  a  tan 
G b ab
: N F  FH  sin   G  0  N F  G  FH  sin   G   sin   G 
a  sin  a
Normalkomponente der Handkraft:
G b b FH
N H  FH  sin    sin   G  NH
a  sin  a
α
Horizontalkomponente der Handkraft:
G b b
H H  FH  cos    cos   G   H F HH
a  sin  a  tan 
Die Normalkräfte sind genauso groß wie im Fall a). Die Horizontalkraft ist vorhanden
und bei den Füßen und den Händen gleich groß und entgegengesetzt gerichtet. Die Hori-
zontalkräfte sind die Folge innerer Kräfte, die von der Person durch Muskelkräfte erzeugt
werden. Die Normalkräfte resultieren aus dem Körpergewicht G.
Moment im Ellenbogengelenk
NE
ME hE
E : M E  NH   H H  hE  0
QE tan
E
 N   G b G b 
hE  M E   hE   H  H H    hE    
β  tan   a  tan  a  tan  

HH G b  1 1 
  hE    
NH a  tan  tan  

Beim entlasteten Schultergelenk ist das Moment im Ellenbogengelenk um den Anteil


HhhE größer als im Fall a). Das Moment im Schultergelenk ist null, da die Wirkungslinie
der Handkraft durch das Schultergelenk verläuft.
c) Wirkungslinie der Handkraft verläuft durch das Ellenbogengelenk

G
β
HF

NF FH
b
a

G b
Fuß: FH  sin   a  G  b  0  FH 
a  sin 
68 2 Statik des Stützapparates

G b ab
: N F  FH  sin   G  0  N F  G  FH  sin   G   sin   G 
a  sin  a

G b
: H F  FH  cos   0  H F  FH  cos  
a  tan 

Normalkomponente der Handkraft:


G b b
N H  FH  sin    sin   G 
a  sin  a NH FH

Horizontalkomponente der Handkraft: β


G b b
H H  FH  cos    cos   G   HF HH
a  sin  a  tan 
Die Normalkräfte sind genauso groß wie im Fall a). Die Horizontalkräfte bei den Händen
und den Füßen sind die Folge von inneren Muskelkräften. Sie sind gleich groß und ent-
gegengesetzt gerichtet.
Das Moment um das Ellenbogengelenk ist null, da die Handkraft durch das Ellenbogen-
gelenk verläuft.
Moment im Schultergelenk:

MS
hS
S : M S  H H  hS  N H  0
NS
tan
QS
hS
S
 M S  H H  hS  N H 
tan 
 b b 
hS   G  G   hS
 a  tan  a  tan  
α
G b  1  1
  hS   

HH a  tan  tan 

NH Das Moment im Schultergelenk ist um den Anteil HH·hS
größer als im Fall a).
Die inneren Kräfte (Muskelkräfte) können so eingestellt werden, dass die Wirkungslinie
der Handkraft zwischen den Gelenkstellen von Ellenbogen und Schulter verläuft. Beide
Gelenke müssen dann zwar durch Muskelkräfte stabilisiert werden, aber die Momente
sind kleiner als bei den beiden Grenzfällen, bei denen ein Gelenk vollständig entlastet
wird.
Bei einem gestreckten senkrecht ausgerichteten Arm werden beide Gelenkmomente null.
2.9 Bestimmung von inneren Kräften, Schnittgrößen 69

Beispiel 2-11
Eine Person mit einem Gesamtgewicht G macht Übungen für die Hüftbeugermuskulatur. Die
Füße stützen sich nur bei dem dargestellten Widerlager ab. Es findet kein Rutschen statt.
Schneiden Sie das System frei und berechnen Sie:
a) Die Teilgewichte GO und GB mit Hilfe der Angaben in Kapitel 1.2.5,
b) Die Kontaktkräfte mit dem Boden und dem Widerlager.
Beantworten Sie:
c) Wo müssen Muskelkräfte wirken, um diese Position halten zu können?
d) Wie groß sind die wirkenden Momente?
Geg.: G, a, b, c, d, e, 

SO
SB α
GO
GB
d

a b
c
Lösung:
a) Teilgewichte GO und GB
GO  0,43  0,07  2  0,065  G  0,63G

GB  2  0,185G  0,37G

b) Stützkräfte beim Gesäß und bei den Füßen

GO FW α
GB

HH
NH
70 2 Statik des Stützapparates

 : H H  FW  cos   0  H H  FW  cos 

: N H  GO  GB  FW  sin   0  N H  GO  GB  FW  sin 

H : GO  a  GB  b  FW  c  sin   FW  d  cos   0

G B  b  GO  a
 FW  d  cos   c  sin    GB  b  GO  a  FW 
d  cos   c  sin 
Die Kontaktkraft FW des Widerlagers muss größer als oder im Grenzfall gleich null sein,
da ansonsten in der gezeigten Stellung kein Gleichgewicht möglich ist. Im Grenzfall
FW  0 ist N H  GO  GB  G und H H  0 . Dies bedeutet: das Körpergewicht G ist
über dem Gesäß ausbalanciert und die Horizontalkraft beim Gesäß ist null.
c) Wo müssen Muskelkräfte wirken, um die dargestellte Position halten zu können?
Der erste Drehpunkt ist die Hüfte, d. h. es müssen die Hüftbeuger angespannt werden, um
den Oberkörper relativ zur Hüfte halten zu können.
Der zweite Drehpunkt ist das Kniegelenk. Der Schenkelstrecker (Quadrizeps) muss ange-
spannt werden, um das Kniegelenk in der dargestellten Position halten zu können.
d) Wie groß sind die wirkenden Momente?
Berechnung des Moments um das Hüftgelenk:

SO H :  M H  GO  a  0  M H  GO  a
MH
GO

HH
NH
a
Berechnung des Moments um das Kniegelenk:
NK
HK l

MK K : M K  FW  l  0  M K  FW  l

FW
2.9 Bestimmung von inneren Kräften, Schnittgrößen 71

Beispiel 2-12

Eine Person sitzt mit angelehntem Rücken und angewinkelten Beinen auf dem Boden. Auf
den Knien sitzt ein Kind mit dem Gewicht G. Das Eigengewicht der Beine der Person darf
vernachlässigt werden. Der Haftreibungskoeffizient zwischen den Füßen und dem Boden ist
µH.

lO
lU

α β

Beantworten Sie:
a) Welche Kontaktsituationen zwischen Fuß und Boden sind möglich und was bedeutet das
für die aufzuwendenden Muskelkräfte? Zeichnen Sie ein mechanisches Ersatzmodell, um
diese Frage zu beantworten.
b) Sind diese Überlegungen auch für das Hüftgelenk erforderlich?
c) Welche Muskelkräfte können zum Tragen der Last beitragen?
Berechnen Sie:
d) Die Kräfte im Hüftgelenk und im Sprunggelenk, dass kein Rutschen zwischen Füßen und
Boden auftritt und
e) wie schwer das Kind höchstens sein darf, damit die Füße gerade nicht zu rutschen begin-
nen.
Geg.: G, lO, lU, , 
Lösung:
a) Welche Kontaktsituationen sind möglich?
Fall 1:
Der Haftreibungskoeffizient zwischen Füßen und Boden ist genügend groß, dass kein
Rutschen bei den Füßen auftritt. Dadurch wirken der Oberschenkel und der Unterschen-
kel wie Fachwerkstäbe und es ist keine Muskelkraft erforderlich, um die Position zu hal-
ten. Der Oberkörper ist durch die Lehne gestützt und erfordert ebenfalls keine Muskel-
kraft.
72 2 Statik des Stützapparates

G
Haftbedingung (siehe Kapitel
2.6.4):
Unterschenkel
Oberschenkel
RHF  H F  µH  N F
NF FFuß
H F FFuß  sin 
 µH  
N F FFuß  cos 
HF
FFuß β  µH  tan 
FHüfte
β
Die Haftbedingung wird erfüllt, wenn der Unterschenkel möglichst vertikal aufgestellt
wird.
Fall 2:
Die erforderlichen Haftkräfte bei den Füßen sind so groß, dass der Haftkoeffizient nicht
ausreicht. Das ist der Fall, wenn der Boden zu glatt ist oder der Unterschenkel zu flach
aufgestellt wird.
G

Unterschenkel Beim Gleiten (siehe Kapitel 2.6.5)


Oberschenkel gilt:
RGF  RF  µG  N F

µG: Gleitreibungskoeffizient
RF
FHüfte NF

Um das Gewicht dennoch halten zu können, muss mit Muskelkraft die Bewegung im
Kniegelenk verhindert werden.
b) Sind diese Überlegungen, die für die Füße erforderlich sind, auch für das Hüftgelenk
erforderlich?
Die Überlegungen sind nicht erforderlich, da das Hüftgelenk durch die Rückenlehne ge-
stützt wird.
c) Welche Muskelkräfte können zum Tragen der Last beitragen?
Reicht der Haftkoeffizient zwischen Füßen und Boden nicht aus, dann kann die Last den-
noch getragen werden, wenn die Bewegungen im Kniegelenk oder im Hüftgelenk durch
Muskelkräfte verhindert werden. Es müssen also entweder der Kniebeuger oder der Hüft-
beuger oder beide gleichzeitig angespannt werden.
d) Berechnung der Kräfte im Hüftgelenk und im Sprunggelenk für den Fall, dass die Haft-
bedingung erfüllt ist.
2.9 Bestimmung von inneren Kräften, Schnittgrößen 73

FH und FS wirken entlang der Verbin-


Unterschenkel
Oberschenkel dungslinien von Hüftgelenk und
Kniegelenk bzw. Sprunggelenk und
Kniegelenk. D. h., Oberschenkel und
Unterschenkel sind mechanisch be-
α β trachtet Stäbe.
FH FS

sin 
 : FH  sin   FS  sin   0  FH  FS 
sin 
sin 
: FH  cos   FS  cos   G  0  FS   cos   FS  cos   G
sin 
G  sin  G  sin 
 FS  
sin   cos   cos   sin  sin    

mit dem Additionstheorem: sin   cos   cos   sin   sin(   )

sin  G  sin   sin  G  sin 


 FH  FS   
sin  sin      sin  sin    
e) Wann beginnen die Füße zu rutschen?
Zerlegen der Kraft FS im Sprunggelenk in die Normalkraft NS und die Tangentialkraft HS

FS
NS N S  FS  cos 
H S  FS  sin 
HS
β
Haftbedingung:
H S  FS  sin   µH  N S  µH  FS  cos   sin   µH  cos 

 tan   µH bzw.   arctan µH


Das bedeutet: Das Gewicht des Kindes spielt bei der Erfüllung der Haftbedingung keine
Rolle. Es liegt eine rein geometrische Bedingung vor. Der Winkel  des Unterschenkels
zur Vertikalen darf nicht zu groß sein. Ist der Winkel  null steht der Unterschenkel senk-
recht zum Boden und es gilt:
G  sin   G  sin 0
FS   G  NS , FH  0 und HS  0
sin   0  sin   0 
74 2 Statik des Stützapparates

Beispiel 2-13
a) b) c)
B x B = 160 N x

Mmax = Ax ·a = 48 Nm
F b F

a
x M (x)

A Q Ax = 240 N M 0

Ein Fußballspieler, erhält einen Tritt mit der Kraft F gegen sein Schienbein, Skizze a. Der
Fußbereich (A) wird durch ein Festlager und der Kniebereich (B) durch ein Loslager ideali-
siert.
Man bestimme:
a) die Kräfte in den Lagern A und B
b) den Querkraft- und den Biegemomentenverlauf im Schienbein infolge des Tritts sowie
c) das maximale Biegemoment
Geg.: F = 400 N, a = 20 cm, b = 50 cm
Lösung:
a) Die Kräfte in den Lagern A und B
Freischnitt: Gleichgewichtsbedingungen:
B B A: Bb  F a  0
F  a 400 N  20 cm
 B    160 N
II b 50 cm

b F : Ax  B  F  0
F a  a
 Ax  F  B  F   F  1  
a I b  b
x  20 cm 
A Ax  400 N  1    240 N
 50 cm 
Ay
: Ay  0
b) den Querkraft- und Biegemomentenverlauf
Es handelt sich um ein Zweibereichsproblem.
2.10 Standfläche und Standsicherheit 75

Schnittgrößen im Bereich I: (0 < x < a):

M N : N 0

Q : Q  Ax  0  Q  Ax  240 N
I
I: M  Ax  x  0  M  Ax  x  240 N  x
x
Ax M (0)  Ax  0  0

Schnittgrößen im Bereich II: (a < x < b):


: N 0
M N
: Q  Ax  F  0
Q  Q  Ax  F  240 N - 400 N  -160 N
II
II : M  Ax  x  F  x  a   0
F
x  M  Ax  x  F  x  a 
a  240 N  x  400 N  x  20 cm 

Ax M ( x  b)  Ax  b  F  b  a 
 240 N  50 cm  400 N  30 cm  0
Die Schnittgrößenverläufe sind in obiger Skizze bei b und c dargestellt.
c) Das maximale Biegemoment tritt bei x = a auf:
M max  Ax  a  240 N  0,2 m  48 Nm.

2.10 Standfläche und Standsicherheit


Bei Strukturen, deren Auflagerungen nur Druckkräfte aufnehmen können, besteht die Gefahr
des Umkippens. Dies gilt auch für den Menschen, bei dem z. B. Stützkräfte in den Berührflä-
chen (Kontaktflächen) zwischen Körper und Boden, so genannte Kontaktkräfte als Druckkräf-
te, auftreten.

2.10.1 Definition der Standfläche


Die Standfläche ist die von den Kontaktstellen des Körpers auf der Unterstützungsfläche auf-
gespannte Fläche, Bild 2-40. Die Kontaktstellen mit der Unterstützungsfläche können auch mit
zusätzlichen Hilfsmitteln hergestellt werden. So kann die Standfläche z. B. mit Gehhilfen, wie
einem Spazierstock, vergrößert werden, um die Standsicherheit zu erhöhen, Bild 2-40d.
76 2 Statik des Stützapparates

a)

Kontaktstelle

Standfläche
b) c) d)

Bild 2-40 Definition der Standfläche bei verschiedenen Körperhaltungen


a) Abstützung mit Händen und Füßen
b) Zweibeinstand
c) Einbeinstand (Standfläche = Kontaktfläche)
d) Standflächenerweiterung mit Gehhilfe

2.10.2 Standsicherheit
Ein Körper bleibt stehen, solange die Resultierende der äußeren Lasten, die an dem Körper
angreifen, eine Druckkraft auf die Standfläche ausübt und die Wirkungslinie der Resultieren-
den durch die Standfläche verläuft. Sicherer Stand ist nur gewährleistet, d. h. Umkippen wird
verhindert, wenn um die mögliche Kippkante das Kippmoment MKipp kleiner ist als das Stand-
moment MStand. Es muss also gewährleistet sein, dass
M Kipp  M Stand (2.91)

oder
M Stand
M Kipp  (2.92)
SK
2.11 Räumliche Kräftesysteme 77

ist, wobei SK die Kippsicherheit darstellt.


Für den in Bild 2-41 dargestellten Rugbyspieler, der durch einen Gegenspieler mit der Kraft
FK angeschoben wird, ergeben sich um die Kippkante A das Kippmoment
M Kipp  FK  a (2.93)

und das Standmoment


M Stand  G  b (2.94).

Die Kippsicherheit beträgt demnach


M Stand G b
SK   (2.95).
M Kipp FK  a

Als Standfläche kann in diesem Fall die Fläche, die von der Berührstelle der Hand mit dem
Boden und den Füßen aufgespannt wird, angesehen werden.

FK

S
a
G

A
b

Bild 2-41 Standsicherheit eines Rugbyspielers (Gewicht G), der im Spiel von einem Gegenspieler
(Kraft FK) aus dem Gleichgewicht gebracht werden soll

2.11 Räumliche Kräftesysteme


Viele Belastungen und Kontaktkräfte des menschlichen Bewegungssystems befinden sich
innerhalb einer Ebene. Sie können daher mit den hier vorgestellten Methoden der ebenen Sta-
tik behandelt werden. Nicht der Körper oder die Struktur muss eben sein, sondern die Kräfte
und Momente müssen in einer Ebene wirken. Dennoch gibt es auch Belastungssituationen, bei
denen räumliche Beanspruchungen in der Struktur auftreten, siehe z. B. Bild 2-28.
Im räumlichen Fall hat ein ungebundener Körper sechs Freiheitsgrade. Bei vorliegender stati-
scher Bestimmtheit können dann insgesamt sechs Lagerreaktionen auftreten. Diese müssen
dann mit den sechs Gleichgewichtsbedingungen der Raumstatik, siehe Kapitel 2.3.2, ermittelt
werden. Im Bauteil können im allgemeinen Fall auch insgesamt sechs Schnittgrößen wirken:
drei Schnittkräfte und drei Schnittmomente, siehe z. B. Bild 2-28b. Auch diese lassen sich mit
den Gleichgewichtsbedingungen der Raumstatik ermitteln. Weitere Ausführungen zur räumli-
chen Statik findet man z. B. in [2-1].
78 2 Statik des Stützapparates

Literatur zu Kapitel 2
[2-1] Richard, H.A., Sander, M.: Technische Mechanik. Statik. Verlag Springer Vieweg,
Wiesbaden, 2012
[2-2] Richard, H.A., Sander, M.: Technische Mechanik. Festigkeitslehre. Verlag Vie-
weg + Teubner, Wiesbaden, 2011
[2-3] Richard, H.A., Sander, M.: Technische Mechanik. Dynamik. Verlag Vie-
weg + Teubner, Wiesbaden, 2011
3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

Die Festigkeitslehre, als wichtiges Teilgebiet der Mechanik, beinhaltet die Lehre von den
Spannungen und Verformungen in Strukturen und Teilstrukturen und vergleicht diese mit Ma-
terial- und Verformungsgrenzen.
Die Grundlagen der Festigkeitslehre dienen im Wesentlichen dazu,
 sich einen Überblick über die in einer tragenden Struktur oder Teilstruktur vorliegen-
den Kraft- und Momentenübertragungsgegebenheiten zu verschaffen,
 die Spannungsverteilungen und die maximalen Spannungen in Strukturen und Teil-
strukturen zu bestimmen,
 die infolge der Belastung entstehenden Verformungen zu ermitteln sowie
 Bruch- und Ermüdungsvorgänge sowie, z. B. beim menschlichen Bewegungsapparat,
die Wirkung von mechanischen Hilfs- und Heilungsmitteln zu untersuchen.

3.1 Statik, Elastostatik, Festigkeitslehre


Zunächst werden die Teilgebiete Statik, Elastostatik und Festigkeitslehre in Bezug auf den
menschlichen Bewegungsapparat definiert.

3.1.1 Statik
In der Statik werden tragende Elemente des Bewegungsapparats als Teile mit starrer Form
(Knochen als starre Körper) oder starrer Länge (z. B. Bänder und Sehnen als dehnstarre aber
biegeschlaffe Seile) idealisiert. Mittels Gleichgewichtsbetrachtungen am starren Körper können
dann die Stützkräfte und die inneren Kräfte ermittelt werden (siehe z. B. Kapitel 2.7 bis Kapi-
tel 2.9).

3.1.2 Elastostatik
Die Elastostatik geht von verformbaren Körpern aus. Im Mittelpunkt steht die Berechnung der
Beanspruchungen, d. h. der Spannungen in den Knochen, Bändern, Sehnen und Muskeln infol-
ge der äußeren Belastungen. Darüber hinaus erfolgt die Berechnung der elastischen Formände-
rungen (Verzerrungen) der Knochen und der elastischen Längenänderungen (Dehnungen) der
Bänder, Sehnen und Muskeln.

3.1.3 Festigkeitslehre
Aufgabe der Festigkeitsberechnung ist es, die von den äußeren Belastungen (Statik) hervorge-
rufenen Beanspruchungen (Elastostatik) eines Körperteils rechnerisch zu erfassen und mit sei-
ner Tragfähigkeit (Materialeigenschaft) zu vergleichen. Dabei muss die Festigkeitsbedingung:
Beanspruchung  Tragfähigkeit

erfüllt sein.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
H. A. Richard und G. Kullmer, Biomechanik,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-28333-9_3
80 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

Auch dürfen die auftretenden Verformungen bestimmte Verformungsgrenzen nicht überschrei-


ten. So sollen z. B. die Sehnen und Bänder nicht überdehnt werden.
Letztlich können mit der Festigkeitslehre auch Anriss- oder Bruchgefahren von Knochen,
Sehnen und Bändern aber beispielsweise auch von Prothesen und Implantaten untersucht wer-
den.

3.2 Belastungs- und Verformungsarten


Als elementare Belastungs- und Verformungsarten bezeichnet man z. B. die Belastungen von
Einzelkomponenten (idealisierte Grundstrukturen) wie Seilen, Stäben, Balken usw., siehe auch
Kapitel 2.5.3. Derartige Belastungsarten sind Zug, Druck, Biegung, Schub und Torsion. Diese
elementaren Belastungen lassen sich wie folgt charakterisieren:
Zug: Zugkräfte können in Seilen und Stäben übertragen werden. Zwei Nachbarquer-
schnitte entfernen sich bei Belastung voneinander. Das Seil oder der Stab wird
verlängert.
Zugbelastungen treten beim menschlichen Bewegungsapparat z. B. in Sehnen,
Muskeln, Bändern und Knochen auf.
Druck: Druckkräfte können u. a. in Stäben oder Balken übertragen werden. Bei Belas-
tung nähern sich zwei Nachbarquerschnitte einander an. Der Stab bzw. Balken
wird verkürzt.
Druckbelastungen treten im menschlichen Bewegungsapparat vornehmlich in
Knochen, z. B. in Wirbelkörpern, auf.
Biegung: Durch Momente bzw. durch Kräfte quer zur Balkenachse wird der Balken gebo-
gen, d. h. die Balkenachse wird verkrümmt. Dabei werden zwei Nachbarquer-
schnitte gegeneinander verdreht, das bedeutet, ein Teil des Balkens wird verlän-
gert, ein Teil verkürzt. Man unterscheidet reine Biegung, bei der das Biegemo-
ment über die Balkenlänge konstant ist, und Querkraftbiegung, bei der neben
dem Biegemoment eine Querkraft auftritt und das Biegemoment sich längs der
Balkenachse verändert.
Biegebelastungen treten beim Bewegungsapparat insbesondere in den Knochen
auf.
Schub: Kräfte wirken quer zur Balkenachse. Es tritt eine Abscherbewegung auf.
Schubbelastungen ergeben sich beim Bewegungsapparat z. B. bei stoßartigen
Belastungen quer zur Längsachse von Knochen und bei Querkraftbiegung.
Torsion: Durch Torsionsmomente wird ein Stab oder ein Balken um die Stab- oder Bal-
kenachse verdreht, wobei die Achse gerade bleibt. Zwei Nachbarquerschnitte
vollziehen eine gegeneinander gerichtete Drehbewegung.
Torsionsbelastungen entstehen in Knochen bei räumlichen Belastungssituatio-
nen, z. B. bei zahlreichen Sportbelastungen oder Unfallsituationen.
In der Praxis treten diese elementaren Belastungs- und Verformungsarten häufig gleichzeitig
auf. Bei linearem Belastungs- und Verformungsverhalten können die Einzelwirkungen überla-
gert werden.
3.3 Spannungen 81

Grundsätzlich gilt:
 Kräfte wirken als Normal- und/oder Querkräfte,
 Momente wirken als Biege- und/oder Torsionsmomente.
In den Querschnitten senkrecht zur Stab- oder Balkenachse führen
 Normalkräfte und Biegemomente zu Normalspannungen und
 Querkräfte und Torsionsmomente zu Schubspannungen.
Neben den Belastungsarten unterscheidet man auch noch Belastungsfälle. Diese beschreiben
den zeitlichen Verlauf der Belastung. Neben der ruhenden oder konstanten Belastung existie-
ren auch zeitlich veränderliche Belastungen bei periodisch oder nichtperiodisch ablaufenden
Vorgängen sowie Stoßbelastungen.

3.3 Spannungen
Äußere Kräfte und Momente rufen bei Strukturen bzw. Teilstrukturen verteilte innere Kräfte,
die Spannungen, hervor.
„Spannungen sind die auf einer gedachten Schnittfläche durch einen Körper verteilten
inneren Flächenkräfte mit der Dimension Kraft pro Fläche.“
Man unterscheidet Normalspannungen, die senkrecht zur gedachten Schnittfläche (Quer-
schnittsfläche) wirken und Schubspannungen, die als Tangentialspannungen in der Schnittflä-
che auftreten.
Die in der Statik berechneten Schnittgrößen N, Q, und M, siehe z. B. Kapitel 2.5.3.3, stellen
die Resultierenden der Spannungen dar. Die Spannungen können demnach berechnet werden,
indem man die Schnittgrößen auf charakteristische Größen der Schnittfläche (Querschnittsflä-
che bei Schnittkräften, Widerstandsmoment bei Schnittmomenten) bezieht.

3.3.1 Beanspruchung durch Normalkräfte bei Zugbelastung


Zugbelastungen treten beim menschlichen Bewegungsapparat z. B. in Sehnen, Muskeln, Bän-
dern und Knochen auf. Diese Belastungen führen in den genannten Körperteilen zu einer Zug-
spannung (Normalspannung)  = N, die in Richtung der Normalkraft (Zugkraft) und damit
senkrecht zum Querschnitt der Struktur wirkt.
Die Ermittlung der Normalspannung soll am Beispiel eines Oberarmknochens, siehe Bild 3-1,
verdeutlicht werden. Bild 3-1a zeigt eine Person, welche beidhändig mit entspannter Ober-
armmuskulatur am Reck hängt. In diesem Fall wird nahezu das gesamte Körpergewicht durch
die Oberarmknochen durchgeleitet. Die Kraft FO, die ein Oberarmknochen zu übertragen hat,
beträgt unter Beachtung der Gewichtsangaben in Kapitel 1.2.5 etwa 47 % des Körpergewichts
G.
Die im Knochen wirkende Normalkraft (Schnittkraft) N, Bild 3-1c, ergibt sich dann durch
Gleichgewichtsbetrachtungen:
N  FO (3.1).
82 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

a) b) c) d) e)

FO FO FO
Querschnittsfläche A
des Oberarmknochens

S
G

N σN di
da

FO

Bild 3-1 Ermittlung der Normalspannung bei Zugbelastung


a) Ein Turner hängt am Reck, dabei muss die Gewichtskraft in den Armen aufgenommen
werden
b) Freischnitt des Oberarmknochens. Dieser ist durch die Kraft FO belastet. Diese ergibt
sich aus dem halben Gewicht des Turners abzüglich des Unterarmgewichts (FO ≈
0,47G).
c) Ermittlung der Normalkraft N im Oberarmknochen (Stab)
d) Normalspannung  = N ist konstant über den Knochenquerschnitt (Stabquerschnitt)
e) Querschnittsprofil des Oberarmknochens (idealisiert, vergrößert dargestellt)

Aus der Normalkraft N und der Querschnittsfläche A des Oberarmknochens ergibt sich die
Zugspannung (Normalspannung) im Oberarm
N FO
 N   (3.2),
A A
Bild 3-1d. Diese ist gleichmäßig über die Querschnittsfläche verteilt, nur von der Größe und
nicht von der Form des Querschnitts abhängig.
Die Spannung ergibt sich somit als Kraft durch Fläche. Sie stellt die Intensität der inneren
Kraft pro Flächeneinheit dar. Als Einheit kann z. B. N/m2, N/mm2 oder MPa gewählt werden.
Bei dem in Bild 3-1 dargestellten Oberarmknochen wird als Knochenquerschnitt ein Kreis-
ringquerschnitt angenommen, Bild 3-1e, dessen Fläche sich mit

d 2  d i2
Aπ a (3.3)
4
ergibt.
Die hier gezeigte Vorgehensweise kann auch für andere zugbelastete Körperteile eingesetzt
werden. Zunächst muss die Schnittkraft, d. h. die Normalkraft N, ermittelt werden. Mit der
entsprechenden Querschnittsfläche A erhält man dann die Normalspannung
N
 (3.4).
A
3.3 Spannungen 83

3.3.2 Beanspruchung durch Normalkräfte bei Druckbelastung


Druckbelastungen treten beim menschlichen Bewegungsapparat in Knochenstrukturen auf. Die
Druckbelastungen führen in diesen Körperteilen zu einer Druckspannung (Normalspannung)
 = N, die in Richtung der Normalkraft, d. h. senkrecht zum Querschnitt der Struktur wirkt.
a)

b) c) d)
FO FO FO

ND σN

FO

Bild 3-2 Ermittlung der Normalspannung bei Druckbelastung


a) Eine Person macht Liegestütze. In der dargestellten Position ist der Arm auf Druck be-
lastet.
b) Freischnitt des Oberarmknochens mit der Oberarmkraft FO als Druckkraft. Diese kann
durch Gleichgewichtsbetrachtungen des gesamten Körpers ermittelt werden.
c) Ermittlung der Normalkraft ND (Druckkraft) im Oberarmknochen (Stab)
d) Die Normalspannung  = N (Druckspannung) ist konstant über den Knochenquer-
schnitt (siehe Bild 3-1e).

Die Ermittlung der Druckspannung wird am Beispiel des Oberarmknochens erläutert, siehe
Bild 3-2.
Nach der Ermittlung der Druckkraft FO, Bild 3-2b, im Oberarm und der Normalkraft ND, Bild
3-2c, mittels der Gleichgewichtsbedingungen, Kapitel 2.3.1 und Kapitel 2.9, erhält man mit
N D  FO (3.5)

und der Querschnittsfläche A des Oberarms, Bild 3-1e, die Druckspannung (Normalspannung)
im Oberarmknochen
84 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

N D FO
 N   (3.6),
A A
Bild 3-2d.
Auch für andere druckbelastete Strukturen ergibt sich dieselbe Vorgehensweise und es gilt
– allgemein – die Gleichung (3.4).

3.3.3 Beanspruchung durch Normalkräfte, Querkräfte und Biegemomente


Viele Knochenstrukturen des Menschen sind nicht nur Zug- und Druckkräften ausgesetzt,
sondern auch Querkräften und Biegemomenten. Sie können als Balken angesehen werden, bei
denen die Schnittgrößen N, Q und M wirken, siehe Kapitel 2.5.3.3.
Die Beanspruchungen und die auftretenden Spannungen werden an einem Röhrenknochen
ermittelt.

a) b)
da
di

M
y x
N y
α
F
Q z

Bild 3-3 Ermittlung der Schnittgrößen beim Röhrenknochen


a) Freischnitt des durch eine Einzelkraft F belasteten Röhrenknochens mit den Schnitt-
größen N, Q und M
b) Querschnitt des Röhrenknochens

Mit den Gleichgewichtsbedingungen der ebenen Statik, Kapitel 2.3.1, erhält man für den frei-
geschnittenen Knochen (Balken), Bild 3-3a, die Schnittgrößen
N   F  cos  (3.7)

Q  F  sin  (3.8)

M  F  x  sin  (3.9).

3.3.3.1 Normalspannung infolge der Normalkraft


Die Normalkraft N (in diesem Fall eine Druckkraft) führt zu einer konstanten Normalspannung
(Druckspannung) N im Knochenquerschnitt, Bild 3-4b. Sie errechnet sich, wie in Kapitel
3.3.2 gezeigt, mit der Beziehung

N ND
 N   (3.10),
A A
mit A als der Querschnittsfläche des Knochens, siehe z. B. Bild 3-3b.
3.3 Spannungen 85

a) b)

σ = σN
ND

Bild 3-4 Ermittlung der Normalspannung  = N infolge der Schnittkraft ND = -N


a) Normalkraft ND als Druckkraft im Knochen
b) Normalspannung (Druckspannung)  = N im Knochenquerschnitt

3.3.3.2 Schubspannung infolge einer Querkraft


Bei vielen Belastungssituationen von Knochenstrukturen (Balken) tritt z. B. infolge Querkraft-
biegung oder bei einer Scherbeanspruchung eine Querkraft Q auf. Diese Querkraft ruft im
Knochenquerschnitt eine Schubspannung (Tangentialspannung)  = Q hervor. Diese ist
i. Allg. nicht konstant über den Querschnitt. Vereinfacht ermittelt man daher aus der Querkraft
Q, Bild 3-3a und Bild 3-5a, und der Querschnittsfläche A, Bild 3-3b, eine mittlere Schubspan-
nung
Q
 (3.11).
A
Diese wirkt wie die Querkraft tangential zur Querschnittsfläche, Bild 3-5b.

a) b)

Q τ = τQ

Bild 3-5 Ermittlung der Schubspannung  = Q infolge der Schnittkraft Q


a) Querkraft Q im Knochen
b) mittlere Schubspannung  = Q im Knochenquerschnitt

Die mittlere Querkraft ist nur von der Größe und nicht von der Form des Querschnitts abhän-
gig. Als Einheit wird N/m2, N/mm2 oder MPa verwendet. Nähere Details zur Querkraftbelas-
tung sind in [3-1] zu finden.

3.3.3.3 Normalspannung infolge eines Biegemomentes


Bei biegebelasteten Knochen (Biegebalken) wird das innere Biegemoment M, siehe Bild 3-3a
und Bild 3-6a, als Schnittgröße mit den in Kapitel 2.9 beschriebenen Methoden bestimmt. Das
Biegemoment M ruft eine Spannung  = B hervor, die über dem Querschnitt linear verläuft,
Bild 3-6b. Dabei ist die Biegespannung in der neutralen Schicht (d. h. im Schwerpunkt des
Querschnitts) null.
Bei der in Bild 3-6 gezeigten Situation nimmt die Biegespannung unterhalb der neutralen
Schicht (d. h. für z > 0) linear zu und oberhalb der neutralen Schicht (d. h. für z < 0) ab.
86 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

a) b)

M
y x

z max σ = σ B = σB(z)

z σmax = σ Bmax
Bild 3-6 Ermittlung der Normalspannung  = B infolge des Schnittmomentes M
a) Biegemoment M im Knochen
b) Normalspannungsverlauf, Biegespannungsverlauf  = B = B(z) im Knochenquer-
schnitt sowie maximale Biegespannung max = Bmax in der äußeren Randfaser des
Knochens

Die Biegespannungsverteilung errechnet sich mit der Beziehung


M
 ( z)   B ( z)  z (3.12).
Iy

Hierin ist Iy das Flächenträgheitsmoment der Schnittfläche und z der Abstand zur x- oder y-
Achse bzw. zur neutralen Schicht, siehe Bild 3-6b.
Für den in Bild 3-3b dargestellten Querschnitt (Kreisringquerschnitt) errechnet sich das Flä-
chenträgheitsmoment mit

  (d a4  d i4 )
Iy  (3.13),
64
siehe auch [3-1].
Die maximale Biegespannung im Knochenquerschnitt ergibt sich durch die Beziehung
M
 max   Bmax  (3.14).
WBy

Sie tritt in der Randfaser mit dem größten Abstand zur neutralen Schicht, d. h. zur x-Achse,
auf, Bild 3-6b.
WBy ist das Widerstandsmoment gegen Biegung, das sich aus dem Flächenträgheitsmoment Iy
und dem maximalen Randfaserabstand zmax ergibt:
Iy
WBy  (3.15).
z max

Für den in Bild 3-3b dargestellten Querschnitt (Kreisquerschnitt) ergibt sich der maximale
Randfaserabstand

da
z max  (3.16)
2
und somit das Widerstandsmoment
3.3 Spannungen 87

Iy   ( d a4  d i4 )
WBy   (3.17).
z max 32d a
Flächenträgheitsmomente und Widerstandsmomente für andere Querschnittsprofile sind in [3-
1] zu finden.
Die Normalspannung N infolge der Normalkraft N und die Normalspannung B infolge des
Biegemomentes M wirken senkrecht zum Querschnitt, d. h. in x-Richtung, sie können damit
algebraisch addiert werden. Für die maximale Normalspannung ergibt sich somit
N M
 max   N   Bmax   (3.18).
A WBy

3.3.4 Beanspruchung durch Torsionsmomente


Beim menschlichen Bewegungsapparat treten Torsionsmomente bei räumlichen Belastungssi-
tuationen, siehe z. B. Bild 2-28, und bei zahlreichen Sport- und Unfallbelastungen auf.
Die Belastung durch ein Torsionsmoment und die dadurch entstehenden Schubspannungen
werden ebenfalls an einem Röhrenknochen verdeutlicht.

a) b)
da
di

MT y Mx
x
y
z

c) d)

r r
y y

τmax = τ Tmax
z τ(r) = τT(r) z
τ(r) = τT(r)
Bild 3-7 Ermittlung der Schubspannung bei Torsionsbelastung
a) Freischnitt eines durch ein Moment MT belasteten Röhrenknochens: Schnittmoment Mx.
b) Querschnitt des Röhrenknochens (Kreisringprofil)
c) Schubspannungsverlauf (r) = T(r) des Röhrenknochens in Umfangsrichtung (Knochen-
querschnitt ist vergrößert dargestellt)
d) Schubspannungsverteilung (r) = T(r) und maximale Schubspannung max = Tmax im
Kreisringquerschnitt (Knochenquerschnitt ist vergrößert dargestellt)
88 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

Beim torsionsbelasteten Knochen, Belastung durch MT, Bild 3-7a, wird das innere Schnittmo-
ment Mx mit den Gleichgewichtsbedingungen der Raumstatik, Kapitel 2.3.2, ermittelt. Mit
Gleichung (2.55) folgt
Mx  MT (3.19).

Das Torsionsmoment Mx = MT erzeugt eine Schubspannung  = T im Knochenquerschnitt,


Bild 3-7c. Diese ist in Umfangsrichtung konstant, nimmt aber in radialer Richtung linear zu
und erreicht am Außenrand des Knochens ihren Maximalwert, Bild 3-7d.
Die Schubspannungsverteilung errechnet sich mit der Beziehung
MT
 (r )   T (r )  r (3.20).
IP
Hierin ist IP das polare Flächenträgheitsmoment, siehe z. B [3-1], der Kreisringfläche und r die
Radiuskoordinate ausgehend vom Mittelpunkt der Querschnittsfläche, siehe Bild 3-7c und Bild
3-7d.
Für den in Bild 3-7b dargestellten Querschnitt errechnet sich das polare Flächenträgheitsmo-
ment mit

  (d a4  d i4 )
IP  (3.21).
32
Die maximale Schubspannung (Torsionsspannung) im Knochenquerschnitt ergibt sich mit der
Beziehung

MT
 max   Tmax  (3.22).
WP

Sie tritt am äußeren Umfang des Kreisringquerschnittes, d. h. bei r = rmax = da/2, auf.
WP ist das polare Widerstandsmoment gegen Torsion, das sich aus dem Flächenträgheitsmo-
ment IP und rmax ergibt:

IP
WP  (3.23).
rmax

Für den in Bild 3-7 dargestellten Querschnitt ist

  (d a4  d i4 )
WP  (3.24).
16d a

Weitere Flächenträgheitsmomente und Widerstandsmomente gegen Torsion sind in [2-1] an-


gegeben.

3.4 Verformungen
Alle festen Körper ändern unter Einwirkung von Kräften und Momenten ihre Größe und ihre
Gestalt. D. h. bei Belastung treten in allen Bauteilen und Strukturen Verformungen auf.
3.4 Verformungen 89

Die Art der Verformung hängt von den äußeren Belastungen und den daraus resultierenden
lokalen Spannungen ab.
Grundsätzlich gilt:
„Normalspannungen erzeugen Längenänderungen,
Schubspannungen bewirken Winkeländerungen“.
Die Untersuchung der Verformung von Festkörpern ist ein rein geometrisches Problem. Man
vergleicht den Zustand nach der Verformung mit dem Zustand vor der Verformung.

3.4.1 Verformungen bei einachsigem Zug


Die Verformungsgrößen eines Zugstabs können durch den Vergleich des belasteten und ver-
formten Stabs oder Seils (Knochen, Sehne, Band) mit der unbelasteten und unverformten Situ-
ation ermittelt werden, Bild 3-8.

a) l

b)

Δl

Bild 3-8 Verformungen bei einem Zugstab oder bei einem Seil
a) Unbelasteter und unverformter Stab
b) Belasteter und verformter Stab mit der Gesamtverlängerung l

Bei Belastung durch die Kraft F verlängert sich der Stab. Dabei erfahren alle Stabquerschnitte
eine Verschiebung. Der Kraftangriffspunkt verschiebt sich um l, was der Gesamtverlänge-
rung des Stabs entspricht.
Für den Fall einer konstanten Dehnung über die Stablänge gilt für die Stabverlängerung
l    l (3.25)
bzw. für die Dehnung
l
 (3.26).
l
Die Dehnung als bezogene Längenänderung ist ein wichtiges Verformungsmaß, die sich all-
gemein wie folgt ermitteln lässt:
Länge nach der Verformung  Länge vor der Verformung
Dehnung  .
Länge vor der Verformung
Die Dehnung  ist eine dimensionslose Größe, die meist in % oder in ‰ angegeben wird.
90 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

Ist ein Stab durch eine Druckkraft belastet, so verkürzt er sich. Negative Dehnungen werden
häufig auch als Stauchungen bezeichnet.

3.4.2 Verformungen durch Schubbelastungen


a) b) τ c)
D’
D D

τ τ γ

C C
τ
Bild 3-9 Verformungen durch Schubbelastungen
a) Unverformte und unbelastete Scheibe als Knochenelement
b) Durch Schubspannungen beanspruchtes Scheibenelement
c) Winkeländerung am Scheibenelement infolge der Schubspannungen

Die Verformungsgrößen eines Knochenelements, das durch Schubspannungen belastet ist,


können durch den Vergleich des verformten Scheibenelements mit dem unverformten Schei-
benelement ermittelt werden, Bild 3-9.
Bei Belastung des Knochen- oder Scheibenelements mit Schubspannungen, die aus Gleichge-
wichtsgründen, wie in Bild 3-9b gezeigt, stets paarweise auftreten, entstehen Winkeländerun-
gen, Bild 3-9c. Als Maß für die Winkeländerung gilt

DD 
  (3.27).
CD
 wird Schubverformung oder Schiebung genannt.

3.4.3 Allgemeine Formänderungen: Verzerrungen


Bei allgemeiner Belastung einer Struktur oder einer Teilstruktur treten sowohl Normalspan-
nungen als auch Schubspannungen auf, Bild 3-10a. Diese führen gleichzeitig zu Längen- und
Winkeländerungen sowie zu Dehnungen und Schubverformungen, Bild 3-10b. Zusammenge-
nommen werden die Dehnungen und die Schubverformungen als Verzerrungen bezeichnet.

a) b)
τ

σ τ σ

Bild 3-10 Allgemeine Formänderungen


a) Am Scheibenelement wirken Normal- und Schubspannungen
b) Infolge der Belastung verzerrtes Scheibenelement (Überlagerung von Dehnung und
Schubverformung)
3.4 Verformungen 91

Auch bei allgemeiner Belastung bzw. allgemeiner Formänderung bewirken die Normalspan-
nungen die Dehnungen und die Schubspannungen die Schubverformungen.

3.4.4 Stoffgesetze
Die bisher verwendeten Definitionen für die Spannungen, Kapitel 3.3, und Verzerrungen,
Kapitel 3.4.1 bis Kapitel 3.4.3, gelten unabhängig vom Materialverhalten. Der Zusammenhang
zwischen Spannungen und Verzerrungen ist jedoch materialabhängig. Er muss experimentell
durch geeignete Versuche ermittelt werden.
Um den Zusammenhang zwischen der Normalspannung  und der Dehnung  zu bestimmen,
werden mit einer Probe aus dem entsprechenden Material, z. B. mit einer Probe aus Knochen-
gewebe, Zugversuche durchgeführt. Dabei ergeben sich Spannungs-Dehnungs-Kurven, wie
beispielhaft in Bild 3-11 dargestellt.

σ
Rm

α
ε
Bild 3-11 Mit einem Zugversuch ermittelte Spannungs-Dehnungs-Kurve für ein sprödes Material

Rm ist dabei die Zugfestigkeit, d. h. die maximal ertragbare Spannung. Dieser für Festigkeits-
betrachtungen wichtige Materialkennwert wird in N/mm2 oder MPa angegeben.

3.4.4.1 HOOKEsches Gesetz für einachsigen Zug- und Druck


Im physiologischen Bereich ist der Zusammenhang zwischen den Spannungen und den Deh-
nungen für Knochen, Bänder und Sehnen weitgehend linear. Es existiert ein eindeutiger Zu-
sammenhang zwischen der Spannung  und der Dehnung , der durch das HOOKEsche Ge-
setz
  E  (3.28)
beschrieben werden kann.
Die Spannung ist also der Dehnung proportional. Proportionalitätsfaktor ist der Elastizitätsmo-
dul E, der ein Maß für den Anstieg der Spannungs-Dehnungs-Kurve darstellt:
E  tan  (3.29),
Bild 3-11.
Gleichung (3.28) ist gültig für einachsige Zug- und Druckbelastung. E-Modul-Werte und Zug-
festigkeiten für Materialien des Bewegungsapparats können Tabelle 3-1 entnommen werden.
92 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

3.4.4.2 HOOKEsches Gesetz bei Schub


Infolge von Schubbelastungen treten Schubverformungen auf, Kapitel 3.3.3.2. Der Zusam-
menhang zwischen der Schubspannung  und der Schubverformung  wird durch das
HOOKEsche Gesetz für Schubbelastung beschrieben:
  G  (3.30).

G ist hierbei der Schubmodul, der näherungsweise über die Beziehung


3
G E (3.31)
8
mit dem E-Modul ermittelt werden kann.

Tabelle 3-1: Werte für E und Rm für verschiedene Materialien des Bewegungsapparats im Vergleich
mit technischen Materialien, siehe auch [3-2] bis [3-4]

E-Modul Zugfestigkeit Rm
Material [MPa] [MPa]
Knochen (Kortikalis) 17.000 – 27.000 80 – 150
Knochen (Spongiosa) 100 – 2.000 6 – 45
Bänder 2.000 50 – 100
Sehnen 2.000 50 – 100
Stahl 210.000 350 – 1.700
Aluminium 70.000 95 – 560
Titan 110.000 390 – 1.150
Plexiglas 3.000 90

3.4.5 Längenänderungen und Federkonstanten von Seilen und Stäben

3.4.5.1 Längenänderungen
Seile und Stäbe sind durch eine Normalkraft N beansprucht. Mit der Normalkraft N = F und
der Querschnittsfläche A, siehe Bild 3-12, ergibt sich die Normalspannung
F
 (3.32),
A
Kapitel 3.3.1.

F F

l Δl

Bild 3-12 Stabverlängerung bei einem Zugstab

Mit den Gleichungen (3.26), (3.28) und (3.32) errechnet sich die Dehnung
3.4 Verformungen 93

l  F
   (3.33).
l E EA
Durch Umstellen von Gleichung (3.33) erhält man die Längenänderung l des Seils bzw. des
Stabs, Bild 3-12:
F l
l  (3.34).
EA
Die Längenänderung ist somit abhängig von der wirkenden Kraft F, der Stablänge l, dem Elas-
tizitätsmodul E des Stabmaterials und der Querschnittsfläche A des Stabs.

3.4.5.2 Federkonstanten von Stäben


Ein elastischer Stab ist vergleichbar mit einer Feder (z. B. Spiralfeder). Bei Federn wird die
Steifigkeit durch die Federkonstante c definiert. Die Federverlängerung lässt sich dann aus der
Federkraft F und der Federkonstanten mit der Beziehung
F
l  (3.35)
c
berechnen. Vergleicht man nun Gleichung (3.35) mit Gleichung (3.34), so erhält man für einen
Stab die Federkonstante
EA
c (3.36).
l

3.4.6 Durchbiegungen von Balken


Ein belasteter Balken biegt sich durch. Die verformte Balkenachse nennt man Biegelinie. Für
belastete Balken gilt es die Durchbiegungsfunktion w = w(x) in Abhängigkeit von dem wir-
kenden Moment M und dem Elastizitätsmodul E sowie dem Flächenträgheitsmoment I zu
bestimmen.

a) F b) F
E·I E·I

w = wmax
w = wmax
l l/2 l/2

Bild 3-13 Biegelinien und maximale Durchbiegungen von Balken


a) Eingespannter Balken mit Einzellast
b) Zweifach gelagerter Balken mit Einzellast

Für den in Bild 3-13a dargestellten Balken ergibt sich die maximale Durchbiegung

F l3
wmax  (3.37)
3E  I
und für den in Bild 3-13b gezeigten Balken
94 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

F l3
wmax  (3.38).
48 E  I
Biegelinien und maximale Durchbiegungen sind für weitere Belastungs- und Lagerungssituati-
onen in [3-1] nachzulesen.

3.4.7 Verdrehungen infolge Torsionsbelastungen


Infolge einer Torsionsbelastung wird z. B. ein Röhrenknochen tordiert. Die dadurch wirkenden
Schubspannungen  (r) oder max können mit den Gleichungen (3.20) und (3.22) ermittelt wer-
den.

Querschnitt

MT φ

l
Bild 3-14 Verdrehwinkel  einer torsionsbelasteten Struktur

Der Verdrehwinkel  ergibt sich für eine Kreis- oder Kreisringstruktur mit der Beziehung

MT l
 (3.39).
G  IP

Der Verdrehwinkel ist somit abhängig vom wirkenden Torsionsmoment MT, der Länge l, dem
Schubmodul G und dem polaren Flächenträgheitsmoment IP, siehe auch [3-1].

Beispiel 3-1

da
Oberarm- di Beim Liegestütz wird der
knochen Oberarmknochen durch eine
l axial wirkende Kraft F auf
Druck belastet. Mit den Armen
werden dabei ca. 60 % des
Körpergewichts abgestützt.
idealsisierter
Knochenquerschnitt

F
3.4 Verformungen 95

Berechnen Sie:
a) den Normalkraftverlauf im Oberarmknochen längs der Schaftachse, ohne das Eigenge-
wicht der Oberarme zu berücksichtigen,
b) die Normalspannung im Knochenquerschnitt,
c) die Dehnung des Oberarmknochens und
d) die Änderung der Knochenschaftlänge l.
Geg.: m = 70 kg, g = 10 m/s2, l = 30 cm, da = 20 mm, di = 15 mm, EKortikalis = 18.000 MPa
Lösung:
a) Normalkraftverlauf längst der Schaftachse

:  N ( x)  F  0

N ( x )   F  konst.
x
Die Normalkraft N(x) ist längs der
Schaftachse konstant. N ist eine Druckkraft.
N

Für die vorgegebene Liegestützposition ergibt sich:


1 1 1
F  0,6  G   0,6  m  g   0,6  70 kg  10 m/s 2
2 2 2
kg  m
N   F  210  210 N (Druckkraft)
s2
b) Normalspannung im Knochenquerschnitt

N 
N

210 N
A 137,4 mm 2
 1,53
N
mm 2
π
4
 
 1,53 MPa mit A   d a2  d i2  137,4 mm 2

c) Dehnung im Oberarmknochen
Hooksches Gesetz:   E  
 1,53 MPa
   8,5  10 5  8,5  10 3 %  0,085 ‰ (Verkürzung)
E 18.000 MPa

d) Änderung Δl der Knochenschaftlänge


l
Dehnung:  
l

l    l  8,5  10 5  300 mm  -0,0255 mm  -25,5 µm


96 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

3.5 Kombinationen von Belastungen


In Knochenstrukturen des menschlichen Bewegungsapparats treten häufig Mehrfachbelastun-
gen auf. Beispiele hierfür sind Beanspruchungen durch Normalkraft, Querkraft und Biegemo-
ment (siehe Kapitel 3.3.3) sowie deren Überlagerung durch ein Biege- und ein Torsionsmo-
ment. Dies bedeutet, auftretende Normalspannungen und Schubspannungen sind zu überla-
gern, um die resultierende Wirkung der Mehrfachbelastungen erfassen zu können.

3.5.1 Überlagerungen von Normalspannungen


Normalkräfte und Biegemomente rufen Normalspannungen hervor. Diese zeigen bei balkenar-
tigen Strukturen in die gleiche Richtung, d. h. senkrecht zur Querschnittsebene, siehe z. B.
Kapitel 3.3.3.1 und Kapitel 3.3.3.3.
In diesem Fall können die Normalspannungsverteilungen bzw. die maximalen Normalspan-
nungen algebraisch addiert werden, siehe z. B. Kapitel 3.3.3.3 sowie in [3-1].

3.5.2 Überlagerung von Normal- und Schubspannungen


Normalkräfte und Biegemomente rufen Normalspannungen hervor, Querkräfte und Torsions-
momente Schubspannungen. Betrachtet man eine Struktur, bei der Normal- und Schubspan-
nungen gleichzeitig auftreten, Bild 3-15 zeigt ein entsprechendes Volumenelement, so ist eine
so genannte Hauptnormalspannung oder Vergleichsspannung zu errechnen, um die resultie-
rende Wirkung der auftretenden Spannungen zu erfassen.

a) b)

Bild 3-15 Überlagerung von Normal- und Schubspannungen


a) Volumenelement, an dem eine Normalspannung  und eine Schubspannung  angreift
b) Ermittlung der Vergleichsspannung V bzw. der Hauptnormalspannung 1 und des
Hauptspannungswinkels H

Die Vergleichsspannung V und somit die Hauptnormalspannung (größte Normalspannung) 1


errechnet sich nach der Normalspannungshypothese mit
 1
 V  1    2  4 2 (3.40).
2 2
Der Hauptspannungswinkel H ergibt sich mit
2
tan  H  (3.41).

3.5 Kombinationen von Belastungen 97

Die Verwendung der Normalspannungshypothese ist insbesondere bei Knochenstrukturen


sinnvoll, da sie i. Allg. spröde brechen. Der Bruch erfolgt dann in der Regel senkrecht zur
Hauptnormalspannung 1. Der Bruchverlauf stellt sich somit unter einem Winkel
 B   H  90 (3.42)

ein.

Beispiel 3-2
S
G

125° 6°
d

Beinachse α α

Eine Person mit dem Gesamtgewicht G und der Beinlänge l steht aufrecht mit gespreizten
Beinen (Winkel ).
Berechnen Sie:
a) Die Bodenreaktionskräfte und die Kräfte im Hüftgelenk in der Frontalebene.
b) Wie weit können die Beine bei einem Haftkoeffizienten von µH zwischen Fuß und Boden
gespreizt werden, ohne dass die Füße rutschen?
c) Die Spannungen im Oberschenkelhals (der Abstand zum Hüftgelenkmittelpunkt ist a, der
Durchmesser des Oberschenkelhalses ist d).
Geg.: G = 900 N, l = 90 cm,  = 15°, a = 30 mm, d = 28 mm,
Winkel zwischen Oberschenkelhals und Oberschenkelschaft: 125°
Winkel zwischen Oberschenkelschaft und Beinachse: 6°
98 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

Lösung:
a) Bodenreaktionskräfte und Kräfte im Hüftgelenk
GO
II
Freischnitt des Gesamtsystems:
0,45l Gewicht des Oberkörpers (nach Bild 1-7):
GB GB GO  (1  2  0,185)  G  0,63G  567 N
l
Gewicht eines Beines:
GB  0,185G  0,185  900 N  166,5 N
HF: Horizontalkraft zwischen Fuß und Bo-
den
HF HF NF: Normalkraft zwischen Fuß und Boden
NF NF

Freischnitte für das Becken und ein Bein (mit Ausnutzung der Symmetrie):
Becken: Bein:
GO
HH VH
II H H
II
HH
VH VH
HH: Horizontalkraft im Hüft-
gelenk GB

VH: Vertikalkraft im Hüftge-


lenk
α

HF
NF

Mit den Gleichgewichtsbedingungen erhält man für:


das System Becken:
GO
: 2VH  GO  0  VH   283,5 N
2
das System Bein:
: HH  HF  0 (1)

: N F  G B  VH  0 (2)

II : N F  l  sin   H F  l  cos   GB  0,45l  sin   0 (3)

GO G
Aus (2) folgt: N F  GB  VH  GB    450 N
2 2
3.5 Kombinationen von Belastungen 99

sin   GO 
Aus (3) folgt: H F  ( N F  GB  0,45)    GB  GB  0,45   tan 
cos   2 
 (0,5GO  0,55GB )  tan   100,5 N

Aus (1) folgt: H H  H F  (0,5GO  0,55GB )  tan   100,5 N

Das Becken wird mit einer Kraft von 100,5 N in horizontaler Richtung zusammenge-
drückt. Die Horizontalkraft in der Hüfte entsteht durch das Spreizen der Beine. Muskel-
kräfte sind in der Frontalebene prinzipiell keine erforderlich, außer zum Ausbalancieren
von Störkräften in horizontaler Richtung.
b) Wie weit können die Beine gespreizt werden?
Haftbedingung zwischen Fuß und Boden:
G
H F   H  N F bzw. H F  (0,5GO  0,55GB )  tan    H 
2

GO  1,1GB 0,63G  1,1  0,185G


  H  tan    tan    0,8335  tan 
G G
Durch die genauere Berücksichtigung der Gewichtsverteilung ist hier die Haftbedingung
bei 0,8335·tan gerade noch erfüllt. Hätte man das Körpergewicht im Gesamtschwer-
punkt belassen und damit das Bein als masselos betrachtet, dann würde die Haftbedin-
gung:
 H  1  tan   0,8335  tan 
lauten. Es würde sich um eine konservative Abschätzung der potentiellen Rutschgefahr
handeln. Durch die genauere Berücksichtigung der Gewichtsverteilung bleibt die Nor-
malkraft NF bei den Füßen zwar konstant, aber die Horizontalkraft HF wird kleiner.
Bei mit 15° gespreizten Beinen gilt somit:  H  0,8335  tan   0,2233
c) Spannungen im Oberschenkelhals
II

125°
β
γ Definition der Winkel am Hüftgelenk:
  180  125  6  49

      15  49  64 :
Winkel zwischen Oberschenkelhalsachse
und der Vertikalen
α
100 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

Schnittgrößen N, Q und M am Oberschenkelhals:


Zerlegung Zerlegung
der Kraft V H der Kraft HH

VH
x=a
γ
HH
HH VH·sin γ
VH HH·cos γ
I M
HH·sin γ
γ Q N

γ
VH·cos γ

: N  VH  cos   H H  sin   0  N  (VH  cos   H H  sin  )  215 N

: Q  VH  sin   H H  cos   0  Q  H H  cos   VH  sin   211 N

I : M  VH  x  sin   H H  x  cos   0

M  ( H H  cos   VH  sin  ) x  Q  x  211 N  x

mit x = a = 30 mm ist: M  211 N  30 mm  -6330 Nmm  -6,33 Nm

Druckspannung im Oberschenkelhals:
N d2 28 2
D  mit der Querschnittsfläche A  π  π mm 2  616 mm 2
A 4 4
215 N
folgt:  D   0,35 N/mm 2
2
616 mm
Mittlere Schubspannung im Oberschenkelhals:
Q 211 N
   0,34 N/mm 2
A 2
616 mm

Biegespannung im Oberschenkelhals:

M d3 283
B  mit dem Widerstandsmoment WB      mm 3  2155 mm 3
WB 32 32

6330 Nmm
 B   2,94 N/mm 2
3
2155 mm

Die resultierende Druckspannung ergibt sich aus der Überlagerung der konstanten
Druckspannung infolge N und der maximalen Normalspannung infolge M mit:

 Dmax   D   B  0,35 N/mm 2  2,94 N/mm 2  3,29 N/mm 2


3.5 Kombinationen von Belastungen 101

Beispiel 3-3
S
G αG Eine Person mit dem Gesamtgewicht
lG a
G steht aufrecht auf einem Bein. Der
Winkel der Beinachse zur Senkrech-
125°
ten beträgt .
Beinachse
Berechnen Sie für die Frontalebene:
d
6° a) die Bodenreaktionskräfte,
α
b) die Kräfte im Hüftgelenk und die
αT Schenkel- Kraft der Gesäßmuskulatur,
lT bindenspanner
c) die Kräfte im Kniegelenk und die
l
Kraft im Schenkelbindenspanner
und
d) die Spannungen im Oberschenkel-
lU hals (der Abstand zum Hüftge-
lenkmittelpunkt ist a, der Durch-
messer des Oberschenkelhalses
ist d).

Geg.: G = 900 N, l = 900 mm, lU = 454 mm, lG = 70 mm, lT = 43 mm, a = 30 mm, d =


28 mm,  = 5°, G = 15°, T = 5°
Lösung:
a) Bodenreaktionskräfte für den Einbeinstand
S
G

Freischnitt des Gesamtsystems:

Der Körperschwerpunkt befindet sich auf einer verti-


kalen Achse durch den Fuß.

Die Gleichgewichtsbedingungen liefern:

: HF  0 , d. h. es wirkt keine horizontale


Fußkraft

: N F  G  0  N F  G  900 N
Die Bodenreaktionskraft (verti-
Fuß, Sprunggelenk kale Fußkraft) entspricht dem
HF Gesamtkörpergewicht
NF
102 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

b) Kräfte im Hüftgelenk und in der Gesäßmuskulatur


Hierzu muss das Gesamtgewicht aufgespaltet werden in das Gewicht GB des Standbeins
und das restliche Körpergewicht GR
Die Schwerpunkte des Standbeins und des Restkörpergewichts müssen so angeordnet
sein, dass das Gesamtgleichgewicht erhalten bleibt. Da der Winkel der Beinachse vorge-
geben ist, kann die Wirkungslinie von GR berechnet werden.
b

GR

SR

Beingewicht:
GB  0,185G  0,185  900 N  166,5 N
α
Restkörpergewicht:
GB
GR  G  GB  (1  0,185)  900 N  733,5 N
GR hat den Abstand b zur Vertikalen:
l
Gleichgewichtsbedingungen:

0,55l : N F  GB  GR  0

 N F  GB  GR  G  900 N

III
NF = G

III: GR  b  GB  0,55l  sin   0

GB 166,5 N
 b  0,55l  sin    0,55  900 mm  sin 5  9,79 mm
GR 733,5 N

Der Abstand des Restkörperschwerpunkts SR zur Vertikalen durch den Fuß ist abhängig
vom Winkel  der Beinachse zur Vertikalen. Das Ergebnis zeigt, dass das Bein umso
steiler steht, je näher die Vertikale durch den Restkörperschwerpunkt zum Fuß verlagert
wird. Ist der Abstand b = 0, dann steht das Bein vertikal, d. h.  = 0.
Ist so wie hier der Winkel  gegeben, dann ist auch der Abstand b festgelegt. Für
b  10 mm herrscht Gleichgewicht, d. h. Stehen auf einem Bein ist möglich.
3.5 Kombinationen von Belastungen 103

Kräfte im Hüftgelenk und im Gesäßmuskel:


Freischneiden des Beins im Hüftgelenk:
αG

FM Parallele
VH zur Beinachse
GB: Beingewicht
II
125°
HH FM: Muskelkraft
6° HH: Horizontalkraft in der Hüfte
β
GB VH: Vertikalkraft in der Hüfte
lG
Vertikale
lG: Abstand des Gesäßmuskels zum Hüft-
gelenk
α
G: Winkel der Gesäßmuskelwirkungsli-
nie zur Beinachse
Beinachse
: Winkel des Gesäßmuskels zur Verti-
kalen:  = G –  = 15° – 5° = 10°

NF

Gleichgewichtsbedingungen:

: N F  GB  VH  FM  cos   0 (1)

: H H  FM  sin   0 (2)

II : FM  lG  GB  0,45l  sin   N F  l  sin   0 (3)

(G  GB  0,45)  l  sin 
mit N F  G  FM 
lG

Bemerkung: Die Muskelkraft ist null, wenn  = 0° gilt, d. h. wenn das Bein vertikal steht.
Für  = 5° gilt:
(900 N  166,5 N  0,45)  900 mm  sin 5
FM   925 N
70 mm

Die Muskelkraft beträgt FM = 925 N = 1,03 G. Sie ist damit geringfügig größer als das
Körpergewicht G.
Aus (2)  H H  FM  sin   925 N  sin10  161 N

Aus (1)  VH  N F  GB  FM  cos   900 N - 166,5 N  925 N  cos10  1644 N


104 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

Für die resultierende Kraft im Hüftgelenk gilt:

RH  VH2  H H2  1644 2  1612 N  1652 N

Die resultierende Hüftgelenkkraft beträgt 1652 N, d. h. 1,84 G. Sie ist damit fast doppelt
so groß wie die Gewichtskraft. Die Gelenkkraft wird durch die Muskelkraft erhöht und
somit das Gelenk stabilisiert.
c) Kräfte im Kniegelenk
Freischneiden des Unterschenkels
αT = 5°
lT
GU: Unterschenkelgewicht mit Fuß
α
FT HK: Horizontalkraft im Knie
VK
VK: Vertikalkraft im Knie
HK IV
lT: Abstand der Wirkungslinie des
GU
0,45l U Schenkelbindenspanners zum Kniege-
lenk
Beinachse
lU T: Winkel des Schenkelbindenspanners
zur Beinachse

G U  (0,053  0,018)G  63,9 N


NF

Gleichgewichtsbedingungen:

: N F  G U  VK  FT  cos(   T )  0 (1)

: H K  FT  sin(   T )  0 (2)

IV: FT  lT  GU  0,45l U  sin   N F  l U  sin   0 (3)

( N F  0,45GU )  l U  sin  (G  0,45GU )  l U  sin 


Aus (3)  FT  
lT lT
(900 N  0,45  63,9 N)  454 mm  sin 5
  801,7 N
43 mm

Aus (2)  H K   FT  sin(   T )  139,2 N

Aus (1)  VK  N F  G U  FT  cos(   T )  1626 N


3.5 Kombinationen von Belastungen 105

d) Spannungen im Oberschenkelhals
β

125°
γ
α

6°  = 180° – 125° – 6° = 49°


 = 180° –  – (180° – ) = 180° – 180° +  –  = 49° – 5° = 44°

Schnittgrößen am Oberschenkelhals:
Zerlegung Zerlegung
der Kraft V H der Kraft HH
VH

x=a VH·sin γ
HH HH
VH γ
γ I γ HH·sin γ HH·cos γ
M VH·cos γ
Q
N

: N  VH  cos   H H  sin   0

N  (VH  cos   H H  sin  )  (1644 N  cos44  161 N  sin44)  1294 N

: Q  VH  sin   H H  cos   0

Q  H H  cos   VH  sin   161 N  cos 44  1644 N  sin 44  1026 N

I : M  VH  x  sin   H H  x  cos   0

M  ( H H  cos   VH  sin  )  x  Q  x  1026 N  x

mit x = a = 30 mm M  1026 N  30 mm  30780 Nmm  30,8 Nm

Druckspannung im Oberschenkelhals:
N 1294 N d2 28 2
D    2,10 N/mm 2 mit Aπ π mm 2  616 mm 2
A 616 mm 2 4 4
106 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

Mittlere Schubspannung im Oberschenkelhals:


Q 1026 N
   1,70 N/mm 2
A 616 mm 2

Biegespannung im Oberschenkelhals:
M d3 283
B  mit WB      mm 3  2155 mm 3
WB 32 32

30780 Nmm
 B   14,28 N/mm 2
2155 mm 3

Resultierende maximale Druckspannung:

 Dmax   D   B  2,1 N/mm 2  14,28 N/mm 2  16,38 N/mm 2

3.6 Federschaltung elastischer Systeme


Elastische Teilstrukturen können unterschiedlich kombiniert auftreten. Je nach Kopplung ist
das Gesamtsystem mehr oder weniger verformbar. Wird das elastische System, das als Feder-
system angesehen werden kann (siehe Kapitel 3.4.5), weicher, spricht man von einer Reihen-
schaltung. Wird das System dagegen härter (weniger verformungsfähig), liegt eine Parallel-
schaltung vor, Bild 3-16.

a) b)
S1 = S2 = F S1 S2

Stab 1 Stab 1 Stab 2


l1 E ·A
c1 = 1 1 E1 · A1 E2 · A2
l1 c1 = c2 =
l1 l2

Stab 2
l2 E ·A F
c2 = 2 2
l2

Bild 3-16 Reihen- und Parallelschaltung von Stabsystemen


a) Reihenschaltung: System wird nachgiebiger
b) Parallelschaltung: System wird härter
3.6 Federschaltung elastischer Systeme 107

3.6.1 Reihenschaltung elastischer Systeme


Bei der Reihenschaltung, Bild 3-16a, handelt es sich um ein statisch bestimmtes Problem. Die
Gesamtfederkonstante errechnet sich nach der Gesetzmäßigkeit
1 1 1
  (3.43)
cges c1 c 2

für zwei Stäbe und


n
1 1
 (3.44)
cges c
i 1 i

für n Stäbe.
Hierbei sind c1, c2 und ci die Federkonstanten der Stäbe (siehe Kapitel 3.4.5.2) mit
Ei  Ai
ci  (3.45).
li

Die Gesamtverlängerung l errechnet sich aus den Verlängerungen der Teilsysteme:


n
lges   li (3.46),
i 1

die Kraft ist in allen Federn i gleich und es gilt:


Si  F (3.47).

3.6.2 Parallelschaltung elastischer Systeme


Bei der Parallelschaltung, Bild 3-16b, handelt es sich um ein statisch unbestimmtes System.
Die Gesamtfederkonstante errechnet sich nach der Beziehung
cges  c1  c 2 (3.48)

für zwei Stäbe und


n
cges   ci (3.49)
i 1

für n Stäbe.
Die Gesamtverlängerung ist für alle Teilsysteme gleich und ergibt sich wie folgt:
F
l ges  l1  l 2  li  (3.50).
cges
108 3 Festigkeit des Stütz- und Bewegungsapparats

Die Kräfte in den Teilsystemen erhält man mit den Beziehungen


c1
S1  F (3.51),
cges

c2
S2  F (3.52)
cges

bzw.
ci
Si  F (3.53).
cges

Bei einigen Systemen kann auch eine Kombination von Reihen- und Parallelschaltung vorlie-
gen. In diesen Fällen sind die obigen Gesetzmäßigkeiten kombiniert anzuwenden, siehe auch
[3-1].

Literatur zu Kapitel 3
[3-1] Richard, H.A., Sander, M.: Technische Mechanik. Festigkeitslehre. Verlag Vie-
weg + Teubner, Wiesbaden, 2011
[3-2] Cowin, S. C.: The Mechanical Properties of Cortical Bone Tissue. In: Bone Mecha-
nics, Editor: Cowin, S. C., CRC Press, Second Printing, 1991, S. 97-127
[3-3] Cowin, S. C.: The Mechanical Properties of Cancellous Bone. In: Bone Mechanics,
Editor: Cowin, S. C., CRC Press, Second Printing, 1991, S. 129-157
[3-4] Dubbel, Taschenbuch für den Maschinenbau, 22. Auflage. Hrsg. Grote, K.-H.;
Feldhusen, J., Springer Verlag, Berlin, 2007
4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

Die Dynamik ist ein wichtiges grundlegendes Gebiet der Technischen Mechanik. Sie beinhal-
tet die Lehre von den Bewegungen von Körpern und technischen Strukturen. Die Dynamik mit
den Teilgebieten Kinematik und Kinetik ist damit ein wichtiges Werkzeug für die Analyse von
Bewegungsvorgängen aller Art. Während die Kinematik als reine Bewegungslehre verstanden
wird, beschreibt die Kinetik die Beziehungen zwischen den Bewegungen bzw. den Bewe-
gungsänderungen und den sie beeinflussenden Kräften.
Die Grundlagen der Dynamik dienen im Wesentlichen dazu,
 sich einen Überblick über die in Natur und Technik ablaufenden Bewegungsvorgänge
zu verschaffen,
 bei Bewegungen auftretende Geschwindigkeiten und Beschleunigungen zu analysie-
ren,
 Bewegungsbahnen von Massenpunkten und Körpern zu berechnen,
 die bei Bewegungen auftretenden Kräfte und Momente zu bestimmen, sowie die ver-
richtete Arbeit, die Leistung bzw. die gespeicherte oder freigesetzte Energie zu ermit-
teln.

4.1 Idealisierungen
Verschiedene Idealisierungen der Mechanik sind bereits aus der Statik bekannt, wie z. B. die
Einzelkraft oder der starre Körper. Idealisierungen der Dynamik sind
 der Massenpunkt
 das Massenpunktsystem und
 der starre Körper.

4.1.1 Massenpunkt
Beim Massenpunkt handelt es sich um einen massenbehafteten Körper kleiner Abmessungen.
D. h. die Abmessungen sind klein im Vergleich zur Bewegungsbahn und haben keinen Ein-
fluss auf den Ablauf der Bewegung.
Ein Massenpunkt, der sich frei im Raum bewegen kann, hat drei Freiheitsgrade der Bewegung.
Es handelt sich um drei Translationen, Bild 4-1a. Der Massenpunkt kann sich somit z. B. mit
einer Geschwindigkeit vx in x-Richtung, vy in y-Richtung und vz in z-Richtung bewegen.
In der Ebene besitzt der Massenpunkt zwei Freiheitsgrade, Bild 4-1b. Es sind Translationen in
x- und y-Richtung möglich.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
H. A. Richard und G. Kullmer, Biomechanik,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-28333-9_4
110 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

a) b) vy
y vy Massenpunkt y Massenpunkt

vx vx
vz
z x x

Bild 4-1 Bewegungsmöglichkeiten (Freiheitsgrade) eines Massenpunktes


a) Drei Freiheitsgrade im Raum
b) Zwei Freiheitsgrade in der Ebene

4.1.2 Massenpunktsystem
Unter einem Massenpunktsystem versteht man eine endliche Zahl von Massenpunkten, die
miteinander in Verbindung stehen. Die Verbindungen können starr sein, in diesem Fall spricht
man von kinematischen Bindungen, oder elastisch sein, hier liegt dann eine physikalische
Bindung vor. Bei Massenpunktsystemen hängen die Freiheitsgrade von der Anzahl der Mas-
sen, der Art und der Anzahl der Bindungen sowie von der Bewegungsart (räumliche, ebene
oder einachsige Bewegung) ab.

4.1.3 Starrer Körper


Bei einem starren Körper handelt es sich um einen massenbehafteten Körper, der sich nicht
verformt. Ein starrer Körper, der sich frei im Raum bewegen kann, besitzt insgesamt sechs
Freiheitsgrade der Bewegung: drei Translationen und drei Rotationen, Bild 4-2a. Er kann sich
in x-, y- und z-Richtung mit den Geschwindigkeiten vx, vy und vz translatorisch bewegen und er
kann sich bei allgemeiner räumlicher Bewegung jeweils um die x-, y- und z-Achse mit den
Winkelgeschwindigkeiten ωx, ωy und ωz drehen.

a) ωy b)
ωz
vy
z vy
y
y

x vx
z x vx ωx

vz
ωz
Bild 4-2 Bewegungsmöglichkeiten (Freiheitsgrade) eines starren Körpers
a) Sechs Freiheitsgrade im Raum: 3 Translationen, 3 Rotationen
b) Drei Freiheitsgrade in der Ebene: 2 Translationen, 1 Rotation

Bewegt sich ein starrer Körper in oder auf einer Ebene, so verbleiben ihm noch drei Freiheits-
grade, nämlich die Translationen in x- und y-Richtung und die Rotation um die z-Achse, Bild
4-2b.
4.3 Kinematik des Massenpunktes 111

4.2 Einteilung der Bewegungen


Bewegungen können u. a. eingeteilt werden in
 geradlinige Bewegungen
 ebene Bewegungen
 räumliche Bewegungen
 Translationen
 Rotationen
 gleichförmige Bewegungen
 beschleunigte Bewegungen
 einmalige Bewegungen
 wiederkehrende Bewegungen.
Diese Bewegungsarten werden im Weiteren erläutert.

4.3 Kinematik des Massenpunktes


Die Kinematik ist die Lehre von den Bewegungen. Betrachtet werden insbesondere die Geo-
metrie der Bewegungen, d. h. die Bewegungsbahnen, sowie die Geschwindigkeiten und Be-
schleunigungen, die beim Bewegungsvorgang auftreten. Grundgrößen der Kinematik sind
Weg (Länge) und Zeit.
Die Bewegung eines Massenpunktes lässt sich durch den Ortsvektor, die Geschwindigkeit und
die Beschleunigung in Abhängigkeit von der Zeit beschreiben.

4.3.1 Bewegungsbahn
Betrachtet wird die Ortsänderung eines Punktes in einem bestimmten Zeitraum. Die Bewe-
gungsbahn kann somit als Folge der Aufenthaltsorte eines Massenpunktes zu verschiedenen
Zeiten aufgefasst werden, Bild 4-3.

Die Bahn wird durch den Ortsvektor r , der sich mit der Zeit ändert, beschrieben, wobei
 
r  r (t ) (4.1)

die Bahngleichung darstellt. In kartesischen Koordinaten lautet die Bahngleichung


   
r  e x  x(t )  e y  y (t )  ez  z (t ) (4.2)
  
mit den Einheitsvektoren e x , e y und ez sowie den zeitlich veränderlichen Koordinaten

(Komponenten) x(t), y(t) und z(t) des Ortsvektors r (t ) , Bild 4-3.
112 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

y
P
Bahn
s r(t)
y(t)
ey
ex
ez x
z(t)
z x(t)

Bild 4-3 Bewegungsbahn als Abfolge der Aufenthaltsorte eines Punktes P zu verschiedenen Zeiten
  
e x , e y , ez : Einheits- oder Basisvektoren

r (t ) : Ortsvektor der Bahnkurve
x(t), y(t), z(t): Koordinaten (Komponenten) des Ortsvektors

4.3.2 Geschwindigkeit
 
Die Geschwindigkeit v ergibt sich durch die Ableitung des Ortsvektors r nach der Zeit:

 dr 
v r (4.3).
dt
Die Geschwindigkeit eines Massenpunktes ist stets tangential zur Bahn gerichtet, siehe Bild
4-4. Die Dimension der Geschwindigkeit ist Länge/Zeit [l/t]. Häufig wird die Einheit m/s oder
km/h verwendet.

v (t )
y vy (t)
P
Bahn v z (t )
vx (t)
r(t)
ey
ex
ez x

z

Bild 4-4 Geschwindigkeitsvektor v (t ) im Bahnpunkt P mit den Geschwindigkeitskomponenten
v x  x (t ) , v y  y (t ) und vz  z (t )

Bei der Bewegung eines Massenpunktes lassen sich zwei Sonderfälle unterscheiden:

 geradlinige Bewegung: die Richtung der Geschwindigkeit v ist konstant und

 gleichförmige Bewegung: der Betrag der Geschwindigkeit v ist konstant.
4.3 Kinematik des Massenpunktes 113

Dem gegenüber ändert bei allgemeinen Bewegungssituationen die Geschwindigkeit im Laufe


der Zeit Betrag und Richtung. In kartesischen Koordinaten lässt sich dann die Bewegung wie
folgt beschreiben:
    
v  r  ex  x (t )  e y  y (t )  ez  z (t ) (4.4),

mit den Geschwindigkeitskomponenten v x  x , v y  y und v z  z .

Der Betrag der Geschwindigkeit errechnet sich als Diagonale des aufgespannten Quaders, Bild
4-4, mit

v  v  v x2  v y2  v z2  x 2  y 2  z 2 (4.5).

4.3.3 Beschleunigung
 
Die Beschleunigung a ist ein Maß für die zeitliche Änderung der Geschwindigkeit. a erhält

man durch die Ableitung der Geschwindigkeit v bzw. durch die zweite Ableitung des Orts-

vektors r nach der Zeit.

a(t)

a y (t )
y
P
Bahn a z (t)
a x (t )
r(t)
ey
ex
ez x

z

Bild 4-5 Beschleunigungsvektor a (t ) im Bahnpunkt P mit den Beschleunigungskomponenten
a x (t )  v x (t )  x(t ) , ay (t )  vy (t )  y(t ) und a z (t )  v z (t )  z(t )

Es gilt somit
    
a  v  ex  v x  e y  v y  ez  vz (4.6)

oder
    
a  r  e x  x  e y  y  ez  z (4.7),

mit den Beschleunigungskomponenten a x  v x  x , a y  v y  y und a z  vz  z .


Der Betrag der Beschleunigung errechnet sich als Diagonale des aufgespannten Quaders, Bild
4-5, mit
114 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen


a  a  a x2  a y2  a z2  v x2  v y2  vz2  x2  y2  z2 (4.8).

Die Beschleunigung besitzt die Dimension Länge/Zeit2 [l/t2] und z. B. die Einheit m/s2.

Der Beschleunigungsvektor a kann je nach Bewegung beliebige Richtungen annehmen. Er ist
bei allgemeinen Bewegungen nicht tangential zur Bahn gerichtet. Die Beschleunigungskom-
ponente tangential zur Bahn bewirkt eine Änderung des Betrags der Geschwindigkeit, die
Beschleunigungskomponente senkrecht zur Bahn bewirkt eine Richtungsänderung der Bewe-
gung.

4.3.4 Geradlinige Bewegung


In den Kapiteln 4.3.1, 4.3.2 und 4.3.3 wird die allgemeine Bewegung eines Massenpunktes im
Raum beschrieben. Wegen der großen praktischen Bedeutung stellt die geradlinige Bewegung
einen wichtigen Sonderfall der allgemeinen Bewegung dar.
Die Beschreibung der Bewegung erfolgt am zweckmäßigsten in kartesischen Koordinaten,
wobei im Idealfall die verwendete Koordinate mit der geraden Bahn zusammenfällt. Im Fol-
genden wird stets die x-Koordinate verwendet, Bild 4-6. Dementsprechend hat der Ortsvektor
nur eine x-Komponente.
Sowohl der Geschwindigkeitsvektor als auch der Beschleunigungsvektor zeigen dann in x-
 
Richtung. Somit kann man auch auf den Vektorcharakter von v und a verzichten und ledig-
lich Komponentengleichungen verwenden.
Die Geschwindigkeit v einer geradlinigen Bewegung errechnet sich dann durch zeitliche Ab-
leitung der Wegkoordinate x mit
v  x (4.9).
Die Beschleunigung a erhält man durch erste Ableitung der Geschwindigkeit oder die zweite
Ableitung der Wegkoordinate:
a  v  x (4.10).

y
P v a Bahn
z x

Bild 4-6 Bewegung eines Massenpunktes P auf gerader Bahn: die Bahnkoordinate x, die Geschwin-
digkeit v und die Beschleunigung a zeigen in Richtung der Bewegungsbahn

Negative Geschwindigkeit v oder negative Beschleunigung a (Verzögerung) bedeuten, dass v


und a entgegen der positiv gewählten Richtung zeigen.

4.3.5 Bestimmung von Geschwindigkeit und Beschleunigung aus bekannter


Weg-Zeit-Beziehung
Eine wichtige Grundaufgabe der Kinematik ist die Bestimmung unbekannter kinematischer
Größen aus bekannten anderen kinematischen Größen.
4.3 Kinematik des Massenpunktes 115

4.3.5.1 Momentane Geschwindigkeit einer Bewegung


Ist der Weg x(t) in Abhängigkeit von der Zeit bekannt, so kann die Geschwindigkeit nach
Gleichung (4.9) durch erste Ableitung des Weges nach der Zeit gewonnen werden:
dx
v  x  (4.11).
dt

4.3.5.2 Momentane Beschleunigung einer Bewegung


Die Beschleunigung erhält man nach Gleichung (4.10) durch erste Ableitung der Geschwin-
digkeit nach der Zeit:
dv
a  v  (4.12)
dt
oder durch zweite Ableitung des Weges nach der Zeit:

d 2x
a  x  (4.13).
dt 2

4.3.5.3 Mittlere Geschwindigkeit und mittlere Beschleunigung


Näherungsweise kann die Geschwindigkeit mit dem Differenzenquotienten
x
vm  (4.14),
t
bestimmt werden. vm ist die mittlere Geschwindigkeit innerhalb des Zeitintervalls Δt. Je kleiner
Δt gewählt wird, umso genauer erhält man die Geschwindigkeit v, die einen momentanen Zu-
stand der Bewegung beschreibt.
Entsprechend gilt für die mittlere Beschleunigung innerhalb eines Zeitintervalls:
v
am  (4.15).
t

Beispiel 4-1
Die Hundertmeterläufe zweier Leichtathleten bei einer Olympiade sollen verglichen werden.
Die Zeitmessung hat die Zeiten der Läufer in Zehn-Meter-Abständen festgehalten.
Stellen Sie die Laufstrecke über der Laufzeit dar und bestimmen Sie die mittleren Geschwin-
digkeiten sowie die momentanen Geschwindigkeiten und die momentanen Beschleunigungen
der beiden Läufer.
Geg.: Zurückgelegte Strecken und Zeiten der beiden Läufer (siehe Tabelle)
116 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

Strecke x Zeit t [s] Zeit t [s]


[m] Läufer 1 Läufer 2
0 0 0
10 1,83 1,89
20 2,87 2,96
30 3,80 3,90
40 4,66 4,79
50 5,50 5,65
60 6,33 6,48
70 7,17 7,33
80 8,02 8,18
90 8,89 9,04
100 9,79 9,92

Lösung:
a) Laufstrecke über der Laufzeit
100
90 Messwerte Läufer 1
Messwerte Läufer 2
80
Laufstrecke x(t) Läufer 1
Laufstrecke x [m]

70 Laufstrecke x(t) Läufer 2


60
50
40
30
20
10
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Laufzeit t [s]
b) Mittlere Geschwindigkeit
Die mittlere Geschwindigkeit in den Streckenintervallen (10 m) errechnet sich mit:
x
vm 
t
Läufer 1 hat bis zur Laufstrecke von 80 m die höhere mittlere Geschwindigkeit, Läufer 2
hat den besseren Endspurt, siehe folgendes Diagramm.
4.3 Kinematik des Massenpunktes 117

13
12
11
Geschwindigkeit vm [m/s] 10
9
8
7
6
5
4
3
Läufer 1
2
1 Läufer 2
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Laufzeit t [s]
c) Laufstrecke (Weg-Zeit-Funktionen als Ausgleichspolynom)

x(t )  (a  t 4  b  t 3  c  t 2  d  t  e)  t 2

Koeffizienten des Ausgleichspolynoms für Läufer 1 und Läufer 2:


a [m/s 6 ] b [m/s 5 ] c [m/s 4] d [m/s 3] e [m/s 2]
Läufer 1 0,000199 -0,006778 0,09513 -0,755397 3,837804
Läufer 2 0,000183 -0,006362 0,09084 -0,724754 3,695326

d) Momentane Geschwindigkeit:
13
12
11
Geschwindigkeit v [m/s]

10
9
8
7
6
5
4 Geschwindigkeit Läufer 1
3
2 Geschwindigkeit Läufer 2
1 mittlere Geschwindigkeit Läufer 1
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Laufzeit t [s]
Die folgende Funktion stellt ein Ausgleichspolynom der Geschwindigkeiten dar. Im obi-
gen Bild sind diese für beide Läufer dargestellt. Zudem sind die mittleren Geschwindig-
keiten für Läufer 1 eingezeichnet.

v(t )  (6a  t 4  5b  t 3  4c  t 2  3d  t  2e)  t

Koeffizienten siehe Aufgabenteil c).


118 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

e) Momentane Beschleunigung:
8
Beschleunigung a [m/s 2 ] 7 Läufer 1
6 Läufer 2

5
4
3
2
1
0
-1
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Laufzeit t [s]
Die folgende Funktion stellt ein Ausgleichspolynom der Beschleunigungen dar.

a(t )  30a  t 4  20b  t 3  12c  t 2  6d  t  2e

Da a(t )  v(t )  x(t ), gelten für alle drei Ausgleichspolynome die gleichen Koeffizienten,
siehe Aufgabenteil c).

4.3.6 Bestimmung von Geschwindigkeit und Weg aus gegebener Beschleunigung


Entsprechend der vorgegebenen Beschleunigung können fünf Fälle unterschieden werden:
 a = 0: gleichförmige Bewegung
 a = konst.: gleichförmig beschleunigte Bewegung
 a = a(t): Beschleunigung ändert sich mit der Zeit
 a = a(v): Beschleunigung ändert sich in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit
 a = a(x): Beschleunigung ändert sich in Abhängigkeit vom Weg.
In allen Fällen erhält man die Geschwindigkeit und den Weg durch Integration unter Berück-
sichtigung von Anfangsbedingungen. Als Anfangsbedingungen zum Zeitpunkt t = t0 können
z. B. die Anfangsgeschwindigkeit v0 und der Anfangswert des Weges x0 gewählt werden. Die-
se Anfangsbedingungen lassen sich auch wie folgt schreiben:
v(t  t 0 )  v0 (4.16)

x(t  t 0 )  x0 (4.17).

Der Index 0 kennzeichnet die Anfangswerte. Für einen beliebigen Zeitpunkt werden die Be-
zeichnungen v für die Geschwindigkeit und x für den Weg gewählt.
4.3 Kinematik des Massenpunktes 119

Die Integration der jeweils vorliegenden Differentialgleichung kann als unbestimmte Integrati-
on oder als bestimmte Integration erfolgen:
 Bei der unbestimmten Integration erhält man die Integrationskonstanten durch Einset-
zen der Anfangswerte.
 Bei der bestimmten Integration entsprechen die unteren Grenzen den Anfangswerten.
Die oberen Grenzen entsprechen den Variablen zu einem beliebigen Zeitpunkt.
Um bei der bestimmten Integration eine Verwechslung mit den oberen Grenzen zu vermeiden,
werden die Integrationsvariablen unter dem Integral entsprechend gekennzeichnet oder umbe-
nannt. Beispielsweise steht dann für t die Integrationsvariable t usw.

4.3.6.1 Gleichförmige Bewegung, a = 0


Die Bewegung findet auf gerader Bahn ohne Beschleunigung statt. Die Ermittlung der Ge-
schwindigkeit erfolgt mit Gleichung (4.12), wobei a = 0 zu setzen ist:
dv
a  v  0 (4.18).
dt
Durch Umformung erhält man
dv  0 (4.19)
und die Integration von Gleichung (4.19) liefert mit der Anfangsbedingung nach Gleichung
(4.16) die Geschwindigkeit
v  v0  konst. (4.20).

Die Geschwindigkeit v bleibt über den gesamten Bewegungsvorgang konstant, siehe auch Bild
4-7. Man spricht in diesem Fall von einer gleichförmigen Bewegung.
Für die Ermittlung des Weges geht man von der Gleichung (4.11) aus, wobei für v nun v0 ein-
gesetzt werden kann:
dx
v  x   v0  konst. (4.21).
dt
Durch Umformung (Trennung der Variablen1) ergibt sich
dx  v0  dt (4.22).

Den Weg x erhält man durch Integration dieser Differentialgleichung. Als Anfangsbedingung
wird dabei für den Zeitpunkt t = t0 der Weg x = x0, siehe auch Gleichung (4.17), gewählt.
Bei der bestimmten Integration von Gleichung (4.22) werden die Anfangswerte t = t0 und x =
x0 als untere Grenzen eingesetzt. Als obere Grenzen gelten dann t und x. Um eine Verwechs-
lung mit den oberen Grenzen zu vermeiden, werden die Integrationsvariablen in t und x
umbenannt.
Somit ergibt sich durch Integration der rechten und der linken Seite von Gleichung (4.22):

1 Zur Trennung der Variablen siehe z. B. in [4-2]


120 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

x t

 dx   v0  dt (4.23),
x0 t0

und somit
x t
x x0
 v0  t t0
(4.24).

Durch das Einsetzen der oberen und unteren Grenzen und Umstellung erhält man für den Weg
x die allgemeine Formel
x  x0  v0  (t  t 0 ) (4.25).

a) b) c)
a v x

v0 x0

t0 t t0 t t0 t

Bild 4-7 Beschleunigungs-, Geschwindigkeits- und Weg-Zeit-Diagramm bei gleichförmiger Bewe-


gung
a) Beschleunigung: a = a0 = 0
b) Geschwindigkeit: v = v0 = konst.
c) Weg: x = x0 + v0 · (t – t0)

Zur Verdeutlichung der Bewegung kann man die Situation im Beschleunigungs-Zeit-, Ge-
schwindigkeits-Zeit- und Weg-Zeit-Diagrammen darstellen. Für die hier betrachtete Bewe-
gung gelten die in Bild 4-7 gezeigten a-t-, v-t- und x-t-Diagramme. Es wird deutlich, dass bei
gleichförmiger Bewegung die Beschleunigung null, Bild 4-7a, und die Geschwindigkeit kon-
stant ist, Bild 4-7b, und der Weg sich linear mit der Zeit ändert, Bild 4-7c.

4.3.6.2 Gleichförmig beschleunigte Bewegung, a = konst.


Betrachtet wird eine Bewegung auf einer geraden Bahn, die mit konstanter Beschleunigung
a = a0 = konst. erfolgt. Auch für diese gleichförmig beschleunigte Bewegung gilt es, die Ge-
schwindigkeit v = v(t) und den Weg x = x(t) zu bestimmen.
Ausgangspunkt für die Ermittlung der Geschwindigkeit ist erneut Gleichung (4.12). Mit a = a0
gilt:
dv
a  v   a0 (4.26).
dt
Nach Trennung der Variablen erhält man
dv  a 0  dt (4.27).
4.3 Kinematik des Massenpunktes 121

Die Integration dieser Differentialgleichung erfolgt unter Berücksichtigung der Anfangsbedin-


gungen nach Gleichung (4.16) und ergibt die Geschwindigkeit
v  v0  a0  (t  t 0 ) (4.28).

Für den Sonderfall t0 = 0, Bild 4-8, gilt


v  v0  a 0  t (4.29).

und für t0 = 0 und v0 = 0 ergibt sich


v  a0  t (4.30).

Den Weg x(t) erhält man mit der Differentialgleichung (4.11) und v = v(t) nach Gleichung
(4.29) sowie den Anfangsbedingungen x = x0 für t = t0 = 0 durch Integration von
x t t t

 dx   v0  a0  t   dt   v0  dt   a0  t  dt (4.31)
x0 t0 t0 t0

zu

t2
x  x0  v0  t  a0  (4.32).
2
Für den Sonderfall x0 = 0 und v0 = 0 bei t0 = 0 folgt unter Berücksichtigung von Gleichung
(4.30)

t2 v2
x  a0   (4.33).
2 2a 0

a) b) c)
a v x
t2
a0 ·
2
a0·t
v0 ·t
a0 v0
x0
v0 x0

t0 t t0 t t0 t

Bild 4-8 Beschleunigungs-, Geschwindigkeits- und Weg-Zeit-Diagramme bei gleichförmig beschleu-


nigter Bewegung
a) konstante Beschleunigung
b) lineare Geschwindigkeitsänderung
c) Wegänderung (quadratische Funktion)
122 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

4.3.6.3 Zeitlich veränderliche Beschleunigung a = a(t)


Bei zahlreichen Bewegungen ist die Beschleunigung nicht konstant, siehe z. B. beim Hundert-
meterlauf eines Leichtathleten (Beispiel 4-1). Für die Beschleunigung gilt dann allgemein
a = a(t). Auch in diesem Fall ist die Gleichung (4.12) Ausgangspunkt für die Ermittlung der
Geschwindigkeit:
dv
a  v   a (t ) (4.34).
dt
Nach Trennung der Variablen
dv  a(t )  dt (4.35)

erhält man mit der Anfangsbedingung nach Gleichung (4.16)


v t

 dv  a t   dt
 (4.36)
v0 t0

und somit die Geschwindigkeit


t


v  v0  a(t )  dt (4.37).
t0

Die rechte Seite von Gleichung (4.37) lässt sich bei Vorgabe der Funktion a  a (t ) integrieren.

a) a b) v c) x

a0 v0
x0

t0 t t0 t t0 t
Bild 4-9 Beschleunigungs-, Geschwindigkeits- und Weg-Zeit-Diagramme bei zeitlich veränderlicher
Beschleunigung
a) zeitlich veränderliche Beschleunigung
b) Geschwindigkeits-Zeit-Funktion
c) Weg-Zeit-Funktion

Für die Ermittlung des Weges geht man erneut von Gleichung (4.11) aus. Nach Trennung der
Variablen und bestimmter Integration unter Beachtung der Anfangsbedingung nach Gleichung
(4.17) sowie v = v(t) nach Gleichung (4.37) erhält man den Weg
t


x  x0  v(t )  dt (4.38).
t0

Bild 4-9 zeigt, dass sich je nach Beschleunigung a = a(t) beliebige Geschwindigkeits- und
Wegabhängigkeiten ergeben können.
4.3 Kinematik des Massenpunktes 123

4.3.6.4 Geschwindigkeitsabhängige Beschleunigung a = a(v)


Bei den nun zu untersuchenden Bewegungsvorgängen (z. B. Bewegungen mit Luftwiderstand)
ändert sich die Beschleunigung mit der Geschwindigkeit, d. h. a = a(v) ist bekannt.
Als Anfangsbedingungen sollen wiederum die Bedingungen nach Gleichung (4.16) und Glei-
chung (4.17) herangezogen werden.
Die Ermittlung der Geschwindigkeit geht erneut von Gleichung (4.12) aus
dv
a  v   a (v ) (4.39).
dt
Nach Trennung der Variablen v und t erhält man
dv
dt  (4.40).
a (v)
Die Integration erfolgt unter Berücksichtigung der Anfangsbedingungen:
t v
dv
 dt   a ( v ) (4.41),
t0 v0

wodurch sich die Zeit t in Abhängigkeit der Geschwindigkeit v ergibt


v
dv
t  t0   a (v )  t (v ) (4.42).
v0

Benötigt wird nun die Umkehrfunktion2 und somit die Geschwindigkeit


v  v(t ) (4.43).

Die Ermittlung des Weges startet auch hier mit Gleichung (4.11):
dx
v  v(t ) (4.44).
dt
Nach Trennung der Variablen und mit Gleichung (4.40) erhält man die Differentialgleichung
v  dv
dx  v  dt  (4.45).
a(v)
Die Integration liefert den Weg
t v
v
x  x0   v(t )  dt  x0   a(v )  dv (4.46).
t0 v0

2 Zur Definition von Umkehrfunktionen siehe z. B. in [4-2]


124 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

Beispiel 4-2
Der Sprung eines Fallschirmspringers aus einem Flugzeug kann als freier Fall einer Masse
unter Berücksichtigung des Luftwiderstands verstanden werden. Für den Absprung gelten
die Anfangsbedingungen: Zum Zeitpunkt t = t0 = 0 sind Geschwindigkeit v = v0 = 0 und Weg
x = x0 = 0.
Die Beschleunigung des Fallschirmspringers der Masse m kann mit der Beziehung
dv  v2  m g
a(v)  v   g  1   mit 2 
dt  2  k
 
beschrieben werden.
Man bestimme die Geschwindigkeit v und den Weg x zur Zeit t (vor dem Öffnen des Fall-
schirms).
Geg.: m, g, k (Luftwiderstandskoeffizient)
Lösung:

t0 = 0, v0 = 0, x = 0
x

v = x· m

a) Geschwindigkeit v(t)
Beschleunigung:

dv  v2 
a (v )   g  1  
dt  2 
 
Durch Trennung der Variablen v und t erhält man
dv
dt 
 v2 
g  1  
 2 
 
Die Integration, siehe die Integrationstafel in [4-2], liefert:
 v
t  arctanh C
g 
Mit der Anfangsbedingung v(t = 0) = 0 folgt C = 0 und somit:
 v
t  arctanh
g 
Die Umstellung dieser Gleichung führt zur gesuchten Geschwindigkeit
4.3 Kinematik des Massenpunktes 125

g t
v    tanh

Mit zunehmender Zeit nähert sich v der konstanten Grenzgeschwindigkeit vG, die sich für
t   ergibt:

m g
vG    .
k
b) Weg x(t)
Durch Integration der Geschwindigkeit erhält man mit x(t = 0) = x0 = 0

2 g t
x  ln cosh
g 

4.3.6.5 Wegabhängige Beschleunigung, a = a(x)


Ändert sich die Beschleunigung mit dem Weg, d. h. a = a(x) ist vorgegeben, so lassen sich
auch hier Geschwindigkeit und Weg errechnen. Nach Gleichung (4.12) gilt unter Verwendung
der Kettenregel und von Gleichung (4.11)
dv dv dx dv
a  v      v  a( x) (4.47).
dt dx dt dx
Durch Umformen (Trennung der Variablen v und x) erhält man
v  dv  a ( x )  dx (4.48).

Die Integration liefert


v x

 v  dv   a( x )  dx
v0 x0

bzw.
x
1 2 1 2
2
v  v0 
2  a ( x )  dx
x0

und somit die Geschwindigkeit:

x
v  v02  2 ax   dx  v( x)
 (4.49).
x0

Den Weg x erhält man mit Gleichung (4.11) und v = v(x) nach Gleichung (4.49):
dx
v  v(x)
dt
126 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

bzw. nach Trennung der Variablen mit


dx
dt  (4.50).
v(x)
Die Integration liefert
x
dx
t  t0   vx   t ( x) (4.51)
x0

und die Umkehrung ergibt


x  x(t ) (4.52).

Es ist also eine Umkehrfunktion für die sich nach der Integration von Gleichung (4.51) erge-
bende Funktion t = t(x) zu finden.

4.4 Kinematik des starren Körpers


Die allgemeine Bewegung eines starren Körpers ist aus Translationen und Rotationen zusam-
mengesetzt. Die Bewegungsmöglichkeiten (Freiheitsgrade) und die Kinematik der Bewegungen
eines starren Körpers werden im Nachfolgenden näher untersucht.
Bei einem starren Körper handelt es sich um einen massenbehafteten Körper, der sich nicht
verformt (siehe auch Kapitel 4.1.2).

4.4.1 Freiheitsgrade eines starren Körpers


Ein starrer Körper, der sich frei im Raum bewegen kann, hat f = 6 Freiheitsgrade, Bild 4-10a.
Er kann sich jeweils in die x-, y- und z-Richtung translatorisch bewegen und sich jeweils um die

a) ωy b) c)

vy ωy
y y
x ωx
z x vx ωx z x ωx

vz ωz
ωz
Bild 4-10 Bewegungsmöglichkeiten (Freiheitsgrade) eines starren Körpers im Raum
a) Starrer Körper frei im Raum; f = 6 Freiheitsgrade: 3 Translationen, 3 Rotationen
b) Starrer Körper an einem Punkt festgehalten (1 Fixpunkt); f = 3 Freiheitsgrade: 3 Rotati-
onen
c) Starrer Körper, an zwei Punkten festgehalten (2 Fixpunkte); f = 1 Freiheitsgrad: Rotation
(Drehung) um eine feste Achse (Drehachse, z. B. x-Achse)
4.4 Kinematik des starren Körpers 127

x-, y- und z-Achse drehen. Die drei Translationen werden durch die Geschwindigkeiten vx, vy
und vz und die drei Rotationen durch die Winkelgeschwindigkeiten x, y und z beschrieben.
Die Bewegungen können getrennt voneinander, z. B. hintereinander, oder auch gleichzeitig,
d. h. überlagert, oder in verschiedenen Kombinationen vorkommen.
Ist der starre Körper an einem Punkt festgehalten (Bewegung um Fixpunkt), so entfallen die
Translationen, Bild 4-10b. Der Körper hat lediglich drei Freiheitsgrade (f = 3), nämlich die drei
Rotationen. Er kann sich also getrennt voneinander oder gleichzeitig um die x-, y- und z-Achse
drehen. Diese Rotationen können dann durch die Winkelgeschwindigkeiten x, y und z
beschrieben werden.
Ist der starre Körper an zwei Punkten fixiert, wie z. B. ein zweifach gelagertes System oder
Teilsystem, so liegt nur noch ein Freiheitsgrad (f = 1) vor, Bild 4-10c. Der Körper rotiert
(dreht) um eine feste Achse, z. B. die x-Achse, mit der Winkelgeschwindigkeit x.

a) vy b)

y ω = ωz

z z
x vx

ω = ωz

Bild 4-11 Bewegungsmöglichkeiten (Freiheitsgrade) eines starren Körpers in der Ebene


a) Starrer Körper frei in der Ebene; f = 3 Freiheitsgrade: 2 Translationen, 1 Rotation
b) Starrer Körper, an einem Punkt festgehalten (1 Fixpunkt); f = 1 Freiheitsgrad: Rotation
um die z-Achse

Bewegt ein Körper sich frei auf oder in einer Ebene, hat er insgesamt drei Freiheitsgrade
(f = 3), Bild 4-11a. Er kann sich in x- und/oder y-Richtung translatorisch bewegen und er kann
sich in oder auf der Ebene (um eine z-Achse) drehen. Die beiden Translationen werden durch
die Geschwindigkeiten vx und vy, die Rotation durch die Winkelgeschwindigkeit  = z be-
schrieben.
Ist der starre Körper an einem Punkt gelagert (fixiert), so ist nur noch eine Drehung um den
Fixpunkt möglich (Freiheitsgrad f = 1). Die Drehung wird dann durch die Winkelgeschwin-
digkeit  = z beschrieben, Bild 4-11b.
Liegt eine einachsige Bewegung vor, so besitzt der starre Körper nur einen Freiheitsgrad. Er
kann sich z. B. mit der Geschwindigkeit vx in x-Richtung bewegen.

4.4.2 Translation
Diese Bewegung lässt sich wie folgt definieren:
„Translation ist eine Bewegung, bei der alle Punkte eines Körpers in der Zeit dt die

gleiche Verschiebung dr erfahren.“

Wird der Punkt P in der Zeit dt um den Vektor dr nach P’ verschoben, so erfahren bei reiner
Translation alle übrigen Punkte des starren Körpers die gleiche Verschiebung (z. B. verschiebt
sich A nach A’ und B nach B’).
128 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

In diesem Fall sind auch die Geschwindigkeiten und die Beschleunigungen für alle Punkte des
starren Körpers gleich.

P
P’
dr
P

B’

r B
y
dr A’
z x
A

Bild 4-12 Translation: Alle Punkte des starren Körpers erfahren die gleiche Verschiebung dr

Für die Geschwindigkeit gilt somit:



dr 
v r (4.53).
dt
Die Beschleunigung errechnet sich mit der Beziehung:

 dv  
a v r (4.54).
dt
Dies bedeutet:
„Bei der Translation ist die Bewegung eines beliebigen Körperpunktes repräsentativ
für die Bewegung des ganzen Körpers“
Es gelten somit dieselben Gesetzmäßigkeiten wie für den Massenpunkt, Kapitel 4.3.
Bei geradliniger Bewegung (in x-Richtung) gilt auch für den starren Körper für die Geschwin-
digkeit
v  x (4.55)
und für die Beschleunigung
a  v  x (4.56).

4.4.3 Rotation
Eine Rotation liegt vor, wenn alle Punkte eines Körpers um eine gemeinsame Drehachse rotie-
ren. Man unterscheidet dabei die Rotation um eine feste Achse (siehe z. B. Bild 4-10c) und die
Rotation um einen raumfesten Punkt (siehe z. B. Bild 4-10b). Bei der Rotation um eine feste
Achse bleibt die Lage der Achse im Raum unveränderlich. Bei der Rotation um einen Fixpunkt
ändert sich die Richtung der Achse mit der Zeit.
4.4 Kinematik des starren Körpers 129

4.4.3.1 Rotation um feste Achse


Ein häufig vorkommender Fall ist die Rotation um eine feste Achse, Bild 4-13. Dabei bewegen
sich alle Punkte des starren Körpers auf Kreisbahnen, deren Ebenen senkrecht zur Drehachse
stehen. Die Rotation um eine raumfeste Achse kann somit wie folgt definiert werden:
„Rotation ist eine Bewegung, bei der alle Punkte eines Körpers in der Zeit dt die glei-
che Verdrehung d erfahren“.
.
ω, ω

A
A’ dφ
φ
r P’
P eφ
B
B’ er

feste Drehachse
Bild 4-13 Rotation um eine raumfeste Drehachse: Alle Punkte des starren Körpers erfahren die gleiche
Verdrehung um den Winkel d

Das bedeutet u. a.: Der Punkt P wird in der Zeit dt um den Winkel d nach P’ verdreht, Bild
4-13. Bei seiner Rotation verdrehen sich somit auch alle übrigen Punkte des starren Körpers
um d (z. B.: A nach A’ und B nach B’).
Wenn alle Punkte die gleiche Verdrehung erfahren, sind auch die Winkelgeschwindigkeit und
die Winkelbeschleunigung für alle Punkte gleich.
Für die Winkelgeschwindigkeit ω gilt somit:
d
   (4.57).
dt
Die Winkelbeschleunigung ε ist definiert als

d d 2
      (4.58).
dt dt 2

Die Geschwindigkeit v P für einen beliebigen Körperpunkt P, Bild 4-13, errechnet sich mit der
Beziehung
130 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

 
v P  e  v  (4.59),

mit der Geschwindigkeitskomponente v in -Richtung bzw. dem Betrag der Geschwindigkeit


vP:
v  r    r    v P (4.60).

Die Beschleunigung a P eines beliebigen Punktes P errechnet sich mit
  
a P  e r  a r  e  a  (4.61)

und den Beschleunigungskomponenten

a r  r   2   r   2 (4.62)

und
a  r    r   (4.63),

d. h. der Radialbeschleunigung ar und der Umfangsbeschleunigung a.


Bei Rotation des starren Körpers mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ω gilt für die Ge-
schwindigkeit
v P  v  r   (4.64)

und die Beschleunigung

v2
a P  a r  r   2   (4.65).
r

4.4.3.2 Rotation um einen raumfesten Punkt


Bei der Rotation um einen raumfesten Punkt bewegen sich alle Punkte des starren Körpers auf
momentanen Kreisbahnen um die momentane Drehachse. Die Richtung der Achse ändert sich
mit der Zeit. Näheres zu diesem Thema ist in [4-1] zu finden.

4.5 Kinetik des Massenpunktes


Die Betrachtung der Bewegungen von Massenpunkten und starren Körpern erfolgt in den
Teilgebieten Kinematik (siehe Kapitel 4.3 und Kapitel 4.4) und Kinetik. Während die Kinema-
tik als reine Bewegungslehre verstanden wird, beschreibt die Kinetik die Beziehungen zwi-
schen den Bewegungen bzw. den Bewegungsänderungen und den sie beeinflussenden Kräften.
Wichtige Grundgrößen der Kinetik sind dementsprechend Weg, Zeit, Masse und Kraft.
4.5 Kinetik des Massenpunktes 131

4.5.1 Axiome der Dynamik


Basis für die Kinetik des Massenpunktes sind drei NEWTONschen Grundgesetze (Axiome).
Axiome sind Grundtatsachen, die durch die Erfahrung bestätigt werden (siehe auch Axiome
der Statik im Kapitel 2.1.3).

4.5.1.1 Erstes NEWTONsches Gesetz: Trägheitsgesetz


Das erste NEWTONsche Gesetz, auch Trägheitsgesetz genannt, lautet:
„Wenn auf einen Massenpunkt keine Kraft wirkt, ist der Impuls konstant“

Der Impuls p ist eine wichtige Bewegungsgröße, die sich als Produkt von Masse m und Ge-

schwindigkeit v errechnet:
 
p  mv (4.66).

Formelmäßig gilt somit


 
p  m  v  konst., bei Abwesenheit von Kräften (4.67).

Dieses NEWTONsche Gesetz wird auch Trägheitsgesetz, Verharrungsgesetz oder „Satz von
der Erhaltung des Impulses“ genannt.

4.5.1.2 Zweites NEWTONsches Gesetz: Bewegungsgesetz


Das zweite NEWTONsche Gesetz lautet:
„Die zeitliche Änderung des Impulses ist gleich der auf den Massenpunkt wirkenden
Kraft“
Formelmäßig bedeutet dies:
  
F  p  (m  v ) (4.68),

wobei F die einwirkende Kraft bzw. die Resultierende der einwirkenden Kräfte darstellt.
Dieses Gesetz wird auch als „Impulssatz“ bezeichnet.
Ist die Masse m konstant, so gilt:
  
F  m  v  m  a (4.69),
 
mit der Beschleunigung a  v .
Gleichung (4.69) wird i. Allg. „Dynamische Grundgleichung“ oder „NEWTONsche Grund-
gleichung“ genannt. Sie lautet in der geläufigen Form in Worten
Kraft  Masse  Beschleunigung .
 
Die Kraft F und die Beschleunigung a zeigen entsprechend Gleichung (4.69) in die gleiche
Richtung.
 
Für den Sonderfall F  0 folgt aus dem 2. NEWTONschen Gesetz das erste NEWTONsche
Gesetz. Der „Impulserhaltungssatz“ ist somit ein Sonderfall des „Impulssatzes“.
132 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

4.5.1.3 Drittes NEWTONsches Gesetz: Wechselwirkungsgesetz


Dieses Gesetz lautet:
„Zu jeder Kraft gibt es stets eine entgegengesetzt gerichtete, gleich große Gegenkraft“
Dieses Axiom, auch „Wechselwirkungsgesetz“ genannt, ist bereits aus der Statik bekannt (sie-
he Kapitel 2.1.3.3).

4.5.2 NEWTONsches Grundgesetz in kartesischen Koordinaten


Aus dem zweiten NEWTONschen Gesetz, d. h. dem Impulssatz, Kapitel 4.5.1.2, folgt für
m = konst. die dynamische oder NEWTONsche Grundgleichung, Gleichung (4.69). Bei einer
räumlichen Bewegung lässt sich diese Vektorgleichung in drei Komponentengleichungen
schreiben. Somit gilt
Fx  m  a x  m  x (4.70)
Fy  m  a y  m  y (4.71)
Fz  m  a z  m  z (4.72),

mit Fx, Fy, Fz als den Kraftkomponenten und a x  x , a y  y , az  z als den Beschleuni-
gungskomponenten in x-, y- und z-Richtung.
Liegt eine ebene Bewegung vor, so entfällt Gleichung (4.72). Bei der geradlinigen Bewegung
wird nur eine der drei Komponentengleichungen benötigt, z. B.:
Fx  m  x (4.73).

4.6 Kinetik des starren Körpers


Bei der Kinematik des Massenpunktes, Kapitel 4.5, werden lediglich Translationen betrachtet.
Die allgemeine Bewegung des starren Körpers setzt sich jedoch zusammen aus Verschiebun-
gen des Schwerpunkts (Translationen) und Rotationen um Achsen durch den Schwerpunkt des
Körpers.

4.6.1 NEWTONsches Grundgesetz für den starren Körper bei Translation,


Schwerpunktsatz
Bei der Translation erfahren alle Punkte des starren Körpers die gleiche Verschiebung, die
gleiche Geschwindigkeit und die gleiche Beschleunigung, siehe Kapitel 4.4.2. Die Bewegung
eines Körperpunktes ist somit repräsentativ für den gesamten starren Körper. Es gelten daher
dieselben Gesetzmäßigkeiten wie für den Massenpunkt. Dies bedeutet, die Axiome der Dyna-
mik, Kapitel 4.5.1, gelten für den Massenpunkt und für die Translationsbewegung des starren
Körpers gleichermaßen.
Die dynamische Grundgleichung für einen starren Körper, Gleichung (4.69), lautet somit be-
züglich des Schwerpunkts
 
F  m  aS (4.74),
4.6 Kinetik des starren Körpers 133


wobei m die Masse des starren Körpers und aS die Beschleunigung des Schwerpunkts des
starren Körpers ist. F ist die resultierende Kraft, die auf den Körper einwirkt.
Gleichung (4.74) wird i. Allg. „Schwerpunktsatz“ genannt:
„Der Schwerpunkt eines starren Körpers bewegt sich so, als ob die Gesamtmasse in
ihm vereinigt wäre und alle äußeren Kräfte an ihm angriffen.“
Der Schwerpunktsatz gilt auch für den Gesamtschwerpunkt von Systemen aus mehreren star-
ren Körpern (Gelenksysteme), die durch innere Kräfte oder kinematische Bindungen miteinan-
der gekoppelt sind (z. B. für den menschlichen Bewegungsapparat). Das Schnittprinzip zur
Berechnung der Gelenkkräfte ergibt sich aus der Statik, Kapitel 2.8. Der Schwerpunktsatz
kann dann auch für die Schwerpunkte der Teilsysteme angewendet werden.

4.6.2 NEWTONsches Grundgesetz für starre Körper bei Rotation


Bei der Rotation um eine feste Drehachse erfahren alle Punkte des starren Körpers die gleiche
Verdrehung, die gleiche Winkelgeschwindigkeit und die gleiche Winkelbeschleunigung, siehe
Kapitel 4.4.3.

. ..
ε=ω=φ

Bild 4-14 Rotation eines starren Körpers um eine feste


φ r
Achse mit dem Moment M und der Winkelbe-
dm
schleunigung      sowie dem Masse-
teilchen dm, das sich auf einer Kreisbahn mit
dem Radius r dreht

Der Zusammenhang zwischen dem Moment M und der Winkelbeschleunigung     


wird durch die NEWTONsche Grundgleichung für die Drehbewegung beschrieben. Diese
lautet:
M  Θ   (4.75).

Hierbei sind sowohl das Moment M als auch das Massenträgheitsmoment  auf die Drehachse
zu beziehen.
Das Massenträgheitsmoment  für eine feste Drehachse berechnet sich mit der Beziehung
134 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

Θ   r 2  dm (4.76),
m

wobei r der Abstand eines Masseteilchens dm von der Drehachse ist, Bild 4-14.

4.6.3 Massenträgheitsmomente einzelner starrer Körper


Für einen Zylinder mit den Schwerpunksachsen x, y und z, Bild 4-15a, ergeben sich die Mas-
senträgheitsmomente
 2 l2 
r 
Θx  Θ y  m   a   (4.77)
 4 12 
 
und

r2
Θz  m  a (4.78).
2
Für eine Kugel, Bild 4-15b, gilt für alle Schwerpunktsachsen dasselbe Massenträgheitsmo-
ment:
2
Θ x  Θ y  Θz  m  ra2 (4.79).
5

a) b)
y
y

ra
l
x x
ra
z

z
Bild 4-15 Massenträgheitsmomente einzelner starrer Körper
a) Zylinder mit den Schwerpunktsachsen x, y und z, dem Radius ra und der Länge l
b) Kugel mit dem Radius ra

Weitere Massenträgheitsmomente für starre Körper sind z. B. in [4-1] zu finden.


Für Massenträgheitsmomente bezüglich einer zur Schwerpunktsachse parallel verschobenen
Achse gilt der Satz von STEINER:

ΘA  ΘS  a 2  m (4.80).

Dies bedeutet: das Massenträgheitsmoment A um eine zur Schwerpunksachse S parallel ver-


schobene Achse A ergibt sich aus dem Massenträgheitsmoment S bezüglich der Schwer-
punktsachse sowie dem Produkt aus der Masse m und dem Quadrat des Abstandes a zwischen
S und A, siehe auch [4-1].
4.6 Kinetik des starren Körpers 135

4.6.4 NEWTONsche Grundgleichungen für allgemeine ebene Bewegungen


Eine allgemeine ebene Bewegung eines starren Körpers setzt sich aus zwei Translationen und
einer Rotation zusammen, siehe auch Kapitel 4.4.1. Sinnvollerweise beschreibt man die Bewe-
gung mit den Schwerpunktskoordinaten xS, yS sowie der Winkelkoordinate , welche die Dre-
hung um den Schwerpunkt S repräsentiert, Bild 4-16. Somit ergeben sich die NEWTONschen
Grundgleichungen für die ebene Bewegung eines starren Körpers:
Fx  m  x  m  xS (4.81)
Fy  m  y  m  yS (4.82)
M S  S   (4.83).

Gleichung (4.81) beschreibt die Bewegung in x-Richtung, Gleichung (4.82) gilt für die y-
Richtung und Gleichung (4.83) beschreibt die Drehung um die z-Achse durch den Schwer-
punkt.
In Gleichung (4.83) stellt S das Massenträgheitsmoment bezüglich der Schwerpunktsachse
und MS die Summe aller Momente, ebenfalls bezogen auf die Schwerpunktsachse, dar.

y m, Θ S

φ
S
Bild 4-16 Allgemeine ebene Bewegung eines starren
yS Körpers der Masse m mit den Koordinaten
xS und yS für die Translation und der Win-
kelkoordinate φ für die Rotation um den
xS x Schwerpunkt S

Die NEWTONsche Grundgleichung für die Drehbewegung kann auch für eine andere Achse
angewendet werden, wenn diese Drehachse ist (siehe Beispiel 4-5). Dann sind aber auch M
und  auf diese Achse zu beziehen.

4.6.5 Anwendungen der NEWTONschen Grundgleichungen


Mittels der NEWTONschen Grundgleichungen können z. B. zwei Fragen beantwortet werden:
 Wie groß sind die zur Bewegung notwendigen Kräfte, wenn der Verlauf der Bewe-
gung bekannt ist?
 Wie verläuft die Bewegung, wenn die Kräfte gegeben sind?
Beide Fragestellungen lassen sich mit den Gesetzen der Kinematik und Kinetik lösen.

4.6.5.1 Ermittlung der Kräfte, die bei einer Bewegung wirken


Bei dieser Fragestellung geht man von einer vorgegebenen oder gemessenen Bewegung aus.
Aus den bekannten Koordinaten der Bewegung ermittelt man mittels kinematischer Methoden,
z. B. nach Kapitel 4.3.2, Kapitel 4.3.3 oder Kapitel 4.3.5, die Geschwindigkeit und die Be-
schleunigung.
136 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

Die Kinetik, d. h. die NEWTONsche Grundgleichung, siehe z. B. Kapitel 4.5.2 oder Kapitel
4.6.4, liefert dann die zur Bewegung notwendige Kraft, bzw. die bei der Bewegung auftreten-
den Kraftkomponenten.

Beispiel 4-3
Ein Krankenpfleger schiebt einen Patienten in einem Rollstuhl durch einen langen Kranken-
hausflur. Der Rollstuhl befindet sich auf einer geradlinigen Bahn, die sich durch die Weg-
Zeit-Kurve mit der Beziehung x  A  t 2  B  t  C beschreiben lässt.
Man bestimme die Kraft, die der Krankenpfleger aufbringen muss, um die Bewegung zu
ermöglichen.
Geg.: m = 100 kg, A = 0,4 m/s2, B, C
Lösung:
Geschwindigkeit:
v  x  2 A  t  B
Beschleunigung:
a  v  x  2 A
Erforderliche Kraft:

F  Fx  m  a  m  a x  m  x  2m  A  2  100 kg  0,4 m / s 2  80 N

4.6.5.2 Ermittlung von Bewegungen, die durch Kräfte hervorgerufen werden


Bei vielen praktischen Fragestellungen sind die Bewegungen bzw. die Bewegungsabläufe zu
ermitteln, die sich in bestimmten Situationen ergeben. Zur Lösung der Fragestellung bestimmt
man zunächst die auf den Massenpunkt oder den Körper einwirkenden Kräfte.
Mittels der NEWTONschen Grundgleichungen, siehe Kapitel 4.5.2 oder Kapitel 4.6.1, erhält
man dann die Beschleunigung oder die entsprechenden Beschleunigungskomponenten. Daraus
lassen sich dann mittels der Kinematik, Kapitel 4.3.6, durch Integration (unter Berücksichti-
gung von Anfangsbedingungen) die Geschwindigkeit und der Weg bzw. die Bewegungsbahn
bestimmen.
Für die geradlinige Bewegung ist die Ermittlung von Geschwindigkeit und Weg aus einer
vorgegebenen oder ermittelten Beschleunigung in Kapitel 4.3.6 gezeigt. Andere praxisnahe
Anwendungen stellen die Wurf- oder Sprungbewegungen dar.

4.6.5.3 Wurf- oder Sprungbewegungen


Betrachtet werden soll eine Wurfbewegung ohne Luftwiderstand. Ein Massenpunkt (Masse m)

wird mit einer Anfangsgeschwindigkeit v0 unter einem Winkel  zur Horizontalen (x-Achse)
abgeworfen, Bild 4-17, und unterliegt der Schwerkraft (so genannter schiefer Wurf). Für diese
Bewegung soll die Wurfbahn, die Wurfweite und die Wurfhöhe ermittelt werden.
4.6 Kinetik des starren Körpers 137

a) b) c)
y
Bahn m m
y

v0 v0y v0 G=m·g

α α

x v0x x

Bild 4-17 Schiefer Wurf eines Massenpunktes



a) Bewegungsbahn des Massenpunktes mit der Masse m, der Abwurfgeschwindigkeit v0
und dem Abwurfwinkel 
b) Geschwindigkeitskomponenten v 0 x  v 0  cos  und v0 y  v0  sin  beim Abwurf
c) Freigeschnittener Massenpunkt mit der Gewichtskraft G  m  g

Die Lösung der Aufgabe erfolgt mit der NEWTONschen Grundgleichung. Durch Freischnei-
den, Bild 4-17c, erkennt man, dass auf den Massenpunkt der Masse m während der Bewegung
lediglich die Gewichtskraft G = m·g einwirkt. Es handelt sich um eine ebene Bewegung, die
im x-y-Koordinatensystem beschrieben werden kann, Kapitel 4.5.2.
Mit den auftretenden Kraftkomponenten Fx = 0 und Fy = – G = – m·g (negatives Vorzeichen,
da G entgegen der y-Richtung wirkt) erhält man die dynamischen Grundgleichungen in der
Form
m  x  Fx  0 (4.84)

m  y  Fy  m  g (4.85)

bzw. die Beschleunigungskomponenten


x  0 (4.86)
y   g (4.87).
Durch zweifache Integration ergeben sich die Koordinaten der Bewegung
x  C1  t  C3 (4.88)

g t2
y  C2  t  C4 (4.89).
2
Mit den Anfangsbedingungen v0x = v0·cos, v0y = v0·sin und x = x0 = 0 und y = y0 = 0 zum
Zeitpunkt t = 0 für die in Bild 4-17 dargestellte Situation, erhält man die Integrationskonstan-
ten C1 = v0x = v0·cos, C2 = v0y = v0·sin und C3 = C4 = 0 und somit die Koordinaten der Be-
wegungsbahn
x  v0  t  cos  (4.90)
138 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

g t2
y  v0  t  sin  (4.91).
2
in Parameterdarstellung mit dem Parameter t. Bestimmt man aus Gleichung (4.90) die Zeit t
und setzt diese in Gleichung (4.91) ein, so erhält man die Bahngleichung
g
y ( x)  x  tan    x2 (4.92).
2v02  cos 2 

Der Massenpunkt bewegt sich also beim schiefen Wurf entlang einer Parabel, der so genannten
Wurfparabel.
Mit Gleichung (4.92) erhält man für die Koordinaten x = l und y = 0 am Auftreffpunkt die
Wurfweite

v02  sin 2
l (4.93).
g
Die Wurfhöhe erhält man indem das Maximum von Gleichung (4.92) ermittelt wird:

v2
h  0  sin 2  (4.94).
2g
Die Bewegung, d. h. die Flugbahn, eines starren Körpers, bzw. eines Sportlers beim Sprung
kann auf gleiche Weise bestimmt werden, wenn man die Gleichungen auf den Körperschwer-
punkt bezieht, siehe Kapitel 4.6.1.

Beispiel 4-4

y
v0 m
α
x m·g

h0
4.6 Kinetik des starren Körpers 139

Ein Turmspringer, Masse m, springt von einem Turm der Höhe h0 unter einem Winkel  mit
einer Geschwindigkeit v0 ab.
Man ermittle die Flugbahn und die Flugzeit bis zum Auftreffen im Wasser.
Geg.: m = 70 kg, h0 = 10,5 m, v0 = 2 m/s,  = 50°, g = 9,81 m/s2
Lösung:
a) Flugbahn
Nach Gleichung (4.92) ergibt sich mit den angegebenen Anfangsbedingungen die Flug-
bahn:
g 9,81 1 2 1
y  x  tan    x 2  1,19 x   x  1,19 x  2,968   x 2

2v02 2
 cos  2
2  2  cos 50 m2 m

x y (x) y [m]
[m] [m] 1 2 3
0
0 0 x [m]
-2
0,25 0,11
-4
0,5 -0,15 Flugbahn des
1 -1,78 -6 Körperschwerpunkts
1,5 -4,9 -8
2 -9,5 -10

b) Flugzeit
Nach Gleichung (4.91) ergibt sich mit den angegebenen Anfangsbedingungen die Flug-
bahn:

g t2 g t2
y  v0  t  sin   h0    v0  t  sin   h0  0
2 2

2
2 2v  sin  2h v  sin   v  sin   2h
t  0 t  0  0  t 0   0   0
g g g  g  g

2
2 m/s  sin 50  2 m/s  sin 50 
t     2  10,5 m  1,63 s
9,81 m/s 2  9,81 m/s 2  9,81 m/s 2
 

Beispiel 4-5
Ein Kind steht auf einer Schaukel und führt eine Pendelbewegung aus. In erster Näherung
können der Rumpf (Rumpfmasse mR, Rumpflänge lR, Rumpfdurchmesser dR) und die beiden
Beine (mB, lB, dB je Bein) als homogene Zylinder und der Kopf (mK, dK) als eine homogene
Kugel aufgefasst werden. Die übrigen Massen, wie z. B. die Massen der Arme oder der
Brettschaukel sind vernachlässigbar. Der Abstand zwischen dem Drehpunkt A und dem
Schaukelbrett ist l.
140 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

A
dK
Bestimmen Sie:
a) das Massenträgheitsmoment A des Kin-
l des um die Drehachse durch A,
lR
b) die Bewegungsgleichung für kleine Aus-
φ lenkungen um die statische Ruhelage und
c) die Dauer für eine Pendelbewegung.
lB
dR
Geg.: mK, mR, mB, dK, dR, dB, lR, lB, l, g

dB

Lösung:
a) Massenträgheitsmoment des Kindes um die Drehachse durch A:
Beachte: Massenträgheitsmomente nach Kapitel 4.6.3 und Satz von STEINER
2
1  d 
ΘA  mK  d K2  mK   l  l B  l R  K 
10  2 
 d 2 l2  2  d2 l2  2
 l   l 
 m R   R  R   m R   l  l B  R   2mB   B  B   2m B   l  B 
 16 12   2   16 12   2 
   
b) Die Bewegungsgleichung für kleine Auslenkungen
Freischnitt des Systems mit den Teilgewichten

dK
φ
l GK = mK·g
lR
GK GR = mR·g
GB = 2mB·g
GR
lB

GB

Die Bewegungsgleichung erhält man durch Anwendung der NEWTONschen Grundglei-


chung für die Drehbewegung um den Drehpunkt A (siehe Kapitel 4.6.2).
4.6 Kinetik des starren Körpers 141

A : ΘA    M A

 d   l 
M A   mK  g   l  l B  l R  K   sin   mR  g   l  l B  R   sin 
 2   2 
 l  *
 2mB  g   l  B   sin   M A  mit sin    für kleine Auslenkungen
 2 
 d   l   l 
Somit ist M *A  mK  g   l  l B  l R  K   mR  g   l  l B  R   2mB  g   l  B 
 2   2   2

* *
MA MA
     0     02    0 mit  02 
ΘA ΘA

c) Dauer für eine Pendelbewegung (Schwingung)

2 ΘA
T  2 
0 *
MA

4.6.6 Impulssatz
Das zweite NEWTONsche Gesetz, Kapitel 4.5.2, lässt sich als NEWTONsche Grundglei-
chung, siehe Gleichung (4.69) und Kapitel 4.5.1.2, oder als Impulssatz, siehe Gleichung
(4.68), formulieren.
Durch Integration von Gleichung (4.68) erhält man eine alternative Formulierung:
t 
 

m  v  m  v0  F  dt (4.95)
t0

oder
t 
 
p  p0   F (t )  dt (4.96),
t0
 
wobei die Anfangswerte v0 und p0 für t = t0 berücksichtigt sind [4-1].
Somit lautet der Impulssatz:
  
„Die zeitliche Änderung des Impulses p  p  p0 ist gleich dem Zeitintegral über die
Kraft.“

4.6.7 Arbeit, Leistung, Energie


Arbeit, Leistung und Energie sind wichtige Begriffe der Mechanik. Diese werden im Folgen-
den für die allgemeine Bewegung und die geradlinige Bewegung definiert.
142 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

4.6.7.1 Arbeit

Wird ein Massenpunkt durch eine Kraft F auf einer beliebigen Bahn bewegt, Bild 4-18, so
ergibt sich zwischen den Bahnpunkten 0 und 1 die Arbeit
1  1

 
W  W0,1  F  dr  F  cos   dr (4.97).
0 0

Nur Kraftanteile in Richtung der Bahn verrichten Arbeit.

m 1
α
0
dr v Bahn r = r(t)

y
z x

Bild 4-18 Bewegung auf beliebiger Bahn: Die Kraft F verschiebt den Massenpunkt m um den Weg
 
dr , die momentane Geschwindigkeit beträgt v

Bei geradliniger Bewegung und einer konstanten Kraft gilt formelmäßig:


W  Fx (4.98)
und in Worten:
„Arbeit = Kraft · Weg“.
Die Arbeit hat die Dimension Kraft · Länge und beispielsweise die Einheit Nm = Joule.

4.6.7.2 Leistung
Die Leistung P ist definiert als Arbeit pro Zeit t und somit
dW
P  F  x  F  v (4.99),
dt
mit v als der Bahngeschwindigkeit.
In Worten gilt:
„Leistung = Arbeit pro Zeit = Kraft · Geschwindigkeit“.
Die Dimension der Leistung ist Kraft · Länge/Zeit. Die Einheit ist Nm/s = 1 Watt. Der Ver-
gleich mit der früher gebräuchlichen Leistungseinheit PS liefert 1 kW = 1,36 PS.

4.6.7.3 Energie
In der Mechanik unterscheidet man kinetische Energie und potentielle Energie. Die kinetische
Energie hängt von der Masse m und der Geschwindigkeit v eines Körpers ab:
4.6 Kinetik des starren Körpers 143


m  v 2 m  v2
Ek   (4.100).
2 2
Die kinetische Energie hat die Einheit kg·m2/s2 = Nm = Joule.
Die potentielle Energie der Gewichtskraft, auch Energie der Lage genannt, ergibt sich mit der
Masse m des Körpers, der Schwerebeschleunigung g und der Höhe h des Körpers bzgl. eines
festgelegten Nullniveaus:
Ep  m  g  h (4.101).

4.6.7.4 Arbeitssatz
„Die Arbeit, welche Kräfte zwischen zwei Bahnpunkten verrichten, ist gleich der Ände-
rung der kinetischen Energie.“
Formelmäßig gilt:
  m  v12 m  v02

W  F  dr 
2

2
(4.102).

4.6.7.5 Energiesatz
„Bei reibungsfreier Bewegung ist die Summe aus kinetischer und potentieller Energie
konstant.“
Dies bedeutet formelmäßig:
E k  E p  konst. (4.103)

oder
E k0  E p0  E k1  E p1 (4.104),

siehe Bild 4-18.

Beispiel 4-6
Beim Bergzeitfahren der Tour de France wurde über eine Gesamtstrecke l eine Höhendiffe-
renz h überwunden. Der Sieger, Radfahrer 1 (Masse m1), benötigte hierfür die Zeit t1. Der
Zweite, Radfahrer 2 (Masse m2), benötigte 1 Minute länger. Die Masse der Fahrräder betrug
mR. Die Luftwiderstandskraft kann mit FL = k·v2 abgeschätzt werden. Der Rollwiderstand
beträgt FR.
Berechnen Sie und vergleichen Sie für die beiden Fahrer:
a) die durchschnittliche Geschwindigkeit,
b) die durchschnittlich geleistete Arbeit, aufgeteilt in die Anteile zur Überwindung der Wi-
derstandskraft und zum Erklettern der Höhendifferenz und
c) die durchschnittliche Leistung, und die spezifische Leistung.
144 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

Geg.: m1 = 70 kg, m2 = 73 kg, mR = 10 kg, l = 32 km, h = 1521 m, t1 = 67,5 min,


t2 = t1 + 1 min, FL = k·v2, k = 0,244 Ns2/m2, g = 9,81 m/s2, FR = 4 N
Lösung:
a) Berechnung der mittleren Geschwindigkeiten
Fahrer 1:
l 32000 m  min m km
v1    7,901  28,44
t1 67,5 min  60 s s h

Fahrer 2:
l 32000 m  min m km
v2    7,786  28,03
t 2 68,5 min  60 s s h

Fahrer 2 war im Mittel 0,41 km/h langsamer als Fahrer 1.


b) Berechnung der geleisteten Arbeit
Freischnitt des Systems mit den Teilgewichten

Ns 2
x, v FL  0,244  v2 :
2
m
Widerstandskraft hauptsächlich infolge
Gges
des Fahrtwinds
FL + FR
FF Gges  (mF  mR )  g :
Gewichtskraft von Fahrer und Rad

FN
FR = 4 N: Rollwiderstand
FF: die vom Fahrer aufzubringende Kraft in
Richtung des Weges (Kraft, die die Ar-
beit verrichtet)
φ
FN: Normalkraft senkrecht zur Bahn, Stütz-
φ kraft, die durch das Fahrrad gehalten
wird und keine Arbeit verrichtet, da sie
senkrecht zur Bahn steht
4.6 Kinetik des starren Körpers 145

Bei konstanter Geschwindigkeit sind die Kräfte im Gleichgewicht:


Kräftegleichgewicht in Bahnrichtung:
: FF  FL  FR  Gges  sin   0  FF  FL  FR  Gges  sin 

Kräftegleichgewicht senkrecht zur Bahn:


: FN  Gges  cos   0  FN  Gges  cos 

Für die von den Fahrern geleistete Arbeit gilt:


W  FF  x  Kraft in Fahrtrichtung  Weglänge

W  FF  x  FL  l  FR  l  Gges  sin   l

Berechnung des Winkels φ:

l h
φ h sin  
l

h
 W  FL  l  FR  l  Gges   l  FL  l  FR  l  Gges  h
l
Die Gesamtarbeit setzt sich zusammen aus der Arbeit WL  FL  l zur Überwindung des
Luftwiderstands, der Arbeit WR  FR  l zur Überwindung des Rollwiderstands und der
Hubarbeit WH  Gges  h zum Erreichen der Höhe.
Die Arbeit zur Überwindung des Luftwiderstands ist proportional zum Quadrat der Ge-
schwindigkeit des Fahrtwindes und unabhängig von der Masse des Fahrers:
Ns 2
WL  FL  l  0,244  v2  l .
2
m
Die Hubarbeit ist proportional zur Gesamtmasse von Fahrer und Rad.
WH  Gges  h  (mF  mR )  g  h

Berechnung der von Fahrer 1 geleisteten Arbeit:


Ns 2
W1  0,244  v12  l  (m1  mR )  g  h  FR  l
2
m
2
Ns 2  m m
 0,244   7,901   32000 m  (80 kg )  9,81  1521 m  4 N  32000 m
2
m  s  s2
 1809,1 kJ
Berechnung der von Fahrer 2 geleisteten Arbeit:
Ns 2
W2  0,244  v22  l  (m2  mR )  g  h  FR  l  1839,8 kJ
2
m
146 4 Kinematik und Kinetik der Bewegungen

Aufgrund der größeren Masse von Fahrer 2, die beim Bergfahren einen entscheidenden
Nachteil darstellt, hat Fahrer 2 trotz geringerer Geschwindigkeit 30,6 kJ mehr Arbeit ver-
richtet als Fahrer 1.
c) Berechnung der Leistung
Fahrer 1:
W1 1809,1 kJ  min
P1    446,7 W
t1 67,5 min  60 s
Fahrer 2:
W2 1839,7 kJ  min
P2    447,6 W
t2 68,5 min  60 s
Im Durchschnitt war die Leistung von Fahrer 2 um 0,9 W größer als die Leistung von
Fahrer 1. Allerdings ist der Unterschied weniger als 0,25 % bezogen auf eine mittlere
Leistung von 447 W. Ausschlaggebend war das geringere Gewicht von Fahrer 1.
Das wird deutlich durch die Betrachtung der spezifischen Leistungen:
Fahrer 1:
P1 446,7 W
P1    6,38 W/kg
m1 70 kg
Fahrer 2:
P2 447,6 W
P2    6,13 W/kg
m2 73 kg
Beim Bergzeitfahren ist die spezifische und nicht die absolute Leistung entscheidend.

Literatur zu Kapitel 4
[4-1] Richard, H.A., Sander, M.: Technische Mechanik. Dynamik. Verlag Vie-
weg + Teubner, Wiesbaden, 2011
[4-2] Papula, L.: Mathematische Formelsammlung für Ingenieure und Naturwissenschaft-
ler. Verlag Vieweg + Teubner, Wiesbaden, 2009
5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des
Bewegungsapparats

Der menschliche Bewegungsapparat wird gebildet durch Knochen, Bänder und Gelenke sowie
die Skelettmuskeln mit ihren Hilfseinrichtungen wie Sehnen, Sehnenscheiden und Schleimbeu-
tel. Es wird unterschieden zwischen dem passiven Bewegungsapparat oder Skelettsystem, zu
dem die Knochen, Bänder und Gelenke gehören und dem aktiven Bewegungsapparat oder
Muskelsystem bestehend aus den Skelettmuskeln und ihren Hilfseinrichtungen (siehe Kapitel
1.2 sowie [5-1] bis [5-4]).

5.1 Aufbau und Eigenschaften der Knochen


Knochen sind aus Sicht der Mechanik lastübertragende Elemente. Sie bilden die Tragstruktur
des Bewegungsapparats und behalten bis auf kleine, elastische Verformungen ihre Gestalt und
Länge auch unter Belastung bei.

5.1.1 Funktion der Knochen


In der allgemeinen Knochenlehre, der Osteologie, wird die Funktion der Knochen in vier Be-
reiche eingeteilt, [5-4, 5-5].
Diese sind:
 mechanische Funktion,
 Schutzfunktion für lebenswichtige Körperteile,
 Blutbildung und
 Mineralspeicherung.
In der Biomechanik wird insbesondere die mechanische Funktion der Knochen untersucht. Die
Knochen müssen das Körpergewicht tragen und dienen als Ansatzpunkte und Hebel für die
Muskeln, so dass eine Fortbewegung möglich ist oder bestimmte Körperstellungen gehalten
werden können.
Aus biomechanischer Sicht ist die Schutzfunktion der Knochen für lebenswichtige Körperteile
ebenfalls von Interesse. Knochen, die insbesondere diesem Zweck dienen, sind z. B. die Schä-
delknochen und die Rippen. Sie umschließen größere Hohlräume und schützen darin gelegene,
sehr empfindliche Organe. Die Außenschichten dieser Schutzknochen bestehen aus Kompakta,
der kompakten Knochensubstanz. Im Innern sind sie mit Spongiosa, einer schwammähnlichen
Knochensubstanz, ausgefüllt. Diese so genannte Sandwichbauweise gewährleistet bei stoßarti-
ger Belastung eine maximale Energieaufnahme bei minimaler Schädigung des Knochens. Die
Schutzfunktion des Schädels wird zusätzlich noch durch seine Schalenform erhöht. Bei einigen
Tierarten wie z. B. Schildkröten wird diese passive Schutzfunktion durch außenliegende Ske-
lettteile erfüllt. Außenliegende Skelettteile wie z. B. das Geweih von Hirschen können auch als
Waffe und somit dem aktiven Schutz dienen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
H. A. Richard und G. Kullmer, Biomechanik,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-28333-9_5
148 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

Die Blutbildung findet im roten Knochenmark statt. Die meisten Knochenhohlräume sind mit
Knochenmark ausgefüllt. Das rote Knochenmark ist hauptsächlich in der Spongiosa anzutref-
fen, in der die Knochenoberfläche zur Produktion der roten Blutkörperchen sehr groß ist. Das
gelbe Knochenmark im Markkanal der Röhrenknochen besteht hauptsächlich aus Fettgewebe
und trägt nicht zur Blutbildung bei. Es kann aber bei hohem Blutverlust durch rotes blutbil-
dendes Knochenmark ersetzt werden.
Die Knochen sind der hauptsächliche Kalziumspeicher. So befinden sich 99 % des körpereige-
nen Kalziums in den Knochen. Unter hormoneller Steuerung findet eine ständige Regulierung
des Blutkalziumspiegels statt, unter der die Knochen in der Lage sind, je nach Bedarf Kalzium
abzugeben oder aufzunehmen. Kalzium ist u. a. nötig für enzymatische Reaktionen, die Blut-
gerinnung und die Übertragung von Nervenimpulsen. Die höchsten Kalziumreserven sind
zwar in der Kortikalis gespeichert, allerdings kann das in der Spongiosa befindliche Kalzium
aufgrund der großen Oberfläche dieser Knochensubstanz schneller ab- und angebaut werden.
Teile der Spongiosa können bei erhöhtem Bedarf an Kalzium kurzfristig umgebaut werden,
ohne dass notwendigerweise die mechanische Tragfähigkeit der Knochen entscheidend beein-
trächtigt wird.

5.1.2 Mikroskopischer Aufbau der Knochen


Das Knochengewebe eines erwachsenen Menschen besteht, bezogen auf das Gesamtgewicht,
zu 27 % aus organischem und zu 56 % aus anorganischem Material sowie zu 17 % aus Wasser
[5-4]. Der organische Anteil der Knochenmatrix, das Osteid, setzt sich zusammen aus Kol-
lagenfasern, Glycosaminoglycanen, Glycoproteinen, Osteonektin, ein Protein, das die Kno-
chenmineralien an die Kollagenfasern anlagert, und Osteocalcin, ist ein Protein, das Kalzium
bindet. Der anorganische, mineralische Anteil der Knochenmatrix, der sich an die Kollagenfa-
sern anlagert, besteht vorwiegend aus Kalziumphosphat in Form von Hydroxylapatitkristallen.
Ferner sind Kalziumcarbonat, Kalziumfluorid, Magnesiumphosphat und als Spurenelemente
Eisen und Kupfer enthalten. Die organischen Substanzen verleihen den Knochen ihre Elastizi-
tät, und die anorganischen Substanzen sind für die Festigkeit und die Härte der Knochen ver-
antwortlich.

Knochenmark

Osteoblasten
Osteozyten
Osteoklasten

Knochenbälkchen
Knochenbälkchen

Bild 5-1 Spezifische Zellen des Knochengewebes

Die knochenspezifischen Zellen sind die Osteozyten, die Osteoblasten und die Osteoklasten,
Bild 5-1. Die Osteozyten sind ehemalige Osteoblasten, die inzwischen gänzlich von minerali-
sierter Knochensubstanz umgeben sind und sich in kleinen Lakunen befinden. Die Osteozyten
5.1 Aufbau und Eigenschaften der Knochen 149

sind über winzige Kanälchen mit ihren zahlreichen Fortsätzen untereinander verbunden. Diese
Verbindungen sind wesentlich für den Stoffwechsel der Zellen, die interzelluläre Kommunika-
tion und die Mineralstoffhomöostase, die Selbstregulierung des dynamischen Mineral-
stoffgleichgewichts. Die Osteoblasten sind knochenbildende Zellen. Sie befinden sich an den
äußeren und den inneren freien Knochenoberflächen. Sie sondern das Osteid ab und setzen in
großen Mengen Phosphatase, ein Enzym, welches das Osteid auf die Mineralisierung vorberei-
tet, frei. Die Osteoklasten sind große Zellen mit bis zu 100 Zellkernen, die in Lage sind, mine-
ralisierte Knochenmatrix abzubauen. Sie befinden sich in den sog. Howship-Lakunen an den
freien Knochenoberflächen [5-3 bis 5-8]. Mit diesen Umbauprozessen ist der Knochen in der
Lage seine Form an die mechanische Beanspruchung zu adaptieren.
Die chemischen Stoffe, die Moleküle und die Zellen, aus denen das Knochengewebe aufgebaut
ist, sind in allen Knochensubstanzen zumindest ähnlich. Für die unterschiedlichen Eigenschaf-
ten der verschiedenen Knochensubstanzen muss demnach die Anordnung des Knochengewe-
bes verantwortlich sein [5-5].

äußere
Generallamellen
innere
Generallamellen
Schaltlamellen

Periost (Knochenhaut)

Kapillargefäß im
Haverskanal

Kapillargefäße in
Volkmannkanälen

Osteon
Bild 5-2 Prinzipieller Aufbau der Kortikalis

Das Skelett eines Menschen setzt sich aus zwei Arten von Knochensubstanzen, der Kompakta
und der Spongiosa, zusammen. Beide Knochensubstanzen sind aus Knochenlamellen mit glei-
chen Materialeigenschaften aufgebaut. Die Knochenlamellen zeichnen sich dadurch aus, dass
die Kollagenfasern innerhalb der Lamellen parallel angeordnet sind. Diese strenge Anordnung
der Kollagenfasern unterscheidet den reifen Knochen von der an Knochenbruchstellen auftre-
tenden dritten Knochensubstanz, dem Kallus. Die Kollagenfasern des Kallus sind regellos
angeordnet. Der Grund hierfür ist, dass Kallus de novo (neu) erzeugt wird, d. h. an Stellen, bei
denen noch kein Knochen- oder Knorpelgewebe vorhanden ist. Reifer Knochen kann nur
150 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

durch Umwandlung von bereits vorhandenem Knochen- oder Knorpelgewebe entstehen. Des-
halb wird bei der Knochenheilung Kallus erst nach und nach durch Knochenlamellen im Zuge
der Knochenumwandlung ersetzt.

5.1.3 Aufbau der Kortikalis


Der prinzipielle Aufbau der Kortikalis, der Knochenrinde, ist Bild 5-2 dargestellt. Der Grund-
baustein der Kortikalis ist das Osteon oder Havers-System. Das sind zylindrische Gebilde aus
konzentrisch angeordneten Knochenlamellen mit einem Durchmesser von ca. 250 µm und
einer Länge von 1-5 cm in deren Zentrum sich Blutgefäße und Nerven befinden.
Zwischen den Lamellen liegen die Lakunen der Osteozyten. Der äußere und der innere Rand
von Röhrenknochen wird von Generallamellen, die den gesamten Knochenumfang umschlie-
ßen, gebildet. Die Lücken zwischen den Osteonen und den Generallamellen sind ausgefüllt mit
interstitiellen Lamellen. Diese Schaltlamellen sind Überreste von teilweise abgebauten Osteo-
nen und Generallamellen. Bemerkenswert ist, dass sich die Steigung der Kollagenfasern in den
unterschiedlichen Schichten der Osteone und der Generallamellen ändert. Die Kompaktheit der
Kortikalis ist verantwortlich für ihre hohe Dichte und Steifigkeit. Dem besonderen Aufbau der
Osteone, die wie Fasern in einem Verbundwerkstoff wirken, verdankt die Kortikalis ihre hohe
Steifigkeit. Insbesondere der Schaft der langen Röhrenknochen besteht aus Kortikalis, weshalb
diese Knochen eine hohe Biege- und Torsionssteifigkeit aufweisen.

5.1.4 Aufbau der Spongiosa


Den prinzipiellen Aufbau der Spongiosa zeigt Bild 5-3. Die Spongiosa ist ein kompliziertes,
schwammähnliches Geflecht aus feinen Plättchen, Röhrchen und Bälkchen, den Trabekeln,
bestehend aus reifen Knochenlamellen. Abgesehen vom Schaft der Röhrenknochen macht die
Spongiosa den festen Anteil der Knochen aus.

Knochenbälkchen
Bild 5-3 Prinzipieller Aufbau der Spongiosa

Aufgrund der großen Oberfläche bezogen auf das Volumen laufen in der Spongiosa der Kno-
chenumbau durch die Knochenzellen und die Stoffwechselprozesse der Knochen wesentlich
5.1 Aufbau und Eigenschaften der Knochen 151

schneller ab als in der Kortikalis. Dadurch ist die Spongiosa in der Lage, sich geänderten Last-
verhältnissen schnell anzupassen. Das ist allerdings auch der Grund, weshalb die Knochen mit
hohem Spongiosaanteil wie der Oberschenkelhals und die Wirbelkörper bei Osteoporose be-
sonders stark geschädigt werden, da bei Osteoporose die Knochenmasse schneller ab- als auf-
gebaut wird.

5.1.5 Makroskopischer Aufbau der Knochen


Wie Bild 5-4 am Beispiel eines frontal aufgeschnittenen Knochens zeigt, wird der feste Teil
der Knochen von der Knochenrinde, Kortikalis, das ist eine teilweise sehr dünne Deckschicht
aus kompaktem Knochen, umschlossen. Lediglich im Schaft langer Knochen besteht nahezu
der gesamte knöcherne Anteil aus Kompakta. Ansonsten besteht der solide Knochenanteil aus
Spongiosa.

Epiphysenfuge
Metaphyse

Epiphyse

Gelenkknorpel

Spongiosa

Periost
Diaphyse
Kortikalis

Markhöhle

Bild 5-4 Aufbau der Knochen am Beispiel eines Oberschenkelknochens

Neben diesen festen Knochenbestandteilen prägen die Knochenweichteile Knochenhaut, hya-


liner Knorpel und Knochenmark den makroskopischen Aufbau der Knochen. Die Knochen
sind mit Ausnahme der Gelenkflächen von der Knochenhaut, dem Periost, eingehüllt. Das
Periost besteht aus einer faserigen äußeren und einer zell- und blutgefäßreichen inneren
Schicht. Die innere Schicht enthält hauptsächlich Bindegewebszellen, die sich bei einem Kno-
chenbruch in knochenbildende Zellen, Osteoblasten, verwandeln können. Die Gelenkflächen
der Knochen sind mit hyalinem Knorpel überzogen. Er ist bis zu 5 mm dick und kann durch
seine Verformbarkeit Inkongruenzen zwischen den gelenkbildenden Knochen ausgleichen. Bei
jungen, noch im Wachstum befindlichen Menschen befindet sich auch innerhalb der Knochen
in den Epiphysenfugen hyaliner Knorpel. In diesen Bereichen wird während des Wachstums
ständig Knorpel aufgebaut und zu den Knochen hin abgebaut und durch Knochengewebe er-
152 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

setzt. Bei erwachsenen Menschen verknöchern diese Wachstumsfugen, und es ist kein weiteres
Längenwachstum mehr möglich [5-3]. Die Hohlräume der menschlichen Knochen sind mit
Knochenmark ausgefüllt. In den Hohlräumen der Spongiosa befindet sich rotes Knochenmark.
In der Markhöhle der Röhrenknochen befindet sich bei jungen Menschen überall rotes Kno-
chenmark, das mit zunehmendem Alter durch Fettgewebe ersetzt und als gelbes Knochenmark
bezeichnet wird [5-4].

5.1.6 Formen von Knochen


Je nach mechanischer Funktion und äußerer Gestalt werden verschiedene Knochenformen
unterschieden. Diese sind [5-3, 5-4]:
 lange oder kurze Röhrenknochen,
 platte und breite Knochen,
 kurze Knochen und
 unregelmäßig gestaltete Knochen.
Die langen oder kurzen Röhrenknochen bilden vorwiegend die oberen und unteren Gliedmaße.
Sie sind wegen ihrer Säulenform typische Stützknochen und setzen sich aus der Diaphyse und
meist zwei Epiphysen zusammen, Bild 5-4. Hierzu gehören auch die Fingerknochen, die je-
doch nur eine Epiphyse aufweisen. Dabei bildet die Epiphysenfuge den Übergang zwischen
der Diaphyse und der Epiphyse. Die Epiphyse ist der Bereich zwischen der Epiphysenfuge und
der Gelenkknorpelschicht. Sie ist gefüllt mit Spongiosa und umhüllt von einer dünnen Kortika-
lisschicht. Die Diaphyse ist der Bereich zwischen den Epiphysenfugen. Sie wird nochmals
unterteilt in den Schaft und die Metaphyse. Der Schaft ist der Bereich, in dem der Markkanal
voll ausgebildet ist und die Knochensubstanz aus Kortikalis besteht. Die Metaphyse von lan-
gen Knochen ist der Bereich zwischen dem Schaft und der Epiphysenfuge. Sie besteht aus
Spongiosa und ist von einer dünnen Kortikalisschicht umhüllt.

kortikale
Oberflächenschicht

Spongiosa
im Inneren

Bild 5-5 Sagittalschnitt durch einen unteren Brustwirbelkörper (schematisch)

Zu den platten und breiten Knochen gehören das Schulterblatt, das Hüftbein, die meisten
Schädelknochen und die Rippen. Diese Knochenform besitzt eine Außenhülle aus Kortikalis
und ist im Innern mit Spongiosa ausgefüllt. Sie dienen dem Schutz innerer Organe und bieten
kräftigen Muskeln breite Ansatzflächen.
5.1 Aufbau und Eigenschaften der Knochen 153

Kurze Knochen bestehen bis auf eine dünne kortikale Deckschicht aus Spongiosa und weisen
bei geringem Gewicht eine hohe Druckfestigkeit auf. Zu ihnen gehören vor allem die Hand-
und Fußwurzelknochen. Durch die Anordnung mehrerer kurzer Knochen ergibt sich in der
Summe eine große Beweglichkeit der jeweiligen Körperteile.
Unregelmäßig gestaltete Knochen haben oft gleichzeitig Stütz-, Bewegungs- und Schutzfunk-
tion. Hierzu gehören insbesondere die Wirbelknochen, Bild 5-5. Die Wirbelkörper selbst erfül-
len die Stützfunktion und haben den gleichen Aufbau wie kurze Knochen. Sie ermöglichen die
komplexe Beweglichkeit der Wirbelsäule bei gleichzeitig hoher Belastungsfähigkeit. Die Wir-
belbogenfortsätze, deren Aufbau den platten Knochen entspricht, dienen als Ansatzstellen für
Muskeln der Bewegungsfunktion. Der Wirbelkörper umschließt zusammen mit dem Wirbel-
bogen, von dem die Wirbelfortsätze abgehen, das Wirbelloch. Die Wirbellöcher der einzelnen
Wirbel setzen sich zum Wirbelkanal zusammen, der eine bewegliche Schutzhülle für das Rü-
ckenmark darstellt.

5.1.7 Materialeigenschaften der Knochensubstanzen


Für alle biomechanischen Untersuchungen, bei denen die Beanspruchungen und Verformun-
gen von Knochen eine Rolle spielen, ist die Kenntnis der Materialeigenschaften der Knochen-
substanzen notwendig. Die wesentlichen mechanischen Eigenschaften werden durch den Elas-
tizitätsmodul (E-Modul) und die Querdehnzahl ν beschrieben, die den für physiologische Be-
lastungen typischen linear-elastischen Bereich abdecken. Für die Untersuchung von Grenzbe-
lastungen werden zusätzlich die Fließgrenze Re oder Rp0,2 und die Bruchgrenze Rm und RmDruck
benötigt. Alle diese Größen müssen experimentell ermittelt werden. Die dafür am meisten
verwendeten Methoden sind Zug-, Druck- oder Biegeversuche und Ultraschallmethoden [5-9,
5-10]. Das Materialverhalten der Knochensubstanzen ist aufgrund ihrer Struktur inhomogen

3
axial

2
radial

1
tangential
Bild 5-6 Definition der Koordinaten bzw. Hauptachsen im Schaft langer Knochen
154 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

und anisotrop, also abhängig von der Position im Körper und von der Belastungsrichtung.
Außerdem ist das Verhalten von Knochengewebe viskoelastisch und damit von der Belas-
tungsgeschwindigkeit abhängig. Ferner ist lebendes Knochengewebe in der Lage, sich durch
Umbauprozesse an dauerhaft geänderte Beanspruchungssituationen anzupassen, d. h. Kno-
chengewebe wird in Bereichen hoher Beanspruchung aufgebaut und Bereichen niedriger Be-
anspruchung abgebaut. Diese Besonderheit der Knochen ist insbesondere bei der Optimierung
von Prothesen zu berücksichtigen.

5.1.7.1 Elastische Konstanten der Kortikalis


Prägend für die Materialeigenschaften der Kortikalis sind die Osteone, Bild 5-2, die in axialer
Richtung, Bild 5-6, des Knochenschafts ausgerichtet sind. Dadurch ist das Materialverhalten
der Kortikalis orthotrop oder zumindest transversal isotrop. Bei orthotropem Verhalten sind
die Eigenschaften für alle drei Hauptachsen (siehe Bild 5-6) unterschiedlich und es müssen
neun elastische Konstanten bestimmt werden. Bei transversal isotropem Verhalten sind die
Eigenschaften in Radial- und in Umfangsrichtung gleich und es sind nur fünf elastische Kon-
stanten zu ermitteln. Die elastischen Konstanten für menschliche Kortikalis sind in Tabelle 5.1
aufgelistet.

Tabelle 5.1 Elastische Konstanten für menschliche Kortikalis nach [5-11]

Knochen Femur Femur Femur Tibia


Symmetrietyp transversal isotrop transversal isotrop orthotrop orthotrop
Messmethode Zugversuch Ultraschall Ultraschall Zugversuch
E1 [MPa] 11500 18800 12000 6910
E2 [MPa] 11500 18800 13400 8510
E3 [MPa] 17000 27400 20000 18400
G12 [MPa] - 7170 4530 2410
G13 [MPa] 3300 8710 5610 3560
G23 [MPa] 3300 8710 6230 4910
12 0,58 0,312 0,376 0,49
13 - 0,193 0,222 0,12
23 - 0,193 0,235 0,14
21 0,58 0,312 0,422 0,62
31 0,46 0,281 0,371 0,32
32 0,46 0,281 0,350 0,31
Quelle REILLY et al. YOON et al. ASHMAN et al. KNETS et al.
[5-12] [5-13] [5-14] [5-15]

Wesentlich sind die Materialkonstanten E3 und ν13 bzw. ν23, die in der Tabelle 5-1 hellgrau
hinterlegt sind. Bei physiologischen Belastungen, die hauptsächlich Normalspannungen in
5.1 Aufbau und Eigenschaften der Knochen 155

axialer Richtung aufgrund von Normalkräften und Biegemomenten im Schaft hervorrufen,


spielen nur diese Konstanten eine Rolle. Der E-Modul E3 liegt für die menschliche Kortikalis
zwischen 17000 MPa und 27400 MPa. Im Vergleich dazu ist der E-Modul von Stahl
(EStahl  210000 MPa) ca. zehnmal und der E-Modul von Aluminium (EAluminium  70000 MPa)
ca. dreimal größer. Der E-Modul von Kunststoffen wie Plexiglas bzw. PMMA
(EPMMA  3000 MPa) ist ca. sechs- bis neunmal kleiner. Ein Vergleich der Spannungs-
Dehnungs-Kurven ist in Bild 5-7b gezeigt. Die Materialeigenschaften der Kortikalis sind außer
von der Richtung auch von der Position im Körper abhängig. Diese Materialinhomogenität tritt
nicht nur in axialer Richtung, sondern auch in Umfangsrichtung auf [5-11].

5.1.7.2 Festigkeitskennwerte der Kortikalis


Die Zugfestigkeitswerte Rm für menschliche Kortikalis gemessen an Femur- und Tibiaproben
sind in axialer Richtung am größten und betragen zwischen 80 und 150 MPa, wobei in der
Tibia höhere Werte gemessen werden. Die Zugfestigkeitswerte in der Transversalebene senk-
recht zur Schaftachse sind nicht einmal halb so groß wie in axialer Richtung. Bemerkenswert
ist, dass die Druckfestigkeitswerte RmDruck deutlich höher sind als die Zugfestigkeitswerte, Bild
5-7a. Sie erreichen sowohl im Femur als auch in der Tibia Werte zwischen 131 und 206 MPa
in axialer Richtung. In der Transversalebene erreicht die Druckfestigkeit nur ca. 70-80 % der
Festigkeit in axialer Richtung.

a) σ b) σ
Rm

Stahl
E
Alu
Zug-
belastung
kortikaler
ε Knochen
Druck-
belastung

Kunststoff/
Plexiglas
R mDruck ε
Bild 5-7 Spannungs-Dehnungs-Kurven im Vergleich
a) Spannungs-Dehnungs-Kurve für die menschliche Kortikalis mit dem Elastizitätsmodul
E, der Zugfestigkeit Rm und der Druckfestigkeit RmDruck
b) Spannungs-Dehnungs-Kurve für die menschliche Kortikalis im Vergleich mit
Spannungs-Dehnungs-Kurven für technische Materialien

5.1.7.3 Viskoelastische Eigenschaften der Knochen


Die mechanischen Eigenschaften der Kortikalis sind auch von der Belastungsgeschwindigkeit
abhängig. Mit zunehmender Belastungsgeschwindigkeit steigt der E-Modul, und es werden
156 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

höhere Festigkeitswerte erreicht. Allerdings sind in den physiologischen Dehnungsgeschwin-


digkeitsbereichen von   d / dt  0,001 s -1 für langsames Gehen und   0,01 s -1 für hohe
Aktivität die Unterschiede kleiner als 15 %. Die viskoelastischen Eigenschaften der Knochen
können daher bei vielen biomechanischen Betrachtungen unberücksichtigt bleiben.

5.1.7.4 Elastische Konstanten der Spongiosa


Die Spongiosa ist ein poröses Material mit anisotropen und inhomogenen Materialeigenschaf-
ten. Die Eigenschaften sind also ähnlich wie bei der Kortikalis abhängig von der Belastungs-
richtung und der Position im Körper. Die Berücksichtigung der Anisotropie ist hierbei äußerst
schwierig, da sie sehr eng mit der anatomischen Position und Funktion der Spongiosa [5-16,
5-17] und ihrem strukturellen Aufbau insbesondere der Ausrichtung der Knochenbälkchen, der
Trabekel, verknüpft ist.
Die wichtigste elastische Materialkenngröße für die Spongiosa ist der mittlere (scheinbare)
E-Modul. Der mittlere E-Modul ist eine integrale Größe. Er beschreibt die Steigung der Span-
nungs-Dehnungs-Kurve für einachsige Belastung einer Spongiosaprobe, die groß genug ist,
dass die einzelnen Trabekel keinen Einfluss auf das Ergebnis haben. Eine Reihe von Untersu-
chungen zeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Knochendichte ρ und dem mittleren
E-Modul der Spongiosa gibt [5-18, 5-19]. Beschränkt man sich ausschließlich auf Spongiosa,
dann kann für den Zusammenhang zwischen E und ρ folgende Beziehung verwendet werden:

E  a b2 (5.1),

siehe Bild 5-8a.


Bei einer Dehnungsgeschwindigkeit von   0,001 s -1 liegt für menschliche Spongiosa der
Parameter a nach Gleichung (5.1) zwischen 0,06 und 0,07 und der Parameter b bei 1,65 bei
Zugbelastung in axialer Richtung, Bild 5-6, und bei 0,60 in der Transversalebene. Bei Druck-
belastung in der Transversalebene liegt der Parameter b zwischen 0,82 und 0,9. Die angegebe-
nen Konstanten gelten für ρ in g/cm³, um den E-Modul in der Einheit GPa zu erhalten. Die
quadratische Abhängigkeit des E-Moduls von der Dichte ist auch theoretisch begründet, wenn
man Spongiosa als poröses Material mit offenen Zellen betrachtet und unter Berücksichtigung
des Knochenvolumenanteils entsprechende werkstoffmechanische Modelle ansetzt. Der Nach-
teil dieser Beziehung ist jedoch, dass bei einer Extrapolation auf die Dichte der Kortikalis der
E-Modul der Kortikalis stark unterschätzt wird und sie deshalb nicht geeignet ist, allein mit
Kenntnis der Dichteverteilung den gesamten physiologischen Bereich des E-Moduls der Kno-
chensubstanzen abzudecken. Um diesen Nachteil zu umgehen, haben CARTER und HAYES
[5-20 bis 5-22] folgende Beziehung entwickelt, bei der zusätzlich der Einfluss der Dehnungs-
geschwindigkeit  auf den E-Modul berücksichtigt wird:

E  3790 0,06   3 (5.2).

In Gleichung (5.2) ist  in s-1 und ρ in g/cm³ einzugeben, dann erhält man den E-Modul in
MPa. Für diese Gleichung gibt es zwar keine theoretische Begründung, sie ist jedoch eine gute
Möglichkeit, die E-Modulverteilung innerhalb eines Knochens allein mit Kenntnis der Dichte-
verteilung abzuschätzen. Demgegenüber ist der Verlust an Genauigkeit für den E-Modul der
Spongiosa im Vergleich zu den zuerst genannten Modellen vernachlässigbar, Bild 5-8b.
5.1 Aufbau und Eigenschaften der Knochen 157

a)
E [GPa]
Messwerte für spongiöse Knochen:
3 menschliche Spongiosa
Spongiosa vom Rind

0
0 0,5 1,0 ρ [g/cm 3 ]
b)
E [GPa]
20 Messwerte für Knochen:
menschliche Spongiosa
Spongiosa vom Rind
menschliche Kortikalis

10

0
0 1 2 ρ [g/cm3 ]
Bild 5-8 E-Modulwerte für Knochen
a) Gemessene E-Modulwerte [5-18, 5-19] des spongiösen Knochens in Abhängigkeit der
Knochendichte  und Vergleich mit Formelwerten
Gleichung (5-1) für die Rinderspongiosa
Gleichung (5-1) für die menschliche Spongiosa
Gleichung (5-2)
b) Messwerte für Spongiosa und Kortikalis im Vergleich mit Gleichung (5.2), für
  0,001 s -1
158 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

5.1.7.5 Festigkeitskennwerte der Spongiosa


Die Druckfestigkeit der Spongiosa nimmt nach CARTER und HAYES [5-20, 5-21] quadratisch
mit der Dichte zu:

RmDruck  68 0,06   2 (5.3),

Mit dieser Beziehung erhält man die Druckfestigkeit in MPa, wenn man  in s-1 und  in g/cm³
einsetzt. Die Zugfestigkeit ist nach Angabe von CARTER und HAYES [5-20, 5-21] identisch
mit der Druckfestigkeit, allerdings gibt es auch Forschungsergebnisse [5-23], wonach die Zug-
festigkeit der Spongiosa nur etwa halb so groß ist wie die Druckfestigkeit.

5.2 Anatomie und Funktionsweise der Gelenke


Der menschliche Bewegungsapparat kann seine Funktion nur erfüllen, wenn die einzelnen
Knochen beweglich miteinander verbunden sind. Die Bewegung des Körpers wird ermöglicht
durch die Gelenke des Skeletts. In der allgemeinen Gelenklehre, der Arthrologie, wird jede Art
der Verbindung zwischen Skelettteilen als Gelenk bezeichnet.

5.2.1 Einteilung der Gelenke


Die Gelenke werden eingeteilt in kontinuierliche Verbindungen, die Synarthrosen oder „unech-
ten“ Gelenke, und in diskontinuierliche Verbindungen, die Diarthrosen oder „echten“ Gelenke
[5-3]. Bei Synarthrosen besteht eine mehr oder weniger bewegliche und teilweise sogar starre
Verbindung aus Füllgewebe zwischen den Skelettteilen. Bei Diarthrosen sind die Skelettele-
mente durch einen Spalt getrennt. Während die Synarthrosen nur begrenzte oder keine Bewe-
gungen zulassen, findet der Hauptanteil der Bewegungen des Körpers in den Diarthrosen statt.
Diese echten Gelenke machen die aktive Beweglichkeit des Körpers aus. Ein weiterer wesentli-
cher Unterschied zwischen unechten Gelenken und echten Gelenken ist aus Sicht der Biome-
chanik, dass bei unechten Gelenken Scherkräfte übertragen werden können und bei echten
Gelenken nicht.

5.2.2 Aufbau und Einteilung der Synarthrosen


Bei den Synarthrosen werden je nach Art des Füllgewebes, das die Skelettteile verbindet, die
drei Typen Syndesmosen, Synchondrosen und Synostosen unterschieden [5-3, 5-4, 5-24]. Syn-
desmosen sind Verbindungen zwischen Knochen aus kollagenen Faserbündeln, also Bindege-
webe. Dazu gehören z. B. die Membranen, wie sie zwischen Elle und Speiche bzw. zwischen
Schien- und Wadenbein vorhanden sind sowie die verstärkenden Bänder. Synchondrosen sind
knorpelige Verbindungen zwischen Knochen. Verbindungen aus hyalinem Knorpel treten zwi-
schen den Rippen und dem Brustbein auf. Faserknorpelige Verbindungen sind z. B. die Zwi-
schenwirbelscheiben und die Schambeinfuge. Synostosen sind verknöcherte, starre Verbindun-
gen zwischen Knochen, die aus Syndesmosen oder Synchondrosen durch Verknöcherungspro-
zesse hervorgehen. So verknöchert beim Heranwachsen das bei Kleinkindern vorhandene Bin-
degewebe zwischen den Schädelfugen und es entstehen die Schädelnähte. Ein entsprechender
Vorgang ist die Verknöcherung der Epiphysenfuge. Verknöcherungen von Synarthrosen treten
auch bei ausbleibender Bewegung auf. Selbst Diarthrosen können bei sehr langer Immobilisie-
rung auf natürliche Weise verknöchern und unbeweglich werden [5-3, 5-24]. Dieser Sonderfall
5.2 Anatomie und Funktionsweise der Gelenke 159

einer Synostose wird als Ankylose bezeichnet. Die künstliche knöcherne Versteifung eines
Gelenks ist die Arthrodese.

5.2.3 Aufbau der Diarthrosen


Diarthrosen, deren schematischer Aufbau in Bild 5-9 dargestellt ist, bestehen typischerweise
aus zwei mit einer Schicht aus hyalinem Knorpel überzogenen Knochenenden, von denen das
eine Ende den Gelenkkopf und das andere Ende die dazugehörige Gelenkpfanne bildet. Ferner
bestehen sie aus einer das Gelenk vollständig umschließenden Gelenkkapsel und aus mehreren
kurzen oder langen Verstärkungsbändern bzw. Ligamenten. Die Gelenkkapsel ist mit der vis-
kosen Gelenkschmiere Synovia gefüllt [5-3, 5-4, 5-25].

konvexer Gelenkkopf

Synovia (Gelenkschmiere)

hyaliner Gelenkknorpel

konkave Gelenkpfanne

innere Gelenkkapselschicht

äußere Gelenkkapselschicht

Verstärkungsbänder
der Gelenkkapsel

Bild 5-9 Schematischer Aufbau der Diarthrosen (echten Gelenke)

Die gelenkbildenden Knochenenden sind entweder nahezu eben oder konkav als Gelenkpfanne
bzw. konvex als Gelenkkopf ausgebildet und mit einer 2-5 mm dicken Schicht aus hyalinem
Knorpel überzogen, der eine hohe Druck- und Scherfestigkeit sowie eine hohe Elastizität auf-
weist. Die Knorpelschicht ist nachgiebig und dadurch in der Lage kleinere Inkongruenzen
(Ungleichheiten) zwischen den Knochenenden auszugleichen. Sie enthält keine Blutgefäße
und keine Nerven, so dass der Stoffwechsel nur durch einen ständigen Flüssigkeitsaustausch
bei der Be- und Entlastung der Knorpelschicht möglich ist. Durch ihr viskoelastisches Verhal-
ten wirkt sie zudem wie ein Stoßdämpfer für das darunterliegende Knochengewebe. Teilweise
160 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

ist die Gelenkpfanne zur Vergrößerung der Gelenkfläche durch einen Ring aus faserigem
Knorpel ergänzt, z. B. beim Schulter- und Hüftgelenk. Bei größeren Inkongruenzen werden die
Lücken zwischen den Knochen je nach Ausmaß der Inkongruenz durch kleine Zotten oder
Falten der Gelenkkapselinnenhaut oder durch faserige Knorpelteile ausgefüllt. Füllen diese
Knorpelteile den Gelenkspalt nicht ganz aus, handelt es sich um Menisken, wie sie im Kniege-
lenk vorkommen. Werden die Knochenenden durch diese Knorpelteile vollständig getrennt
und dadurch die Gelenkhöhle in zwei vollständig getrennte Kammern unterteilt, handelt es sich
um Disken oder Zwischenscheiben, wie sie zwischen Schlüsselbein und Brustbein oder zwi-
schen der Elle und den Handwurzelknochen vorkommen.
Die Gelenkkapsel, die alle Gelenke luftdicht umschließt, besteht aus zwei Schichten, die durch
eine dünne Fettschicht voneinander getrennt sind. Die äußere Schicht, die Membrana fibrosa,
besteht aus kollagenen Fasern, die eine hohe Zugsteifigkeit aufweisen. Die innere Schicht, die
Synovialhaut oder Membrana synovialis, besteht aus lockerem Bindegewebe und sondert stän-
dig die zähe, eiweißhaltige Gelenkschmiere, die Synovia, ab.
Durch die Synovia wird zusammen mit der glatten Hyalinknorpelschicht ein nahezu reibungs-
freies Gleiten zwischen den Gelenkflächen erreicht. Der Gleitreibungskoeffizient µG beträgt in
den Gelenken mit Werten zwischen 0,003 und 0,025 [5-3, 5-24, 5-26] nur etwa ein Zehntel der
Werte für eine geschmierte Kontaktstelle zwischen Standardkonstruktionswerkstoffen. Dort
liegt µG zwischen 0,02 und 0,2 [5-27]. Außer für die Gelenkschmierung ist die Synovia auch
für die Ernährung des Gelenkknorpels verantwortlich.
Die Verstärkungsbänder bzw. Ligamente sind für die Kinematik bzw. Führung der Bewegung
und die Begrenzung des Bewegungsausmaßes der Gelenke zuständig. Weitere Begrenzungen
des Aktionsradius der Gelenke ergeben sich durch die Form der Gelenkflächen, die Länge und
Dehnungsfähigkeit der Muskeln, die ein Gelenk überspannen sowie durch die Weichteile, die
ein Gelenk umgeben. Es werden also Band-, Knochen-, Muskel- und Weichteilhemmung un-
terschieden [5-3].
Zu den Bestandteilen der Gelenke gehören auch die mit Synovia gefüllten Schleimbeutel, die
Bursae synoviales, die in ihrem Aufbau den Gelenkkapseln entsprechen. Sie bilden nahezu
reibungsfreie Verschiebungsschichten und verhindern den Verschleiß von gegeneinander glei-
tenden Strukturen. Sie befinden sich dort, wo Weichteile wie Muskeln, Sehnen und Haut über
Knochenvorsprünge hinweg gleiten. Der größte Schleimbeutel des Körpers, die Bursa suprapa-
tellaris, befindet sich oberhalb der Kniescheibe zwischen dem Oberschenkelknochen und dem
vierköpfigen Schenkelstrecker.

5.2.4 Einteilung der Diarthrosen oder echten Gelenke


Die Diathrosen oder echten Gelenke werden entsprechend der Bewegungsfreiheitsgrade, die in
ihnen möglich sind, in ein- zwei- und dreiachsige Gelenke eingeteilt.
Die einachsigen Gelenke besitzen nur einen Rotationsfreiheitsgrad. Dazu gehören die Schar-
niergelenke wie die Fingergelenke oder das zum Ellenbogen gehörende Teilgelenk zwischen
Oberarmbein und Elle. Charakteristisch für die Scharniergelenke sind die Gelenkpfanne in
Form eines Hohlzylinders mit einer mittig liegenden Führungsleiste und der zylindrische Ge-
lenkkopf mit einer mittig liegenden Nut, Bild 5-10a. Durch Scharniergelenke sind die Stre-
ckung, die Extension, und die Beugung, die Flexion, möglich. Zapfengelenke sind ebenfalls
einachsige Gelenke, Bild 5-10a. Beispiele hierfür sind das zweite zum Ellenbogengelenk gehö-
rende Teilgelenk zwischen Elle und Speiche, bei dem sich die Speiche um die Längsachse der
5.2 Anatomie und Funktionsweise der Gelenke 161

d)

b)

a)

b)

c)

a)

Bild 5-10 Prinzipdarstellung wichtiger Gelenke


a) Einachsige Gelenke (Scharniergelenk, Zapfengelenk)
b) Zweiachsige Gelenke (Ellipsoidgelenk, Sattelgelenk)
c) Dreiachsiges Gelenk (Kugelgelenk)
d) Straffes Gelenk
162 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

Elle dreht oder das untere Kopfgelenk, bei dem sich der erste Halswirbel mit dem Schädel um
den Zahn des zweiten Halswirbels dreht. In den Zapfengelenken ist eine Einwärtsdrehung oder
Pronation und eine Auswärtsdrehung oder Supination möglich.
Die zweiachsigen Gelenke besitzen zwei Rotationsfreiheitsgrade. Hierzu gehören die Ei- oder
Ellipsoidgelenke und die Sattelgelenke, Bild 5-10b. Bei den Ellipsoidgelenken sind die
Krümmungen der Gelenkflächen in zwei zueinander senkrechten Richtungen bei der Gelenk-
pfanne konkav und beim Gelenkkopf konvex, Bild 5-10b. Allerdings sind die Krümmungen
nicht gleich groß, so dass Rotationen nur um zwei zueinander senkrechte Achsen stattfinden
können. Zu der Flexion und Extension kommt die Bewegung nach einwärts, die Adduktion,
und die Bewegung nach auswärts, die Abduktion, hinzu. Ein typisches Ellipsoidgelenk ist das
Handgelenk, welches das Handkreisen ermöglicht. Bei den Sattelgelenken sind die Gelenkflä-
chen in einer Richtung konkav und in der dazu senkrechten Richtung konvex geformt, Bild
5-10b. Auch hier kann die Rotation gleichzeitig um zwei zueinander senkrechte Achsen statt-
finden. Hierzu gehört das Gelenk zwischen dem ersten Mittelhandknochen und dem großen
Vieleckbein, das dem Daumen das Daumenkreisen ermöglicht. Auch das Kniegelenk ist ein
zweiachsiges Gelenk. Es ist ein kombiniertes Scharnier- und Zapfengelenk. Dadurch ist im
Kniegelenk die Beugung und Streckung und die Ein- und Auswärtsdrehung um die Längsach-
se der Tibia möglich. Der Freiheitsgrad der Ein- und Auswärtsdrehung besteht allerdings nur
bei gebeugtem Knie.
Die dreiachsigen Gelenke lassen alle drei Rotationsmöglichkeiten zu. Hierzu gehören die Ku-
gelgelenke wie das Hüftgelenk und das Schultergelenk, Bild 5-10c.
Einen Sonderfall der dreiachsigen Gelenke stellen die straffen Gelenke dar. Die Gelenkflächen
sind eben und das Gelenk ist von einer straffen Gelenkkapsel umgeben. Das Bewegungsaus-
maß in diesen Gelenken ist zwar klein, aber dennoch liegen drei Rotationsfreiheitsgrade vor.
Solche Gelenke befinden sich zwischen Schlüsselbein und Brustbein, Bild 5-10d, und zwi-
schen einzelnen Fuß- und Handwurzelknochen. Dadurch, dass mehrere Fuß- bzw. Handwur-
zelknochen dicht beieinanderliegen, summieren sich die Teilbewegungen zwischen den einzel-
nen Knochen zu einer beträchtlichen Gesamtbeweglichkeit.

5.3 Aufbau und Eigenschaften der Bänder und Sehnen


Bänder und Sehnen bestehen aus straffem Bindegewebe mit paralleler Ausrichtung der Kol-
lagenfibrillenbündel, Bild 5-11. Diese leicht gewellten, zugsteifen und zugfesten Faserbündel
sind in Zugrichtung angeordnet [5-4]. Die Hauptfunktion der Bänder und Sehnen ist wie bei
Seilen, siehe Kapitel 2.5.3.1, die Übertragung von Zugkräften, ohne dass wesentliche Dehnun-
gen auftreten. Druckkräfte können nicht übertragen werden.
Bis zu einer Dehnung ε von 2 % verhalten sich Bänder und Sehnen elastisch. Bei Dehnungen
größer als 4 % wird das Verformungsverhalten plastisch und es treten Gewebeschädigungen
auf. Bänder und Sehnen besitzen viskoelastische Eigenschaften, so dass das Dehnungsverhal-
ten auch von der Belastungsgeschwindigkeit abhängt, Bild 5-12. Bei isometrischen Bedingun-
gen relaxieren Bänder und Sehnen nach einer Belastungssteigerung, d. h. die Spannung nimmt
bei konstanter Dehnung mit der Zeit ab, während nach einer Belastungssenkung eine Erholung
eintritt. Mit der Zeit steigt die Spannung bei konstanter Dehnung [5-3].
5.3 Aufbau und Eigenschaften der Bänder und Sehnen 163

Faser

Querfaser des
Fibroblastenkern lockeren Bindegewebes
Bild 5-11 Aufbau einer Sehne

Der E-Modul der Bänder und Sehnen liegt mit etwa 2.000 MPa [5-28] in der gleichen Größen-
ordnung wie der E-Modul von Plexiglas (PMMA), der etwa 3.000 MPa beträgt. Die Zugfes-
tigkeit ist mit Werten zwischen 50-100 MPa nahezu genauso hoch, wie die Zugfestigkeit der
Kortikalis. Außerdem können Bänder und Sehnen sich ähnlich wie das Knochengewebe geän-
derten Belastungen anpassen. Allerdings ist die Adaptionsgeschwindigkeit der Bänder und
Sehnen im Vergleich zum Knochengewebe recht langsam.

F [N] Relaxation

Entlastung
6

4
Erholung

Belastung
0
0 60 120 t [s]

Bild 5-12 Relaxation und Erholung bei isometrisch belasteten Sehnen

5.3.1 Funktion der Bänder


Bänder oder Ligamente erfüllen mechanische Aufgaben. Sie dienen zur Verstärkung der Ge-
lenkkapseln, zur Führung von Gelenkbewegungen und zur Hemmung des Bewegungsaus-
schlags von Körperteilen, Organen und Gelenken. Sie sind einschließlich der Gelenkkapsel
164 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

und dem Muskeltonus für den Zusammenhalt der Gelenkflächen zuständig. Bänder gewähr-
leisten auch die Verspannung der Fußgewölbe, wodurch eine Federung des Fußes erreicht
wird. Durch die ligamentäre Stabilisierung der Wirbelsäule und des Hüftgelenks, Bild 5-13,
wird die Haltung im Rumpfbereich und an den Extremitäten trotz geringer muskulärer Aktivi-
tät erreicht. Zusammen mit dem Muskeltonus ermöglichen die Bänder z. B. bequemes Stehen
mit geringer, aktiver Muskelarbeit.
Man unterscheidet Bänder, die außerhalb der Gelenkkapsel liegen, und Bänder, die innerhalb
der Gelenkkapsel liegen. Die innenliegenden Binnen- oder Zwischenknochenbänder, wie die
Kreuzbänder im Kniegelenk und das Femurkopfband im Hüftgelenk, bestehen wie die übrigen
Bänder aus straffem Bindegewebe, sind jedoch von einer Synovialmembran überzogen. Wäh-
rend die Kreuzbänder die Gelenkkörper stabilisieren und die Kniegelenkkinematik wesentlich
beeinflussen und damit mechanische Aufgaben haben, trägt das Femurkopfband als gefäßfüh-
rendes Band hauptsächlich zur Ernährung des Femurkopfs bei.

oberes Darmbein- Darmbein


Schenkel-Band
Hüftgelenkspfanne
vorderes Darmbein-
Schenkel-Band inneres Schambein-
Schenkel-Band
Ringband
äußeres Schambein-
Schenkel-Band

Schambein
gedachter Schnitt
im Oberschenkel Sitzbein

äußeres Sitzbein- inneres Sitzbein-


Schenkel-Band Schenkel-Band
Bild 5-13 Verstärkungsbänder der Hüftgelenkkapsel (nach [5-4])
(Hals und Kopf des Oberschenkels sind der besseren Übersicht halber nicht gezeichnet)

5.3.2 Funktion der Sehnen


Sehnen stellen die Verbindung zwischen der Muskulatur und dem Skelett, d. h. zwischen akti-
vem und passivem Bewegungsapparat, dar [5-3]. Die mechanische Aufgabe der Sehnen ist die
Übertragung der Muskelkräfte auf das Skelett. Sehnen können sehr lang und schmal sein, wie
z. B. die Sehnen der Hand- und der Fußmuskeln. Dadurch wird erreicht, dass insbesondere die
Finger als Greif- und Tastorgane frei von störender Muskelmasse sind. Es gibt aber auch flä-
chenhafte Sehnen eines oder mehrerer Muskeln, die als Aponeurosen bezeichnet werden. Dazu
gehören die Aponeurosen der Bauchmuskeln im Bereich der Rumpfwand. Sehnen können
entweder als Zugsehnen die Muskelkraft geradlinig auf den zu bewegenden Knochen übertra-
gen oder sie dienen zur Umlenkung der Wirkungslinien der Muskelkräfte. Sie werden dazu
über ein Widerlager bzw. Hypomochlion umgelenkt und wirken als Gleitsehne, Bild 5-14.
5.4 Aufbau und Eigenschaften der Muskeln 165

Gleitsehne

Zugsehne
Widerlager

Wirkungslinien
der Muskelkräfte

Bild 5-14 Sehnen des zweiköpfigen Armbeugers (m. biceps brachii), nach [5-3]

In den Umlenkungsbereichen schützen außerdem Sehnenscheiden oder Schleimbeutel die


Sehnen vor Verletzungen durch Knochenvorsprünge. Sehnenscheiden sind Kanäle aus straf-
fem Bindegewebe, Bild 5-15. Sie ermöglichen ein gezieltes Umlenken der Wirkungslinien von
Muskelkräften und sogar das Überkreuzen von Sehnen. Ihre innere Haut sondert Synovia ab,
so dass die Sehnen nahezu reibungsfrei in ihnen gleiten können. Schleimbeutel sind mit Syno-
via (Schmierflüssigkeit) gefüllte Säckchen, die wie ein Wasserkissen die Verschiebbarkeit von
Sehnen und Muskeln verbessern und den Druck auf das umliegende Gewebe abmildern.

Sehnenscheide

Sehne

Bild 5-15 Schematische Darstellung von Sehne und Sehnenscheide

5.4 Aufbau und Eigenschaften der Muskeln


Muskeln besitzen die besondere Fähigkeit, ihre Länge aktiv zu verkürzen. Sie sind damit in der
Lage, Zugkräfte auf den Bewegungsapparat auszuüben. Die Muskelkräfte stabilisieren den
166 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

Bewegungsapparat und ermöglichen dem Körper der Einwirkung äußerer Kräfte zu widerste-
hen oder sich aktiv zu bewegen. Muskeln arbeiten nach dem Prinzip eines Motors. In den
Muskeln wird chemische Energie, die dem Körper mit der Nahrung zugeführt wird, in Arbeit
d. h. mechanische Energie und Wärme umgewandelt. Die erzeugte mechanische Energie be-
trägt ca. 30 % der umgesetzten Gesamtenergie [5-4]. Die restlichen 70 % fallen in Form von
Wärme an. Der Wirkungsgrad der Muskeln ist also vergleichbar mit dem Wirkungsgrad eines
Verbrennungsmotors. Die anfallende Wärme wird benötigt, um die Körpertemperatur konstant
zu halten. Wird jedoch mehr Wärme als dafür notwendig erzeugt, muss diese Wärme aus dem
Körper abgeführt werden, um ein Überhitzen des Körpers zu vermeiden. Reicht der normale
Wärmetransport über die Körperoberfläche an die Umgebung nicht aus, beginnt der Körper zu
schwitzen. Dabei sondern die Schweißdrüsen der Haut Schweiß ab. Der Schweiß besteht im
Wesentlichen aus Wasser und verdunstet auf der Haut. Bei der Verdunstung verändert der
Schweiß seinen Aggregatszustand von flüssig zu gasförmig. Die dazu notwendige Wärme wird
dem Körper entzogen, so dass der Körper dadurch gekühlt wird [5-29].

5.4.1 Einteilung der Muskulatur


Es wird glattes und quergestreiftes Muskelgewebe unterschieden. Die glatte Muskulatur wird
von dem autonomen oder vegetativen Nervensystem innerviert, das nicht primär dem Bewusst-
sein unterworfen ist und die Vitalfunktionen wie Atmung, Verdauung, Stoffwechsel usw. re-
gelt. Die glatte Muskulatur wird deshalb auch als unwillkürliche Muskulatur bezeichnet. Zu
der quergestreiften Muskulatur gehören die Skelettmuskeln und als Sonderform der Herzmus-
kel. Obwohl quergestreift gehört der Herzmuskel auch zu der unwillkürlichen Muskulatur. Die
Skelettmuskeln stellen den eigentlichen aktiven Bewegungsapparat dar. Sie werden von den
dem Willen unterworfenen Nerven des animalen Nervensystems innerviert (gesteuert) und
daher als willkürliche Muskulatur bezeichnet [5-1 bis 5-4].

5.4.2 Funktion der Skelettmuskeln


Aus Sicht der Mechanik sind Gelenke Strukturen, die beliebige Kräfte aber keine Momente
übertragen können. Wird ein Gelenk durch ein Moment belastet, hat das Moment eine entspre-
chende Drehbewegung des Gelenks zur Folge. Die Funktion der Skelettmuskeln besteht darin,
Momente auf Gelenke auszuüben, um bei den Gelenken gewollte Drehbewegungen hervorzu-
rufen oder Drehbewegungen, die durch von außen auf den Bewegungsapparat wirkende Kräfte
verursacht werden, zu bremsen oder zu verhindern. Die Rotation in einem Gelenk kann nur
verhindert werden, wenn die Momente infolge der äußeren Lasten und der Muskelkräfte im
Gleichgewicht sind und das resultierende Moment bezüglich des Gelenks verschwindet.
Damit Muskeln ein Moment auf ein Gelenk ausüben können, verlaufen die Muskeln oder zu-
mindest die Sehnen der Muskeln seitlich an dem Gelenk vorbei. Der senkrechte Abstand der
Wirkungslinie der Muskelkraft zur Drehachse des Gelenks multipliziert mit der Muskelkraft
ergibt das Moment, das der Muskel auf das Gelenk ausübt. Da sich Muskeln aktiv nur verkür-
zen aber nicht verlängern können, sind für die Ausführungen der möglichen Bewegungen und
der Sicherung eines jeden Gelenks mehrere Muskeln erforderlich. Wird ein Muskel für die
Bewegung eines Gelenks eingesetzt, bewegt er nicht nur das Gelenk, sondern dehnt auch den
Muskel für die Gegenbewegung. In der funktionellen Anatomie wird der in der jeweiligen
Bewegung aktive Muskel als Agonist und der passive als Antagonist bezeichnet. Synergisten
sind weitere Muskeln, die den aktiven Muskel bei seiner Bewegungsfunktion unterstützen [5-
4]. Synergisten können die Bewegung in dem gleichen Gelenk unterstützen oder die Bewe-
5.4 Aufbau und Eigenschaften der Muskeln 167

gung in einem benachbarten Gelenk verhindern. Die zweite Funktion ist insbesondere notwen-
dig, wenn der aktive Muskel an mehreren Gelenken vorbeiläuft und auf jedes ein Moment
ausübt. Für die kontrollierte Bewegung eines Gelenks werden in der Regel die Muskeln für die
Bewegung und die Gegenbewegung gleichzeitig aktiviert, so dass auch Agonisten und Anta-
gonisten synergistisch agieren können.
Da die Bewegung in einem Gelenk durch mehrere Muskeln gleichzeitig gesteuert wird und
prinzipiell Agonisten und Antagonisten gleichzeitig aktiv sein können, kann die tatsächlich
wirkende Muskelkraft mit den Prinzipien der Mechanik nicht eindeutig berechnet werden. Es
liegt ein unbestimmtes System vor. Die Muskelkräfte können nur unter der Voraussetzung
sinnvoller, vereinfachender Annahmen (siehe auch Kapitel 2.8.5) abgeschätzt werden. Durch
den gleichzeitigen Einsatz mehrerer Muskeln für eine bestimmte Gelenkbewegung werden die
Knochen gleichmäßiger belastet und so Beanspruchungsspitzen vermieden.
Grundsätzlich gilt jedoch, dass Muskeln nur Zugkräfte erzeugen können und immer ein Mo-
ment auf mindestens ein Gelenk hervorrufen. Entsprechend Kapitel 2.2.5 entsteht ein Moment
durch ein Kräftepaar. Die Kraft, die sich mit der Muskelkraft zu einem Kräftepaar ergänzt, ist
immer eine innere Druckkraft zwischen den Gelenkflächen der betroffenen Gelenke. Damit ist
eine weitere wesentliche Funktion der Skelettmuskeln, den Zusammenhalt der Gelenkflächen
während der Bewegungsvorgänge aktiv sicher zu stellen. Diese Funktion wird auch im passi-
ven Zustand der Skelettmuskeln durch den Ruhetonus erfüllt.

5.4.3 Aufbau der Skelettmuskeln


Skelettmuskeln bestehen aus Muskelfasern, der kleinsten, selbstständigen Baueinheit der quer-
gestreiften Muskulatur, Bild 5-16a. Muskelfasern haben eine Dicke von 40-100 µm und eine
Länge von wenigen Millimetern bis zu 30 cm. Die kontraktilen Elemente der Muskelfasern
sind die Myofibrillen, Bild 5-16b. Diese habe eine Dicke von 0,5-1 µm und setzen sich aus
systematisch angeordneten Myofilamenten, dünnere Aktin- und dickere Myosinfilamente,
zusammen. Bei der Muskelkontraktion (Bild 5-16d und Bild 5-16e) ziehen sich die 12-14 nm
dicken Myosinfilamente zwischen die 5-8 nm dicken Aktinfilamente, die an einem Ende in der
sog. Z-Scheibe miteinander verbunden sind, Bild 5-16c und Bild 5-16d. Die Länge der Myos-
infilamente und der Aktinfilamente bleibt während der Muskelkontraktion als auch der Mus-
keldehnung konstant. Allerdings wandern die benachbarten Z-Scheiben bei der Kontraktion
aufeinander zu oder werden bei der Dehnung voneinander entfernt. Der Abschnitt zwischen
zwei benachbarten Z-Scheiben wird als Sarkomer bezeichnet und stellt den Grundbaustein des
Skelettmuskels dar. Durch diesen Mechanismus kann sich ein Muskel maximal bis 50 % seiner
Ausgangslänge verkürzen. Die aktive Verkürzung beträgt jedoch lediglich 20-30 %. Die cha-
rakteristische Querstreifung der Skelettmuskelfaser beruht auf dem regelmäßigen Wechsel
zwischen A- und I-Bändern in Längsrichtung der Myofibrillen und auf der systematischen
Anordnung der Myosin- und Aktinfilamente quer zu den Myofibrillen, so dass in benachbarten
Myofibrillen die A- und I-Bänder nebeneinanderliegen. Die A-Bänder entstehen durch die
Myosinfilamente. Ihre Breite ist sowohl bei der Kontraktion als auch der Dehnung konstant,
weil die Myosinfilamente ihre Länge nicht ändern. Die I-Bänder sind die Bereiche der Aktin-
filamente, die nicht mit den Myosinfilamenten überlappen.
In der Mitte der I-Bänder befinden sich die Z-Scheiben. Komplementär zu den I-Bändern be-
schreiben die H-Bänder die Bereiche der Myosinfilamente, die nicht mit den Aktinfilamenten
überlappen. Die Breite der I- und H-Bänder nimmt bei der Kontraktion ab und bei der Deh-
nung zu. Dieser regelmäßige Aufbau der Muskelfibrillen kann mit polarisiertem Licht und
168 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

Polarisationsfiltern in gekreuzter Dunkelfeldanordnung sichtbar gemacht werden. Die optisch


anisotropen A-Bänder sind doppelbrechend und erscheinen hell, während die optisch isotropen
I-Bänder nur einfachbrechend sind und deshalb dunkel bleiben [5-1, 5-3].

a)

b)

c)
Aktinfilament
Z Z

Sarkomer Myosinfilament

d) A-Band I-Band
Z-Scheibe H-Band Z-Scheibe

Verschiebung
der Z-Scheibe
e)

Z-Scheibe Z-Scheibe
Bild 5-16 Aufbau des Skelettmuskels, siehe auch [5-2]
a) Muskelfaser
b) Myofibrille
c) Myofilamente
d) Sarkomer eines Myofilaments im entspannten Zustand
e) Sarkomer eines Myofilaments im kontrahierten Zustand

5.4.4 Formen der Skelettmuskeln


Die Skelettmuskeln kommen in unterschiedlichen Formen vor. Sie können einen oder mehrere
selbstständige Köpfe besitzen, die wiederum in eine gemeinsame Endsehne auslaufen können.
Man unterscheidet:
 einköpfige Muskeln, wie z. B. der Armbeugemuskel (m. brachialis),
5.4 Aufbau und Eigenschaften der Muskeln 169

 zweiköpfige Muskeln, wie z. B. der zweiköpfige Armbeugemuskel (m. biceps brachii),


 dreiköpfige Muskeln, wie z. B. der dreiköpfige Armstrecker (m. triceps brachii) und
 vierköpfige Muskeln, wie z. B. der vierköpfige Schenkelstrecker (m. quadriceps femo-
ris).
Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal der Muskeln ist die Art der Muskelfaseranordnung. Wie
in Bild 5-17 dargestellt, gibt es:
 parallelfasrige Muskeln, wie z. B. der zweiköpfige Armbeugemuskel (m. biceps
brachii),
 einfach gefiederte Muskeln, wie z. B. der lange Zehenstrecker (m. extensor digitorum
longus) und
 doppelt gefiederte Muskeln, wie z. B. der zum vierköpfigen Schenkelstrecker gehörige
gerade Schenkelmuskel (m. rectus femoris).

a) b) c)
b a = b phys ba ba
αa
αa
b phys

b phys

la la la

FS s s

FS FS

Bild 5-17 Arten der Muskelfaseranordnung und daraus folgende mechanische Prinzipmodelle
a) Parallelfasriger Muskel
b) einfach gefiederter Muskel
c) doppelt gefiederter Muskel

Die Art der Muskelfaseranordnung ist maßgeblich für die Hubhöhe und die Kraftentwicklung
eines Muskels. Parallelfasrige Muskeln besitzen eine große Hubhöhe. Doppelt gefiederte Mus-
keln können bei geringer Hubhöhe große Kräfte entwickeln. Die Kraft eines Muskels hängt von
der Summe der Querschnitte der Fasern und von ihrem Ansatzwinkel ab [5-1]. Zur Abschät-
zung der möglichen Muskelkräfte wird zwischen dem anatomischen und dem physiologischen
Muskelquerschnitt unterschieden. Der anatomische Querschnitt ist der Querschnitt senkrecht
zur Längsachse des Muskels. Der physiologische Querschnitt ist, wie in Bild 5-17 dargestellt,
die Gesamtquerschnittsfläche der Muskelfasern. Der anatomische Querschnitt ist nur bei paral-
lelfasrigen Muskeln identisch mit dem physiologischen Querschnitt, ansonsten ist er kleiner.
Die durchschnittliche maximale Zugspannung eines Muskels beträgt nach WEINECK [5-2]
170 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

0,6 MPa und nach RAUBER u. KOPSCH [5-3] 0,3-0,5 MPa bezogen auf den physiologischen
Querschnitt. Diese Werte können jedoch nach KUMMER [5-24] nur als grobe Anhaltswerte
verstanden werden. Die Kraft in den dazugehörigen Sehnen ist allerdings wesentlich geringer
als das Produkt aus der durchschnittlichen Zugspannung multipliziert mit dem physiologischen
Querschnitt, da insbesondere auch der Fiederungswinkel, der sich mit der Muskelkontraktion
noch zusätzlich ändert, die resultierende Sehnenkraft bestimmt.

5.4.5 Zusammenhang zwischen Muskelfaseranordnung und Leistung der


Skelettmuskeln
Zur Beschreibung der prinzipiellen Auswirkungen der Muskelfaseranordnung auf die bei der
Sehne erzeugbaren Kraft FS bzw. die bei der Sehne abgegebene Leistung PS werden die in Bild
5-17 dargestellten vereinfachten Prinzipmodelle für einen parallelfasrigen und einen doppelge-
fiederten Muskel miteinander verglichen. Der parallelfasrige Muskel hat die Gestalt eines
Rechtecks und der doppelgefiederte Muskel setzt sich aus zwei gleichen Parallelogrammen
zusammen. Beide Muskeln sollen die gleiche anatomische Ausgangslänge la sowie den gleichen
anatomischen Querschnitt ba·d und damit das gleiche Volumen Va aufweisen. ba entspricht
hierbei der Breite, d der Dicke des Querschnitts. Außerdem soll die Zugspannung F, die der
Zugspannung einer einzelnen Muskelfaser entspricht, bezogen auf den physiologischen Quer-
schnitt bphys·d gleich sein. Da das Volumen der Muskelfasern während der Verkürzung konstant
bleibt, vergrößert sich dabei der Querschnitt der Muskelfasern. Deshalb müssen zur Bestim-
mung des physiologischen Querschnitts bphys·d die Abmessungen des Muskels im kraftfreien
Ausgangszustand, wie in Bild 5-17 dargestellt, betrachtet werden. Damit gilt:
bphys,par  ba (5.4)

für den parallelfasrigen Muskel und


bphys, dgf  la  sin  a (5.5)

für den doppelt gefiederten Muskel.


Bild 5-18 zeigt das Gleichgewicht zwischen der Zugspannung M, die im Gesamtquerschnitt
bM·d der Muskelfasern wirkt, und der Sehnenkraft FS bei einem verkürzten Muskel. Da sich bei
der Faserverkürzung die Kraft pro Faser nicht verändert, berechnet sich die resultierende Kraft
FM für den Gesamtquerschnitt bF·d der Muskelfasern mit:
FM   M  bM  d   F  bphys  d (5.6).

Mit Gleichung (5.4) bis Gleichung (5.6) und den Gleichgewichtsbedingungen für das bewegli-
che Muskelende nach Bild 5-18 folgt für die Sehnenkraft des parallelfasrigen Muskels:
FS, par  FM   F  bphys, par  d   F  ba  d (5.7).

und des doppelt gefiederten Muskels:


FS, dgf  2  FM  cos   2   F  bphys, dgf  d  cos 

FS, dgf  2   F  la  d  sin  a  cos  (5.8).


5.4 Aufbau und Eigenschaften der Muskeln 171

a) b) α α
bM
σM

bM σM σM bM
la
s

FS
s

FS

Bild 5-18 Gleichgewicht zwischen der Muskelspannung M im Gesamtquerschnitt bM·d der verkürzten
Muskelfasern und der Sehnenkraft FS
a) Parallelfasriger Muskel
b) Doppelt gefiederter Muskel

Die Sehnenkraft des parallelfasrigen Muskel FS,par ist dem anatomischen Querschnitt ba·d pro-
portional und bleibt während der Verkürzung im Prinzip konstant. Die Sehnenkraft des doppelt
gefiederten Muskels FS,dgf ist der anatomischen Länge la proportional und verändert sich mit
dem Kosinus des Fiederungswinkels . Da der Fiederungswinkel während der Muskelverkür-
zung zunimmt, nimmt die Sehnenkraft entsprechend ab. Außerdem hängt FS,dgf von dem Aus-
gangswinkel a ab. Theoretisch kann a Werte zwischen 0° und 90° annehmen. Für a = 0°
verschwindet der physiologische Querschnitt bphys,dgf·d und für a = 90° wirkt die resultierende
Faserkraft FM senkrecht zur Sehne, so dass bei beiden Grenzwerten FS,dgf Null ist. Die maxi-
male Kraft FS,dgf,max ergibt sich für  = a = 45° und beträgt:
FS, dgf, max  2   F  la  d  sin 45  cos 45   F  la  d (5.9)

Ist ein Muskel doppelt so lang wie breit, dann ist bei gleicher Zugspannung F der Muskelfa-
sern bei einem doppelt gefiederten Muskel mit a = 45° die maximale Sehnenkraft doppelt so
groß wie bei einem parallelfasrigen Muskel. Bei langen schlanken Muskeln ist also die maxi-
male Sehnenkraft FS,max bei doppelt gefiederter Faseranordnung um ein Vielfaches größer als
bei paralleler Faserordnung.
Um den Einfluss der Muskelfaseranordnung auf die Leistungsfähigkeit beurteilen zu können,
muss zusätzlich die Geschwindigkeit, mit der sich die Sehne bewegt, betrachtet werden, weil
sich die Leistungsabgabe des Muskels bei der Sehne aus dem Produkt der Sehnenkraft FS und
der Sehnengeschwindigkeit vS ergibt:
PS  FS  vS (5.10).

Um die Geschwindigkeit der Sehne ermitteln zu können, muss der Weg s der Sehne in Abhän-
gigkeit von der Muskelfaserverkürzung betrachtet werden. Die Muskelfasern verbinden das
unbewegliche Muskelende mit dem beweglichen Muskelende, Bild 5-19. Bei der Verkürzung
der Muskelfasern wandern beim parallelfaserigen Muskel die beiden Muskelenden aufeinander
172 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

zu und der Muskel wird dicker. Beim doppelt gefiederten Muskel verschiebt sich die Sehne
parallel zu den beiden seitlichen, festen Anbindungen des Muskels und der Fiederungswinkel
 nimmt zu. Dadurch werden die Muskelfasern dicker, obwohl sich der Muskelquerschnitt ba
nicht ändert.
Die relative Längenänderung F einer Muskelfaser kann mit
lFa  lF
F  (5.11)
l Fa

beschrieben werden und ist so definiert, dass F bei einer Verkürzung der Muskelfaser positiv
ist. Hierbei ist lFa die Ausgangslänge und lF die Länge der Muskelfaser nach der Verkürzung.
Ferner wird vorausgesetzt, dass die Geschwindigkeit der relativen Längenänderung F eine
von der Faseranordnung unabhängige, spezifische Eigenschaft einer Muskelfaser ist.

a) b)
ba ba
ba bM > ba
αa α

lF
la = l Fa la la

s h

ha
s
lFa
lF
Bild 5-19 Verschiebung des beweglichen Muskelendes bzw. der Muskelsehne bei einer Verkürzung
der Muskelfasern von lFa auf lF
a) Parallelfasriger Muskel
b) Doppelt gefiederter Muskel

Beim parallelfasrigen Muskel gilt entsprechend Bild 5-19


lFa  la (5.12)

und mit Gleichung 5.11 für den Sehnenweg:


s par  l Fa  l F  lFa   F  la   F (5.13)

und damit für die Geschwindigkeit der Sehne:


vS, par  spar  la  F (5.14)

Beim doppelt gefiederten Muskel kann der Sehnenweg entsprechend Bild 5-19 mit:
sdgf  ha  h (5.15)
5.4 Aufbau und Eigenschaften der Muskeln 173

beschrieben werden. Der Zusammenhang zwischen h, der Muskelfaserlänge lF und dem ana-
tomischen Querschnitt ba ist festgelegt mit dem Satz von Pythagoras:
2
b 
lF2  h 2   a  (5.16).
 2 
Daraus folgt mit Gleichung (5.11) für den Sehnenweg:
2 2
b  b 
2
sdgf  ha  h  ha  lF2   a   ha  lFa  1   F 2   a  (5.17).
2
   2 

Da F die einzige Größe ist, die sich bei der Muskelverkürzung ändert, kann die Sehnenge-
schwindigkeit mit Hilfe der Kettenregel der Differentiation berechnet werden:
2
lFa  1   F 
vS,dgf  sdgf  h   F (5.18).
2
b 
2
lFa  1   F 2
 a 
 2
Ferner gelten mit Bild 5-19 folgende geometrischen Zusammenhänge für den doppelt gefieder-
ten Muskel:
ba
lF  l Fa  1   F   (5.19)
2  sin 
und
ba
lFa  (5.20).
2  sin  a

Gleichung (5.19) und Gleichung (5.20) eingesetzt in Gleichung (5.18) liefert:

l Fa  l F ba2
vS,dgf   F   F
2 2 2
b   ba  b 
l F2   a  4  sin  a  sin      a 
 2   2  sin    2 

ba ba
vS,dgf   F   F (5.21).
2  sin  a  1  sin  2 2  sin  a  cos 

Bei einem parallelfasrigen Muskel ist die Sehnengeschwindigkeit vS,par der anatomischen Län-
ge la des Muskels proportional, während beim doppelt gefiederten Muskel die Sehnenge-
schwindigkeit vS,dgf dem anatomischen Querschnitt ba·d proportional ist. Außerdem verändert
sich die Sehnengeschwindigkeit des doppelt gefiederten Muskels vS,dgf mit dem Kehrwert des
Kosinus des Fiederungswinkels . Da der Fiederungswinkel während der Muskelverkürzung
zunimmt, nimmt auch die Sehnengeschwindigkeit zu. Außerdem hängt vS,dgf von dem Aus-
gangswinkel a ab. Für die beiden theoretischen Grenzwerte 0° und 90° für a wächst die
Sehnengeschwindigkeit theoretisch über alle Grenzen. Dieser Zustand kann jedoch nicht er-
reicht werden, weil bei den Grenzwerten, wie bereits bei der Betrachtung der Sehnenkräfte
174 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

dargestellt, die Sehnenkraft verschwindet. Die minimale Geschwindigkeit vS,dgf,min ergibt sich
für  = a = 45° und beträgt:
ba
vS,dgf,min   F  ba  F (5.22).
2  sin 45  cos 45
Damit sind die Zusammenhänge der Sehnengeschwindigkeiten mit den anatomischen Mus-
kelabmessungen bei den beiden betrachteten Fiederungsarten genau umgekehrt wie bei den
Sehnenkräften. Ist ein Muskel doppelt so lang wie breit, dann ist bei gleicher relativer Verkür-
zungsgeschwindigkeit F der Muskelfasern beim doppelt gefiederten Muskel mit a = 45° die
minimale Sehnengeschwindigkeit halb so groß wie beim parallelfasrigen Muskel. Bei langen
schlanken Muskeln ist also die minimale Sehnengeschwindigkeit vS,max bei doppelt gefiederter
Faseranordnung um ein Vielfaches kleiner als bei paralleler Faserordnung.
Nachdem nun für beide betrachteten Faseranordnungen die Sehnenkräfte FS und Sehnenge-
schwindigkeiten ermittelt sind, können auch die entsprechenden Leistungsabgaben PS bei der
Sehne berechnet werden. Mit Gleichung (5.7) und Gleichung (5.14) beträgt die Leistungsab-
gabe bei der Sehne des parallelfasrigen Muskel:
PS, par  FS, par  vS, par   F  ba  d  la  F (5.23).

Entsprechend gilt für den doppelt gefiederten Muskel mit Gleichung (5.8) und Gleichung
(5.21):
ba  F
PS, dgf  FS, dgf  vS, dgf  2   F  la  d  sin  a  cos  
2  sin  a  cos 

PS, dgf   F  la  ba  d  F (5.24).

Hierbei ist
PF   F  F (5.25).

die spezifische Leistungsdichte einer Muskelfaser und


Va  ba  d  la (5.26).

das anatomische Volumen des Muskels.


Verwendet man das in Bild 5-17 dargestellte mechanische Prinzipmodell für den einfach ge-
fiederten Muskel und führt die Betrachtung analog zu dem doppelt gefiederten Muskel durch,
dann erhält man das gleiche Ergebnis für die Leistungsabgabe. Aufgrund der einfachen Fiede-
rung ist jedoch die Maximalkraft halb und die Minimalgeschwindigkeit doppelt so groß wie
bei dem doppelt gefiederten Muskel mit den gleichen anatomischen Abmessungen.
Die Leistungsabgabe bei der Sehne eines Muskels entspricht also unabhängig von der Faser-
anordnung der von allen Muskelfasern erzeugten Gesamtleistung. Durch die Anordnung der
Muskelfasern wird lediglich das Verhältnis der Sehnenkraft bzw. der Sehnengeschwindigkeit
verändert. So kann ein langer schlanker Muskel durch eine doppelt gefiederte Faseranordnung
eine sehr große Sehnenkraft bei gleichzeitig kleiner Sehnengeschwindigkeit aufbringen. Ein
solcher Muskel ist also prädestiniert eine Haltefunktion auszuüben. Ein parallelfasriger Muskel
mit gleichen Abmessungen kann große Sehnengeschwindigkeiten bei kleiner Sehnenkraft
5.5 Aufbau und Funktionsweise des Kniegelenks 175

erzielen und ist für die Bewegungsfunktion geeignet. Letztendlich kann ein Muskel als ein
Getriebemotor aufgefasst werden. Die Gesamtleistung ist abhängig von dem anatomischen
Muskelvolumen, das ja dem Gesamtvolumen der Muskelfasern gleichzusetzen ist. Die im
Innern des Muskels durch die Verkürzung der Muskelfasern erzeugte mechanische Leistung
wird als Produkt aus Sehnenkraft und Sehnengeschwindigkeit an den Bewegungsapparat ab-
gegeben. Mit welchem Übersetzungsverhältnis, das sich während der Bewegung verändern
kann, die Faserkraft und die Faserverkürzungsgeschwindigkeit in Sehnenkraft und Sehnenge-
schwindigkeit übersetzt wird, ist abhängig von der Faseranordnung.
Dieses Ergebnis ist keine spezielle Eigenschaft der Muskulatur, sondern die logische Folge aus
dem in der Mechanik bekannten Prinzip der virtuellen Arbeit bzw. Prinzip der virtuellen Leis-
tung, das bei beweglichen Systemen auch für reale Geschwindigkeiten gilt. Demnach ist ein
System im Gleichgewicht, wenn die Summe aller Leistungen der angreifenden Kräfte bzw.
Momente Null ist. Beim Muskel ist das zu betrachtende System die Sehne des Muskels. Durch
die Kräfte und die Verkürzungsgeschwindigkeiten der gesamten Muskelfasern wird der Sehne
Leistung zugeführt, die in Form der Sehnenkraft und der Sehnengeschwindigkeit von der Seh-
ne wieder abgegeben wird, weil die Sehne jederzeit im Gleichgewicht ist. Somit gilt der für die
vereinfachten mechanischen Muskelmodelle gezeigte Zusammenhang zwischen der im Muskel
erzeugten mechanischen Leistung und den Sehnenkräften bzw. -geschwindigkeiten sinngemäß
für beliebige Muskelformen.

5.5 Aufbau und Funktionsweise des Kniegelenks


Das Kniegelenk wird an dieser Stelle genauer betrachtet, weil gerade für dieses Gelenk in
Kapitel 6 anhand umfangreicher Finite-Elemente-Analysen gezeigt wird, welche biomechani-
schen Analysemöglichkeiten durch die FE-Methode zur Verfügung stehen. Das Kniegelenk
oder Articulatio genu, Bild 5-20, ist für die Bewegung zwischen Ober- und Unterschenkel
verantwortlich und ist Teil der Bewegungskette der unteren Extremitäten, die dem Menschen
das Stehen und die Grundbewegungen wie Laufen, Sitzen, Knien und Hocken ermöglicht. Es
ist das größte und eines der kompliziertesten und empfindlichsten Gelenke des Menschen und
wird knöchern durch das Femur, die Tibia und die Patella gebildet. Die Fibula (das Waden-
bein) dient nur als Ansatz für ein Seitenband und gehört nicht direkt zu dem Kniegelenk.

5.5.1 Anatomie des Kniegelenks


Am distalen Ende des Oberschenkels befinden sich die beiden mit hyalinem Knorpel überzo-
genen Oberschenkelkondylen. Nach hinten wölben sich diese Kondylen stark vor und lassen
eine tief einschneidende Grube zwischen sich. Die Kondylen sind walzenähnliche Körper mit
in Querrichtung konvexer Oberfläche. Das Gegenstück zu den Kondylen bildet die Schien-
beinkopfgelenkfläche, die durch eine mittelständige von vorn nach hinten verlaufende, breite
Erhebung, die Eminentia intercondylaris, in zwei Gelenkpfannen geteilt ist, Bild 5-20. Wäh-
rend die mediale, längs-ovale Pfanne eine tellerförmige Vertiefung besitzt, ist die laterale kur-
ze, breite Pfanne nahezu eben [5-37]. Die Patella gleitet mit ihrer Rückfläche auf den Vorder-
flächen der Kondylen des Femurs. Die Patella ist an der Stelle in die Patellasehne, das Liga-
mentum patellae, eingelagert, an der diese Sehne vor dem Femurende umgelenkt wird und ist
damit ein Sesambein. Die Patellasehne entspringt aus dem distalen Ende des vierköpfigen
Schenkelstreckers und ist distal an der Rauigkeit der Tibia, der Tuberositas tibiae, fixiert.
176 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

a) b)
Oberschenkelknochen lateraler
medialer Schenkelknorren
(Femur) Schenkelknorren
(Gelenkfläche)
Kniescheibe
(Patella) hinteres Kreuzband vorderes
Kreuzband
medialer Meniskus
(verwachsen mit
Seitenband) lateraler
Schienbein Meniskus
(Tibia) mediales
Seitenband laterales
Seitenband
Schienbein
Wadenbein Wadenbein
(Fibula)
Bild 5-20 Rechtes Kniegelenk
a) Ansicht von vorne (ventral)
b) Ansicht von hinten (dorsal) mit Bandapparat

Durch die Patella wird zum einen der Hebelarm der Patellasehne zur Knieachse vergrößert und
zum anderen die Umlenkkraft der Sehne auf die Femurkondylen übertragen. Die dabei entste-
henden Druckkräfte sind insbesondere beim Aufstehen aus der Kniebeuge recht hoch, deshalb
ist die Patellarückfläche mit einer bis zu 5 mm dicken Knorpelschicht überzogen. Die Rückflä-
che der Patella ist durch eine mittig gelegene Führungsleiste in eine laterale und eine mediale
konkave Facette aufgeteilt. Die mediale Facette ist durch einen schrägen Grat in eine größere
und eine kleinere, randständige Facette unterteilt. Mit zunehmender Beugung wandert der in
Kontakt stehende Flächenbereich, bezogen auf die Patella, von unten nach oben [5-38].

5.5.2 Menisken des Kniegelenks


Die geometrische Inkongruenz der Gelenkflächen wird nur zum Teil durch die Verformung der
druckelastischen Knorpelschicht auf den Knochenenden ausgeglichen. Eine zusätzliche Ver-
größerung der Kontaktfläche findet durch Menisken statt, wovon je einer auf den beiden Ge-
lenkflächen des Schienbeins liegt, Bild 5-21. Diese sind der innere oder mediale und der äußere
oder laterale Meniskus. Die Menisken bestehen aus Bindegewebe mit kollagenem Fasermaterial
und knorpelähnlichen Zellen. An seinem äußeren Kreisumfang ist der Meniskus dick und mit
der Gelenkkapsel verwachsen. Der mediale Meniskus ist zusätzlich mit dem inneren Seitenband
verwachsen. Außerdem sind die Menisken vorn über das Lig. transversarum genus miteinander
verbunden. Von außen nach innen werden sie keilförmig dünner. Die den Oberschenkelkondy-
len zugewandten Flächen sind konkav gestaltet, während die unteren, auf dem Tibiakopf lie-
genden Flächen flach und im Bereich der medialen Tibiagelenkfläche sogar konvex sind. Der 2
bis 8 mm breite mediale Meniskus hat die Form eines weit offenen C, dessen vorderes Ende am
Rand der medialen Tibiagelenkfläche ansetzt, während das hintere Ende in die dorsale Band-
grube verläuft. Der 12 bis 16 mm breite, laterale Meniskus bildet ein enges C, dessen nahe
anliegenden Enden am lateralen Rand der eminentia intercondylaris ansetzen [5-39].
5.5 Aufbau und Funktionsweise des Kniegelenks 177

Verbindungsband Kniescheibenband
(Ligamentum (Patellaband)
transversum genus)

medialer Meniskus

laterale Tibiafläche

mediale Tibiafläche

lateraler Meniskus hinteres Kreuzband


vorderes Kreuzband
Bild 5-21 Proximale Gelenkfläche der Tibia mit den Menisken und den Kreuzbändern

Trotz ihrer bindegewebigen Befestigung weisen die Menisken eine relativ große Bewegungs-
freiheit sowie, aufgrund ihrer feingeweblichen Struktur, eine ausgiebige Verformbarkeit auf.
Wird der Unterschenkel im Kniegelenk gestreckt, weichen beide Menisken nach vorn aus,
während bei einer Beugung die Menisken nach hinten verschoben werden. Die Verlagerung der
Menisken erfolgt sowohl passiv als auch aktiv. Bei der Kniebeugung werden die Menisken auf
der Innenseite durch den M. semimembranosus und auf der Außenseite durch den M. popliteus
aktiv nach hinten gezogen. Bei der Streckung werden die Menisken durch entsprechende Bän-
der zwischen der Patella und den Menisken passiv nach vorne gezogen, wodurch deren Ein-
klemmung verhindert wird. Hierbei legt der besonders bewegliche laterale Meniskus eine Weg-
strecke von mehr als 1 cm zurück [5-47]. Die Menisken bilden bei den verschiedenen Gelenk-
stellungen eine verformbare Ergänzung der Gelenkpfanne, indem sie sich als Faserknorpelkeile
in den Gelenkspalt einschieben und auf diese Weise die Kontaktflächen vergrößern.

5.5.3 Bandapparat des Kniegelenks


Die Stabilisierung des Femorotibialgelenks erfolgt durch Muskeln und Bänder. Eine knöcherne
Führung erfolgt nur in der Frontalebene durch die Eminentia intercondylaris, die ein seitliches
Verschieben der Femurkondylen verhindert. Alle Bewegungen im Knie werden durch vier
starke Bänder geführt und gesichert. Diese sind das innere Seitenband oder Lig. collaterale
mediale, das äußere Seitenband oder Lig. collaterale laterale, das vordere Kreuzband oder Lig.
cruciatum anterius und das hintere Kreuzband oder Lig. cruciatum posterius, Bild 5-20. In
Streckstellung sind die Seitenbänder gestrafft und verhindern die Überstreckung sowie die
Drehung des Unterschenkels. In Beugestellung erschlaffen sie und ermöglichen dann die Dre-
hung des Unterschenkels so weit, bis sie wieder gespannt sind. Je mehr sich die Beugung dem
rechten Winkel nähert, desto ausgiebiger ist die Drehung möglich und beträgt dann nach außen
ca. 40° und nach innen 15°-20°. Dies begünstigt die individuelle Anpassung des Fußes an Bo-
denunebenheiten beim Gehen, während die Drehbehinderung des gestreckten Knies eine be-
sondere Standfestigkeit ergibt. Innerhalb des Gelenks liegen die beiden Kreuzbänder. Sie sind
178 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

hintereinander am Oberschenkelknochen in der Rinne zwischen den Kondylen befestigt und


ziehen, sich überkreuzend, nach vorne und hinten zum Mittelgrat des Schienbeins. In jeder
Stellung sind Teile der Kreuzbänder straff. Hierdurch verhindern sie ein seitliches Abknicken
und ein Abgleiten des Oberschenkelknochens vom Schienbein nach vorne, nach hinten oder zur
Seite, selbst wenn in Beugestellung die Seitenbänder erschlafft sind [5-37]. Die Stabilisierung
des Knies wird nicht ausschließlich durch die Kreuz- und Seitenbänder gewährleistet. Es exis-
tieren zusätzliche Strukturen, sog. Synergisten, die gleiche Funktionen erfüllen. So können die
Menisken ebenso wie die Kreuzbänder die Tibia gegen eine Verschiebung nach vorne und
hinten stabilisieren [5-40].

5.5.4 Kinematik des Kniegelenks


Das Kniegelenk ist ein kombiniertes Drehscharniergelenk und hat zwei Freiheitsgrade. Der
erste Freiheitsgrad ist die Drehung um die in der Frontalebene liegende Transversalachse, der
die Beugung (Flexion) und Streckung (Extension) in der Sagittalebene ermöglicht. Der zweite
Freiheitsgrad ist eine Drehung um die in der Sagittalebene liegende Longitudinalachse, um die
Innen- und Außenrotation in der Transversalebene stattfinden zu lassen. Das Kniegelenk ist das
einzige Gelenk des menschlichen Bewegungsapparats, dessen Kinematik getriebetechnisch
erklärt wird. Das elementare Prinzip der Kniegelenkkinematik für die Flexion und die Extensi-
on lässt sich grob vereinfacht mit dem System der überschlagenen Viergelenkkette darstellen,
Bild 5-22, [5-38, 5-41, 5-42].
Wie in Bild 5-22 dargestellt, beschreibt die Verbindungslinie zwischen den Punkten A und B
die Tibiagelenkfläche. In jeder Beugestellung bildet diese Linie die Tangente an die Kondylen-
kontur. Dadurch ergibt sich die Kontur der Oberschenkelkondylen als Hüllkurve der Tibiage-
lenkfläche. Gleiche Ziffern auf den beiden Kurven bezeichnen die entsprechenden Berührungs-
punkte bei der Beugung. Diese Modellvorstellung beschreibt die Bewegung nur in der Sagittal-
ebene. Außerdem werden die Kreuzbänder als geradlinige Bandzüge mit punktförmiger Befes-
tigung idealisiert und so weder die Dicke des jeweiligen Bands, noch die ungleiche Länge der
einzelnen Faserbestandteile, noch die unterschiedliche Faserorientierung innerhalb eines Bands
berücksichtigt [5-38]. Es handelt sich also um ein recht einfaches Modell, das jedoch einen
anschaulichen Beitrag zum Verständnis der Kinematik des Kniegelenks leistet.
Das Hauptprinzip der Beugestreckbewegung zwischen Femur und Tibia ist eine kombinierte
Rollgleitbewegung beider Gelenkflächen. Würde es sich bei der Bewegung der Tibia gegen-
über dem Femur um reines Rollen handeln, wäre eine Flexion größer 45° mit einem Hinausrol-
len des Femurs über das Tibiaplateau verbunden. Ein Flexionsablauf mit reiner Gleitbewegung
würde ebenfalls eine geometrisch bedingte Flexionseinschränkung bewirken, da der Femur-
schaft durch die Gelenkpfannen der Tibia behindert würde. Der Ablauf dieser Rollgleitbewe-
gung und die Stabilität des Kniegelenks in Beugestellung wird durch die Zwangsführung der
Gelenkflächen von Tibia und Femur durch die Kreuzbänder gewährleistet, da während der
gesamten Beugestreckbewegung Teile der Kreuzbänder gespannt sind. Dies wird deutlich,
wenn bei einer Verletzung des Kniegelenks beide Kreuzbänder abreißen. Dabei kommt es zu
einer Kniegelenkinstabilität, dem sog. Schubladenphänomen, wobei sich die Tibia gegenüber
dem Femur nach vorn und hinten verschieben lässt. Wird nur das vordere Kreuzband verletzt,
kommt es zum vorderen Schubladenphänomen, d. h. bereits bei leicht gebeugtem Knie ist eine
Verschiebung der Tibia gegenüber dem Femur nach vorne möglich. Bei einer Ruptur des hinte-
ren Kreuzbandes kann die Tibia gegenüber dem Femur nach hinten verschoben werden [5-38,
5-47]. Während der Flexion bewegen sich beide Femurkondylen zunächst in einer nahezu
5.5 Aufbau und Funktionsweise des Kniegelenks 179

Femurkontur

B1

Beugerichtung

Tibiakontur
Bild 5-22 Veranschaulichung der Rollgleitbewegung im Kniegelenk am Viergelenkkettenmodell

reinen Rollbewegung nach hinten. Bei etwa 15° Flexion geht die Rollbewegung des medialen
Kondylus in eine kombinierte Rollgleitbewegung über. Die Rollgleitbewegung des lateralen
Kondylus beginnt erst bei etwa 25° Flexion. Der längere Rollweg des lateralen Femurkondylus
bewirkt eine Außenrotation des Femurs gegenüber der Tibia. Bei fortgesetzter Flexion nimmt
der Anteil der Gleitkomponente an der Gesamtbewegung zu. In der Schlussphase der Flexions-
bewegung beträgt das Verhältnis zwischen Roll- und Gleitkomponente etwa 1:4, wobei die
Rollbewegung nach hinten gerichtet ist. Im Gegensatz dazu verläuft die Gleitbewegung des
Femurkondylus nach vorne. Der laterale Femurkondylus rollt, und der mediale Kondylus gleitet
länger. Das unterschiedliche Bewegungsverhalten entspricht den Formunterschieden beider
Kondylen [5-38].

5.5.5 Belastung des Kniegelenks


Die Traglinie eines Beins wird durch die Verbindungslinie zwischen dem Zentrum des Hüft-
kopfes und der Mitte des Sprunggelenks gebildet. Bei einem normalen Bein verläuft diese Linie
in der Frontalebene auch zentral durch das Kniegelenk, so dass bei einer resultierenden Ge-
lenkkraft entlang der Traglinie beide Facetten des Gelenks zwischen Tibia und Femur gleich
stark belastet sind.
Beim aufrechten zweibeinigen Stand verlaufen die Traglinien der Beine vertikal. Die Wir-
kungslinie der Gewichtskraft des Körpers ohne die beiden Unterschenkel und Füße befindet
sich in der Frontalebene auf der Mittellinie zwischen den beiden Traglinien. Das bedeutet, dass
sich die Gewichtskraft auf beide Beine gleichmäßig verteilt und entlang der Traglinien wirkt, so
dass ein Kniegelenk ca. 43 % des Körpergewichts, d. h. die Hälfte des Teilkörpergewichts, trägt
[5-3].
Beim Stand auf einem Bein ist das zu tragende Teilkörpergewicht das Gewicht des Körpers
ohne den Unterschenkel und den Fuß des Standbeins. Wie in Bild 5-23 dargestellt, muss sich
aus Gleichgewichtsgründen der Schwerpunkt des Teilkörpergewichts über dem Sprunggelenk
bzw. dem Standfuß befinden. Dazu wird die Beintragachse in der Frontalebene zur lateralen
Seite geneigt. Da deshalb die Wirkungslinie der Teilkörpergewichtskraft auf der medialen Seite
des Knies verläuft, bewirkt diese Kraft ein Moment bezüglich des Kniegelenks. Aus Stabilitäts-
180 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

gründen muss eine zweite Kraft ein Moment auf das Kniegelenk ausüben, das dem Moment der
Teilgewichtskraft entgegenwirkt. Dieses Moment erzeugt der Tractus iliotibialis, der auf der
lateralen Beinseite vom Beckenrand über das Knie bis zum Tibiakopf verläuft. Dadurch wird
auch beim Einbeinstand eine zentrale Belastung des Kniegelenks, die etwa das Doppelte des
Körpergewichts beträgt, erreicht [5-35, 5-48]. Diese Zuggurtung des Oberschenkels durch den
Tractus iliotibialis reduziert zudem die Biegebelastung des Femurs.

a) c)
Teilkörpergewicht Teilkörpergewicht

Wirkungslinie des
Teilkörpergewichts
und der
Bodenreaktionskraft b)
Resultierende
Zugkraft Kniegelenkkraft
Wirkungslinie des Tractus
des Tractus iliotibialis
iliotibialis
Zugkraft
des Tractus Resultierende
iliotibialis Kniegelenkkraft

Bodenreaktionskraft Bodenreaktionskraft

Bild 5-23 Kräfte auf das Kniegelenk beim Einbeinstand


a) Gesamtdarstellung mit den Kraftwirkungslinien
b) Freischnitt des Unterschenkels
c) Freischnitt des Oberschenkels und der Hüfte

Bei gestrecktem Kniegelenk ist das Femoropatellargelenk nahezu unbelastet, deshalb ist die
Kniescheibe in dieser Stellung leicht zu verschieben. Das Femoropatellargelenk wird haupt-
sächlich bei gebeugtem Knie belastet. Durch den Muskelzug des vierköpfigen Schenkelstre-
ckers wird auch das Patellaband gespannt. Da bei gebeugtem Knie die Wirkungslinien der
Kräfte des Schenkelstreckers und des Patellabands voneinander abweichen, wird die Patella mit
der resultierenden Kraft, die sich aus den beiden Kräften ergibt, gegen das Femur gedrückt.
Aufgrund der schräg gestellten Gelenkfacetten stützt sich die Patella in der Nut zwischen den
beiden Femurkondylen ab. Durch diese knöcherne Führung ist die Patella bei gebeugtem Knie
sehr stabil gegen seitliche Kräfte. Durch den Bandapparat der Patella wird die Luxation der
Kniescheibe bei gestrecktem Knie verhindert [5-43].

5.5.6 Alternative Betrachtung der Biomechanik des Kniegelenks


Ein wichtiges Ziel biomechanischer Untersuchungen ist die Erarbeitung der prinzipiellen Vor-
gehensweise bei Finite Elemente Kontaktanalysen zur Bestimmung der Kontaktflächen und des
Kontaktdrucks in Gelenken insbesondere für das Kniegelenk, siehe z. B. Kapitel 6.7 und Kapi-
5.5 Aufbau und Funktionsweise des Kniegelenks 181

tel 6.8. Für statisch bestimmte und statisch überbestimmte Systeme muss bei einer Kontaktana-
lyse die Position der gelenkbildenden Knochen und die Ansatzstellen der Bänder für jede Beu-
gestellung a priori bekannt sein. Jedoch gibt es selbst in der einschlägigen Literatur keine aus-
reichenden Angaben über die genauen Positionen der einzelnen Knochen zueinander. Allge-
meine Angaben hierzu sind aufgrund der individuell verschiedenen Gelenkkonturen auch nicht
möglich. Eine bestimmte Knochen- und Bänderanordnung stellt jedoch eine Zwangsvorgabe
für die FE-Analyse dar, die unter Umständen nicht den physiologischen Gegebenheiten ent-
spricht. Um dieses Problem zu lösen, müssen für die FE-Analyse Randbedingungen entwickelt
werden, die ohne die genaue vorherige Kenntnis der Knochenstellungen zu sinnvollen Ergeb-
nissen bei der Kontaktanalyse führen.

5.5.6.1 Modell mit Pendelstützen


Die in Abschnitt 5.2.3 beschriebene Einteilung der Diarthrosen setzt voraus, dass die artikulie-
renden Gelenkflächen kongruent zueinander sind, d. h. dass die Krümmungsmittelpunkte und
die Rotationsachsen der Flächen zusammenfallen. Bei technischen Gelenken ist diese Voraus-
setzung erfüllt, während bei natürlichen Gelenken eine mehr oder minder große Inkongruenz zu
beobachten ist. In der Regel wird diese Inkongruenz vernachlässigt und die Gelenke werden
wie entsprechende technische Gelenke betrachtet. Für das Studium der Bewegungsmöglichkei-
ten des Gesamtkörpers ist diese Vereinfachung durchaus sinnvoll. Werden jedoch die Mecha-
nik eines Gelenks und insbesondere die Kraftübertragung in dem Gelenk isoliert untersucht,
kann diese Vereinfachung zu erheblichen Fehlern führen. Lediglich beim Knie wird aufgrund
der offensichtlichen Inkongruenz der Gelenkflächen des Femorotibialgelenks die spezielle
Form der Femurkondylen dadurch erklärt, dass Femur, Tibia und die beiden Kreuzbänder, wie
in Kapitel 5.5 beschrieben, eine zwangläufige, geschlossene Viergelenkkette bilden. NÄGERL
[5-44] schlägt vor, auch die Inkongruenz der übrigen Gelenke als funktionelles Prinzip zu be-
trachten.

Pendelstütze

Gelenkkontur 1

Gelenkkontur 2

Bild 5-24 Artikulierende Gelenkflächen als Pendelstützen

Dabei werden die Gelenke selbst und nicht nur der gelenkige Körper als kinematisch offene
bzw. geschlossene Ketten angesehen. Weil mit dieser Voraussetzung die Gelenkflächen an den
Berührungsstellen unterschiedliche Krümmungsradien aufweisen und außerdem die Reibung in
den Gelenken vernachlässigbar klein ist, ist die Wirkungslinie der über die Gelenkflächen über-
tragenen Kraft durch die Verbindungslinie zwischen den beiden Krümmungsmittelpunkten der
182 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

Gelenkflächen festgelegt. Die in Kontakt stehenden Gelenkflächen können als Pendelstützen


aufgefasst werden, die jedoch nur Druckkräfte übertragen. Pendelstützen sind in der Techni-
schen Mechanik masselose, starre Verbindungsteile zwischen zwei Gelenkpunkten, die nur
entlang der Verbindungslinie der Gelenkpunkte Kräfte übertragen können. Wie in Bild 5-24
dargestellt, sind die momentanen Krümmungsmittelpunkte der Gelenkflächen die Orte, wo sich
die Gelenke der Pendelstützen befinden. Mit Zwischengelenkscheiben wie Disken oder Menis-
ken wird die druckübertragende Fläche vergrößert und so Druckspitzen vermieden. Sie können
zwar den Abstand der Krümmungsmittelpunkte zueinander verändern, aber auf die Verbin-
dungslinie zwischen den Mittelpunkten und somit auf die Kraftwirkungslinie haben sie keinen
Einfluss. Bänder und Muskeln stellen Seile dar, können aber auch als Pendelstützen betrachtet
werden, die jedoch nur Zugkräfte übertragen, wobei die Ansatzstellen der Bänder oder Muskeln
den Gelenkpunkten entsprechen.

a) b)
Krümmungs- F
F F
mittelpunkt M2
der Kontur 2 Krümmungs-
mittelpunkt M1
der Kontur 1
Krümmungs- M2 M2
M1 M1 M1
mittelpunkt M1 M1
der Kontur 1
Kontur 1
Kontur 2
M2 M2
Krümmungs-
mittelpunkt M2
der Kontur 2
Bild 5-25 Mechanisches Verhalten verschiedener Gelenkkontaktstellen bei Druckbelastung
a) selbststabilisierende Anordnung
b) instabile Anordnung

Häufig besteht ein Gelenk aus einer konkaven Gelenkpfanne und einem konvexen Gelenkkopf,
wobei der Krümmungsradius des Kopfes kleiner ist als der der Pfanne wie z. B. beim medialen
Femorotibialgelenk. Das mechanische Verhalten dieser Gelenkkontaktstelle unter Druckbelas-
tung ist in Bild 5-25a dargestellt. Die Konturen richten sich automatisch so aus, dass die
Krümmungsmittelpunkte auf der Kraftwirkungslinie liegen. Das System ist druckstabil. Es gibt
aber auch Gelenkkontaktstellen, bei denen beide Knochenenden konvex gekrümmt sind. Auch
in diesem Fall können Druckkräfte übertragen werden, deren Wirkungslinien durch beide
Krümmungsmittelpunkte der Gelenkflächen gehen, Bild 5-25b. Das System ist jedoch druckin-
stabil. Es genügt eine geringfügige Störung, um das System aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Innerhalb des Bewegungsapparats sind also zusätzliche Einrichtungen notwendig, um auch bei
solchen Gelenkkontaktstellen eine stabile Übertragung von Druckkräften zu gewährleisten.

5.5.6.2 Knie als Viergelenkkette


Durch das Zusammenschalten mehrerer Scheiben und Pendelstützen entsteht ein Getriebe oder
ein Tragwerk. Auch die Mechanik des Knies in der Sagittalebene kann als eine Kombination
5.5 Aufbau und Funktionsweise des Kniegelenks 183

aus Scheiben und Pendelstützen betrachtet werden. Bei der Beschreibung der Kniekinematik
mit Hilfe einer geschlossenen Viergelenkkette [5-38, 5-41, 5-42] sind die Kreuzbänder Pendel-
stützen, die nur bei Zugbelastung ihre Funktion erfüllen. Damit die Kreuzbänder in jeder Stel-
lung gespannt sind, ist eine Führung durch die Gelenkflächen erforderlich. Die Form der Ge-
lenkflächen ist dergestalt, dass ein Femurkondylus die Hüllkurve der Tibiagelenkkontur dar-
stellt. Nur dadurch ist gewährleistet, dass die Gelenkflächen, ohne sich zu verhaken, ständig in
Kontakt sind und reibungsfrei ihre charakteristische Rollgleitbewegung ausführen können.
Dennoch ist dieses System instabil, d. h. es bewegt sich sobald Kräfte wirken. Eine stabile und
definierte Gelenkstellung, die für den Stand und die kontrollierte Fortbewegung notwendig ist,
erfordert einen entsprechenden Stellmechanismus. Dieser Stellmechanismus ist bei der Knie-
streckung der vierköpfige Schenkelstrecker, der eine feste Verbindung mit variabler Länge
zwischen Femur und Patella bildet. Er greift über die Patella und das Patellaband in die Mecha-
nik des Kniegelenks ein. Den entsprechenden Stellmechanismus für die mechanisch einfachere
Kniebeugung bilden die Kniebeugemuskeln. Im Folgenden wird nur der Kniestreckmechanis-
mus betrachtet, da die meisten physiologischen Belastungen wie Gehen, Laufen und Treppen-
steigen das Knie beugen und der Kniestreckmechanismus zur Erhaltung des statischen Gleich-
gewichts erforderlich ist.

Beugerichtung

Rastpolbahn

Femur
Gangpolbahn

Femurkondylenkontur Momentanpol
(Koppelhüllkurve der vorderes Kreuzband
Tibiakontur)

hinteres Kreuzband

Bild 5-26 Momentanpol, Polbahnen und Koppelhüllkurve der überschlagenen Viergelenkkette

Das entwickelte mechanische Modell des Kniegelenks in der Sagittalebene, das nachfolgend
dargestellt wird, besteht aus drei Scheiben und sechs Pendelstützen. Die Scheiben sind das
Femur, die Tibia und die Patella. Die Pendelstützen sind die Gelenkkontaktstellen zwischen
Femur und Tibia und zwischen Femur und Patella, das Patellaband, der Schenkelstrecker und
184 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

die beiden Kreuzbänder, Bild 5-27. Prinzipiell müssten auch die Seitenbänder bei diesem me-
chanischen Modell berücksichtigt werden. Häufig wird jedoch angenommen [5-2, 5-4], dass die
Seitenbänder nur bei gestrecktem Knie gespannt sind und die Überstreckung des Knies verhin-
dern. Während der Kniebeugung sind sie entspannt und begrenzen nur die Außen- bzw. Innen-
rotation, die in der Sagittalebene keine Rolle spielt, so dass die Seitenbänder bei dem mechani-
schen Modell für die Sagittalebene vernachlässigt werden können. Nach MENSCHIK [5-3, 5-
40, 5-41, 5-42] bilden zumindest die gespannten Teile der Seitenbänder in der Sagittalebene mit
Femur und Tibia eine zweite überschlagene Viergelenkkette, deren Kreuzungspunkt in jeder
Beugestellung mit dem Kreuzungspunkt der Viergelenkkette der Kreuzbänder zusammenfällt.
Der Kreuzungspunkt einer überschlagenen Viergelenkkette stellt den Momentanpol dar, um
den das bewegte System momentan eine reine Rotation ausführt, Bild 5-26. Die Bahn, die der
Momentanpol im ruhenden System beschreibt, ist die Rastpolbahn. Die Gangpolbahn ist die
Bahn des Momentanpols im bewegten System, die ohne zu gleiten auf der Rastpolbahn abrollt.
Demnach sind die Rast- und Gangpolbahnen beider Viergelenkketten identisch. Beide Systeme
sind mechanisch gleichwertig und wirken als Synergisten, so dass es auch mit dieser Deutung
der Funktion der Seitenbänder ausreicht, bei dem mechanischen Modell nur die Kreuzbänder zu
berücksichtigen.
Das Femur ist durch drei Pendelstützen mit der Tibia verbunden. Das sind die beiden Kreuz-
bänder und die Gelenkkontaktstelle. Aufgrund der Tatsache, dass ein Femurkondylus die Kop-
pelhüllkurve der Tibiagelenkkontur bei der Kniebewegung ist, stimmen bei jeder Beugestellung
an der Kontaktstelle die Normalen der Tibiakontur und der Femurkontur überein. Die Berüh-
rungsnormale ist, wie oben beschrieben, die Wirkungslinie der von der Gelenkpaarung über-
tragbaren Druckkraft. Ferner ist aus der Getriebelehre [5-45, 5-46] bekannt, dass Koppelhüll-
kurven und die Rastpolbahn Evolventen zu der gleichen Evolute sind. Die Evolute ist die Bahn
der Krümmungsmittelpunkte einer Kurve. Damit ist die Femurkontur eine vergrößerte Abbil-
dung der Rastpolbahn, Bild 5-26, wenn das Femursystem als ruhendes System betrachtet wird.
Ferner bedeutet das aber auch, dass der Schnittpunkt der beiden Kreuzbänder auf der Normalen
durch die Kontaktstelle zwischen Tibia- und Femurkontur liegt. Die Wirkungslinien der Kräfte
durch die drei Pendelstützen, die das Femur mit der Tibia verbinden, schneiden sich also in
einem Punkt. Obwohl drei mechanisch einwertige Bindungen zwischen Femur und Tibia beste-
hen, ist aufgrund dieser besonderen Anordnung die Bindung zwischen Femur und Tibia me-
chanisch nur zweiwertig. Dadurch ist die zwanglose Bewegung des Femorotibialgelenks ge-
währleistet, und es kann sich nicht allein aufgrund der Relativbewegung der beiden Knochen
zueinander verspannen. Die fiktive Gelenkstelle befindet sich im Schnittpunkt der drei Wir-
kungslinien, also im Schnittpunkt der Kreuzbänder bzw. dem Momentanpol. Jede Kraft durch
diese fiktive Gelenkstelle lässt sich zerlegen in eine Normalkraft und eine Tangentialkraft be-
züglich der Rastpolbahn bzw. der wahren Gelenkkontur an der Kontaktstelle. Die Tangential-
kraft wird von den beiden Kreuzbändern aufgenommen, wobei ein Kreuzband entlastet und ein
Kreuzband belastet wird. Hierzu ist eine Vorspannung der Kreuzbänder notwendig, da die
mechanische Funktionalität des entlasteten Kreuzbands nur solange gesichert ist, wie die vor-
handene Vorspannung ausreicht. Die Normalkraft wird aufgrund seiner höheren Drucksteifig-
keit im Vergleich zu den Kreuzbändern durch den knöchernen Kontakt übertragen, sofern es
sich um eine Druckkraft handelt. Ist die Normalkraft eine Zugkraft, wird sie in diesem Modell
zusätzlich zur Tangentialkraft durch die Kreuzbänder übertragen. Allerdings ist das mechani-
sche Modell nur gültig für äußere Belastungen, die das Knie beugen, so dass der letzte Fall hier
nicht relevant ist.
5.5 Aufbau und Funktionsweise des Kniegelenks 185

Die Patella ist durch zwei Pendelstützen, dem Schenkelstrecker und der Gelenkkontaktstelle,
mit dem Femur und durch eine Pendelstütze, dem Patellaband, mit der Tibia verbunden. Bei
physiologischen Belastungen des Kniegelenks wird die Patella nur durch innere Kräfte über die
drei Pendelstützen belastet. Aufgrund der Gleichgewichtsbedingung schneiden sich die drei
Richtungen der Pendelstützen immer in einem Punkt und bilden eine zentrale Kräftegruppe.
Dadurch ist die Patella dennoch nicht starr mit dem übrigen System verbunden. Selbst bei
gleichzeitiger fester Einspannung von Femur und Tibia besitzt sie eine infinitesimale Beweg-
lichkeit. Bei einer Belastung der Patella durch eine äußere Kraft, deren Wirkungslinie nicht
durch den Schnittpunkt der drei vorgebenen Kraftwirkungslinien geht, ist nur im verformten
Zustand Gleichgewicht möglich.

5.5.6.3 Ebene, mechanische Kniemodelle für die Sagittalebene


Das in Bild 5-27 dargestellte, mechanische System aus n = 3 masselosen Scheiben hat in der
Ebene f = 3n - (a + z) Freiheitsgrade. Eine äußerlich statisch bestimmte Lagerung wie z. B. eine
feste Einspannung des Femurs oder der Tibia oder eine einwertige Lagerung der Tibia bei

a) b) c)
Kraft im Femoro-
patellargelenk
Schenkelstrecker

aft
ban ella-
dkr

oro-
Pat

m F em
el en k
K r af t i
tibialg

Bodenreaktionskraft Kraftwirkungslinien

Bild 5-27 Mechanische Modelle des Kniegelenks in der Sagittalebene


a) Femorotibialgelenk mit drei Pendelstützen
b) Femorotibialgelenk als zweiwertiges Gelenk
c) Kräfteplan für das Kniegelenk

gleichzeitiger zweiwertiger Lagerung des Femurs, wie es in den ebenen FE-Modellen in Kapi-
tel 6.5 angenommen ist, liefert a = 3 Auflagerreaktionen. Für ein stabiles System muss die An-
186 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

zahl der Freiheitsgrade f  0 sein. Es sind also mindestens z = 6 zusätzliche Zwischenreaktio-


nen nötig. Obwohl bei dem hier entwickelten mechanischen Modell des Kniegelenks sechs
Pendelstützen vorhanden sind und somit scheinbar die notwendige Anzahl an Zwischenreaktio-
nen vorliegt, folgt daraus nicht die statische Bestimmtheit des Gesamtsystems. Wie im vorletz-
ten Absatz beschrieben, ist die Verbindung zwischen Femur und Tibia zweiwertig trotz der drei
Pendelstützen zwischen Femur und Tibia, so dass im Allgemeinen eine Bedingung zur Erfül-
lung der statischen Bestimmtheit fehlt. Das System besitzt formal einen Starrkörperfreiheits-
grad. Dieser Freiheitsgrad resultiert aus der im vorigen Absatz beschriebenen infinitesimalen
Beweglichkeit der Patella, die selbst bei zusätzlichen Auflagerreaktionen an Femur oder Tibia
nicht verschwindet. Dieser Freiheitsgrad tritt jedoch nur dann auf, wenn eine äußere Kraft di-
rekt an der Patella angreift und nicht durch den Schnittpunkt der Richtungen der drei Pendel-
stützen, die die Patella mit dem übrigen System verbinden, verläuft. Wie im vorigen Absatz
bereits erwähnt, bilden bei physiologischen Belastungen die drei inneren Kräfte in dem Teilsys-
tem der Patella eine zentrale Kräftegruppe. Die Momentengleichgewichtsbedingung um den
Schnittpunkt der drei Kräfte ist somit jederzeit identisch erfüllt, so dass die drei Auflager- und
die fünf Zwischenreaktionen statisch bestimmt sind. Das Modell ist stabil und statisch bestimmt
für alle Belastungen, die an dem Femur oder der Tibia angreifen. Der Kniebeugewinkel ändert
sich hauptsächlich mit der Länge des Schenkelstreckers. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass
bei der Kniebeugung die fiktive Gelenkstelle zwischen Femur und Tibia sich mit dem Momen-
tanpol verlagert und sich außerdem die Kontaktgeometrie zwischen Femur und Patella ändert,
so dass der Beugewinkel auch hiervon abhängt. Da nur der Kniestreckmechanismus berück-
sichtigt ist, gilt dies nur für Belastungen, die das Knie beugen.
NÄGERL [5-44] definiert ein mechanisches Modell, wie es in Bild 5-28 dargestellt ist. Das
Modell ist ähnlich zu dem Modell in Bild 5-27. Er berücksichtigt bei der Modellbildung nicht
die Kreuzbänder, so dass nur eine einwertige Verbindung zwischen Femur und Tibia besteht.
Zur Begründung für das Vernachlässigen der Kreuzbänder nimmt NÄGERL an, dass die Rela-
tivbewegung zwischen Femur und Tibia durch ein schaltläufiges Getriebe bestimmt ist. Je nach
Belastung wird ein Umschalten zwischen zwei Getriebearten postuliert, wobei jedes eine unab-
hängige Kinematik besitzt. Das eine Getriebe ist die Viergelenkkette infolge der Kreuzbänder,
das beim Baumeln des Unterschenkels im unbelasteten Zustand die Führung übernimmt. Das
andere Getriebe ist das System nach Bild 5-28, das bei Belastung maßgeblich ist. Wie oben
gezeigt, ist in der Sagittalebene die Verbindung zwischen Femur und Tibia trotz des Zusam-
menwirkens der beiden Kreuzbänder und des Kontakts zwischen Femur und Tibia mechanisch
zweiwertig und es ist jederzeit eine zwanglose Drehung der Tibia um das Femur möglich. So-
mit findet das postulierte Umschalten nicht statt, vielmehr wirken die Führung durch die
Kreuzbänder und der knöcherne Kontakt zwischen Femur und Tibia synergistisch. Diese Er-
kenntnis macht den wesentlichen Unterschied des in Kapitel 6.7 verwendeten Modells zu dem
Modell nach NÄGERL aus. Nach der Betrachtung von NÄGERL hat das Modell in Bild 5-28
zwei Starrkörperfreiheitsgrade. Um dennoch ein zwangläufiges System mit nur einem Frei-
heitsgrad zu erhalten, das seinem biomechanischen Prinzip der Diarthrosen entspricht, setzt er
voraus, dass die Pendelstütze für das Femoropatellargelenk bei der Kniebeuge ihre Orientie-
rung zu einem festen Bezugssystem nicht ändert und somit nur ein Freiheitsgrad erhalten bleibt.
Formal existieren zwar zwei Freiheitsgrade, da aber die Kräfte auf die Patella in der Regel eine
zentrale Kräftegruppe bilden, hat das Modell auch ohne diese Voraussetzung nur einen Frei-
heitsgrad.
5.5 Aufbau und Funktionsweise des Kniegelenks 187

Schenkelstrecker

Bodenreaktionskraft

Bild 5-28 Mechanisches Modell des Kniegelenks in der Sagittalebene ohne Kreuzbänder

Das System nach Bild 5-28 ist ein zwangläufiges Getriebe, das sich unter dem Einfluss von
Kräften bewegt, also prinzipiell ein statisch unbrauchbares System. Allerdings wird bei einer
statischen Belastung die Bewegung nur so weit stattfinden, bis sich die Pendelstützen ausge-
richtet haben und am verformten System wiederum Gleichgewicht zwischen äußeren und inne-
ren Kräften herrscht. Zwangläufigkeit bedeutet, dass durch die Vorgabe der Bewegung eines
Teilsystems die Bewegung des Gesamtsystems festgelegt ist. Somit ist die verformte, stabile
Geometrie, bei der Gleichgewicht eintritt, bei vorgegebener statischer Belastung eindeutig.
Diese ausgerichtete Anordnung des Systems existiert für alle Beugewinkel, ohne dass die
Kreuzbänder berücksichtigt werden müssen. Hierbei ist der Beugewinkel, ähnlich wie bei dem
statisch bestimmten System nach Bild 5-27, hauptsächlich mit der Länge des Schenkelstre-
ckers verknüpft.
Wie bei der Beschreibung des Zusammenwirkens der Kreuzbänder mit dem Kontakt zwischen
Femur und Tibia gezeigt, überträgt die Kontaktstelle die Normalkomponente der Gelenkkraft,
während die Tangentialkomponente von den Kreuzbändern übernommen wird. Das Entfernen
der Kreuzbänder aus dem mechanischen Modell ist gleichbedeutend damit, dass die Tangenti-
alkraft Null gesetzt wird. Im Stand und während des Gehens oder Laufens ist die Gelenkkraft
zwischen Tibia und Femur im Wesentlichen durch die Normalkomponente geprägt. Die Tan-
gentialkomponente ist vernachlässigbar klein und kann Null gesetzt werden. Mit der Annahme,
dass bei der Beugung des Knies unter Gewichtsbelastung das Femorotibialgelenk durch die
Kreuzbänder so geführt wird, dass die Gelenkkraft hauptsächlich durch die Normalkomponen-
te bestimmt ist, folgt ebenfalls, dass die Kreuzbänder quasi unbelastet sind. Sie sind dann,
ähnlich wie notwendige Nullstäbe in einem Fachwerk, nur für die Stabilität des Kniegelenks
zuständig und sorgen dafür, dass die Gelenkpartner sich auch bei dynamischer Belastung im-
mer in dieser optimalen Stellung befinden und kein Schwingen um die statische Ruhelage
188 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

stattfindet. Für die Annahme, dass die Kreuzbänder bei der Kniebeuge weitestgehend unbelas-
tet bleiben, spricht auch die Tatsache, dass der knöcherne Kontakt eine wesentlich höhere
Steifigkeit aufweist als die Kreuzbänder, d. h. die Kreuzbänder können sich bei Belastung
wesentlich mehr verformen als die Knochenkontaktstelle und lassen dadurch eine Ausrichtung
des Systems zu, so dass die Kreuzbänder entlastet und die Knochenkontaktstelle belastet wer-
den. Ein weiterer Hinweis für die Zulässigkeit der Annahme, dass die Kreuzbänder im stati-
schen Gleichgewicht nahezu unbelastet sind, ist die Beobachtung, dass Sportler mit einer gut
trainierten, kräftigen Beinmuskulatur auch ohne Kreuzbänder keine Laufprobleme haben.
Das in Bild 5-28 dargestellte Modell und die oben erläuterten Annahmen liefern die gesuchten
Randbedingungen für eine FE-Analyse, siehe Kapitel 6.7 und Kapitel 6.8, die ohne die genaue
vorherige Kenntnis der Knochenstellungen im Kniegelenk zu brauchbaren Ergebnissen bei der
Kontaktanalyse führt. Es ist lediglich eine ungefähre, aber dennoch sinnvolle Anordnung der
gelenkbildenden Knochen notwendig, da sich das System unter Last so ausrichtet, dass stabiles
Gleichgewicht herrscht. Bei der Ermittlung der Gelenkdruckspannungen ergibt sich die Stel-
lung der drei Knochen relativ zueinander als zusätzliches Ergebnis der geometrisch nichtlinea-
ren FE-Kontaktanalyse. Bei einer geometrisch nichtlinearen Analyse wird das Gleichgewicht
am verformten System ermittelt, was bei dem hier entwickelten Modell unbedingt erforderlich
ist. Mit den in Abschnitt Kapitel 6.7 und [5-47] beschriebenen ebenen FE-Simulationen wer-
den die Thesen auf ihre Gültigkeit überprüft und im Wesentlichen bestätigt.

5.5.6.4 Räumliches mechanisches Modell des Femorotibialgelenks in der Frontal-


ebene
Für die Entwicklung eines dreidimensionalen FE-Modells für das Kniegelenk muss zusätzlich
zur Mechanik in der Sagittalebene auch die Mechanik in der Frontal- und in der Transversal-
ebene betrachtet werden. Das dreidimensionale Modell wird für eine zentrische Druckbelas-
tung in der Frontalebene betrachtet, die in der Regel bei physiologischer Belastung auftritt. Die
Lastebene geht durch die Eminentia intercondylaris und teilt das Gelenk in einen lateralen und
einen medialen Bereich. Selbst beim Einbeinstand wird, wie in Kapitel 5.5 beschrieben, mit
Hilfe der aktiven Zuggurtung durch den Tractus iliotibialis eine zentrische Druckbelastung
erreicht. Der Tractus iliotibialis wird bei dem Modell nach Bild 5-29 nicht direkt berücksich-
tigt, da die zentrische Druckbelastung als Resultierende aus Gewichtsbelastung und Spannkraft
der Zuggurtung aufgefasst werden kann.
Bei der Kniebeugung gleitet die Patella in der Nut zwischen den beiden Femurkondylen und
wird dadurch seitlich geführt. Die Bewegung der Patella in der Frontal- und in der Transver-
salebene ist durch diese knöcherne Führung, den Schenkelstrecker und das Patellaband festge-
legt. Die Patella wird durch innere Kräfte belastet, die eine statisch bestimmte, zentrale Kräfte-
gruppe im Raum bilden.
Die Verbindung zwischen Femur und Tibia ist in der Frontalebene durch ein Zusammenwirken
von Kontaktflächen und Bändern geprägt. In dem mechanischen Modell des Femorotibialge-
lenks für die Frontalebene in Bild 5-29 bilden die laterale und die mediale Kontaktstelle zwi-
schen Femur und Tibia, dargestellt als Pendelstützen, eine Viergelenkkette. Diese Anordnung
hat einen Freiheitgrad. Sie stabilisiert sich automatisch bei zentrischer Druckbelastung und
überträgt die komplette Last. Die Seitenbänder verhindern insbesondere beim gestreckten Knie
ein Klaffen der Gelenkflächen durch unphysiologische Belastungen des Kniegelenks infolge
von Biegemomenten in der Frontalebene, die hier nicht betrachtet werden, so dass die Seiten-
bänder unbelastet bleiben. Die Kreuzbänder bilden nicht nur in der Sagittalebene, sondern
5.5 Aufbau und Funktionsweise des Kniegelenks 189

auch in der Frontalebene eine überschlagene Viergelenkkette. Sie führen auch in dieser Ebene
die Relativbewegung zwischen Femur und Tibia. Da aber jederzeit auch die Gelenkflächen in
Kontakt sind, stellen offensichtlich die beiden Femurgelenkflächen räumliche Hüllflächen der
bewegten Tibiagelenkflächen dar, die sich aus der dreidimensionalen Führung durch die
Kreuzbänder ergeben. Die Kreuzbänder sichern das Gelenk gegen eine Querverschiebung. Da
aber eine zentrische Druckbelastung vorliegt, die von den Kontaktstellen übertragen wird, sind
die Kreuzbänder in der Frontalebene unbelastet.

Krümmungsmittel-
Kraft im Femoro- punkte der Tibiakontur
tibialgelenk
Kraft im Femoro-
tibialgelenk
Knochen- Viergelenkkette
kontakt
Krümmungs-
Femurkontur
mittelpunkte
der Femurkontur
Kreuzband Tibiakontur

Seitenband

Bild 5-29 Mechanisches Modell des Femorotibialgelenks in der Frontalebene


a) Femorotibialgelenk mit Kreuz- und Seitenbänder
b) Femorotibialgelenk ohne Kreuz- und Seitenbänder

In der Transversalebene findet die Rotation des Kniegelenks um die Längsachse statt. Diese
Bewegungsmöglichkeit wird hier nicht gesondert betrachtet. Dennoch wird bei dem mechani-
schen Modell eine relative Rotation um die Längsachse zwischen Femur und Tibia zugelassen,
um eine Zwangsbedingung zu vermeiden, die das automatische Ausrichten der Gelenkflächen,
um den Gleichgewichtszustand zu erreichen, behindert. Auch bei dieser möglichen, passiven
Rotation um die Längsachse wird die zentrische Druckbelastung durch die Kontaktstellen
zwischen Femur und Tibia übertragen. Lediglich das Ausmaß der Bewegung wird hauptsäch-
lich durch die Seitenbänder und zu einem geringeren Teil durch die in der Transversalebene
umeinander geschlungenen Kreuzbänder begrenzt. Ansonsten bleiben die Bänder auch in der
Transversalebene unbelastet.
Mit der Voraussetzung, dass bei der physiologischen, zentrischen Druckbelastung sowohl die
Seiten- als auch die Kreuzbänder in allen drei Schnittebenen bei der Kniebeuge unbelastet
bleiben, können diese Bänder bei dem dreidimensionalen Modell vernachlässigt werden. Ana-
log zu dem ebenen Modell besteht das räumliche Modell des Kniegelenks nur aus Femur,
Tibia, Patella, Patellaband und Schenkelstrecker. Dadurch ist das Modell zunächst instabil,
d. h. Gleichgewicht ist nur im ausgerichteten Zustand möglich. Dieses System ist die gesuchte
Grundlage für das räumliche FE-Modell, das in Abschnitt Kapitel 6.8 vorgestellt wird. Ent-
sprechend dem ebenen FE-Modell ist auch hier nur eine ungefähre, wenn auch sinnvolle Aus-
gangsanordnung der gelenkbildenden Knochen notwendig, da neben den Gelenkdruckspan-
nungen auch die ausgerichtete Anordnung der Gelenkteile das Ergebnis einer geometrisch
nichtlinearen FE-Kontaktanalyse darstellt.
190 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

5.6 Anpassung des Bewegungsapparats an die mechanische Belas-


tung
Bei näherer Betrachtung der Knochen stellt man schnell fest, dass diese offensichtlich optimal
an ihre mechanische Funktion angepasst sind. Das wird bereits 1892 von WOLFF [5-30] pos-
tuliert. Ferner sind in diesem Zusammenhang insbesondere die grundlegenden Arbeiten über
die funktionelle Anpassung des Bewegungsapparats an die mechanische Belastung von ROUX
[5-31], PAUWELS [5-32, 5-33], KUMMER [5-34] und MAQUET [5-35] zu erwähnen. Das
Optimierungsziel ist scheinbar höchste Steifigkeit und Tragfähigkeit bei minimaler Masse.
Typische Leichtbauprinzipien, die heutzutage in der Technik angewendet und häufig Vorbil-
dern aus der Natur nachempfunden werden, sind bei den Knochen vorzufinden. Dazu gehören:
 Gestaltung der Lasteinleitung in die tragenden Elemente so, dass eine möglichst ho-
mogene Beanspruchung erfolgt und inhomogene Beanspruchungen durch Biegung
sowie Torsion minimiert werden
 Anpassung der Gestalt eines tragenden Elements an die typische Belastung
 Verwendung eines Werkstoffs mit geringer Dichte, hoher Steifigkeit und hoher Fes-
tigkeit
 Anpassung der Werkstoffeigenschaften an die lokale Beanspruchung, d. h. Verwen-
dung von anisotropen und inhomogenen Werkstoffen mit optimierten Steifigkeits-
und Festigkeitskennwerten in Richtung und an Stellen mit maximaler Beanspruchung.

5.6.1 Gestaltung der Lasteinleitung in die tragenden Elemente


Die tragenden Elemente des Bewegungsapparats sind die Knochen, die das Skelett bilden.
Diese werden im Wesentlichen durch das Eigengewicht des Körpers, durch äußere Kräfte, die
an den Kontaktstellen des Körpers zur Umgebung wirken, und innere Muskelkräfte belastet.
Dabei stellt z. B. auch das Heben einer Last eine Wechselwirkung mit der Umgebung dar.
Muskelkräfte sind erforderlich, wenn das Eigengewicht oder die äußeren Lasten, die auf den
Körper einwirken, ein Moment auf ein Gelenk ausüben und die daraus folgende Gelenkbewe-
gung verhindert oder gebremst werden soll. Außerdem sind Muskelkräfte notwendig, um eine
bestimmte Bewegung auszuführen. Ist der Körper in Ruhe, wie z. B. beim Sitzen oder Stehen,
wird in der Regel spontan eine Haltung eingenommen, bei der nur geringe oder keine Muskel-
kräfte erforderlich sind, um die jeweilige Körperstellung beizubehalten. Dabei werden die
Knochen durch das Eigengewicht oder die äußeren Kräfte oft wie Stäbe in einem Fachwerk
nur durch Zug- oder Druckkräfte belastet und dadurch gleichmäßig über den gesamten Quer-
schnitt beansprucht.
Typischerweise verlaufen die Muskeln seitlich entlang der Knochen und überspannen dabei
zumindest mit den Sehnen ein bis zwei Gelenke. Muskeln können nur Zugkräfte erzeugen und
rufen immer ein Moment in Form eines Kräftepaars auf die überspannten Gelenke hervor. Die
Kraft, die sich mit der Muskelkraft zu einem Kräftepaar ergänzt, ist eine innere Druckkraft
zwischen den Gelenkflächen der betroffenen Gelenke. Damit sichern die Muskelkräfte wäh-
rend der Bewegungsvorgänge aktiv den Zusammenhalt der Gelenkflächen und die Knochen
sind bei den Gelenkenden grundsätzlich momentfrei auf Druck belastet. Da die Bewegung in
einem Gelenk häufig durch mehrere Muskeln, die an verschiedenen Stellen an den Knochen
ansetzen, gleichzeitig gesteuert wird, kann zwar die tatsächlich wirkende Muskelkraft in den
einzelnen Muskeln mit den Prinzipien der Mechanik nicht eindeutig berechnet werden, weil
5.6 Anpassung des Bewegungsapparats an die mechanische Belastung 191

ein unbestimmtes System vorliegt, aber dadurch entlasten sich die Muskeln gegenseitig und
die Lasteinleitung wird auf verschiedene Stellen verteilt. Somit werden Beanspruchungsspitzen
vermieden und die Knochen gleichmäßiger belastet. Diese besondere Gestaltung der Lastein-
leitung in die Knochen lässt sich sehr gut beim Armskelett verdeutlichen. Wie Bild 5-30 zeigt,
wird beim Halten einer Last mit der Hand bei gebeugtem Arm die Streckbewegung, die durch
das Moment der Last im Ellenbogengelenk hervorgerufen werden würde, im Wesentlichen
durch das gleichzeitige Zusammenwirken von drei Muskeln verhindert. Diese sind der zwei-
köpfige Armmuskel (m. biceps brachii), der Armbeuger (m. brachialis) und der Oberarmspei-
chenmuskel (m. brachioradialis). Da der zweiköpfige Armmuskel nicht nur das Ellenbogenge-
lenk, sondern auch das Schultergelenk überspannt und die Belastung im gesamten Arm be-
trachtet werden soll, wird bei dieser Betrachtung auch der Deltamuskel (m. deltoideus) berück-
sichtigt, der zusätzlich die Bewegung im Schultergelenk verhindert.

Schulterblatt

Deltamuskel
Oberarmknochen
zweiköpfiger Armmuskel (m. biceps)

Armbeuger (m. brachialis)

Oberarmspeichenmuskel
Ellenbogengelenk

Unterarmknochen
F
1
U
2
3
4

Bild 5-30 Beteiligte Muskeln beim Halten einer Last bei gebeugtem Arm

Wie Bild 5-31 bis Bild 5-33 zeigen, könnte in der anatomischen Ebene, in der die Beugebewe-
gung des Ellenbogens stattfindet, das Strecken des Ellenbogengelenks theoretisch bereits mit
einem der drei Beugemuskeln verhindert werden. Für die Kontrolle der Bewegung im Schul-
tergelenk wird in allen Fällen der Deltamuskel benötigt. Wird jeweils nur ein Beugemuskel
betrachtet, ist das ebene System statisch bestimmt und es können sowohl die notwendigen
Muskelkräfte als auch die Biegemomente im Oberarmknochen sowie in den Unterarmknochen
eindeutig berechnet werden. Es werden die Biegemomente in den beteiligten Knochen betrach-
tet, weil Biegung, wie in Kapitel 3.3.3.3 gezeigt, eine lineare Spannungsverteilung im Kno-
chenquerschnitt hervorruft. Tritt Biegung auf, ist die Beanspruchung im Knochenquerschnitt
sehr ungleichmäßig mit hohen Randspannungsspitzen.
192 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

Bild 5-31 zeigt das mechanische Modell des Arms und den resultierenden Verlauf des Biege-
moments in den Armknochen, für den Fall, dass für das Halten einer Last F bei gebeugtem Arm
nur der zweiköpfige Armmuskel eingesetzt wird. Dieser Muskel überspannt sowohl das Ellen-
bogengelenk als auch das Schultergelenk und verläuft parallel zum Oberarmknochen, ohne
direkt an dem Oberarmknochen anzusetzen. Da die Drehung im Schultergelenk durch den Del-
tamuskel verhindert wird, tritt das maximale Biegemoment im Oberarmknochen dort auf, wo
die Wirkungslinie des Deltamuskels die Achse des Oberarmknochens schneidet. Wie der Wert
für das maximale Biegemoment im Oberarmknochen zeigt, wird durch die spezielle Anordnung
des zweiköpfigen Armmuskels, die in der Biomechanik als Zuggurtung [5-1, 5-3, 5-32, 5-33]
beschrieben wird, der Hebelarm l4 der Last F um die Länge lU des Unterarms verkürzt, so als
würde die Kraft F im Ellenbogengelenk angreifen. Durch die Zuggurtung des zweiköpfigen

Deltamuskel

zweiköpfiger Armmuskel
F·(l4 - lU)

F·l1
Bild 5-31 Biegemomentenverlauf beim Halten einer Last bei gebeugtem Arm mit dem zweiköpfigen
Armmuskel (m. biceps brachii)

Armmuskels wird das maximale Biegemoment im Oberarmknochen minimiert. Wird der Arm
im Ellenbogengelenk rechtwinklig gebeugt, ist der Hebelarm l4 der Last F gleich der Länge lU
des Unterarms und das Biegemoment im Oberarmknochen Null. Die Kraft des zweiköpfigen
Armmuskels, die entsprechend der Hebelverhältnisse des Muskels und der Last F zum Ellen-
bogengelenk ein Vielfaches der Last F erreicht, ruft im Oberarmknochen im Wesentlichen eine
Druckbelastung hervor, die beim Ellenbogengelenk und beim Schultergelenk in den Knochen
eingeleitet wird. Dadurch wird der Knochen über den gesamten Querschnitt gleichmäßig bean-
sprucht und ein Öffnen der Gelenkflächen durch die äußere Last F vermieden. Im Schulterge-
lenk wird dieser gelenkstabilisierende Effekt noch durch die Wirkung des Deltamuskels ver-
stärkt. Da jedoch der zweiköpfige Armmuskel nahe beim Ellenbogengelenk an den Unterarm-
knochen ansetzt, ist der Hebelarm l1 der Last F bis zur Ansatzstelle des Muskels recht groß, so
dass das maximale Biegemoment bei alleinigem Einsatz des zweiköpfigen Armmuskels in den
Unterarmknochen große Werte annimmt.
5.6 Anpassung des Bewegungsapparats an die mechanische Belastung 193

Deltamuskel

F·l4

Oberarmspeichenmuskel

F·l2 0
F

Bild 5-32 Biegemomentenverlauf beim Halten einer Last bei gebeugtem Arm mit dem Oberarmspei-
chenmuskel (m. brachioradialis)

In Bild 5-32 ist das mechanische Modell des Arms und der Verlauf des Biegemoments darge-
stellt, wenn für das Halten einer Last F bei gebeugtem Arm nur der Oberarmspeichenmuskel
eingesetzt wird. Bei diesem Modell ist vereinfachend angenommen, dass die Last F bei der
Schnittstelle der Wirkungslinie der Kraft des Oberarmspeichenmuskels mit der Achse der Un-
terarmknochen angreift. Der Muskel verläuft nahezu parallel zu den Unterarmknochen und hat
seinen Ursprung in der Nähe des Ellenbogengelenks am Oberarmknochen. In diesem Fall erfah-
ren die Unterarmknochen ausschließlich eine Druckbelastung und das Biegemoment ist Null.
Der Oberarmspeichenmuskel bewirkt also die Zuggurtung für die Unterarmknochen. Bei dieser
Anordnung tritt dort, wo die Wirkungslinie des Deltamuskels die Achse des Oberarmknochens
schneidet, ein sehr hohes Biegemoment im Oberarmknochen auf, weil für das Biegemoment an
dieser Stelle der gesamte Hebelarm l4 der Last F maßgeblich ist. Dadurch ist im Deltamuskel
auch eine sehr hohe Kraft notwendig, um die Drehung im Schultergelenk zu vermeiden.
Das mechanische Modell des Arms und der Verlauf des Biegemoments in den Armknochen ist
in Bild 5-33 für den Fall dargestellt, dass für das Halten einer Last F bei gebeugtem Arm nur der
Armbeuger eingesetzt wird. Da der Armbeuger bei den Unterarmknochen in der betrachteten
Ebene etwa bei der gleichen Stelle an den Unterarmknochen ansetzt wie beim ersten Modell der
zweiköpfige Armmuskel, ist in beiden Fällen das maximale Biegemoment in den Unterarmkno-
chen gleich groß. Weil der Ursprung des Armbeugers sich entlang des Schafts des Oberarmkno-
chens befindet, tritt auch bei dieser Anordnung dort, wo die Wirkungslinie des Deltamuskels die
Achse des Oberarmknochens schneidet, das gleiche sehr hohe Biegemoment im Oberarmkno-
chen wie bei dem zweiten Modell, bei dem nur der Oberarmspeichenmuskel betracht wird, auf.
Der Armbeuger verläuft bis zu seiner Ursprungstelle am Oberarmknochen im Wesentlichen
parallel zum Oberarmknochen und bewirkt längs dieses Abschnitts eine Zuggurtung für den
Oberarmknochen. Außerdem ruft die Zugkraft des Armbeugers eine Druckkraft im Ellenbogen-
gelenk hervor und unterstützt damit die muskuläre Stabilisierung des Ellenbogengelenks.
194 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

Tatsächlich sind alle drei Muskeln gleichzeitig aktiv, um das Halten einer Last bei gebeugtem
Arm zu ermöglichen. Je nachdem welcher Anteil der gesamten Last von den einzelnen Mus-
keln gehalten wird, setzt sich auch die Biegebelastung in den Knochen aus den jeweiligen
Anteilen zusammen. Dadurch kann in allen beteiligten Knochen die ungünstige Biegebelas-
tung reduziert werden. Die Aufteilung der Gesamtlast ist jedoch nicht beliebig. Es ist zu be-
achten, dass bei den betrachteten Modellen nur die Ebene in der die Beugebewegung im Ellen-
bogen stattfindet dargestellt ist. Tatsächlich sind insbesondere der zweiköpfige Armmuskel
sowie der Oberarmspeichenmuskel nicht nur bei der Beugebewegung des Ellenbogens sondern
auch bei der Handwendebewegung beteiligt, so dass bei der Aufteilung der Last auf die ein-
zelnen Muskeln zu beachten ist, ob die Hand einwärts oder auswärts gedreht ist.

Deltamuskel

F·l4 Armbeuger
F·l3

F·l1
Bild 5-33 Biegemomentenverlauf beim Halten einer Last bei gebeugtem Arm mit dem Armbeuger (m.
brachialis)

Wie das betrachtete Beispiel zeigt, bewirkt der nahezu parallele Verlauf der Muskeln zu den
Schäften der Knochen grundsätzlich eine Zuggurtung durch die Muskelkraft. Dadurch werden
sowohl das überspannte Gelenk als auch die Knochenabschnitte zwischen den Muskelansatz-
satzstellen auf Druck belastet. In den Schäften der Knochen überlagern sich die dadurch verur-
sachten Druckspannungen mit den dort nicht ganz zu vermeidenden Biegespannungen und
reduzieren zumindest die durch die Biegung hervorgerufenen Zugspannungen. Bei den Ge-
lenkenden der Knochen treten ausschließlich Druckspannungen auf, weil bei den Gelenken das
Biegemoment in den Knochen grundsätzlich verschwindet, wodurch auch einseitige Beanspru-
chungen von Knorpelarealen herabgesetzt werden. Außerdem wird durch diese Muskelanord-
nung insbesondere bei den Gliedmaßen eine schlanke Form erreicht, die ein Optimum an Be-
weglichkeit erlaubt. Die Beweglichkeit wird auch dadurch sichergestellt, dass die Muskeln
eine ausreichende Länge aufweisen, um sich wirkungsvoll verkürzen zu können. Damit verlau-
fen die Muskeln über lange Strecken entlang der Knochen und bewirken eine effektive Zug-
gurtung.
5.6 Anpassung des Bewegungsapparats an die mechanische Belastung 195

Die Muskelkräfte werden bei den Sehnenansatzstellen in die Knochen übertragen. Die Gestalt
der Anbindung der Muskeln an die Knochen hängt insbesondere von der Änderung des An-
satzwinkels der Sehne zum Knochenschaft während der Gelenkbewegung ab. Bei geringen
Winkeländerungen setzt der Muskel meist fleischig über größere Bereiche, die relativ weit von
dem zu bewegenden Gelenk entfernt sind, am Knochenschaft an. Stellen mit großen Winke-
länderungen sind gelenknah angeordnet und die Anbindung erfolgt lokal begrenzt mit schlan-
ken

a)

b)
kollagene Fibrille

freie unverkalkter verkalkter Knochen


Sehne Knorpel Knorpel
Bild 5-34 Darstellung der Sehnenansatzzone, nach [5-36]
a) in Ruhe
b) unter Zug
Sehnen. Diese unterschiedliche Gestaltung der Muskelanbindung ist beim Armbeuger (m.
brachialis, Bild 5-30) zu beobachten. Durch die fleischige Anbindung des Armbeugers beim
Oberarmknochen wird dort die Muskelkraft gleichmäßig eingeleitet und Belastungsspitzen
werden vermieden. Die sehnige Anbindung des Armbeugers an der Elle hingegen bewirkt eine
Konzentration der Beanspruchung, zumal der Ansatzpunkt nur einen kurzen Hebelarm zum
Ellenbogengelenk aufweist, wodurch zwar für die Gelenkbewegung hohe Muskelkräfte erfor-
derlich sind, aber eine schnelle Beugebewegung ermöglicht wird. Hinzu kommt, dass sich trotz
annähernd gleich großer Zugfestigkeit von Sehnen und Knochen, der Elastizitätsmodul der
beiden Gewebearten um eine Zehnerpotenz unterscheidet. Die durch die lokal begrenzte
Lasteinleitung und den zusätzlichen Steifigkeitsunterschied hervorgerufene Beanspruchungs-
konzentration bei der Sehnenansatzstelle am Knochen wird minimiert, indem im Bereich der
Sehnenansatzzonen am Knochenrand mineralisierter Knorpel und mit zunehmender Entfer-
nung vom Knochen unmineralisierter Knorpel in die Sehnen eingelagert ist, Bild 5-34. Damit
wird ein kontinuierlicher Steifigkeitsübergang von den Sehnen zu den Knochen erreicht. Die
dadurch entstehenden Sehnenansatzzonen sind am Knochen deutlich zu erkennen. Sie werden
196 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

als Facies, Lineae, Cristae, Tuberositates und Tubercula bezeichnet, [5-3, 5-36]. Eine weitere
Sicherung der Kraftübertragung von den Muskeln auf das Skelett wird dadurch erreicht, dass
in der Ruhelage die Form der Sehnenfibrillen leicht wellenförmig ist. Deshalb entwickeln
Sehnen ihre volle Zugsteifigkeit erst, wenn sie bei Belastung gestreckt werden. Dadurch wird
ein abruptes Einsetzen der Muskelzugkräfte vermieden, Bild 5-34.
Außer bei den Sehnenansatzstellen werden auch bei den Gelenken Kräfte in die Knochen ein-
geleitet. Vergleicht man die natürlichen Gelenke mit technischen Gelenken, stellt man fest,
dass die natürlichen Gelenke Gleitlager sind, während in der Technik bei vergleichbaren Be-
wegungszuständen, wie sie beim menschlichen Bewegungsapparat auftreten, häufig Wälzlager
eingesetzt werden [5-48]. Der Nachteil technischer Gleitlager gegenüber Wälzlagern ist, dass
bei niedrigen Relativgeschwindigkeiten zwischen den Kontaktflächen, beim Anlaufen und
Auslaufen sowie bei pendelnder Bewegung und gleichzeitig hoher Druckbelastung, also typi-
schen Zuständen, wie sie beim menschlichen Bewegungsapparat auftreten, eine erhöhte Rei-
bung auftritt. Dieser Nachteil spielt bei gesunden Gelenken keine Rolle, weil, wie in Kapitel
5.2.3 beschrieben, durch die natürliche Gelenkschmiere, die Synovia, zusammen mit der glat-
ten Hyalinknorpelschicht ein nahezu reibungsfreies Gleiten zwischen den Gelenkflächen er-
reicht wird. Gleitlager sind einfacher aufgebaut, weil keine Wälzkörper vorhanden sind, und
haben dadurch auch einen kleineren Bauraum. Durch das Fehlen von Wälzkörpern werden
punkt- oder linienförmige Lastübertragungsstellen und damit Beanspruchungsspitzen, die nur
mit harten, stoßempfindlichen Oberflächen ertragen werden können, vermieden. Die Knochen-
enden, die entweder die Pfanne oder den Kopf eines Gelenks bilden, sind zur Vermeidung von
Druckspannungsspitzen mit einer 2 bis 5 mm dicken Schicht aus hyalinem Knorpel überzogen.
Der Gelenkknorpel ist nachgiebig und dadurch in der Lage kleinere Inkongruenzen zwischen
den Knochenenden auszugleichen, so dass sich die lastübertragenden Flächen vergrößern.
Außerdem wirkt der Knorpel aufgrund seines viskoelastischen Verhaltens stoßdämpfend. Die
gleichen mechanischen Funktionen erfüllen bei einigen Gelenken Menisken oder Disken aus
faserigem Knorpel, welche die Gelenkpfanne zur Vergrößerung der Gelenkfläche ergänzen.
Obwohl die Gelenkenden der Knochen zur Vergrößerung der lastübertragenden Flächen auf-
gedickt sind, weisen die Gelenke dennoch die für Gleitlager typische kompakte Bauweise auf.

5.6.2 Anpassung der Gestalt eines tragenden Elements an die typische Belastung
Die wesentlichen tragenden Elemente des Bewegungsapparats sind die Knochen. Viele Gestal-
tungsmerkmale der Knochen weisen darauf hin, dass diese offensichtlich natürliche Leichtbau-
strukturen darstellen. Durch das Zusammenwirken von Kräften, die von außen auf den Bewe-
gungsapparat einwirken, und Muskelkräften treten in den Knochenschäften neben den Normal-
und Querkräften Biege- und Torsionsmomente auf. Wie in Kapitel 3.3 gezeigt, werden durch
die Biege- und Torsionsmomente Spannungen hervorgerufen, die vom Schwerpunkt des Kno-
chenquerschnitts nach außen linear ansteigen. Entscheidend für die Höhe der maximalen
Spannungen eines derart belasteten Balkens sind bei gleicher Belastung die Größe des polaren
Widerstandsmoments WP bei Torsionsbelastung und des Widerstandsmoments WBy bei Biege-
belastung. Für die dabei auftretenden Verformungen sind bei Torsionsbelastung die Größe des
polaren Flächenträgheitsmoments IP und bei Biegebelastung die Größe des axialen Flächen-
trägheitsmoments Iy maßgeblich. Bei gleicher Belastung sind also die Spannungen umso klei-
ner, je größer die Widerstandsmomente und die Verformungen umso kleiner, je größer die
Flächenträgheitsmomente sind. Die Widerstandsmomente und die Flächenträgheitsmomente
sind bei gleicher Querschnittsfläche A umso größer, je weiter die Flächenanteile vom Schwer-
punkt der Querschnittsfläche entfernt sind. Bei Torsionsbelastung und bei Biegebelastung mit
5.6 Anpassung des Bewegungsapparats an die mechanische Belastung 197

wechselnder Biegeachse ist damit der kreisringförmige Querschnitt optimal. Außerdem sind
für jede beliebige Biegeachse die Widerstandsmomente WBy gleich sowie die Flächenträg-
heitsmomente Iy gleich. Da die Knochenschäfte nicht unwesentlich auch durch Drucknormal-
kräfte, die potentiell ein Knicken des Knochens hervorrufen können, belastet sind, ist der
Kreisringquerschnitt auch aus dieser Sicht optimal, weil die kritische Knicklast insbesondere
vom kleinsten Flächenträgheitsmoment Iy gegen Biegung abhängig ist.

5.6.2.1 Röhrenform als Optimalstruktur für den Knochenschaft


Bei einem kreisringförmigen Knochenquerschnitt mit Markkanal, Bild 5-35, nimmt bei kon-
stantem Außendurchmesser da mit zunehmendem Innendurchmesser di der Knochenquerschnitt

d 2  d i2
AK  π· a (5.27)
4
ab und der Querschnitt des Markkanals

d2
AM  π· i (5.28)
4
zu. Die Masse m eines Knochenschaftabschnitts mit der Länge l beträgt damit

m  l   K  AK   M  AM  
 l
4
  
  K  d a2  d i2   M  d i2  (5.29).

da
di

y
Knochenstruktur
Dichte ρ K

Markkanal
z Dichte ρ M
Bild 5-35 Abmessungen bei einem kreisringförmigen Knochenquerschnitt mit Markkanal

Hierbei ist  K  2,1 g / cm 3 die mittlere Dichte des kompakten Knochens und
 M  0,93 g / cm 3 die mittlere Dichte des Knochenmarks [5-49]. Verwendet man die Masse m0
eines Knochenabschnitts mit der Länge l und einem Vollquerschnitt mit dem Außendurchmes-
ser da als Bezugsmasse, lässt sich Gl. (5.29) auch in der Form

  d a2  l  d2  M  d i2      d2 
m  K 1 i   m0 1  1  M  i  (5.30)
4  d2  K  d a2    K  d 2 
 a  a 
bzw.
198 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

m    d i2 d i2
m  1  1  M   1  0,5571· (5.31)
m0  K  da
2
d a2

schreiben. Hierbei ist m die dimensionslose relative Masse des Knochenschaftabschnitts. Da


die Dichte des Knochenmarks kleiner ist als die Dichte des kompakten Knochens, nimmt mit
zunehmendem Innendurchmesser di die relative Masse m des Knochenabschnitts ab.
Bei der Betrachtung der Torsionssteifigkeit G·IP und der Biegesteifigkeit E·Iy des Knochenab-
schnitts kann der Beitrag des Knochenmarks vernachlässigt werden, weil das Knochenmark im
Vergleich zum Knochen nur eine geringe Steifigkeit hat. Da der Schubmodul G und der Elasti-
zitätsmodul E konstante Werkstoffkennwerte für den kompakten Knochen darstellen und nicht
von der Querschnittsform abhängig sind, reicht es aus, den Einfluss des Innendurchmessers di
auf die Flächenträgheitsmomente zu betrachten. Bei einem kreisringförmigen Querschnitt gilt
für das polare Flächenträgheitsmoment bei Torsion

  (d a4  d i4 )   d a4 
d4   d4 
IP   · 1  i   I P0 ·1  i  (5.32)
32 32  d a4   d4
 a


und für das Flächenträgheitsmoment bei Biegung

  (d a4  d i4 )   d a4 
d4  
  I ·1  d i
4 

Iy   · 1 i y0 (5.33).
64 64  d a4 

 d4
 a


Für die ertragbaren Torsions- und Biegemomente sind die Widerstandsmomente maßgeblich.
Auch hierbei kann der Beitrag des Knochenmarks vernachlässigt werden. Somit gilt bei Torsi-
on

2 I P 2 I P0  d i4   d4 
WP   · 1  WP0 ·1  i  (5.34)
da d a  d a4   d4
 a


und bei Biegung

2I y 2 I y0  d i4   4
WBy   ·1    W ·1  d i  (5.35).
By0 
da d a  d a4 
  da 
4

Mit dem Index Null sind hierbei die entsprechenden Größen für den Knochenschaft mit Voll-
querschnitt bezeichnet und man erhält mit Gleichung (5.32) bis Gleichung (5.35)

IP Iy W WBy d4
I   P   1 i (5.36).
I P0 I y0 WP0 WBy0 d a4

Das dimensionslose relative Flächenträgheitsmoment I beschreibt also wie die Steifigkeit


sowie die Tragfähigkeit mit zunehmendem Innendurchmesser di bezogen auf die Werte für den
Knochenschaft mit Vollquerschnitt abnehmen. Wie der Vergleich der Verläufe von m und I
in Abhängigkeit vom Durchmesserverhältnis di/da in Bild 5-36 zeigt, nimmt m zunächst stär-
ker als I ab.
5.6 Anpassung des Bewegungsapparats an die mechanische Belastung 199

rel. Masse m, rel. Trägheitsmoment I, spez. Festigkeit f *


1,1
1
I = I/I0
0,9 f * = I/m

0,8
m = m/m 0
0,7
0,6

0,5
0,4
0,3
0,2
0,1
0
0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1
Durchmesserverhältnis d i /da
Bild 5-36 Verläufe der relativen Masse m , des relativen Flächenträgheitsmoments I und der spezifi-
schen Festigkeit bzw. Steifigkeit f* in Abhängigkeit vom Durchmesserverhältnis di/da bei ei-
nem Röhrenknochen

Betrachtet man das Verhältnis von I zu m erhält man die spezifische Steifigkeit bzw. Festig-
keit f*

d i4 d i4 d i4
1 1 1
d a4 d a4 d a4
f*   (5.37),
   d i2  0,93  d i2 d i2
1  1  M · 1  1  · 1  0,557·
 K  da
2
 2,1  d a2 d a2
die für das optimale Durchmesserverhältnis

di
 0,552 (5.38)
da opt

das Maximum
*
f max  1,093 (5.39)

erreicht. Die spezifische Festigkeit sowie die spezifische Steifigkeit des Knochenschafts sind
beim optimalen Innendurchmesser d i, opt  0,552d a um mehr als 9 % größer als beim Voll-
querschnitt. Der Kehrwert der maximalen spezifischen Festigkeit bzw. Steifigkeit

* 1
mmin   0,915 (5.40)
*
f max
200 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

ist die minimale spezifische Masse, die um rund 8,5 % kleiner ist als beim Vollquerschnitt.
Zu beachten ist, dass das optimale Durchmesserverhältnis vom Verhältnis der Dichte des Kno-
chenmarks zur Dichte des kompakten Knochens abhängt, Bild 5-37. Das bedeutet, dass Kno-
chenschäfte, die mit Knochenmark gefüllt sind, dickwandiger sein sollten als gasgefüllte Kno-
chenschäfte. Untersuchungen von CURREY und ALEXANDER [5-49] zeigen, dass markge-
füllte Röhrenknochen von Säugetieren ein durchschnittliches Durchmesserverhältnis von
di/da ≈ 0,55 und gasgefüllte Knochen, z. B. bei Vögeln, Werte bis di/da > 0,9 aufweisen. Der
mittlere Wert für Säugetierknochen entspricht damit recht genau dem optimalen Durchmesser-
verhältnis nach Gl. (5.38). Außerdem ist nach Bild 5-37 zu erwarten, dass bei gasgefüllten
Knochen, bei denen das Dichteverhältnis von Knochenmark zum kompakten Knochen sehr
kleine Werte annimmt, das Durchmesserverhältnis deutlich größere Werte erreicht. Für Ober-
schenkelknochen von Säugetieren geben CURREY und ALEXANDER einen durchschnittli-
chen Wert von di/da = 0,63 an. Dieser Wert ist zwar größer als das optimale Durchmesserver-
hältnis für markgefüllte Knochenschäfte, aber der Verlauf der spezifischen Festigkeit bzw.
Steifigkeit f* in Bild 5-36 zeigt, dass auch bei diesem Durchmesserverhältnis f* nur geringfügig
kleiner ist als das Maximum, so dass offensichtlich dennoch das gleiche Optimierungsziel wie
bei den übrigen Röhrenknochen zugrunde liegt.

1
optimales Durchmesserverhältnis d i /d a

0,9
0,8
0,7
0,6
0,5
0,4
0,3
0,2
0,1
0
0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1
Dichteverhältnis Knochenmark/Knochen ρM /ρ K
Bild 5-37 Optimales Durchmesserverhältnis di/da in Abhängigkeit von dem Dichteverhältnis M/K von
Knochenmark zum kompakten Knochen

Der Vergleich der Ergebnisse der theoretischen Betrachtungen für das optimale Durchmesser-
verhältnis di/da mit den Ergebnissen der Untersuchungen von CURREY und ALEXANDER [5-
49] untermauert die These, dass die Röhrenform der langen Knochen eine massen-, festigkeits-
und steifigkeitsoptimierte Anpassung der Knochenschäfte an die typische Belastung in diesem
Bereich darstellt. Die Tatsache, dass die minimale spezifische Masse nur um rund 8,5 % kleiner
ist als beim Vollquerschnitt, veranlasst PAUWELS [5-50], die minimale Masse als Optimie-
rungsziel in Zweifel zu ziehen. Er begründet die Ausbildung des Markkanals mit der Anpas-
sung des Knochens an die mechanische Beanspruchung infolge Torsions- und Biegebelastung
um wechselnde Achsen. Wären jedoch nur die lokalen Beanspruchungen entscheidend für die
Gestaltung des Markkanals und damit auch für das Durchmesserverhältnis di/da, dann müssten
5.6 Anpassung des Bewegungsapparats an die mechanische Belastung 201

unabhängig von der Befüllung des Knochenschafts mit Knochenmark oder mit Gas die Durch-
messerverhältnisse gleich sein. Außerdem führt die Anpassung der Gestalt tragender Elemente
einer Struktur an die mechanische Beanspruchung in der Regel zu einer Reduzierung der spezi-
fischen Masse, vorausgesetzt, dass das abgebaute Material nicht durch ein Material mit höherer
Dichte und verschwindender Tragfähigkeit bzw. Steifigkeit ersetzt wird.

5.6.2.2 Optimale Gestaltung der Knochenenden und der platten Knochen


Außer der Röhrenform eines langen Knochens ist ein weiteres Gestaltungsmerkmal der langen
Knochen, dass die Gelenkenden einen deutlich größeren Querschnitt aufweisen als der Schaft.
In diesem Bereich werden die Knochen ausschließlich durch Druckkräfte belastet, weil hier die
Gelenkkräfte eingeleitet werden und die Momente verschwinden. Die dadurch hervorgerufenen
Druckspannungen können nur durch genügend große Querschnittsflächen reduziert werden. Im
Gegensatz zum Schaft der Knochen, der auch durch Torsions- und Biegemomente belastet ist,
spielt hier die Form des Querschnitts keine Rolle, weil sich Druckspannungen gleichmäßig über
den gesamten Querschnitt verteilen. Durch den nachgiebigen, viskoelastischen, hyalinen Ge-
lenkknorpelüberzug ist gewährleistet, dass sich die gleichmäßige Druckspannungsverteilung
bereits im gelenknahen Bereich ausbildet. Auffällig ist, dass bei den Gelenkenden der feste
Knochenanteil bis auf eine dünne kortikale Deckschicht aus Spongiosa besteht, während nahe-
zu der gesamte Knochenschaft aus kompaktem Knochen aufgebaut ist. Dadurch sind die Kno-
chen in den gelenknahen Bereichen nachgiebig und tragen wie der Gelenkknorpel dazu bei,
Beanspruchungsspitzen insbesondere durch stoßartige Belastungen zu vermeiden. Außerdem
wird dadurch verhindert, dass der empfindliche, nachgiebige Gelenkknorpel zwischen zwei zu
steifen Knochenbereichen durch den Gelenkdruck zerstört wird. Eine vergleichbare Beanspru-
chungssituation tritt bei den kurzen Knochen auf, die im Innern komplett aus Spongiosa beste-
hen. Offensichtlich ist das Vorhandensein von Spongiosa in ausgedehnten Bereichen, wie den
gelenknahen Bereichen der langen und kurzen Röhrenknochen oder den gesamten inneren
Bereichen der kurzen Knochen, ein Indiz dafür, dass diese Bereiche bei physiologischer Belas-
tung ausschließlich durch Druck belastet sind.
Spongiosa tritt auch vermehrt bei den platten Knochen wie dem Becken und dem Schädel als
Zwischenschicht zwischen der inneren und der äußeren Deckschicht aus kompaktem Knochen
auf. Typischerweise erfahren platte Knochen Biegebelastungen. Dabei wird ähnlich wie bei der
Balkenbiegung, siehe Kapitel 3.3, die eine Oberfläche der Platte gezogen und die andere Ober-
fläche gestaucht, während die Spannungen in der Mittelfläche verschwinden. Damit könnte aus
Sicht der Beanspruchung auf die Knochensubstanz in der Zwischenschicht verzichtet werden.
Beim Schaft langer Knochen bildet sich daher der Markkanal aus. Allerdings müssen bei plat-
ten Knochen die beiden Deckschichten zumindest soweit miteinander verbunden sein, dass sie
sich bei Biegebelastung gemeinsam verformen. Diese notwendige kinematische Kopplung
erfolgt durch die spongiöse Zwischenschicht. Nur dadurch erhalten die platten Knochen ihre
notwendige Plattensteifigkeit. Je dicker die Zwischenschicht umso biegesteifer ist bei gleichen
Deckschichtdicken die Plattensteifigkeit der platten Knochen.
Die Hohlräume der Spongiosa sind mit rotem Knochenmark gefüllt. Da die Dichte der Spon-
giosa und des Knochenmarks nur etwa halb so groß sind wie die Dichte des kompakten Kno-
chens wird durch die Änderung der Knochenstruktur im gelenknahen Bereich der Röhrenkno-
chen sowie im gesamten Bereich der kurzen Knochen eine Querschnittszunahme und bei den
platten Knochen eine dickere Zwischenschicht ohne eine wesentliche Massenzunahme erreicht.
202 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

5.6.2.3 Optimierung der Knochengestalt durch Remodeling


Eine charakteristische Eigenschaft der Knochensubstanz ist die Fähigkeit, sich der mechani-
schen Beanspruchung anpassen zu können [5-1, 5-30 bis 5-33, 5-51], woraus eine span-
nungsoptimierte Geometrie des Knochenaufbaus und der Knochengestalt folgt, die prinzipiell
auch ein Minimum der spezifischen Masse zur Folge hat. Wie bereits in Kapitel 5.1.2 be-
schrieben, sind für die Adaption der Knochenform an die mechanische Beanspruchung die
knochenspezifischen Zellen verantwortlich. Die Osteoklasten sind in Lage, mineralisierte
Knochenmatrix abzubauen. Die Osteoblasten sind knochenbildende Zellen. Die Osteozyten
sind ehemalige Osteoblasten, die inzwischen gänzlich von mineralisierter Knochensubstanz
umgeben und über winzige Kanälchen mit ihren Fortsätzen untereinander verbunden sind. Es
wird angenommen, dass die Osteozyten mit Hilfe der Verbindungen untereinander in der Lage
sind, die Höhe der mechanischen Beanspruchung festzustellen und für die Regulierung der
Adaption der Knochen an die mechanische Beanspruchung verantwortlich sind.
Das Remodeling, d. h. der Umbau der Knochensubstanz durch die Knochenzellen, ist ein stän-
dig stattfindender Prozess. Dadurch werden beim erwachsenen Menschen jährlich ca. 10 % der
gesamten Knochenmasse umgebaut [5-52]. In den ersten beiden Lebensjahren eines Menschen
werden pro Jahr sogar bis zu 50 % der Kortikalis erneuert. Im Erwachsenalter beträgt die Um-
baurate ca. 2 bis 5 % für die Kortikalis und 5- bis 10-mal mehr für die Spongiosa. Die wesent-
lich höhere Umbaurate in der Spongiosa ist dadurch begründet, dass dieser Erneuerungspro-
zess von der relativen Größe der Oberfläche der Knochensubstanz abhängig ist [5-53]. Bleibt
die Beanspruchung dauerhaft konstant, sind Auf- und Abbau im Gleichgewicht. Wird die
Beanspruchung dauerhaft erhöht, überwiegt der Aufbau und die Knochensubstanz nimmt zu,
wird die Beanspruchung dauerhaft reduziert, wird Knochensubstanz abgebaut. Die Anpassung
der Knochenmasse nach einer Veränderung der Beanspruchung findet so lange statt, bis das
ursprüngliche Beanspruchungsniveau, bei dem Auf- und Abbau sich die Waage halten, wieder
erreicht ist. Da dieser ständige Umbauprozess von der lokalen Beanspruchung der Knochen-
substanz abhängig ist, findet im Laufe der Zeit eine optimierte Anpassung des lokalen Kno-
chenaufbaus an die mechanische Beanspruchung statt. Außerdem erfüllen die Knochen durch
den Umbauprozess ihre Aufgabe, den Mineralgehalt durch das Freisetzen bzw. Binden des
Calciums unter Hormoneinfluss zu regulieren (siehe Kapitel 5.1.1).
Bei wechselnden Belastungen, wie sie typischerweise beim menschlichen Bewegungsapparat
auftreten, sind, wie bei technischen Werkstoffen, Schädigungen des Knochengewebes bereits
bei Beanspruchungen weit unterhalb der Zugfestigkeit Rm bzw. der Streckgrenze Rp0,2 bzw. Re
unvermeidlich. Spannungsinduzierte Schädigungen sind bei technischen Werkstoffen häufig
die Initiierungsstellen von Ermüdungsrissen. Bei technischen Strukturen müssen zur Vermei-
dung von Ermüdungsrissen die Querschnitte ausreichend bemessen sein, womit in der Regel
die Masse der Struktur steigt. Beim Knochengewebe hingegen werden durch das Remodeling
beanspruchungsbedingte Schädigungen abgebaut und somit einer Materialermüdung vorge-
beugt sowie indirekt Masse gespart. Allerdings versagt die Regenerationsfähigkeit der Kno-
chen bei permanenter Überlastung, weil der Knochensubstanz die Zeit fehlt, durch Remodeling
die infolge der Überbelastung hervorgerufenen Schädigungen zu beseitigen. Hierbei kann ein
pathologischer Knochenabbau, die Osteolyse, einsetzen [5-1], weil für das Remodeling zusätz-
lich zunächst die geschädigte Knochensubstanz durch die Osteoklasten abgebaut werden muss.
Die Folge sind Ermüdungsbrüche oder Stressfrakturen, die inbesondere beim Mittelfußkno-
chen, bekannt als Marschfrakturen, und dem Schienbein auftreten [5-54].
5.6 Anpassung des Bewegungsapparats an die mechanische Belastung 203

5.6.2.4 Belastungsadaption der Bänder und Sehnen


Bänder und Sehnen, die wie die Knochen wesentliche kraftübertragende Elemente des Bewe-
gungsapparats sind, können sich ähnlich wie Knochen geänderten Belastungen anpassen. Al-
lerdings ist die Adaptionsgeschwindigkeit im Vergleich zu Knochen recht langsam. Bemer-
kenswert ist, dass Gleitsehnen im Umlenkbereich an die dort auftretende besondere Beanspru-
chung durch Zug in Längsrichtung und Druck quer zur Längsrichtung durch die lokale Einla-
gerung von Knorpelzellen strukturell angepasst sind [5-3]. Vielfach bilden sich dort Sesambei-
ne. Das sind Verknöcherungen der Sehne, die zum einen aus der hohen lokalen Beanspru-
chung resultieren und zum anderen die Hebelarme der angreifenden Muskelkräfte vergrößern.
Das größte Sesambein des menschlichen Bewegungsapparats ist die Patella, die beim Kniege-
lenk in die Sehne des vierköpfigen Schenkelbeinstreckers eingelagert ist.

5.6.3 Anpassung der Werkstoffeigenschaften an die lokale Beanspruchung


Ein wesentliches Leichtbaumerkmal technischer Strukturen ist die Verwendung eines Werk-
stoffs mit geringer Dichte, hoher Steifigkeit und hoher Festigkeit. Eine weitere Optimierungs-
möglichkeit besteht darin, die Werkstoffeigenschaften an die lokale Beanspruchung anzupas-
sen, d. h. Verwendung von anisotropen und inhomogenen Werkstoffen mit optimierten Stei-
figkeits- und Festigkeitskennwerten in Richtung und an Stellen mit maximaler Beanspruchung.
Die Dichte des kompakten Knochens entspricht mit  K  1,8  2,1 g / cm 3 der Dichte von
Magnesiumlegierungen sowie glasfaserverstärkten Kunststoffen (GFK), ist geringer als die
Dichte von Aluminiumlegierungen  Al  2,8 g/cm 3 und etwas größer als die Dichte von koh-
lefaserverstärkten Kunststoffen (CFK) mit  CFK  1,5 g/cm 3 , die typische, technische Leicht-
bauwerkstoffe darstellen. Der E-Modul des kompakten Knochens ist zwar geringer als der
E-Modul der genannten Leichtbauwerkstoffe, aber dennoch genügt die Steifigkeit der Kno-
chen den physiologischen Anforderungen. Außerdem werden, wie bereits in Kapitel 5.6.2
erwähnt, durch die angepasste Nachgiebigkeit des Knochengewebes Beanspruchungsspitzen,
insbesondere durch stoßartige Belastungen, vermieden.
Typisch ist die in Kapitel 5.1.7. beschriebene Orts- und Richtungsabhängigkeit der mechani-
schen Eigenschaften der Knochen. In hochbeanspruchten Knochen, wie z. B. der Tibia sind die
Festigkeitskennwerte am höchsten. Außerdem ist der E-Modul in Richtung des Schafts deut-
lich höher als quer zum Schaft. Diese ausgeprägte Richtungsabhängigkeit mit den größten
Werten in Richtung der größten Beanspruchung ist die Folge der inneren Struktur der Kortika-
lis, Bild 5-2, die geprägt ist durch die in Längsrichtung ausgerichteten Osteone. Die Osteone in
der Kortikalis entsprechen den Fasern eines Verbundwerkstoffs wie GFK oder CFK.
Dass die Knochen nicht komplett aus Kortikalis, sondern im Innern der gelenknahen Bereiche
und im gesamten Innern der kurzen Knochen aus Spongiosa bestehen, ist offensichtlich be-
dingt durch die Anpassung der Knocheneigenschaften an die lokale Beanspruchung. Zusam-
men mit den äußeren Lasten, den Muskelkräften sowie der mechanischen Gelenkbedingung,
die fordert, dass bei Gelenken die Momente verschwinden, erfahren die genannten Bereiche
der Knochen im Wesentlichen eine Druckbeanspruchung.
Wie bereits in Kapitel 5.6.2 erwähnt, können Druckbeanspruchungen bei gegebenen Belastun-
gen nur durch die Vergrößerung der Fläche des Lasteinleitungsbereichs bzw. der lastübertra-
genden Querschnittsfläche reduziert werden. Tatsächlich bestehen diese Knochenbereiche
nicht nur im Innern aus Spongiosa, womit die entsprechenden Querschnittsvergrößerungen mit
minimaler Massenzunahme möglich sind, sondern die feinen Knochenbälkchen oder Trabekel
204 5 Zusammenhang zwischen Aufbau und Funktion des Bewegungsapparats

der Spongiosa sind zusätzlich entlang der Spannungstrajektorien infolge der regelmäßigen
lokalen Beanspruchung des jeweiligen Knochenbereichs ausgerichtet [5-55]. Spannungstrajek-
torien geben die Richtung der mechanischen Hauptspannungen im Innern eines Bauteils an.
Der Beanspruchungszustand an einer beliebigen Stelle eines Bauteils ist charakterisiert mit den
lokal vorliegenden Spannungskomponenten, die je nach Wahl des Bezugskoordinatensystems
andere Werte annehmen. Grundsätzlich kann an jeder Stelle eines dreidimensionalen Bauteils
der Spannungszustand eindeutig mit den Hauptspannungen beschrieben werden. Die drei
Hauptspannungen stehen paarweise senkrecht aufeinander, d. h. die Spannungstrajektorien
bilden ein räumliches, orthogonales Netz. Die drei Hauptspannungsrichtungen stellen ein spe-
zielles Bezugskoordinatensystem dar, bei dem ausschließlich Normalspannungen also Zug-
oder Druckspannungen und keine Schubspannungen auftreten. Eine reine Normalspannungs-
beanspruchung zeichnet sich dadurch aus, dass, wie bei Stäben in einem Fachwerk, der gesam-
te tragende Querschnitt gleichmäßig genutzt wird. Der innere Aufbau der Spongiosa ist also
eine Struktur mit optimierter Beanspruchung und damit minimaler Masse.

Bild 5-38 Ausrichtung der Trabekel der Spongiosa im Bereich des Femurkopfes entlang der
Hauptspannungslinien

Die Ausrichtung der Trabekel der Spongiosa entlang der Spannungstrajektorien infolge einer
lokalen Druckbeanspruchung gilt nicht nur für die innere Struktur kurzer Knochen, wie den
Wirbelkörper eines Wirbelknochens, Bild 5-5, sondern insbesondere auch für das proximale
Ende des Femurs, Bild 5-38, wie Untersuchungen von KUMMER [5-55] und PAUWELS [5-
56] zeigen. Obwohl man auf den ersten Blick annehmen könnte, dass die Beanspruchung des
proximalen Femurs im Bereich des Oberschenkelhalses durch ein Biegemoment infolge des
Körpergewichts und damit insbesondere auch durch Zugspannungen beansprucht ist, treten im
Wesentlichen Druckspannungen auf. Wie Bild 5-38 zeigt, verläuft die resultierende Gelenk-
kraft R, die über die Gelenkkontaktfläche in Form einer Flächenlast in den Schenkelkopf ein-
geleitet wird, aufgrund der Gelenkbedingung mit ihrer Wirkungslinie durch den Mittelpunkt
des Schenkelkopfes, weil sich dort der Drehpunkt des Hüftgelenks befindet. Im weiteren Ver-
lauf münden die Trabekel der Spongiosa und damit auch die Druckspannungen infolge der
Literatur zu Kapitel 5 205

Gelenkkraft in den medialen Bereich des Knochenschafts, so dass die Gelenkkraft nahezu auf
direktem Weg in den Knochenschaft geleitet wird. Dies wird auch dadurch deutlich, dass die
kortikale Deckschicht hier wesentlich dicker ist als im lateralen Bereich und bis in den Ober-
schenkelhalsbereich hinaufzieht. Die zunächst erwartete Biegespannungsverteilung stellt sich
nicht ein, weil der Oberschenkelhals nicht die dafür notwendige Bedingung, nämlich, dass die
Gestalt eines langen schlanken Balkens vorliegt, erfüllt. Dafür, dass sich die entsprechend der
Balkentheorie typische Biegespannungsverteilung einstellen kann, ist der Oberschenkelhals zu
kurz. Die Lasteinleitungsstelle, d. h. die Gelenkoberfläche, sowie die Querschnittsänderung im
Bereich der Trochanter sind nicht weit genug voneinander entfernt, um den Oberschenkelhals
als eine typische Balkenstruktur betrachten zu können.

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6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

Die Finite-Elemente-Methode (FEM) ist ein numerisches Näherungsverfahren. Die Grundidee


der FEM ist es, ein komplexes Gebiet, für das die Lösung von Differentialgleichungssystemen
gesucht ist, in endlich viele, kleinere und einfachere Teilgebiete, die so genannten finiten Ele-
mente, zu zerlegen. Für die einzelnen Elemente wird eine Ansatzfunktion für die gesuchte
Feldgröße, z. B. die Verschiebung, aufgestellt. Die Näherungsfunktion für das Gesamtgebiet
setzt sich zusammen aus den Funktionen der Teilgebiete. Mit Hilfe einer Extremalbedingung
für das Gesamtgebiet, z. B. bei mechanischen Aufgabenstellungen dem Minimum des elasti-
schen Gesamtpotentials, erhält man ein im Allgemeinen großes lineares, algebraisches Glei-
chungssystem zur Bestimmung der unbekannten Koeffizienten der Ansatzfunktionen. Daraus
lassen sich für komplexe Strukturen Verschiebungen, Verzerrungen und Spannungen ermit-
teln. Ein strukturmechanisches Problem ist auch bei biomechanischen Untersuchungen des
Bewegungsapparats gegeben.

6.1 Prinzipielles Vorgehen bei Finite-Elemente-Berechnungen


Der erste Schritt einer jeden FE-Analyse ist die Modellbildung. Dazu wird von der realen
Struktur zunächst ein mechanisches Modell erstellt, welches dann als Finite-Elemente-Modell
abgebildet wird. Dieser erste Schritt ist maßgeblich für den möglichen Erfolg oder Misserfolg
der FE-Analyse, denn die Gültigkeit einer FE-Analyse hängt entscheidend von der Güte der
mechanischen Modellbildung ab.

a)

b)

Bild 6-1 Beispiele für Finite-Elemente für die Berechnung strukturmechanischer Probleme
a) Ein-, zwei- und dreidimensionale Elemente mit Eckknoten und linearem Verschiebungs-
ansatz
b) Elemente mit Eck- und Mittelknoten und quadratischem Verschiebungsansatz

Im zweiten Schritt, der üblicherweise mit Hilfe von speziellen Programmen, den so genannten
Preprozessoren, durchgeführt wird, erfolgt die Zerlegung des zu untersuchenden Gesamtge-
biets in finite Elemente. Dazu stehen ein-, zwei- und dreidimensionale Elemente zur Verfü-
gung. Die Geometrie der Elemente wird hauptsächlich durch die Knoten definiert, die auf den
Elementecken bzw. Elementkanten liegen. Die einfachsten Elemente sind solche mit geraden
Elementkanten, Bild 6-1a. Im eindimensionalen Fall ist das Element eine Gerade mit je einem

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
H. A. Richard und G. Kullmer, Biomechanik,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-28333-9_6
210 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

Knoten an den Enden. Im zweidimensionalen Fall sind das drei- oder viereckige Elemente mit
je einem Knoten in jeder Ecke. Im dreidimensionalen Fall sind das Tetraeder- oder Hexae-
derelemente mit vier bzw. acht Knoten, je einem in jeder Ecke. Für diese Elemente kann ein
linearer Ansatz für die primären Unbekannten, die Verschiebungsgrößen, aufgestellt werden.
Das bedeutet, dass die sekundären Unbekannten, z. B. die Dehnungen und Spannungen, auf
dem durch das finite Element festgelegten Teilgebiet nur als konstante Größen berechnet wer-
den. Nimmt man bei all diesen Elementtypen noch einen Mittelknoten auf allen Elementkanten
zwischen den Eckknoten hinzu, dann können die Elementkanten gekrümmt sein und es ist ein
quadratischer Verschiebungsansatz möglich, Bild 6-1b. In diesem Fall ergibt sich für die Deh-
nungen und die Spannungen innerhalb des Elements ein linearer Verlauf und die Genauigkeit,
mit der das FE-Modell die Lösung des mechanischen Modells beschreibt, wird erhöht. Bei
dem im Folgenden verwendeten FE-Programm ABAQUSTM [6-1] stehen Elemente mit linea-
rem und mit quadratischem Verschiebungsansatz zur Verfügung. Die Genauigkeit, mit der das
FE-Modell die Lösung für das mechanische Modell beschreibt, ist auch abhängig von der
Dichte der Elementeinteilung. Grundsätzlich gilt, dass mit höherer Elementdichte die Genau-
igkeit zunimmt.
Der dritte Schritt ist die Berücksichtigung der Randbedingungen. Hierbei werden die kinema-
tischen Randbedingungen (z. B. die Verschiebungsrandbedingungen) und die statischen Rand-
bedingungen (d. h. die äußeren Belastungen), die bei der Erstellung des mechanischen Modells
festgelegt wurden, in das FE-Modell integriert. Die kinematischen Randbedingungen werden
den entsprechenden Knoten zugeordnet. Die Verschiebungen und Verdrehungen können durch
absolute Werte vorgegeben oder Freiheitsgrade verschiedener Knoten können untereinander
gekoppelt werden. Die Belastungsrandbedingungen werden je nach Typ den Knoten, den Ele-
mentoberflächen oder dem Elementvolumen zugeordnet. Zu den Randbedingungen gehört
auch die Berücksichtigung von Kontaktstellen zwischen verschiedenen Teilkörpern. An diesen
Stellen werden Kräfte übertragen und die Relativbewegungen der Teilkörper untereinander
festgelegt.
Im vierten Schritt wird die eigentliche FE-Analyse durchgeführt. Das lineare, algebraische
Gleichungssystem für die Knotenpunktverschiebungen wird unter Berücksichtigung der Rand-
bedingungen numerisch gelöst. Dieser Schritt läuft bei allen handelsüblichen FE-Programmen
automatisch ab.
Der fünfte Schritt ist die Ausgabe und die Darstellung der Ergebnisse. Hierbei werden von dem
FE-Programm zusätzlich die sekundären Unbekannten wie z. B. die Verzerrungen und Span-
nungen berechnet. Die relevanten Ergebnisse können mit Hilfe von speziellen Programmen,
den so genannten Postprozessoren, graphisch dargestellt werden.
Der sechste und letzte Schritt ist gekennzeichnet durch die kritische Auswertung und Überprü-
fung der Ergebnisse. Hier wird entschieden, ob das Ergebnis der FE-Analyse ausreichend ist
oder ob Korrekturen am mechanischen Modell bzw. am FE-Modell notwendig sind. Bei der
Auswertung von FE-Analysen für den menschlichen Bewegungsapparat ist sowohl technischer
als auch medizinischer Sachverstand nötig, so dass bei diesem Schritt eine Zusammenarbeit
zwischen Ingenieuren und Ärzten unbedingt erforderlich ist.

6.2 Modellerstellung und Festlegung der Randbedingungen


Die Modellerstellung und die Festlegung der Randbedingungen sind bei der Durchführung von
FE-Analysen für den menschlichen Bewegungsapparat äußerst schwierig und bergen die größ-
6.3 Modellierung der Materialkennwerte 211

ten Fehlerrisiken. Äußere Kräfte wie das Körpergewicht, das Gewicht einzelner Körperteile,
das Gewicht von Traglasten oder die Bedienungskräfte von Maschinen und Geräten können
relativ leicht ermittelt werden. Kräfte, die der menschliche Körper auf die Umgebung ausübt
wie Bodenkräfte beim Stehen, Gehen, Laufen oder Treppensteigen, deren Reaktionskräfte
aufgrund des dritten NEWTONschen Axioms, siehe Kapitel 2.1.3.3, können mit speziellen
Messplatten nach Größe und Richtung ermittelt werden. Unbekannt sind jedoch die inneren
Kräfte und insbesondere die Muskelkräfte, die notwendig sind, um auch bei äußerer Belastung
eine bestimmte Körperhaltung aufrechtzuerhalten. Da vielfach mehrere Muskeln synergistisch
wirken und gleiche Aufgaben erfüllen, versagen die Methoden der Statik, da in der Regel sta-
tisch unbestimmte Systeme vorliegen. Es ist nicht bekannt, nach welchen Gesichtspunkten sich
die Last auf die synergistisch wirkenden Muskeln verteilt. Außerdem ist die Lastverteilung auf
die verschiedenen Muskeln individuell unterschiedlich. Da Muskeln in der Lage sind, ihre
Länge und damit im Prinzip auch ihre Steifigkeit aktiv zu ändern, helfen auch die Methoden
der Elastostatik bzw. Festigkeitslehre hier nicht weiter. Um dennoch zu Ergebnissen für die
Beanspruchungen des Bewegungsapparats zu gelangen, werden auf der Basis vereinfachender
Annahmen mechanische Modelle für die verschiedenen Funktionseinheiten des Körpers aufge-
stellt. Klassische Beispiele hierfür stammen von PAUWELS [6-2, 6-3], der grundlegende
mechanische Modelle für die gesunde und die kranke Hüfte aufgestellt hat und von MAQUET
[6-4], der entsprechende Modelle für das Kniegelenk entwickelt hat, welche die Grundlage
vieler FE-Analysen bilden. Auch die in Kapitel 5.5 vorgestellten Modelle sind Beispiele für
diese Vorgehensweise. Aber nicht nur die Höhe der Muskelkräfte, sondern auch die richtige
Ansatzstelle und die Wirkungsrichtung sind häufig nur ungenau bekannt und individuell ver-
schieden. Zur Lösung dieses Problems sind daher anatomische Kenntnisse erforderlich und die
Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Ingenieuren sinnvoll.
Für die Erstellung übersichtlicher Modelle ist es erforderlich, mechanische Funktionseinheiten
des Bewegungsapparats zu definieren. Das ist relevant für die Erstellung der mechanischen
Modelle und der FE-Modelle.
Komplexere Modelle sind erforderlich, wenn das mechanische Verhalten einer größeren Funk-
tionseinheit, zu der ein oder mehrere Gelenke gehören, untersucht werden soll oder wenn die
Kontaktflächen und die Kontaktdrücke in Gelenken zu bestimmen sind. Beim FE-Modell müs-
sen dann alle zum Gelenk gehörigen Knochen modelliert und Kontaktbedingungen definiert
werden. Das Zusammenwirken mehrerer Knochen in den Gelenken ist ein weiteres Problem.
Bei der Modellierung von Teilen des menschlichen Bewegungsapparats handelt es sich in den
meisten Fällen um ein dreidimensionales Problem. Um ein FE-Netz für Knochen erstellen zu
können, wird zunächst die Knochengeometrie benötigt. Welche Möglichkeiten es gibt, die
dreidimensionale Knochenstruktur zu ermitteln, wird in Kapitel 6.4 näher diskutiert.

6.3 Modellierung der Materialkennwerte


Im Gegensatz zu den meisten technischen Anwendungen, bei denen zumindest innerhalb be-
stimmter Bereiche die Materialkennwerte einheitlich sind, ändert sich das Materialverhalten
der Knochen von Ort zu Ort und ist außerdem nur transversal isotrop oder gar anisotrop. Wie
Untersuchungen verschiedener Wissenschaftler gezeigt haben, ist es für die Modellierung des
Schafts (Diaphyse) langer Knochen zulässig, transversale Isotropie vorauszusetzen [6-5]. Da
die physiologischen Beanspruchungen im Schaft der Knochen hauptsächlich aus Normalspan-
nungen infolge von Druck-, Zug- oder Biegebelastungen bestehen, reicht es sogar aus, isotro-
212 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

pes Materialverhalten vorauszusetzen und die Materialkennwerte für die axiale Richtung (E3
und ν31 = ν32, siehe Tabelle 5-1 in Kapitel 5.1.7.1) zu verwenden. Die Materialkennwerte für
die transversale Richtung treten bei dieser Art der Beanspruchung nicht in Erscheinung. Die
Berücksichtigung der Richtungsabhängigkeit der Spongiosa gestaltet sich als noch schwieri-
ger, da sie von der Orientierung der Knochenbälkchen abhängig und individuell verschieden
ist. Aber auch hier sollte es ausreichend sein, isotropes Materialverhalten vorauszusetzen.
Unbedingt erforderlich für eine hinreichend genaue FE-Analyse ist jedoch die Berücksichti-
gung der Inhomogenität der Materialkennwerte. Weil nach [6-6] (siehe auch Kapitel 5.1.7.4)
die Verteilung des E-Moduls direkt mit der Dichteverteilung gekoppelt ist, kann jedem Ele-
ment ein eigener E-Modul zugewiesen werden, wenn die Dichteverteilung z. B. in Form von
Computertomographiedaten bekannt ist.

6.4 Erstellung von FE-Netzen aus CT-Daten


Mit der FE-Methode können für beliebige Teile des Bewegungsapparats verschiedene Belas-
tungs- und Schädigungssituationen numerisch simuliert werden. Ferner ist es möglich, die
Änderung der Beanspruchungsverhältnisse im Knochen durch den Einsatz von Implantaten
oder Prothesen zu untersuchen und diese Heilungshilfen individuell anzupassen. Zur Erstel-
lung von FE-Netzen muss die Geometrie des zu vernetzenden Gebiets bekannt sein. Bei den
meisten technischen Anwendungen liegen die Abmessungen in Form von technischen Zeich-
nungen oder CAD-Daten vor. Bei der Untersuchung von Knochen müssen andere Methoden
angewendet werden. Eine mögliche Methode wäre, die Randkonturen eines Knochens mit
einer 3D-Messmaschine auszumessen. Jedoch ist nicht nur die äußere Gestalt eines Knochens
für die Erstellung eines dreidimensionalen FE-Modells ausreichend, sondern auch der innere
Aufbau des Knochens spielt eine erhebliche Rolle, zumal die innere Struktur die lokale me-
chanische Steifigkeit des Knochens wesentlich beeinflusst. Gerade in den gelenknahen Berei-
chen, in denen die Endoprothesen eingesetzt werden, weist der Knochen nur eine dünne Korti-
kalisschicht auf und besteht im Inneren aus Spongiosa. Im Schaft ist die Kortikalis wesentlich
dicker und im Inneren befindet sich der Markkanal.
Zur Ermittlung der äußeren und inneren Kontur der Knochen bieten sich Computertomogra-
phiedaten (CT-Daten) an. Um die Knochengeometrie zu erhalten, werden aus CT-Daten die
Konturen der zu untersuchenden Körperteile herausgefiltert. CT-Daten fallen vielfach bereits
bei den notwendigen medizinischen Untersuchungen des Patienten an. Sie beinhalten nicht nur
Informationen bezüglich der Geometrie, sondern auch bezüglich der Steifigkeitsverteilung von
Knochen, da CT-Daten ein Abbild der Dichteverteilung im Körperquerschnitt darstellen und,
wie in Kapitel 5.1.7.4. beschrieben, der lokale E-Modul von Knochengewebe mit der Kno-
chendichte zusammenhängt.
Um FE-Modelle für Knochen möglichst schnell erstellen zu können, sind automatische Netz-
generatoren notwendig. Die Ansätze [6-7 bis 6-13] zur automatisierten Erzeugung von FE-
Netzen auf der Basis von CT-Daten können in geometrieorientierte und voxelorientierte Ver-
fahren eingeteilt werden [6-11 bis 6-17]. Bei den geometrieorientierten Verfahren wird zu-
nächst ein CAD-Modell erstellt, das dann mit einem kommerziellen Netzgenerator vernetzt
wird. Bei den voxelorientierten Verfahren wird die besondere Datenstrukur der CT-Daten,
dass jeder Punkt eines CT-Bilds ein quaderförmiges Volumenelement (Voxel) repräsentiert,
ausgenutzt und direkt aus den Voxeln finite Elemente erzeugt. Hierzu zählen das Programm
FAM
FiltraCT zur Aufbereitung der CT-Daten für die Netzgenerierung, das geometrieorientierte
6.4 Erstellung von FE-Netzen aus CT-Daten 213

Netzgenerierungsverfahren FAMGoFEG und das voxelorientierte Netzgenerierungsverfahren


FAM
VoFEG. Die in der Fachgruppe Angewandte Mechanik der Universität Paderborn entwi-
ckelte Vorgehensweise ist in Bild 6-2 schematisch dargestellt.

Computer-
tomograph FAM
GoFEG:
Geometrieorientierte
FE-Netzgenerierung
Geometrie-
eigenschaften
FAM
VoFEG:
Voxelorientierte Finite-Elemente-Netz
FAM FE-Netzgenerierung
FiltraCT:
Aufbereitung Einführung der
der CT-Daten FAM
Randbedingungen
Material- MateriaCT:
eigenschaften Berechnung
des E-Moduls FE-Analyse

Bild 6-2 Vorgehensweise zur Erstellung von Finite-Elemente-Netzen

6.4.1 Allgemeine Bemerkungen zu CT-Daten


Computertomographiedaten sind Abbildungen der Dichteverteilung in einer ebenen Körper-
schicht mit konstanter Dicke. Bei der Computertomographie werden so viele Schwächungs-
werte von Röntgenstrahlen einer Körperregion aus verschiedenen Richtungen gesammelt, dass
die räumliche Anordnung der absorbierenden Strukturen bestimmt werden kann. Die Absorp-
tionsmessungen erfolgen mit Detektoren, die gegenüber der Röntgenröhre und hinter dem
Patienten angeordnet sind. Die Abtastung erfolgt durch senkrecht zur Körperachse verlaufende
gebündelte Röntgenstrahlen, die aus verschiedenen Richtungen den Körper des Patienten
durchdringen. Die Schwächung wird dabei durch das Detektorsystem registriert. Die kleinste
Einheit des Computertomogramms ist das einzelne errechnete Bildelement. Unter Berücksich-
tigung der verwendeten Schichtdicke repräsentiert das Bildelement zugleich ein Gewebeele-
ment, dessen Volumen durch Schichtdicke, Matrixgröße und Scanfelddurchmesser bestimmt
ist. Ein Bildelement ist also ein Volumenelement oder Voxel [6-20].
Die Bildmatrix, die quadratisch aufgebaut ist, kann je nach Gerätetyp in z. B. 512×512 Bild-
punkte aufgerastert werden. Die einzelnen Bildpunkte sind eindeutig durch ein Koordinaten-
system festgelegt. Jedes Volumenelement ist durch einen Dichtewert charakterisiert. Dieser
Zahlenwert entspricht der durchschnittlichen Schwächung eingebrachter Röntgenstrahlung
durch das im Voxel enthaltene Gewebe. Der Dichtewert steht in direkter linearer Beziehung
zum Schwächungskoeffizienten, einer von mehreren Faktoren abhängigen, die Absorption von
Röntgenstrahlung kennzeichnenden Gewebekonstanten. Durch interne Kalibrierung der Geräte
wird der Dichtewert des Wassers auf 0 HE (HE = Hounsfield-Einheit) und derjenige von Luft
auf -1000 HE festgesetzt. In Relation zu dieser nach Hounsfield benannten Skala werden die
Schwächungswerte der übrigen Gewebearten angegeben. Durch diese beiden Fixpunkte (Luft
und Wasser) der Hounsfield-Skala sind die Dichtewerte unabhängig von der Röhrenspannung
definiert. Sie sind direkt dem linearen Schwächungskoeffizienten proportional. Die Dichtewer-
214 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

te sind demzufolge dem Schwächungsgesetz unterliegende, willkürlich festgesetzte Relativ-


werte [6-20]. CT-Daten werden in einem genormten Datenformat für Bilddaten der Radiologie
abgespeichert [6-21].
In der medizinischen Anwendung werden CT-Bilder zur Minimierung der Strahlenbelastung
des Patienten meist mit Schichtdicken von 8-10 mm aufgenommen, so dass die Ausdehnung
eines Voxels in Dickenrichtung oft um ein Vielfaches größer ist als in der Bildebene. Ist ein
Voxel nur zum Teil von einer bestimmten Gewebeart und der übrige Teil von anderen Gewe-
bearten ausgefüllt, ist die gespeicherte Dichte ein anteiliger Mittelwert für alle im Voxel ent-
haltenen Gewebearten. Dieser so genannte Partialvolumeneffekt führt zu unscharfen Grenzen
zwischen den einzelnen Gewebebereichen. Die Schichtdicke der nachfolgend verwendeten
CT-Daten beträgt 1 mm. Der Partialvolumeneffekt ist somit auf ein geringes Maß reduziert.
Unabhängig von der Schichtdicke wird die Konturfindung dadurch erschwert, dass CT-Bilder
sämtliche Dichtewerte beinhalten, die in dem betrachteten Körperquerschnitt auftreten, d. h.,
dass verschiedene Gewebearten, deren Dichten sich häufig nur wenig unterscheiden, abgebil-
det sind.

6.4.2 Ermittlung der Knochengeometrie aus radiologischen Bilddaten


Mit radiologischen Bilddaten wie Computertomographie- oder Kernspintomographiedaten
können Strukturen im Innern des Körpers visualisiert werden. Die Bilddaten sind in einem
genormten Datenformat [6-21] abgespeichert, so dass für die Erstellung von FE-Modellen
prinzipiell alle Arten von radiologischen Bilddaten verwendet werden können. Das Bild 6-3a
zeigt eine Schichtaufnahme mit einem Computertomographen. In der Mitte ist ein Wirbelkör-
per zu erkennen. Mit dem Programmsystem FAMFiltraCT [6-11, 6-12, 6-18] ist es möglich die
Konturpunkte, Bild 6-3b, bzw. die Punkte innerhalb der Kontur des Wirbelkörpers aus einer
CT-Schicht herauszufiltern. Mit der Weiterentwicklung von FAMFiltraCT, dem Programmsys-
tem FAM-FiltRad [6-19], können die Oberflächenpunkte bzw. die Voxel innerhalb der Ober-
fläche des Wirbelkörpers aus allen CT-Schichten, die den Wirbelkörper beinhalten, segmen-
tiert werden, Bild 6-6a.
Um eine bestimmte Gewebeart aus radiologischen Bilddaten herauszufiltern, wird als erster
Schritt, ähnlich wie in der Radiologie, die Fenstertechnik angewendet. Hierbei werden nur die
Teile des Querschnitts dargestellt, die innerhalb eines einstellbaren Grauwertintervalls liegen.
Da Knochengewebe im Vergleich zu den übrigen Gewebearten eine hohe Dichte aufweist und
CT-Daten eine Abbildung der Dichteverteilung darstellen, unterscheiden sich Knochen im CT-
Bild deutlich von den Weichteilen. Daher sind für die Ermittlung von Knochengeometrien CT-
Daten besonders geeignet. Bei der Fenstertechnik werden für die Kontur- bzw. Oberflächener-
kennung alle Dichtewerte außerhalb des Dichteintervalls für Knochen ausgeblendet. Die Inter-
vallgrenzen von Knochen liegen für die Kortikalis zwischen 250 und 1000 HE und für die
Spongiosa zwischen 30 und 230 HE. Diese Werte sind jedoch für jeden Patienten verschieden
und müssen daher individuell festgelegt werden. Die durch die Fenstertechnik erreichten Kon-
turen bzw. Oberflächen sind teilweise noch ziemlich unscharf. Soll auch die Spongiosa als Teil
des Knochens darstellt werden, ist die Untergrenze recht niedrig anzusetzen, so dass auch
Gewebearten dargestellt werden, die nicht zu den Knochen gehören, insbesondere, wenn wie
in Bild 6-3a lokale Kalkablagerungen auftreten oder wenn für die radiologische Untersuchung
von Organen dem Patienten Kontrastmittel verabreicht wurden.
Einzelne Punkte oder lokal begrenzte Bereiche, die trotz der Fenstertechnik zu unscharfen
Konturen, unscharfen Oberflächen oder Darstellungsfehlern führen, werden in einem zweiten
6.4 Erstellung von FE-Netzen aus CT-Daten 215

Schritt mit Filtertechniken bereinigt. Dadurch wird die gesuchte Gewebeart kontrastreicher
und glatter abgebildet und von den übrigen Gewebearten separiert.

a) b)

Bild 6-3 Konturermittlung für einen Wirbelkörper aus CT-Daten


a) Computertomographiebild (Schichtaufnahme) des Wirbelkörpers
b) mit FAMFiltraCT ermittelte Konturpunkte des Wirbelkörpers

Im einem dritten Schritt werden mit Hilfe spezieller Algorithmen die Konturpunkte bzw. Ober-
flächenpunkte, welche die Bereichsgrenzen der gesuchten Gewebeart darstellen, aus den auf-
bereiteten CT-Daten segmentiert und für die Weiterverarbeitung mit geometrieorientierten
bzw. voxelorientierten Netzgenerierungsverfahren aufbereitet. Um z. B. in Gelenkbereichen
einzelne Knochen eindeutig separieren zu können, wird dieser dritte Schritt bei dem Pro-
grammsystem FAM-FiltRad in drei zueinander senkrechten Betrachtungsebenen durchgeführt.
Das Ergebnis dieses Schritts ist für eine CT-Schicht in Bild 6-3b und für alle relevanten CT-
Schichten in Bild 6-4a dargestellt. Von besonderem Interesse sind hierbei die äußeren Kontu-
ren und Oberflächen, die z. B. Knochen gegenüber anderen Gewebearten wie Muskeln oder
Knochenmark abgrenzen. Innere Konturen oder Oberflächen, die z. B. die Grenze zwischen
der Kortikalis und der Spongiosa beschreiben, sind hier von geringerer Bedeutung, da bei dem
zu erzeugenden Finite-Elemente-Netz der komplette innere Bereich der Knochen vernetzt wird
und, wie in Kapitel 6.3 beschrieben, die Knochenart durch den dem jeweiligen Element zuge-
ordneten E-Modul berücksichtigt werden kann.

FAM
6.4.3 GoFEG: Geometrieorientierte FE-Netzgenerierung
Bei der geometrieorientierten FE-Netzgenerierung wird zunächst auf der Basis der mit
FAM
FiltraCT bzw. FAM-FiltRad segmentierten, radiologischen Bilddaten mit dem CAD-
Programmpaket I-DEASTM [6-22] ein CAD-Volumenmodell erzeugt, das dann mit I-DEASTM
in der Regel mit Tetraederelementen vernetzt wird. Hierbei können die vielfältigen Optionen
des Netzgenerators von I-DEASTM, die in [6-22] beschrieben sind, genutzt werden. Die FE-
Netze können mit Verwendung eines Exportfilters im Input-File-Format des FE-Programms
ABAQUSTM ausgegeben werden. Grundsätzlich können zur Erstellung und Vernetzung des
CAD-Modells sowie der Analyse des FE-Modells beliebige andere Programmsysteme ver-
wendet werden, die ähnliche Funktionalitäten wie die hier benutzten Programmsysteme auf-
weisen. Der scheinbare Umweg bei der Generierung eines FE-Netzes über die Definition eines
216 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

CAD-Modells bietet den wesentlichen Vorteil, dass geometrische Modifikationen an den Mo-
dellen vorgenommen werden können. So können beispielsweise virtuelle Knochenbrüche oder
aber auch die mechanischen Reaktionen der anatomischen Strukturen auf eingebaute Implanta-
te oder Prothesen simuliert werden. Außerdem können die für die FEM-Simulation erforderli-
chen kinematischen und statischen Randbedingungen und auch die Kontaktzonen, wenn z. B.
Gelenke analysiert werden sollen, direkt bei dem CAD-Modell definiert werden. Ferner kann
die Vernetzung des Modells an die lokale Beanspruchung angepasst werden, ohne dass durch
eine Neuvernetzung bereits definierte Randbedingungen verloren gehen.

a) b)

Bild 6-4 Entwicklung eines CAD-Modells für einen Wirbelkörper aus CT-Daten
a) Schichtmodell des Wirbelkörpers
b) CAD-Modell des Wirbelkörpers

Für die Erstellung des CAD-Modells können die mit FAMFiltraCT bestimmten Konturpunkte
aus Bild 6-3b in I-DEASTM importiert und dort zu einer geschlossenen B-Spline-Kurve ver-
bunden werden. Die Konturpunkte können aber auch nach einer dem Problem angepassten
Aufbereitung bereits mit FAMFiltraCT automatisch zu einer geschlossenen B-Spline-Kurve
verbunden und direkt als solche in I-DEASTM importiert werden. Wird dieser Arbeitsschritt für
alle relevanten Schnitte des betrachteten Knochens durchgeführt, entsteht ein Schichtmodell
entsprechend Bild 6-4a. Zur manuellen Erzeugung der Freiformoberflächen des CAD-
Volumenmodells, Bild 6-4b, aus diesen Schichten bietet I-DEASTM mehrere Werkzeuge. Diese
Werkzeuge und deren Anwendungen auf den menschlichen Bewegungsapparat sind in [6-18,
6-19] ausführlich beschrieben.
Die mit FAM-FiltRad bestimmten Oberflächenpunkte des betrachteten Knochens können
ebenfalls direkt in I-DEASTM importiert und dort mit den gleichen Werkzeugen wie die mit
FAM
FiltraCT bestimmten Konturen manuell zu einem CAD-Modell verarbeitet werden. Eine
weitgehende Automatisierung der CAD-Modellerstellung ist jedoch möglich, wenn die mit
FAM-FiltRad ermittelten Oberflächenpunkte zunächst mit dem Programm FAM-BoneCAD [6-
19] verarbeitet werden. Hierbei werden geeignete Freiformflächen generiert, die in I-DEASTM
importiert und zu einem CAD-Volumenmodell verbunden werden können. Eine ausführliche
Beschreibung dieser Vorgehensweise einschließlich der Funktionen von FAM-BoneCAD ist in
[6-19] beschrieben. Bild 6-5 zeigt die Entwicklung eines Finite-Elemente-Modells für ein
menschliches Knie mit dem Programm FAMGoFEG.
6.4 Erstellung von FE-Netzen aus CT-Daten 217

a) b) c)

Oberschenkel-
knochen (Femur)

Kniescheibe
(Patella)

Schienbein
(Tibia)

Bild 6-5 Aufbau eines Finite-Elemente-Modells für ein menschliches Knie mit dem Programm
FAMGoFEG

a) aus CT-Daten ermitteltes Schichtmodell


b) CAD-Modell des menschlichen Knies mit Oberschenkelknochen (Femur), Schienbein
(Tibia) und Kniescheibe (Patella)
c) Finite-Elemente-Modell bestehend aus Tetraederelementen

FAM
6.4.4 VoFEG: Voxelorientierte FE-Netzgenerierung
Ziel des voxelorientierten Verfahrens FAMVoFEG ist die Erstellung von FE-Netzen für Teile
des menschlichen Bewegungsapparats direkt auf der Basis von CT-Daten. Das FE-Netz wird
ohne Umwege im Input-File-Format des FE-Programms ABAQUSTM erstellt. Grundsätzlich
kann auch das File-Format eines anderen geeigneten FE-Programmpakets verwendet werden.
Der große Vorteil dieser Methode ist, dass sie voll automatisiert werden kann und eine schnel-
le, effiziente und sehr wirtschaftliche Netzgenerierung für Teile des menschlichen Bewe-
gungsapparats erlaubt. Allerdings ist sie, im Gegensatz zu geometrieorientierten Netzgenerie-
rungsverfahren, für geometrische Modifikationen nicht geeignet.
Der für die voxelorientierte FE-Netzgenerierung notwendige CT-Datensatz muss den gesamten
zu untersuchenden Knochen enthalten. Es werden alle mit FAMFiltraCT bzw. FAM-FiltRAD
ermittelten Voxel, die sich innerhalb der Knochenkonturen bzw. Knochenoberflächen befin-
218 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

den, verwendet. Die einfachste Art der FE-Netzerstellung aus CT-Daten ist die identische
Abbildung. Dabei wird die regelmäßige Struktur der CT-Daten ausgenutzt und jedes mit FAM-
FiltraCT bzw. FAM-FiltRAD ermittelte Voxel als quaderförmiges finites Element und jeder
Eckpunkt als FE-Knoten aufgefasst. Mehrfache Knotenpunkte werden gekoppelt und man
erhält ein gleichmäßig eingeteiltes FE-Netz aus Hexaederelementen. Das durch identische
Abbildung generierte FE-Modell eines Wirbelkörpers ist in Bild 6-6a dargestellt. Die Schicht-
dicke und der Schichtabstand der verwendeten CT-Daten sowie die Kantenlängen in der
Schnittebene betragen jeweils 1 mm. Damit sind auch die Kanten der erzeugten Hexaederele-
mente jeweils 1 mm lang.

a) b)

Bild 6-6 Mit FAMVoFEG erzeugte FE-Netze eines Wirbelkörpers


a) FE-Netz erzeugt durch identische Abbildung
b) FE-Netz erzeugt nach Reduktion der Elementanzahl und Glättung der Oberflächen

Obwohl die äußeren Abmessungen eines Wirbelkörpers relativ klein sind, besteht das FE-Netz
hier insbesondere im Innern des Wirbelkörpers bereits aus zu vielen Elementen, wodurch die
Rechenzeiten unnötig erhöht werden, zumal bei FE-Analysen der Wirbelsäule in der Regel das
Zusammenwirken mehrerer Wirbelkörper studiert wird. Bei einem vergleichsweise großen
Knochen wie dem Oberschenkelknochen wäre die Zahl der Elemente sogar noch wesentlich
größer. Außerdem weist bei dieser Methode die Oberfläche trotz der feinen Netzeinteilung
verfahrensbedingt Ecken und Kanten auf, welche die Randspannungsverläufe beeinflussen und
eine Kontaktanalyse zwischen zwei Knochen im Bereich eines Gelenks unmöglich machen.
Für realistische Oberflächenspannungsverläufe und Kontaktanalysen sind glatte Oberflächen
unbedingt erforderlich. Selbst durch noch kleinere Voxel wird dieses Problem nicht gelöst. Die
so erzeugten Netze können zwar ohne großen Aufwand automatisch erstellt werden, weisen
aber erhebliche Mängel auf, die eine weitere Bearbeitung der FE-Netze erforderlich machen.
Bei FAMVoFEG wird eine optimale Approximation der realen Knochengeometrie und eine
variable Elementgröße, so dass FE-Modelle unterschiedlicher Diskretisierung möglich sind,
angestrebt. Durch die Zusammenfassung mehrerer Voxel zu einem größeren finiten Element
und einer angepassten Projektion der freien Oberflächenknoten auf die von dem Gesamtnetz
umschlossene Voxelstruktur des Knochens ermöglicht FAMVoFEG bei der Netzerstellung be-
reits eine hohe Datenreduktion und eine gute Konturglättung. Das Ergebnis dieser Methode ist
für den Fall, dass in allen drei Koordinatenrichtungen vier Voxel zu einem finiten Element
zusammengefasst sind, in Bild 6-6b. dargestellt. Da bei diesem Verfahren auch Randelemente
6.5 Beispiele für FE-Spannungsanalysen 219

berücksichtigt werden, die nur teilweise durch Voxel ausgefüllt sind, wird sichergestellt, dass
die freien Oberflächenknoten die segmentierte Voxelstruktur des Knochens umschließen. De-
tails zu dieser Vorgehensweise sind in [6-18] beschrieben.
Eine leistungsfähige Weiterentwicklung dieses Verfahrens, das eine automatische Oberflä-
chen- bzw. Volumennetzgenerierung mit lokal angepassten Elementgrößen und glatten Ober-
flächen ermöglicht, stellt das Programmsystem FAM-BoneFEM dar, das in [6-19] ausführlich
erläutert ist.

6.5 Beispiele für FE-Spannungsanalysen


Mit Hilfe der Finite-Elemente-Methode lassen sich die Spannungen, Verschiebungen und
Verzerrungen für die unterschiedlichen Belastungssituationen des menschlichen Bewegungs-
apparats ermitteln. Die Vorgehensweise wird am Beispiel eines Knie- und eines Hüftgelenks
aufgezeigt.

6.5.1 Analyse für ein Kniegelenk


In Bild 6-5 ist die FE-Netzerstellung für ein Kniegelenk mit FAMGoFEG dargestellt. Die FE-
Netze für die drei Knochen Femur, Tibia und Patella sind zu einem Gesamtmodell für das
Kniegelenk zusammengefasst. Die in diesem Kapitel beschriebene FE-Analyse dient jedoch
hauptsächlich dazu, die Qualität der mit FAMGoFEG erstellten FE-Netze zu zeigen. Daher wer-
den sie zur Erstellung von separaten FE-Modellen für jeden einzelnen Knochen verwendet.
Die Netze sind aus einfachen Tetraederelementen aufgebaut, können aber ohne Weiteres auch
in Netze aus höherwertigen Tetraederelementen umgewandelt werden.

a) b) c)
lateral medial
3 5

2
2
1 1

d)

Bereich 1 2 3 4 5
EFemur,medial [MPa] 18000 420 400 720 650
1 2 E Femur,lateral [MPa] 18000 450 500 700 750
E Tibia,medial [MPa] 18000 400 750 - -
3 E Tibia,lateral [MPa] 18000 500 740 - -
ν 0,28 0,1 0,1 0,1 0,1
4
lateral medial
Bild 6-7 Partitionen im Schienbein- und Oberschenkelknochen
a) Schienbein (Tibia)
b) Oberschenkelknochen (Femur)
c) Oberschenkelknochen, Ansicht von proximal
d) Elastische Konstanten
220 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

Zur Berücksichtigung der unterschiedlichen Materialeigenschaften der Kortikalis und der ver-
schiedenen Spongiosabereiche sind das Femur- und das Tibiamodell, wie in Bild 6-7 darge-
stellt, entsprechend [6-23] partitioniert. Die Patella ist nicht besonders partitioniert. Der Ein-
fachheit halber werden die mechanischen Eigenschaften der Kortikalis eingesetzt.

a) b) c) T d)
Einspannung Einspannung

L
P Einspannung

P
G
T
T Einspannung
Bild 6-8 Randbedingungen für die FE-Analyse eines Kniegelenks
a) Kraftwirkungen und Verschiebungsrandbedingungen beim Oberschenkelknochen
(Femur), Seitenansicht
b) Randbedingungen beim Oberschenkelknochen (Femur), Vorderansicht
c) Randbedingungen beim Schienbein (Tibia), Vorderansicht
d) Randbedingungen bei der Kniescheibe (Patella), Seitenansicht

Die in [6-23] angegebenen E-Moduli liegen zwischen 400 MPa für die Spongiosa und
18000 MPa für die Kortikalis. Die Querdehnzahl beträgt   0,1 für die Spongiosa und
  0,28 für die Kortikalis, siehe Bild 6-7d. Das Materialverhalten wird als bereichsweise
homogen, isotrop und linear elastisch angenommen.

Tabelle 6-1 Eingesetzte Kräfte bei der FE-Analyse eines Kniegelenks

Muskelkraft des M. quadriceps femoris: Q= 1524 N


Muskelkraft des M. gastrocnemius: G= 600 N
Bandkraft des Lig. Patellae: L= 1524 N
Kontaktkraft zwischen Femur und Tibia: T= 3190 N
Kontaktkraft zwischen Femur und Patella: P= 720 N
6.5 Beispiele für FE-Spannungsanalysen 221

Für die FE-Analyse sind, wie in Bild 6-8 dargestellt, nach [6-23] die Randbedingungen für das
Treppensteigen einer 710 N schweren Person beim Ballenabstoß eingesetzt. Als Lagerungen
sind beim Femur und der Tibia an den jeweiligen Schnittflächen und bei der Patella an der
Kontaktstelle zwischen Femur und Patella feste Einspannungen modelliert. Die Muskel- und
die Bandkräfte sowie die Gelenkkräfte beim Femur und der Tibia an den potentiellen Kontakt-
stellen zwischen Femur, Tibia und Patella sind als Flächenlasten definiert. Die resultierenden
Kräfte sind in Tabelle 6-1 zusammengestellt. Die Kontaktkraft T zwischen Femur und Tibia
wirkt insgesamt je zur Hälfte auf beide Gelenkfacetten.

a)

c)

b)

Bild 6-9 Ergebnisse der FE-Analyse für ein Kniegelenk


a) Spannungsverteilung nach von Mises im Femur
b) Spannungsverteilung nach von Mises in der Tibia
c) Spannungsverteilung nach von Mises in der Patella
222 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

Die Ergebnisse der FE-Analyse sind in Bild 6-9 dargestellt. Die Spannungsauswertung zeigt,
dass die mit FAMGoFEG erstellten FE-Netze für biomechanische Untersuchungen am Kniege-
lenk ausreichend fein diskretisiert sind. Es treten keine großen Spannungsgradienten innerhalb
einzelner Elemente auf. Auffällig ist die seitliche Biegebeanspruchung in der Tibia, die von
den Kontaktkräften zwischen Femur und Tibia hervorgerufen wird. Möglicherweise ist die
Ausrichtung der Kontaktkraft nicht ausreichend an der Tibiaachse orientiert. Außerdem wird
bei den Randbedingungen die Fibula nicht berücksichtigt, die einen wesentlichen Einfluss auf
das Biegeflächenträgheitsmoment um die Sagittalachse hat und gerade bei seitlicher Biegung
den Unterschenkel stabilisiert. Die unnatürlich scharfen Spannungssprünge, die beim Femur
und der Tibia im Übergangsbereich zwischen Schaft und Gelenkbereich auftreten, resultieren
aus den teilweise großen Sprüngen für den E-Modul zwischen den verschiedenen Materialbe-
reichen insbesondere zwischen Kompakta und Spongiosa. Da an Materialgrenzen die Dehnun-
gen kompatibel sein müssen und es nicht zu Klaffungen oder Überlappungen im Modell kom-
men darf, treten in den Spannungen Sprünge auf, die den Sprüngen des E-Moduls entsprechen.
Diese Sprünge sind in Bild 6-9 besonders auffällig, da der Postprozessor von ABAQUSTM an
Materialgrenzen keinen Mittelwert für die Knotenpunktspannung aus allen angrenzenden Ele-
menten berechnet und damit die Sprünge nicht künstlich verwischt. Um große Sprünge in den
Materialeigenschaften zwischen benachbarten Elementen, wie sie bei der hier verwendeten
bereichsweisen Definition auftreten, zu vermeiden, kann zukünftig mit FAMMateriaCT für jedes
Element der E-Modul bestimmt werden.

a) b) c)

Bild 6-10 FE-Netzerstellung für ein Hüftgelenk auf der Basis von CT-Daten mit FAMGoFEG
a) Schichtmodell
b) CAD-Modell
c) Finite-Elemente-Modell
6.5 Beispiele für FE-Spannungsanalysen 223

6.5.2 Analyse für ein Hüftgelenk


In Bild 6-10 ist die FE-Netzerstellung für ein Hüftgelenk mit FAMGoFEG dargestellt. Ähnlich
wie beim Kniegelenk können auch hier die FE-Netze für das Femur und das Hüftbein zu einem
Gesamtmodell für das Hüftgelenk zusammengefasst werden. Hier wird für beide Netze, die aus
einfachen Tetraederelementen aufgebaut sind, ein separates FE-Modell erstellt.

a) b) c)
K
M

21°
M
Einspannung
K K
M
M
G

16° Einspannung

M: Muskelkraft, G: Gewichtskraft, K: resultierende Kraft, S: Schwerpunkt, S': verlagerter Schwerpunkt


Bild 6-11 Randbedingungen für die FE-Analyse eines Hüftgelenks
a) Freischnitt mit den wirkenden Kräften beim Einbeinstand
b) Kraftwirkungs- und Verschiebungsrandbedingungen beim Femur
c) Kraftwirkungs- und Verschiebungsrandbedingungen beim Hüftbein

In Anlehnung an [6-2, 6-3, 6-24] wird bei der FE-Analyse für das Hüftgelenk als Belastungsfall
der Einbeinstand für eine 686 N schwere Person angenommen. Das um das Standbein reduzier-
te Teilkörpergewicht beträgt 556 N. Die inneren Kräfte, die zwischen proximalem Femur und
Hüftbein wirken, sind ganz überwiegend die resultierende Muskelkraft der Abduktoren und die
Kontaktkraft im Hüftgelenk (Tabelle 6-2).

Tabelle 6-2: Eingesetzte Kräfte bei der FE-Analyse eines Hüftgelenks

Teilkörpergewicht beim Einbeinstand: G= 556 N


Resultierende Muskelkraft der Abduktoren: M= 1758 N
Kontaktkraft im Hüftgelenk: K= 2286 N

Betrachtet man das Becken als mechanisches Teilsystem, dann hält die Muskelkraft der Ab-
duktoren das Becken gegen die Teilgewichtskraft im Momentengleichgewicht um das Hüftge-
lenk. Die Kontaktkraft im Hüftgelenk ist die Reaktionskraft, die mit der Muskelkraft und der
Teilgewichtskraft das Becken im Kräftegleichgewicht hält. Die Randbedingungen in den bei-
224 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

den Teilmodellen proximaler Femur und Hüftbein sind in Bild 6-11 zusammengefasst. In bei-
den Modellen wirken die Muskelkraft und die Gelenkkraft als äußere Kräfte. Sie sind in beiden
Systemen gleich groß und entgegengesetzt gerichtet. Das Femur ist an der Schnittstelle und das
Hüftbein an der Kontaktfläche zum Kreuzbein und an der Schambeinfuge fest eingespannt.

a)

b)

Bild 6-12 Ergebnisse der FE-Analyse für ein Hüftgelenk beim Einbeinstand
a) Spannungsverteilung im Femur
b) Spannungsverteilung im Hüftbein

Das Femurmodell ist zur Berücksichtigung der unterschiedlichen Materialeigenschaften der


Spongiosa und der Kortikalis nach [6-23] partitioniert. Bei der Spongiosa liegen die
E-Modulwerte zwischen 390 MPa und 1450 MPa, und die Querdehnzahl ist 0,07. Für die Kor-
tikalis beträgt der E-Modul 14500 MPa und die Querdehnzahl 0,28. Das Hüftbeinmodell ist auf
der Basis der verwendeten CT-Daten in einen Kortikalis- und einen Spongiosabereich aufge-
6.6 Simulation der Kniebeuge mit FE-Kontaktanalysen 225

teilt. Hier ist der E-Modul 700 MPa für die Spongiosa und 14500 MPa für die Kortikalis und
die Querdehnzahl 0,07 für die Spongiosa und 0,28 für die Kortikalis. Das Materialverhalten ist
in beiden Modellen bereichsweise homogen, isotrop und linear elastisch angenommen.
Die Ergebnisse der FE-Analyse für ein Hüftgelenk sind in Bild 6-12 dargestellt. Ähnlich wie
für das Kniegelenk, Bild 6-9, zeigen die Ergebnisse, dass die mit FAMGoFEG erstellten FE-
Netze für das Hüftgelenk ausreichend fein diskretisiert sind. Die Spannungsverteilung im
Femurschaft zeigt deutlich die erwartete Biegespannungsverteilung aufgrund der Muskel- und
der Kontaktkraft. Auffällig sind jedoch auch hier die scharfen Spannungssprünge, die insbe-
sondere beim Femur im Übergangsbereich zwischen Schaft und Gelenkbereich zu erkennen
sind. Diese resultieren wie beim Kniegelenk aus den Sprüngen für den E-Modul zwischen den
verschiedenen Materialbereichen insbesondere zwischen der Kortikalis und der Spongiosa.
Also muss auch hier zukünftig mit FAMMateriaCT für jedes Element der E-Modul bestimmt
werden, um eine gleichmäßigere E-Modulverteilung zu erhalten und diesen Mangel zu vermei-
den.

6.6 Simulation der Kniebeuge mit FE-Kontaktanalysen


In diesem Abschnitt werden auf der Basis der in Abschnitt Kapitel 5.5.6 beschriebenen alterna-
tiven Betrachtung der Mechanik des Kniegelenks ebene und räumliche Finite-Elemente-
Modelle erstellt. Da bei einigen Simulationen bis auf das Patellaband und den Schenkelstrecker
der Band- und Muskelapparat des Knies unberücksichtigt bleibt, ist das Kniegelenk prinzipiell
nicht stabil. Bei statischer Belastung richten sich die drei Knochen jedoch so weit aus, bis im
verformten Zustand des Gesamtsystems Gleichgewicht zwischen den äußeren und den inneren
Kräften herrscht. Dadurch muss die genaue Position der Knochen zueinander nicht a priori
bekannt sein. Mit der FE-Methode kann die Kniebeuge mit Hilfe von geometrisch nichtlinearen
Kontaktanalysen als eine Abfolge von statischen Gleichgewichtszuständen simuliert werden,
indem bei konstanter äußerer Belastung der Schenkelstrecker kontinuierlich verlängert wird.
Die Berücksichtigung der geometrischen Nichtlinearität ist notwendig, weil sich das Kniege-
lenk während der Simulation bewegt. Bei geometrisch nichtlinearen Analysen wird das Gleich-
gewicht für die verformte Struktur und nicht wie ansonsten für die unverformte Ausgangsstruk-
tur überprüft. Ziele dieser Analysen sind die Bestimmung der Kinematik des Kniegelenks, die
sich aus der Abfolge der Verformungszustände des Systems ergibt, und die Ermittlung der
Kontaktflächen und der Kontaktdrücke zwischen den Gelenkflächen infolge der alternativen
Knie-mechanik.
Mechanischer Kontakt findet statt, wenn zwei Körper sich berühren und über die Kontaktflä-
chen Kräfte übertragen werden. Bei glatten Kontaktflächen wie in den Gelenken des menschli-
chen Bewegungsapparats werden nur Normalkräfte übertragen. Bei rauen Kontaktflächen kön-
nen auch Tangentialkräfte übertragen werden. Die maximal übertragbare Tangentialkraft ist ein
durch den Reibkoeffizient begrenzter Anteil der Normalkraft. Bei der Kontaktanalyse mit
ABAQUSTM/ Standard [6-1] werden die Kontaktflächen und die übertragenen Spannungen
ermittelt. Kontakt ist ein hochgradig strukturell nichtlineares Problem, da Kontaktrandbedin-
gungen ihren Status von aktiv zu inaktiv und umgekehrt ändern können, d. h. das Zusammen-
wirken der betrachteten Strukturelemente ändert sich sprunghaft.
Kontaktprobleme werden als Interaktionen zwischen den Kontaktflächen (surfaces) definiert.
Die Oberfläche eines Körpers kann nicht die Oberfläche eines anderen Körpers oder bei Fal-
tungen sich selbst durchdringen. Da bei FE-Netzen die Körper und damit auch die Oberflächen
226 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

diskretisiert vorliegen, können auch die surfaces nur in diskretisierter Form mit Knoten und
Segmenten definiert werden, Bild 6-13. Die surfaces werden basierend auf den Elementen,
welche die Oberfläche bilden, definiert. Die Knoten der einen Oberfläche (slave surface, Bild
6-13b) treten in Kontakt mit den Segmenten der anderen Oberfläche (master surface, Bild
6-13a). Die Kontaktnormalenrichtung ist durch die lokale Normale zu den Segmenten der mas-
ter surface festgelegt. Die Knoten der slave surface können die Segmente der master surface
nicht durchdringen, jedoch können die Knoten der master surface die Segmente der slave
surface durchdringen, Bild 6-13c.

a)

c)
Segmente der
master surface Knoten der
Segmente der master surface
master surface
Durchdringung

b)

Knoten der
slave surface Segmente der
Segmente der
slave surface slave surface

Bild 6-13 Kontakt zwischen den Oberflächen zweier Körper mit dem master-slave-Konzept
a) Master surface
b) Slave surface
c) Kontaktsituation

Um diese Kompatibilitätsverletzung zu minimieren und ausreichend genaue Ergebnisse für die


Kontaktanalyse zu erhalten, muss die slave surface genügend fein diskretisiert werden. Prinzi-
piell werden die genauesten Ergebnisse erzielt, wenn die master surface und die slave surface
gleich vernetzt sind. Oberflächennetze, die in Kontakt treten können, müssen jedoch nicht
übereinstimmen, was bei inkongruenten Gelenkflächen und großen Relativbewegungen, wie sie
im Kniegelenk auftreten, auch nicht möglich ist. Außerdem kann das Kontaktverhalten als hard
oder softened definiert werden. Ist das Kontaktverhalten hard, kann im Kontaktfall ein beliebig
hoher Druck übertragen werden, ohne dass Durchdringungen auftreten. Der Druck ist Null,
wenn kein Kontakt stattfindet. Ist das Kontaktverhalten softened, können sich die Oberflächen
durchdringen und der Kontaktdruck steigt exponentiell mit der Eindringtiefe. Mit dieser Option
kann der Kontakt zwischen zwei festen Körpern mit weichen Oberflächen wie die Knorpel-
schicht auf den Gelenkflächen simuliert werden, ohne dass die weichen Oberflächen durch
besondere Elemente mit entsprechenden Materialeigenschaften definiert werden müssen. Wei-
tere Details zur Durchführung von Kontaktanalysen können z. B. in [6-18] nachgelesen wer-
den.
Die Simulation der Kniebeuge ist ein Problem mit zweifacher Nichtlinearität. Zum einen liegt
aufgrund des Kontakts zwischen den Gelenkflächen eine strukturelle Nichtlinearität und auf-
6.7 Bewegungsstudien am ebenen Kniemodell 227

grund der Relativbewegung der Knochen zueinander eine geometrische Nichtlinearität vor,
weil bei dem Kniemodell Gleichgewicht nur am verformten Gesamtsystem möglich ist. Bei
allen nichtlinearen FE-Analysen dürfen die Belastungen und alle Modifikationen der Randbe-
dingungen für einen Lastschritt nur inkrementell verändert werden, weil die Nichtlinearität
durch kleine linearisierte Zwischenschritte approximiert wird. Bei jedem Lastinkrement wer-
den so lange Gleichgewichtsiterationen durchgeführt, bis verschiedene Fehlerindikatoren vor-
gegebene Fehlerschranken unterschreiten und Gleichgewicht innerhalb der Toleranzgrenze
erreicht ist. Hierbei werden u. a. die nicht ausbalancierten Kräfte und das Ausmaß der Ver-
schiebungskorrekturen im Vergleich zu der Gesamtverschiebung innerhalb des Lastinkrements
berücksichtigt. Ausgehend von einem gewählten, dem Problem angepassten Startinkrement
wird die Größe dieser Inkremente entsprechend dem Konvergenzhalten bei der Gleichgewicht-
siteration automatisch vergrößert oder verkleinert. Es werden so viele Inkremente gerechnet,
bis der gesamte Lastschritt abgeschlossen ist oder eine andere Abbruchbedingung erreicht ist.
Bei einer FE-Analyse mit mehreren Lastschritten werden ausgehend von der Endsituation des
vorherigen Lastschritts die Randbedingungen und die Belastungen so lange inkrementell ver-
ändert, bis die Randbedingungen und Belastungen des aktuellen Lastschritts erreicht sind. Soll
in einem Lastschritt ein Lager entfernt werden, dann wird zu Beginn des Lastschritts das Lager
durch die im vorhergehenden Lastschritt berechnete Lagerreaktionskraft ersetzt und diese
schrittweise auf null abgesenkt.

6.7 Bewegungsstudien am ebenen Kniemodell


Zum Studium der Kniemechanik in der Sagittalebene wurden ebene FE-Modelle für das Knie-
gelenk entwickelt. Die Geometrie der drei Scheiben Femur, Tibia und Patella des in Bild 6-15
dargestellten mechanischen Modells für die Kniebeuge entspricht im Wesentlichen dem
Sagittalschnitt der drei Knochen, die das Kniegelenk bilden. Beim menschlichen Knie ist die
mediale Tibiagelenkfläche konkav und die laterale nahezu eben [6-25, 6-26].
Für grundsätzliche Studien zur Mechanik des Kniegelenks während der Kniebeuge ist es aus-
reichend eine gerade Tibiakontur vorauszusetzen. Allerdings ist es wichtig, bei solchen Grund-
satzstudien Fehlerquellen, die sich durch eine an die natürliche Form angepasste, aber prinzi-
piell beliebig gewählte Femurgelenkkontur ergeben könnten, auszuschließen. Dies gilt insbe-
sondere, wenn auch die Kreuzbänder mitberücksichtigt oder die prinzipiellen Auswirkungen
von Verletzungen oder Veränderungen infolge von medizinischen Eingriffen an den Kreuz-
bändern mit einem ebenen Modell analysiert werden sollen und dabei die Gelenkkonturen und
der Bandapparat kinematisch nicht zusammenpassen. Diese Fehlerquelle kann ausgeschlossen
werden, wenn der in den Kapiteln 5.5.4 und 5.5.6.2 beschriebene, kinematische Zusammen-
hang zwischen den Kreuzbändern und den Gelenkkonturen berücksichtigt wird. Demnach
stellt in der Sagittalebene die Kniegelenkflächenkontur des Femurs die Koppelhüllkurve der
Gelenkflächenkontur der Tibia dar, wobei die kinematische Kopplung zwischen Oberschenkel
und Unterschenkel durch die beiden Kreuzbänder einer Viergelenkkette entspricht.

6.7.1 Modellbildung
Um sicher zu stellen, dass die Gelenkflächenkonturen und der Bandapparat bei dem ebenen
FE-Modell den beschriebenen kinematischen Zusammenhang erfüllen, wird bei vorgegebenen
Ansatzpunkten der Kreuzbänder am Femur und an der Tibia und vorgegebener gerader Tibia-
gelenkflächenkontur die passende Gelenkkontur am Femur für den Kontakt zwischen Femur
228 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

und Tibia mit Hilfe des CAD-Programms I-DEASTM rekonstruiert. Da die Gelenkflächenkon-
tur des Femurs die Hüllkurve der Tibiagelenkflächenkontur während der Kniebeuge darstellt,
verläuft die Tibiagelenkflächenkontur bei allen Beugewinkeln tangential zur Femurgelenkflä-
chenkontur und berührt diese im Berührpunkt. Zur Rekonstruktion der passenden Femurge-
lenkflächenkontur gibt es also grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Zunächst können bei festge-
haltenem Femur für beliebige Beugewinkel aus der Tibiagelenkflächenkontur die Tangenten
zur Femurgelenkflächenkontur erzeugt werden. Dazu werden die beiden Kreuzbandansatz-
punkte am Femur festgehalten und die Tibiagelenkflächenkontur gemäß dem durch die Kreuz-
bandviergelenkkette vorgegebenen Zwanglauf schrittweise bewegt. Die durch diese Tangen-
tenschar beschriebene Hüllkurve entspricht der Femurgelenkflächenkontur, Bild 6-14a.

a) b)

Femur Femur

vorderes vorderes
Kreuzband Kreuzband

hinteres hinteres
Kreuzband Kreuzband

Berührpunkt
Tibiagelenk- zwischen Tibiagelenk-
Tangente flächenkontur Femur und Tibia flächenkontur
Bild 6-14 Methoden zur Rekonstruktion der passenden Femurgelenkflächenkontur bei vorgegebenen
Kreuzbandansatzpunkten und vorgegebener Tibiagelenkflächenkontur
a) Femurgelenkflächenkontur als Hüllkurve der Tangentenschar gebildet von der Tibiage-
lenkflächenkontur
b) Femurgelenkflächenkontur als kontinuierliche Abfolge der Berührungspunkte auf der
Tibiagelenkflächenkontur

Außerdem entspricht bei dieser Bewegung die Femurgelenkkontur der Abfolge der Berüh-
rungspunkte zwischen der Tibia- und der Femurgelenkkontur, Bild 6-14b. Nach Bild 5-26 ist
der Berührpunkt der Schnittpunkt der Berührungsnormalen mit der Tibiakontur. Da die Berüh-
rungsnormalen durch den Momentanpol der Viergelenkkette verlaufen, ist der Berührpunkt bei
jeder Beugestellung die Projektion des Momentanpols auf die Tibiakontur. Der Momentanpol
für die Beugebewegung liegt für die Viergelenkkette auf dem Schnittpunkt der beiden Kreuz-
bänder. Beide Methoden liefern grundsätzlich die gleiche Gelenkkontur für das Femur.
Bei der Rekonstruktion der Femurgelenkflächenkontur aus der Tangentenschar wird die
Femurgelenkflächenkontur durch kurze, zusammenhängende Geraden approximiert, auf denen
sich die Berührpunkte der Gelenkkonturen befinden. Aufgrund der numerischen Grenzen des
CAD-Programms können diese Geraden nicht beliebig kurz werden. Die exakte Position des
Berührpunkts bleibt also unbestimmt und die Verbindungspunkte zwischen den Geraden stel-
len die Punkte mit der größten Abweichung von der Idealkontur dar. Bei der Vernetzung die-
ser Kontur mit finiten Elementen werden die Randknoten, welche die Gelenkflächenkontur
beschreiben, auf den relativ ungenauen Verbindungspunkten der Geraden erzeugt, so dass das
6.7 Bewegungsstudien am ebenen Kniemodell 229

FE-Modell gerade in diesem für die Qualität der Simulationsergebnisse wesentlichen Bereich
methodisch bedingte Schwächen aufweist.
Wird die Femurkontur aus der Abfolge der Berührungspunkte rekonstruiert, dann ist sicherge-
stellt, dass diese Punkte exakt auf der idealen Femurgelenkkontur liegen. Es können ausrei-
chend viele Punkte erzeugt werden, die als Stützpunkte für eine B-Splinekurve dienen, mit der
die ideale Femurgelenkkontur sehr genau nachgebildet werden kann. Bei der Vernetzung die-
ses Bereichs mit finiten Elementen liegen alle Randknoten auf dieser Kurve, so dass metho-
disch bedingte Fehler in diesem Bereich vermieden werden können.
Die Femurkontur des Gelenks zwischen Femur und Patella wird mit Hilfe eines weiteren Mo-
dells, das von KAPANDJI [6-25] vorgeschlagen wird, als Hüllkurve der Rückflächenkontur
der Patella erzeugt. Bei diesem Modell werden die Haltebänder der Patella zur Führung der
Patella berücksichtigt und vorausgesetzt, dass sich der Winkel zwischen der Patella und dem
Patellaband während der Kniebeuge nicht ändert. Damit ist ein eindeutiger kinematischer Zu-
sammenhang zwischen den Gelenkkonturen des Kniegelenks und dem Bandapparat gegeben.
Auch diese Kontur wird mit den entsprechenden Methoden wie die Femurgelenkkontur für den
Kontakt mit der Tibiagelenkkontur mit dem CAD-Programm I-DEASTM rekonstruiert.
Da bei den ebenen FE-Modellen alle Gelenkkonturen eindeutig durch den vorgegebenen
Bandapparat und gerade Gelenkkonturen bei der Tibia und der Patella definiert sind, können
diese Modelle sehr gut für Parameterstudien verwendet werden, mit denen z. B. der Einfluss
von Veränderungen am Bandapparat auf die Kniemechanik untersucht werden kann.
Femur, Tibia und Patella sind bei den FE-Modellen mit ebenen, viereckigen Kontinuumsele-
menten mit vier Eckknoten, linearem Verschiebungsansatz und Einheitsdicke vernetzt. Jeder
Knoten hat also zwei Verschiebungsfreiheitsgrade in der Ebene. Da die globale Kinematik, die
sich bei der Kniebeuge einstellt und nicht die lokalen Dehnungen im Innern der Strukturen von
Interesse sind, ist es zulässig, den ebenen Spannungszustand anzunehmen. Bei Kontaktrech-
nungen empfiehlt ABAQUSTM [6-1] die Verwendung von Elementen mit linearem Verschie-
bungsansatz, da starke Oszillationen und Spitzen bei den Kontaktspannungen auftreten kön-
nen, wenn master und slave surface mit Elementen mit quadratischem Verschiebungsansatz
modelliert werden. Die Kreuzbänder sind als Seile modelliert, die nur Zugspannungen und
keine Druckspannungen aufnehmen können. Das Patellaband ist mit einem Seilelement model-
liert, das die Patella mit der Tibia verbindet. Der Schenkelstrecker ist durch mehrere in Reihe
angeordnete Seilelemente abgebildet, die die Patella mit dem proximalen Abschnitt des Femurs
verbinden, da mit zunehmender Beugung des Knies der Schenkelstrecker das Femur berührt.
Die Seilelemente sind im Gelenkbereich kürzer gewählt, um im Berührungsbereich eine aus-
reichende Knotenanzahl zu gewährleisten und Durchdringungen der Kontaktoberflächen zu
minimieren. Die Kontur des Femurnetzes ist für die Kontaktanalyse im Gelenkbereich als
master surface definiert. Die Gelenkkonturen von Tibia und Patella sowie die Seilelemente,
die den Schenkelstrecker darstellen, sind als drei einzelne slave surfaces definiert, wobei jede
zusammen mit der master surface ein separates, reibungsfreies Kontaktpaar bildet. Da mit den
FE-Analysen die Kinematik bei der Kniebeuge, die Kräfte im Patellaband und im Schenkel-
strecker sowie die Kontaktstellen und Kontaktkräfte auf den Gelenkkonturen ermittelt werden
sollen und diese Ergebnisse nicht von den Materialeigenschaften abhängen, wird für die drei
Knochen, die Bänder und den Muskel homogenes, isotropes Materialverhalten angenommen.
Die Steifigkeit aller Elemente wird genügend hoch gewählt, dass die lokalen Verformungen im
Vergleich zu den globalen Verformungen vernachlässigt werden können.
230 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

6.7.2 Definition der Randbedingungen


An den Berührungsstellen zwischen den Knochen können nur Normalkräfte übertragen wer-
den, da reibungsfreier Kontakt vorausgesetzt wird. Für die Simulation der Kniebeuge gelten
folgende Randbedingungen Bild 6-15:
 Die Femurscheibe ist proximal an der hinteren Ecke durch das einwertige Lager 1,
das Translationen entlang der Verbindungslinie zwischen Lager 1 und Lager 2 zu-
lässt, gelagert.
 Die Tibiascheibe ist distal an der hinteren Ecke durch das zweiwertige Lager 2, das
die Translationen in der Sagittalebene unterbindet, gelagert.
 Bei Lager 1 wird das Modell durch die Kraft F, die der halben Gewichtskraft der
oberhalb des Kniegelenks befindlichen Körpermasse entspricht, entlang der Verbin-
dungslinie zwischen Lager 1 und Lager 2 belastet.
Zur Beugung des Knies wird mit geeigneten Methoden, die im Abschnitt 6.7.3 näher erklärt
werden, der Schenkelstrecker verlängert.

a) b) c)
F anteiliges F anteiliges
Körpergewicht Körpergewicht
Lager 1 Lager 1

Oberschenkel- Oberschenkel-
Schenkel- Schenkel-
knochen knochen
strecker strecker

Kniescheibe Kniescheibe
vorderes
Kreuzband
hinteres
Kreuzband Kniescheiben- Kniescheiben-
band band

Schienbein Schienbein

Lager 2 Lager 2

Bild 6-15 Modelle für die Kniebeuge


a) Mechanisches Modell mit Kreuzbändern
b) Mechanisches Modell ohne Kreuzbänder
c) ebenes Finite-Elemente-Modell mit Kreuzbändern

Mit diesen Randbedingungen ist das System zwar äußerlich statisch bestimmt gelagert, es hat
jedoch, wie in Kapitel 5.5.6.3 beschrieben, einen oder mehrere Starrkörperfreiheitsgrade ins-
besondere, wenn das System ganz oder teilweise ohne Kreuzbänder betrachtet wird. Dann ist
Gleichgewicht bei statischer Belastung nur am verformten System möglich.
6.7 Bewegungsstudien am ebenen Kniemodell 231

6.7.3 Durchführung der FE-Analyse


Die Durchführung der FE-Rechnung für das in Bild 6-15c dargestellte FE-Modell erfordert
spezielle, vorbereitende Lastschritte, bis die eigentliche Ausgangsposition für die Kniebeuge
erreicht ist. Da bei der FE-Rechnung die Kontaktstellen als Zwischenreaktionen erst dann zur
Stabilität des Systems beitragen, wenn an den Kontaktpaaren bereits ein Kontaktdruck aufge-
baut ist, müssen die Starrkörperfreiheitsgrade von Femur, Tibia und Patella anfänglich durch
zusätzliche, weiche Bindungen eliminiert werden. Ansonsten enthält die bei der FE-Analyse
aufgestellte Systemsteifigkeitsmatrix infolge der Starrkörperfreiheitsgrade negative Eigenwer-
te, und die FE-Rechnung bricht ohne Ergebnis mit Fehlermeldungen ab. Die zusätzlichen Bin-
dungen sind so zu wählen, dass sie die Ausrichtung der Teilsysteme Femur, Tibia und Patella,
durch welche das Gesamtsystem unter Belastung durch die Gewichtskraft die Gleichgewichts-
lage erreicht, nicht behindern und keine unsachgemäßen Beanspruchungen hervorrufen. Auch
die Knoten der einzelnen in Reihe angeordneten Seilelemente, die den Schenkelstrecker dar-
stellen, weisen Starrkörperfreiheitsgrade auf und rufen negative Eigenwerte und damit den
Abbruch der FE-Analyse hervor, solange die Seilelemente nicht infolge der Belastung des
Systems durch die Gewichtskraft gespannt sind. Bis dahin werden zur Unterdrückung von
Starrkörperfreiheitsgraden die Knoten der Seilelemente so gelagert, dass nur Verschiebungen
längs des Schenkelstreckers möglich sind. Nachdem im ersten vorbereitenden Lastschritt eine
Vorspannung für das Gesamtsystem aufgebaut ist, werden in einem weiteren Vorbereitungs-
schritt die zusätzlichen Bindungen zwischen Femur, Tibia und Patella und die zusätzlichen
Lagerungen bei den Schenkelstreckerknoten, die nur zur Vermeidung unzulässiger Starrkör-
perfreiheitsgrade eingeführt worden sind, wieder entfernt. Damit ist der stabile Ausgangszu-
stand für die FE-Analyse der Kniebeuge mit dem ebenen FE-Modell erreicht.
Die zur Simulation der Kniebeuge notwendige, kontinuierliche Verlängerung der Seilelemente,
die den Schenkelstrecker darstellen, kann durch zwei Methoden realisiert werden. Bei der
ersten Methode wird, wie in Bild 6-15a und Bild 6-15b dargestellt, bei dem Loslager am
Femur die Gewichtskraft als konstante Kraft vorgegeben und die Längenänderung der Schen-
kelstreckerelemente durch eine entsprechende Temperaturerhöhung rechnerisch simuliert.
Dazu werden bis auf den Schenkelstrecker für alle Bereiche des Kniegelenks die Wärmeaus-
dehnungskoeffizienten Null gesetzt, um ungewollte Wärmespannungen auszuschließen. Durch
die Verlängerung der Schenkelstreckerelemente verschiebt sich das Loslager bei konstanter
Gewichtskraft nach unten und das Kniegelenk beugt sich. Bei dieser Methode werden während
der FE-Analyse die Verschiebung des Loslagers und alle weiteren Ergebnisse direkt für die
vorgesehene Gewichtskraft berechnet. Bei der zweiten Methode wird bei dem Loslager am
Femur die Verschiebung in Richtung der Gewichtskraft vorgegeben und die Lagerreaktions-
kraft, die der Gewichtskraft proportional ist, berechnet. Damit sich bei der Kniebeuge im We-
sentlichen nur die Schenkelstreckerelemente verlängern und die übrigen Teilsysteme ihre Ge-
stalt nicht ändern, werden bei der zweiten Methode die Schenkelstreckerelemente sehr weich,
also mit einem im Vergleich zu den übrigen Elementen, deutlich niedrigeren Elastizitätsmodul
abgebildet. Um die Ergebnisse der zweiten Methode mit denen der ersten Methode vergleichen
zu können, muss jedoch die berechnete Lagerreaktionskraft auf die eigentlich vorgesehene
Gewichtskraft skaliert werden. Mit dem gleichen Faktor sind auch die übrigen Berechnungser-
gebnisse zu skalieren. Entsprechende Testanalysen haben gezeigt, dass nach der Skalierung die
Simulationsergebnisse bei beiden Methoden gleich sind. Obwohl bei der zweiten Methode eine
zusätzliche Skalierung der Ergebnisse erforderlich ist, um Aussagen für eine konstante Ge-
wichtskraft zu erhalten, hat diese zweite Methode im Vergleich zur ersten Methode den Vor-
teil, dass durch die Vorgabe der Verschiebung am Loslager die nichtlineare FE-Simulation
232 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

numerisch stabiler abläuft und auch dann noch brauchbare Simulationsergebnisse liefert, wenn
die erste Methode bereits aus numerischen Gründen versagt.

26
Ober-
schenkelteil 60
42
40°

hinteres vorderes
Kreuzband Kreuzband

Unterschenkelteil
a = 46-56

Bild 6-16 Festlegung des zu variierenden Abstands a der Kreuzbandansatzpunkte an der Tibia

6.7.4 Ergebnisse der FE-Analysen mit ebenem Kniemodell


Mit den ebenen Simulationsmodellen werden Parameterstudien zum Einfluss der Kontur des
Femurs für das Gelenk zwischen Femur und Tibia sowie der Kontur des Femurs für das Ge-
lenk zwischen Femur und Patella auf die Kinematik und Kinetik des gesunden Kniegelenks
mit Kreuzbändern durchgeführt. Die unterschiedlichen Gelenkkonturen ergeben sich dadurch,

a) b) c)

Bild 6-17 Kniemodell mit Kreuzbändern bei verschiedenen Beugestellungen und a = 51 mm


a) Beugewinkel 30° b) Beugewinkel 90° c) Beugewinkel 115°
6.7 Bewegungsstudien am ebenen Kniemodell 233

dass die Positionen bzw. die Abstände der Bandansatzpunkte variieren und mit den beschrie-
benen Methoden die dazugehörigen Gelenkkonturen rekonstruiert werden. Exemplarisch wird
der Einfluss des Abstands a der Kreuzbandansatzpunkte an der Tibia betrachtet, Bild 6-16.
Bild 6-17 zeigt das Kniemodell mit Kreuzbändern bei verschiedenen Beugestellungen für den
Abstand a = 51 mm. Es wird deutlich, dass sich das Femur während der Kniebeuge relativ zur
Tibia nach hinten verlagert.
Um den Einfluss dieses Parameters auf die Kinematik und die Kräfte im Kniegelenk zu unter-
suchen, wird der Abstand a auf 46 mm verkürzt und auf 56 mm verlängert. Bild 6-18 zeigt den
Einfluss des Abstands a auf die Kinematik des Kniegelenks bei einem Beugewinkel von 90°.
Wie bei allen Varianten, bei denen der aufgrund des Viergelenkkettenmodells vorgegebene
eindeutige kinematische Zusammenhang zwischen den Gelenkkonturen und dem Bandapparat
erhalten bleibt, verlagert sich das Femur während der Kniebeuge relativ zur Tibia nach hinten.
Diese Rückverlagerung nimmt mit größer werdendem Abstand a zu.

a) b) c)

Bild 6-18 Einfluss des Abstands a der Kreuzbandansatzpunkte an der Tibia auf die Kinematik des
Kniegelenks in der Sagittalebene bei einem Beugewinkel von 90°
a) a = 46 mm b) a = 51 mm c) a = 56 mm

Bild 6-19 und Bild 6-20 zeigen den Einfluss des Abstands a auf die Kräfte bei der Kniebeuge.
Die einzelnen Verläufe für die Gelenkkontaktkräfte, die Muskelkraft und die Patellabandkraft
sind jeweils sehr ähnlich. Das gilt auch für die übrigen untersuchten Variationen der Gelenk-
konturen, die durch unterschiedliche Abstände der Bandansatzpunkte entstehen. Erst mit zu-
nehmendem Beugewinkel nehmen die Unterschiede bei den Kraftverläufen zu, da die Simula-
tion in allen Fällen bei der Streckstellung beginnt.
Charakteristisch für die in Bild 6-19b dargestellten Kraftverläufe ist der signifikante Knick bei
einem Beugewinkel von ca. 80°. Bis zu diesem Beugewinkel nehmen die Winkel zwischen der
Patellarückfläche und dem Schenkelstrecker sowie der Patellarückfläche und dem Patellaband
ab, Bild 6-17. Da bei den betrachteten Modellen der Winkel zwischen der Patellarückfläche
und dem Schenkelstrecker stärker abnimmt als der Winkel zwischen der Patellarückfläche und
dem Patellaband, sinkt die Kraft im Patellaband relativ zur Muskelkraft, Bild 6-20b. Ab dem
Beugewinkel von ca. 80° berühren die Knoten der Seilelemente, die den Schenkelstrecker
234 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

abbilden, die Femurkontur. Ab diesem Beugewinkel ändern sich die Winkel zwischen der
Patella rückfläche und dem ersten, zum Schenkelstrecker gehörenden Seilelement sowie der
Patellarückfläche und dem Patellaband nur noch geringfügig. Das bedeutet, dass unabhängig
von dem Abstand a dann das Verhältnis der Patellabandkraft zur Muskelkraft nahezu konstant
bleibt, Bild 6-20b.

a) 5
.

4
Bodenreaktionskraft
Gelenkkraft FT/

2
a = 46
1 a = 51
a = 56
0
0 20 40 60 80 100 120
Beugewinkel in Grad

b)
8
.

7
Bodenreaktionskraft

6
Gelenkkraft FP/

5
4
3
a = 46
2 a = 51
1 a = 56
0
0 20 40 60 80 100 120
Beugewinkel in Grad
Bild 6-19 Einfluss des Abstands a der Kreuzbandansatzpunkte bei der Tibia auf die in der Sagittalebe-
ne wirkenden Kniegelenkkräfte bezogen auf das anteilige Körpergewicht
a) Relative Gelenkkraft FT zwischen Femur und Tibia
b) Relative Gelenkkraft FP zwischen Femur und Patella

Die Modellierung der Kreuzbänder als druckschlaffe Seile ergibt, dass in der Streckstellung
nur das vordere Kreuzband und mit zunehmendem Beugewinkel nur das hintere Kreuzband
belastet ist, wobei die maximale relative Belastung des vorderen Kreuzbands wesentlich gerin-
ger ist als die relative Belastung des hinteren Kreuzbands bei größeren Beugewinkeln, Bild
6-21.
Der Beugewinkel, bei dem beide Kreuzbänder entlastet sind, bei dem auch der Wechsel zwi-
schen der Belastung des vorderen und des hinteren Kreuzbandes stattfindet, ist umso größer je
kleiner der Abstand a der Ansatzstellen an der Tibia ist. Je kürzer dieser Abstand a, desto
früher wird bei großen Beugewinkeln ein charakteristisches Maximum bei der relativen Kraft
im hinteren Kreuzband erreicht, Bild 6-21b. Beim diesem Maximum überquert der Momentan-
pol, das ist der Schnittpunkt der Kreuzbänder (siehe Bild 5-26), den Femuransatzpunkt des
6.7 Bewegungsstudien am ebenen Kniemodell 235

vorderen Kreuzbands und die überschlagene Viergelenkkette öffnet sich, d. h. die Kreuzbänder
schneiden sich nicht mehr. Offensichtlich wird dann die Gültigkeitsgrenze des Modells der
überschlagenen Viergelenkkette erreicht. Dies zeigt, dass die Bandabmessungen nur innerhalb
eines bestimmten Bereichs sinnvoll variiert werden können.

a) . 7
6
Bodenreaktionskraft

5
4
Muskelkraft/

3
a = 46
2 a = 51
a = 56
1
0
0 20 40 60 80 100 120
Beugewinkel in Grad
b)
1,05
1
.

0,95
Patellabandkraft/

0,9 a = 46
0,85 a = 51
Muskelkraft

0,8 a = 56
0,75
0,7
0,65
0,6
0 20 40 60 80 100 120
Beugewinkel in Grad
Bild 6-20 Einfluss des Abstands a der Kreuzbandansatzpunkte auf die Muskelkräfte
a) Muskelkraft bezogen auf die Bodenreaktionskraft
b) Verhältnis zwischen Patellabandkraft und Muskelkraft

Außerdem werden mit entsprechenden FE-Modellen die Auswirkungen gerissener bzw. falsch
fixierter Bandimplantate untersucht, Bild 6-15b. Fehlen die Kreuzbänder, so bleibt die Rück-
verlagerung der Femurs während der Beugebewegung aus, Bild 6-22. Die beschriebene Domi-
nanz des hinteren Kreuzbands bei den untersuchten Modellen mit intakten Kreuzbändern wird
auch bestätigt, wenn das Fehlen eines oder beider Kreuzbänder simuliert wird. Bild 6-22 zeigt
den Einfluss fehlender Kreuzbänder auf die Kinematik des Kniegelenks. Die in Bild 6-17 zu
erkennende Rückverlagerung des Femurs durch das hintere Kreuzband relativ zur Tibia findet
nicht statt. Bis zu einem Beugewinkel von ca. 80° berührt der Femur die Tibia nahezu bei der
gleichen Stelle und bei größeren Beugewinkeln wandert der Femur sogar auf der Tibia nach
vorne, Bild 6-22. Fehlt nur das vordere Kreuzband, hat das bei der untersuchten Belastungssi-
tuation nahezu keinen Einfluss auf die Kniemechanik, Bild 6-23a. Fehlt das hintere Kreuz-
band, Bild 6-23b, oder fehlen beide Kreuzbänder, Bild 6-23c, dann bleibt die Rückverlagerung
236 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

a)

Bandkraft VK/Bodenkraft
0,1
0,08
0,06
0,04 a = 46
a = 51
0,02 a = 56
0
0 20 40 60 80 100 120
Beugewinkel in Grad
b) 3
Bandkraft HK/Bodenkraft

2,5
2
1,5
1 a = 46
a = 51
0,5 a = 56
0
0 20 40 60 80 100 120
Beugewinkel in Grad

Bild 6-21 Einfluss des Abstands a der Kreuzbandansatzpunkte bei der Tibia auf die Belastung der
Kreuzbänder
a) Belastung des vorderen Kreuzbands VK b) Belastung des hinteren Kreuzbands HK

a) b) c)

Bild 6-22 Einfluss fehlender Kreuzbänder auf die Kinematik des Kniegelenks
a) Beugewinkel 20° b) Beugewinkel 80° c) Beugewinkel 120°
6.7 Bewegungsstudien am ebenen Kniemodell 237

des Femurs während der Beugebewegung aus. Eine Folge davon ist, dass die notwendige
Muskelkraft für das Halten einer bestimmten Beugestellung größer ist als mit intaktem hinte-
rem Kreuzband, Bild 6-24.
Die Simulation fehlerhafter Reinserierung von Kreuzbändern ergibt, dass sich die Abstände
der Bandansatzpunkte während der Kniebeuge verändern und nicht, wie im Idealfall isomet-
risch sind. Verkürzt sich der Abstand der Ansatzpunkte kann das Band die Bewegung nicht
führen und das Knie wird instabil. Vergrößert sich der Abstand, verspannt sich das Band allein
aufgrund der Beugebewegung, wobei dadurch gleichzeitig auch das zweite Kreuzband ver-
spannt wird. Je nach Art der Fehlanbindung können im Laufe der Beugebewegung beide Fehl-
funktionen abwechselnd auftreten.

a) b) c)

Bild 6-23 Einfluss gerissener Kreuzbänder auf die Kinematik des Kniegelenks in der Sagittalebene,
Beugewinkel 80°
a) Fehlendes vorderes Kreuzband
b) Fehlendes hinteres Kreuzband
c) Fehlendes vorderes und hinteres Kreuzband

Die Ergebnisse der Studien mit den ebenen Kniemodellen zeigen, dass, solange der vorgege-
bene eindeutige kinematische Zusammenhang zwischen den Gelenkkonturen und dem
Bandapparat erhalten bleibt, Variationen bei den Konturen des Gelenks zwischen Femur und
Tibia sowie des Gelenks zwischen Femur und Patella erst bei größeren Beugewinkeln einen
nennenswerten Einfluss auf die Belastung des Kniegelenks haben. Bei kleineren Beugewinkeln
sind die individuellen Unterschiede gering. Dahingegen haben fehlende oder falsch reinserierte
Kreuzbänder deutliche Auswirkungen auf die Kinematik und die Beanspruchung des Kniege-
lenks. Die Ergebnisse für die ebenen Modelle lassen den Schluss zu, dass bei falsch reinserier-
ten Kreuzbändern die Beanspruchung des Kniegelenks höher sein kann als bei fehlenden
Kreuzbändern insbesondere, wenn sich der Bandapparat bereits aufgrund der Bewegung ver-
spannt, selbst wenn keine äußere Belastung vorliegt.
238 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

Muskelkraft/Bodenreaktionskraft
8 mit Kreuzbändern
.
7 nur hinteres Kreuzband
nur vorderes Kreuzband
6 ohne Kreuzbänder
5
4
3
2
1
0
0 20 40 60 80 100 120 140
Beugewinkel in Grad
Bild 6-24 Einfluss gerissener Kreuzbänder auf die relative Muskelkraft

Zusammenfassend geben die Ergebnisse für die ebenen Modelle wichtige Hinweise für die
Interpretation der Resultate für dreidimensionale Modelle. Außerdem zeigen die Ergebnisse,
dass man sich bei weitergehenden Prinzipstudien mit dreidimensionalen Kniemodellen auf
eine Geometrie beschränken kann.

6.8 Bewegungsstudien am räumlichen Kniemodell


Zur Simulation der Kniebeuge mit einem dreidimensionalen Modell werden die in Kapitel
6.5.1 vorgestellten CAD-Modelle für den Femur, die Tibia und die Patella zu einem FE-
Modell zusammengebaut, Bild 6-25. Bei der Generierung der CAD-Modelle kann die weichere
Knorpelschicht, die den Knochen in den Gelenkbereichen umhüllt, nicht unmittelbar berück-
sichtigt werden, weil sie, wie in Kapitel 6.4.2 beschrieben, bei der Segmentierung der CT-
Daten mit FAMFiltraCT bzw. FAM-FiltRad aufgrund ihrer geringen Dichte herausgefiltert wird.
Sie muss daher nachträglich in das Modell eingebracht werden. Da zunächst im Wesentlichen
die Kontaktkräfte zwischen den Gelenkflächen bzw. die Kräfte in den Bändern und den Mus-
keln und nicht die Spannungen innerhalb der Knochen von Interesse sind, wird der Femur als
starrer Körper abgebildet und auf die Modellierung der Knorpelschicht auf den Femurgelenk-
flächen verzichtet. Zur Berücksichtigung der Knorpelschichten bei der Tibia und der Patella
werden bei den ersten Modellen mit dem CAD-Programm I-DEASTM im Bereich der Gelenk-
oberflächen zusätzliche, 3 mm dicke Schichten modelliert, wobei die Oberflächenformen den
darunterliegenden Knochenformen entsprechen. Diese Bereiche werden mit linearen Tetra-
ederelementen, deren Materialeigenschaften weicher als die der Knochen sind, vernetzt. Aller-
dings können diese Bereiche nicht so nachgiebig gestaltet werden, wie es dem Knorpel ent-
spricht, weil ansonsten die Elementverzerrungen unzulässig groß werden und die FE-
Simulation mit einer Fehlermeldung abbricht. In einer Weiterentwicklung des FE-Modells
wird daher auf eine gesonderte Modellierung der Knorpelschichten in Form von zusätzlichen
Elementbereichen verzichtet und die in Kapitel 6.6 beschriebene Option softened contact, die
bei der Kontaktdefinition von ABAQUSTM bereitgestellt wird, verwendet, um die Knorpel-
schicht auf einfache Weise zu implementieren. Bei dieser Möglichkeit wird, wie auch bei dem
ersten Modell die darunterliegende Knochenoberfläche als Bezugsfläche verwendet und es
6.8 Bewegungsstudien am räumlichen Kniemodell 239

können adäquate Nachgiebigkeiten für die Knorpelschicht definiert werden, ohne dass unzu-
lässig große Elementverzerrungen zum vorzeitigen Abbruch der FE-Simulation führen.

6.8.1 Modellbildung
Da das Femur als Starrkörper betrachtet wird, werden bei der Kontaktpaardefinition die Ge-
lenkflächen des Femurs als master surface und die Oberflächen bei der Tibia und der Patella,
bei denen die Knorpelschichten berücksichtigt werden, als slave surfaces gewählt. Außerdem
ist es völlig ausreichend nur die Oberfläche des Femurs mit dreieckigen rigid-Elementen zu
vernetzen. Grundsätzlich ist es sogar ausreichend, wie bei der Weiterentwicklung des FE-
Modells in Bild 6-27 zu sehen, ausschließlich die Gelenkflächen auf dem Femur abzubilden,
weil der Schaft auf die Simulationsergebnisse keinen Einfluss hat. Als Referenzknoten, bei
dem alle Belastungs- und Verschiebungsgrößen, die den Femur betreffen, vorgegeben bzw.
berechnet werden, wird ein spezieller Knoten in der Höhe des körpernahen Femurschaftendes,
in medialer Richtung zum hinteren Schaftrand versetzt, auf der Tragachse des Beins generiert.

a) b) c) d)
Lager 1

Verschiebung
von Lager 1
längs der Wir-
kungslinie

Lager 2

Bild 6-25 Räumliches FE-Modell des Kniegelenks mit Randbedingungen für die Kniebeugung
a) Ansicht von lateral
b) Ansicht von dorsal
c) Ansicht von medial
d) Ansicht von ventral

Die FE-Modelle der Tibia und der Patella sind durch Tetraederelemente mit vier Knoten und
linearem Verschiebungsansatz vernetzt, da ABAQUSTM bei dreidimensionalen Kontaktrech-
nungen die Verwendung von Tetraederelementen erster Ordnung für die Definition der slave
surface empfiehlt. Das Materialverhalten der Elemente, welche die Tibia bzw. die Patella dar-
stellen, ist linear elastisch, homogen und isotrop mit einem E-Modul, der so hoch ist, dass die
elastischen Verformungen während der gesamten Simulation vernachlässigbar bleiben. Das
Patellaband und der Schenkelstrecker sind jeweils mit mindestens zwei Seilelementen abgebil-
240 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

det. Während für die Seilelemente des Patellabands der E-Modul ebenfalls so hoch gewählt
wird, dass wie bei der Tibia und der Patella die elastische Verformung keine wesentliche Ge-
ometrieänderung darstellt und dieser Einfluss auf die Ergebnisse der geometrisch nichtlinearen
Analyse vernachlässigbar bleibt, wird der E-Modul für die Seilelemente des Schenkelstreckers
so niedrig gewählt, dass sich bei der Kniebeuge im Wesentlichen nur die Schenkelstreckerele-
mente verlängern. Diese Modellierung wird gewählt, weil die FE-Simulation, wie in Kapitel
6.7.2 für das ebene FE-Modell ausführlich beschrieben, aufgrund der höheren numerischen
Stabilität durch die Vorgabe einer Verschiebung anstatt der anteiligen Gewichtskraft durchge-
führt wird. Mit der Verwendung von jeweils mehreren Seilelementen für die Abbildung des
Patellabands und des Muskels wird eine stabilere Verbindung der Patella mit dem restlichen
Kniemodell erreicht und eine unerwünschte Rotation der Patella um die Sagittalachse vermie-
den und dadurch numerischen Problemen infolge von Starrkörperfreiheitsgraden vorgebeugt.
Da bei der Segmentierung der CT-Daten mit FAMFiltraCT bzw. FAM-FiltRad ähnlich wie bei
den Knorpelschichten Informationen über den Bandapparat bzw. die Ansatzpunkte der Bänder
verloren gehen, müssen auch die Bänder nachträglich implementiert werden. Wie für das ebe-
ne Kniemodell in Abschnitt 6.7 beschrieben, sind jedoch die Gelenkformen und die Abmes-
sungen und Ansatzpunkte des Bandapparats nicht unabhängig voneinander. Vielmehr sind
sogar zusätzliche Beanspruchungen bzw. kinematische Fehler zu erwarten, wenn der Bandap-
parat und die Gelenkformen nicht zusammenpassen. Deshalb wird bei dem ersten räumlichen
FE-Modell gänzlich auf die Abbildung der Kreuz- und Seitenbänder verzichtet. Mit den damit
erzielbaren Ergebnissen kann die Übertragbarkeit der in Kapitel 5.5.6.3 beschriebenen Überle-
gungen zur Mechanik des Kniegelenks in der Sagittalebene bei Verletzungen des Bandapparats
auf das natürliche räumliche Kniegelenk überprüft werden. Bei der Weiterentwicklung des
räumlichen Modells werden die Kreuzbänder nachträglich in das Modell integriert. Da die
Bandansatzstellen nicht eindeutig bekannt sind, können systematische Fehler auftreten, weil
nicht sichergestellt werden kann, dass der Bandapparat und die Gelenkflächenformen exakt
zusammenpassen. Daher werden mit anatomischen Betrachtungen die wahrscheinlichsten
Ansatzstellen festgelegt, um diese Fehler zu minimieren.

6.8.2 Definition der Randbedingungen


Die Randbedingungen des ebenen Kniemodells werden für das räumliche Modell entsprechend
erweitert. An den Berührungsstellen zwischen den Knochen können nur Normalkräfte übertra-
gen werden, da reibungsfreier Kontakt vorausgesetzt wird. Die Menisken des Kniegelenks
bleiben bei den betrachteten FE-Modellen unberücksichtigt, weil sie, wie in Kapitel 5.5.6.1
beschrieben, weder die Kinematik noch die Kräfte, sondern nur die Druckverteilung im Gelenk
zwischen Femur und Tibia beeinflussen. Für die Simulation der Kniebeuge gelten entspre-
chend Bild 6-25 folgende Randbedingungen. Das starre Femur ist am Referenzknoten durch
das Lager 1 gelagert. Dieses Lager unterbindet die beiden Translationen senkrecht zu der Ver-
bindungslinie zwischen Lager 1 und Lager 2, die der Tragachse des Beins entspricht, sowie die
Rotation um diese Verbindungslinie. Entlang der Verbindungslinie wird bei Lager 1, wie in
Kapitel 6.7.3 für das ebene FE-Modell beschrieben, die Verschiebung rampenförmig erhöht,
um die Kniebeuge einzuleiten. Die für diese Verschiebung notwendige Reaktionskraft ist pro-
portional zu der anteiligen Gewichtskraft der oberhalb des Kniegelenks befindlichen Körper-
masse und wird bei der Auswertung der FE-Simulation auf diese Kraft skaliert. Mit dem sich
dabei ergebenden Faktor sind auch alle anderen Kräfte zu skalieren. Die Tibia ist distal am
hinteren Schaftrand durch das Lager 2, das alle drei Translationen im Raum unterbindet, gela-
gert.
6.8 Bewegungsstudien am räumlichen Kniemodell 241

Wenn die Lagerreaktionskraft beim Lager 1 in Richtung der vorgegebenen Verschiebung als
äußere Kraft betrachtet wird, dann ist das System mit diesen Randbedingungen äußerlich sta-
tisch bestimmt gelagert. Es hat jedoch, wie in Kapitel 5.5.6 beschrieben, innere Freiheitsgrade,
da bei dem ursprünglichen Simulationsmodell weder die Kreuzbänder noch die Seitenbänder
und bei der Weiterentwicklung des Modells nur die beiden Kreuzbänder berücksichtigt sind.
Gleichgewicht ist daher bei statischer Belastung nur am verformten Gesamtsystem möglich,
wenn sich die Gelenkflächen entsprechend der äußeren Belastung ausgerichtet haben.

6.8.3 Durchführung der FE-Analyse


Ähnlich, wie in Kapitel 6.7.3 für die ebenen FE-Modelle beschrieben, sind bei der Durchfüh-
rung der FE-Simulation für die räumlichen FE-Modelle spezielle, vorbereitende Lastschritte
erforderlich, bis die eigentliche Ausgangsposition für die Kniebeuge erreicht ist. Zu Beginn
der Analyse wirkt in den Seilelementen, die den Muskel und die Bänder darstellen, noch keine
Anfangsspannung und bei den Kontaktstellen ist noch kein Kontaktdruck aufgebaut. Somit
können die Kontaktstellen noch nicht zur Stabilität des Systems beitragen. Deshalb werden zur
Vermeidung von Starrkörperfreiheitsgraden, die zum Abbruch der Simulation führen würden,
das Femur, die Tibia und die Patella zunächst durch spezielle Dämpferelemente gegenüber der
Umgebung gestützt. Die Stützkräfte in den Dämpferelementen sind der entsprechenden Abso-
lutgeschwindigkeitskomponente des Knotens, an den das Dämpferelement angebunden ist,
proportional und wirken dieser entgegen. Damit können Starrkörperfreiheitsgrade vermieden
werden, ohne eine starre Lagerung vorsehen zu müssen. Die Dämpfungskonstante und die
Belastungsgeschwindigkeit werden so klein gewählt, dass die Dämpferkräfte vernachlässigbar
klein bleiben und nur die notwendige numerische Stabilität sicherstellen. Außerdem ver-
schwinden die Geschwindigkeiten und damit die Dämpferkräfte, wenn das System den Aus-
gangsgleichgewichtszustand erreicht. Dann können die Dämpferelemente für die eigentliche
Simulation der Kniebeuge wieder entfernt werden. Eine ausführliche Beschreibung der Hilfs-
maßnahmen zur Durchführung der FE-Simulation ist in [6-18] zu finden.

6.8.4 Auswertung der Ergebnisse


Bild 6-26 zeigt die mit der FE-Methode berechneten Verformungen des ursprünglichen räum-
lichen Kniemodells ohne Kreuz- und Seitenbänder. Da im Gegensatz zur konkav gekrümmten
medialen Tibiagelenkfläche, bei der sich nach Bild 5-25a die relative Lage der Gelenkflächen
zwischen Femur und Tibia selbst stabilisiert, die laterale Tibiagelenkfläche wie die dazugehö-
rige Femurgelenkfläche konvex gekrümmt ist, tritt entsprechend Bild 5-25b in diesem Bereich
keine Stabilisierung der relativen Lage des Femurs zur Tibia auf. Das bedeutet jedoch nicht,
dass sich das Gesamtsystem instabil verhält, weil die zusätzlichen mechanischen Kopplungen
zwischen dem Femur und der Tibia in der ausgerichteten Position die stabile Übertragung der
Gelenkdruckkräfte gewährleisten. Für die Simulation der Relativbewegung zwischen Femur
und Tibia hat dies zur Folge, dass sich das Femur nach einer anfänglichen Ausgleichsbewe-
gung stabilisiert. Diese Position stellt den Ausgangszustand für die eigentliche Simulation der
Kniebeuge dar. Während der Kniebeuge bewegt sich das Femur zunächst, wie aufgrund der
Ergebnisse für die ebenen FE-Modelle in Kapitel 6.7.3 erwartet, nach hinten. Bei größerem
Beugewinkel kehrt sich die Relativbewegung des Femurs bzgl. der Tibia jedoch um und der
Femur gleitet nach vorne, Bild 6-26. Bei der FE-Simulation findet das Nachvornegleiten des
Femurs so lange statt, bis er über den vorderen Rand des Tibiaplateaus rutscht und die FE-
Simulation aufgrund numerischer Instabilitäten abbricht bzw. die Ergebnisse physikalisch
242 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

unbrauchbar sind. Obwohl mit zunehmendem Beugewinkel die errechnete Bewegung des
Kniegelenks von den physiologischen Bewegungsabläufen abweicht, stimmen die qualitativen
Ergebnisse mit den Ergebnissen nach [6-27 bis 6-30] recht gut überein. Dass das Femur auf
der Tibia nach vorne gleitet, folgt aus dem Fehlen der Kreuzbänder. Diese charakteristische
Relativbewegung des Femurs wird auch für das ebene Modell beobachtet, wenn die Kreuz-
bänder fehlen, Bild 6-22.

a) b) c)

Bild 6-26 FE-Bewegungsanalyse für das räumliche Kniegelenk ohne Kreuzbänder bei verschiedenen
Beugestellungen
a) Beugewinkel 20°
b) Beugewinkel 50°
c) Beugewinkel 70°

In Bild 6-27 sind die Ergebnisse der Bewegungsanalyse für die Weiterentwicklung des räumli-
chen Kniemodells mit nachträglich implementierten Kreuzbändern dargestellt. Die Ergebnisse
zeigen, dass allein durch die Berücksichtigung der Kreuzbänder das Femur sich während der
gesamten simulierten Kniebeugebewegung nach hinten verlagert, wie es der natürlichen Knie-
bewegung entspricht. Das Fehlen der Seitenbänder, die im natürlichen Kniegelenk die Rotation
der Tibia um ihre Längsachse begrenzen, ist bei diesem Modell kompensiert, indem zusätzlich
zu den in Kapitel 6.8.1 beschriebenen Randbedingungen nach Bild 6-25 auch für die Tibia die
Rotation um die Verbindungslinie zwischen Lager 1 und Lager 2 verhindert wird. Dazu wird
nicht nur bei Lager 1, sondern auch bei Lager 2 dieser Rotationsfreiheitsgrad Null gesetzt. Die
Beugebewegung kann mit diesem Modell bis zu einem Winkel von ca. 100° simuliert werden.
Eine Simulation über diesen Beugewinkel hinaus ist nicht sinnvoll, da noch kein Kontakt zwi-
schen Schenkelstrecker und Femur vorgesehen ist und bei größeren Beugewinkeln die Mus-
kelelemente die Femuroberfläche rechnerisch durchdringen.
Grundsätzlich bestätigen die Ergebnisse für die räumlichen FE-Modelle die Erkenntnisse, die
mit den ebenen Modellen ermittelt wurden. Das gilt im Prinzip auch für die Kraftverläufe,
6.8 Bewegungsstudien am räumlichen Kniemodell 243

a) b) c) d)

Bild 6-27 FE-Bewegungsanalyse für das räumliche Kniegelenk mit Kreuzbändern bei verschiedenen
Beugestellungen
a) Beugewinkel 10°
b) Beugewinkel 40°
c) Beugewinkel 70°
d) Beugewinkel 90°

berechnet mit dem ersten Modell ohne Bandapparat. Die Muskelkraft bezogen auf die anteilige
Gewichtskraft nimmt ähnlich wie bei den ebenen Modellen im Beugewinkelbereich bis etwa
80° nahezu linear zu, Bild 6-28a. Gleichzeitig nimmt die Patellabandkraft bezogen auf die
Muskelkraft ab, Bild 6-28b.

a) b)
2 1,4
1,8
Muskelkraft/Bodenreaktionskraft

1,2
Patellabandkraft/Muskelkraft

1,6
1,4 1

1,2
0,8
1
0,6
0,8
0,6 0,4
0,4
0,2
0,2
0 0
0 20 40 60 80 100 0 20 40 60 80 100
Kniebeugewinkel [Grad] Kniebeugewinkel [Grad]

Bild 6-28 Kräfte im Kniegelenk in Abhängigkeit des Beugewinkels berechnet mit dem räumlichen FE-
Modell ohne Bandapparat
a) Verhältnis der Muskelkraft zur Bodenreaktionskraft
b) Verhältnis der Patellabandkraft zur Muskelkraft
244 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

6.8.5 Entwicklung eines räumlichen Kniegelenkmodells auf der Basis der


Hüllflächentheorie
Die beschriebenen grundlegenden Finite-Elemente-Simulationen mit aus CT-Daten selbster-
stellten, dreidimensionalen Kniegelenkmodellen zeigen im Vergleich mit den Ergebnissen für
die ebenen Kniegelenkmodelle, dass die jeweiligen Ergebnisse für die Kinematik und die Kräf-
te des Kniegelenks prinzipiell vergleichbar sind. Damit ist es möglich, grundsätzliche Untersu-
chungen und Parameterstudien zum Einfluss des Bandapparats auf die Belastung des Kniege-
lenks an ebenen Kniemodellen durchzuführen. Dennoch kann nicht gänzlich auf dreidimensio-
nale Modelle verzichtet werden.
Bei den Simulationen der Kniebewegung sind aufwändige Kontaktanalysen mit der Finite-
Elemente-Methode unerlässlich. Dabei treten bei aus Computertomographiedaten rekonstruier-
ten Gelenkkontaktflächen häufig Konvergenzprobleme auf, weil die zusammengehörigen Ge-
lenkflächen bei dieser Rekonstruktionsmethode unabhängig voneinander erzeugt werden bzw.
nur für die bei der CT-Aufnahme gewählte Gelenkstellung optimiert werden können. Das führt
bei der Beugebewegung häufig zu abrupten Änderungen des Kontaktstatus zwischen den Kon-
taktflächen und oft zum Abbruch der Simulation. Ferner ist die korrekte Rekonstruktion der
Wirkungslinien bzw. Ansatzpunkte der Kreuz- und Seitenbänder aus radiologischen Daten
nicht zu definieren. Damit ist nicht sichergestellt, dass während der Kniebewegung in jeder
Beugestellung die Gelenkflächen in Kontakt sind und eindeutig durch den Bandapparat geführt
werden. Außerdem ist nicht ausgeschlossen, dass sich der Bandapparat bei fehlender äußerer
Belastung allein aufgrund der Bewegung verspannt. Es zeigt sich, dass Parameterstudien mit
dreidimensionalen Modellen auf der Basis von Computertomographiedaten aufgrund der ge-
nannten numerischen Probleme sehr aufwändig sind. Weiterhin besteht die Gefahr, dass insbe-
sondere beim Zusammenhang zwischen dem Bandapparat und den Gelenkflächenformen sys-
tematische Fehler bei der Modellbildung auftreten können, so dass die Simulationsergebnisse
mit Unsicherheiten verbunden sind.
Auch die Schwankungen beim Verlauf der Patellabandkraft bezogen auf die Muskelkraft in
Bild 6-28b sind unter anderem dadurch begründet, dass durch die Rekonstruktion der Gelenk-
flächen aus CT-Daten die Oberflächen nicht exakt abgebildet werden können. Diese Schwan-
kungen sind geringer, wenn der Bandapparat wie bei der Weiterentwicklung des FE-Modells
mitberücksichtigt wird. Dadurch können Instabilitäten im Bewegungsablauf infolge fehlender
kinematischer Kopplungen vermieden werden. Dennoch ist nicht gewährleistet, dass die Ge-
lenkflächenformen und der Bandapparat kinematisch kompatibel sind, weil die Kreuzbänder,
ohne die Ansatzstellen exakt festlegen zu können, nachträglich in das Modell integriert worden
sind. Die Kreuzbänder sind als geradlinige Bandzüge mit punktförmiger Befestigung ideali-
siert. Damit wird weder die Dicke des jeweiligen Bands, noch die nach [6-25] vorhandene
ungleiche Länge bzw. unterschiedliche Orientierung der einzelnen Faserbestandteile innerhalb
eines Bands berücksichtigt. Um diese natürliche Form der Kreuzbänder in dem Simulations-
modell abbilden zu können, müsste zumindest für eine definierte Gelenkstellung sichergestellt
sein, dass alle Faserzüge der Bänder gerade nicht gespannt sind und anatomisch korrekt einge-
bunden sind. Dieses Problem wird hier umgangen, indem die einzelnen Bänder nach
FRIEDERICH und O’BRIAN [6-31] durch die jeweiligen isometrischen Fasern, die während
der gesamten Beugebewegung eine konstante Länge aufweisen, ersetzt werden. Damit können
zwar die Bänder, wie beschrieben, durch jeweils ein einzelnes Bandelement abgebildet wer-
den, aber die Positionierung der Ansatzpunkte der idealisierten, isometrischen Bänder ist wei-
terhin mit Unsicherheiten verbunden. Bei den in Kapitel 6.7 betrachteten ebenen Modellen
hingegen sind die Gelenkkonturen passend zu dem Bandapparat, weil die Gelenkkonturen mit
6.8 Bewegungsstudien am räumlichen Kniemodell 245

der in Bild 6-14b beschriebenen Methode rekonstruiert worden sind. Dadurch sind die Ergeb-
nisse für die ebenen Modelle eindeutig reproduzierbar, so dass Parameterstudien möglich sind,
um den Einfluss von Geometrievariationen zu untersuchen. Um qualitativ gleichwertige Simu-
lationsergebnisse mit dreidimensionalen Modellen zu ermöglichen, wird, analog zu der in
Kapitel 6.7 beschriebenen Methode zur Rekonstruktion der Gelenkkonturen für die ebenen
Modelle, ein neues, dreidimensionales Getriebemodell zur Erzeugung der Femurgelenkflächen
für die Teilgelenke zwischen Femur und Tibia sowie zwischen Femur und Patella entwickelt.

Erhebung zwischen
den Gelenkknorren laterale
Gelenkfläche

mediale
Gelenkfläche

Ansatzpunkt
des vorderen
Kreuzbands
Ansatzpunkt
für das mediale a l
er
Seitenband lat
pos
ter ior
ial
ed
ante m
rior

Bild 6-29 CAD-Modell des Tibiakopfs mit idealisierten Gelenkflächen mit konstanten Krümmungsra-
dien

Zur Verallgemeinerung des für das ebene Kniegelenkmodell eingeführten Viergelenkketten-


modells, mit dem die Femurgelenkkontur für das Teilgelenk zwischen Femur und Tibia rekon-
struiert werden kann, wird die räumliche Anordnung der Kreuz- und Seitenbänder, welche die
Tibia mit dem Femur verbinden, nach dem erweiterten Modell von MENSCHIK [6-32, 6-33,
6-34] vorgegeben. Hierbei befinden sich die Ansatzpunkte der Seitenbänder in der Sagittal-
ebene auf den BURMESTER-Kurven der Kreuzbandviergelenkkette. Dadurch wird gewähr-
leistet, dass in der Sagittalebene die Viergelenkkette der Kreuzbänder und die Viergelenkkette
der Seitenbänder im Wesentlichen die gleiche Kinematik besitzen. Die räumlich gekrümmten
Gelenkflächen der Tibia werden mit konstanten Krümmungsradien nach Angaben von
KAPANDJI [6-25] idealisiert. Das daraus resultierende CAD-Modell des Tibiakopfs ist in Bild
6-29 dargestellt.
Zur Verallgemeinerung des KAPANDJI-Modells, mit dem die Femurgelenkfläche für das
Teilgelenk zwischen Femur und Patella rekonstruiert werden kann, werden das Patellaband,
die Patellahaltebänder, welche die Patella mit dem Femur verbinden, und die Patellarückfläche
vorgegeben. Die charakteristischen Bereiche der räumlich gekrümmten Gelenkflächen auf der
Rückseite der Patella werden wie bei dem Tibiakopf mit konstanten Krümmungsradien ideali-
siert. Das entsprechend generierte CAD-Modell der Kniescheibe zeigt Bild 6-30.
Mit den vorgegebenen Bandansatzpunkten und den CAD-Modellen der Tibia sowie der Patella
wird mit dem Programmpaket I-DEASTM [6-22] ein kinematisches Mehrkörpermodell des
246 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

Kniegelenks generiert und damit die Kniebewegung schrittweise simuliert. Mit den berechne-
ten Stellungen der Tibia und der Patella wird ein Femurdummy durch die vorgegebenen Ge-
lenkflächen der Tibia und der Patella beschnitten, um so kinematisch passende Gelenkflächen
auf dem Femur zu rekonstruieren. Zur Erweiterung der Tibiagelenkflächen, um die beim natür-
lichen Kniegelenk in der Beugestellung ausführbare Rotation um die Längsachse des Unter-
schenkels auch bei dem Kniegelenkmodell zu ermöglichen, wird bei einer weiteren Kinema-
tiksimulation bei rechtwinklig gebeugtem Knie der Unterschenkel gedreht und der Tibiakopf
mit den zuvor erstellten Gelenkflächen des Femurs beschnitten. Um die ursprünglich festgeleg-
ten Tibiagelenkflächen nicht nachträglich zu zerstören, wird als Drehachse die Verbindungsli-
nie der Krümmungsmittelpunkte der beiden vorgegebenen Tibiagelenkflächen gewählt.

horizontaler
mediale First
Gelenkfläche

vertikaler
laterale
First
Gelenkfläche
Bild 6-30 CAD-Modell der Patella mit idealisierten Gelenkflächen mit konstanten Krümmungsradien

Diese Methode zur Rekonstruktion der Femurgelenkflächen beruht auf der Annahme, dass
beim natürlichen Kniegelenk die räumlich gekrümmten Gelenkflächen auf dem Femur Hüllflä-
chen eines dreidimensionalen Getriebes darstellen, das durch den Bandapparat im Kniegelenk
sowie den Gelenkflächen der Tibia und der Patella gebildet wird, [6-35]. Entsprechend der in
Bild 6-14a dargestellten Rekonstruktionsmethode der Femurkontur als Hüllkurve einer Tan-
gentenschar werden durch das beschriebene Beschneiden des Femurdummys auf dessen Ober-
fläche Tangentialflächenscharen generiert, die jeweils gemeinsame Hüllflächen besitzen, die
den postulierten idealen Gelenkflächen entsprechen, Bild 6-31.
Bei der beschriebenen Methode zur Rekonstruktion der Gelenkflächen des Femurs treten
grundsätzlich die gleichen Probleme auf, wie beim ebenen Kniemodell bei der Rekonstruktion
der Femurgelenkkontur aus einer Tangentenschar. Wie Bild 6-31 zeigt, werden bei der Rekon-
struktion der Femurgelenkflächen aus Tangentialflächenscharen die Hüllflächen durch schma-
le, quer zur Relativbewegung der Gelenkpartner ausgerichtete, räumlich gekrümmte, zusam-
menhängende Flächenstreifen approximiert. Diese Flächenstreifen entsprechen den in Bild
6-14a dargestellten kurzen Geraden auf denen sich die Berührpunkte der Gelenkkonturen bei
den ebenen Modellen befinden. Analog dazu verlaufen innerhalb dieser Flächenstreifen die
Berührungslinien der Gelenkflächen, die zusammengesetzt die gesuchten optimalen Femurge-
lenkflächen darstellen. Aufgrund der numerischen Grenzen des CAD-Programms können diese
Flächenstreifen nicht beliebig schmal werden. Die exakten Berührungslinien bleiben also un-
bestimmt und die Verbindungslinien zwischen den Flächensteifen stellen die Linien mit der
größten Abweichung von den optimalen Gelenkflächen dar. Teilweise ergeben sich hier zu-
nächst sogar Stufen in den rekonstruierten Flächen. Vor der Vernetzung mit finiten Elementen
müssen daher diese Flächenstreifen zu Regionen zusammengefasst werden, so dass genügend
glatte Oberflächen entstehen, die eine Kontaktsimulation mit der FE-Methode erlauben.
6.8 Bewegungsstudien am räumlichen Kniemodell 247

a) b)
laterale Gelenkfläche
mediale Gelenkfläche
Femur-Tibia Kontakt
Femur-Patella Kontakt

mediale Gelenkfläche laterale Gelenkfläche


Femur-Tibia Kontakt Femur-Patella Kontakt

Bild 6-31 Auf der Basis der Hüllflächentheorie beschnittener Femurdummy


a) Rekonstruierte Femurgelenkflächen für den Kontakt mit den Tibiagelenkflächen
(Ansicht von hinten)
b) Rekonstruierte Femurgelenkflächen für den Kontakt mit den Patellagelenkflächen
(Ansicht von vorne)

Ein auf Basis der Hüllflächentheorie erstelltes Simulationsmodell des Kniegelenks zeigt Bild
6-32. Das Modell entspricht im Wesentlichen dem natürlichen Kniegelenk. Erste Studien zur
Simulation der Kniebeuge zeigen, dass die Ergebnisse für das rekonstruierte Modell mit Er-
gebnissen für Modelle basierend auf CT-Daten prinzipiell übereinstimmen, wobei das rekon-
struierte Modell deutlich bessere Kontaktzonen liefert, so dass numerische Probleme bei der
FE-Simulation aufgrund ungenau abgebildeter Kontaktbereiche vermieden werden können.

Bild 6-32 Finite-Elemente-Modell des Kniegelenks erstellt mittels der Hüllflächentheorie

Wie Bild 6-32 zeigt, stellen die aus Tangentialflächenscharen erzeugten Femurgelenkflächen
eine recht gute Approximation der optimalen Gelenkflächen dar. Allerdings sind die Ergebnis-
se der Rekonstruktion auch bei identischen Ausgangssituationen unter anderem davon abhän-
gig, wie viele Beugestellungen verwendet werden bzw. aufgrund der numerischen Grenzen des
CAD-Programms verwendet werden können, um den Femurdummy zu beschneiden. Außer-
dem sind Ergebnisse davon abhängig wie die einzelnen Teilflächen zu Regionen zusammenge-
fasst werden. Diese Unbestimmtheit bei der Modellerstellung bedingt Unsicherheiten bei der
Interpretation der Ergebnisse von Parameterstudien.
248 6 Finite-Elemente-Analysen des Bewegungsapparats

Mit Hilfe des so gewonnenen Modells können grundlegende Kinematik- und Beanspru-
chungssimulationen durchgeführt werden. Außerdem kann auf dieser Basis ein künstliches
Kniegelenk für die Endoprothetik entwickelt werden. Eine weitere Anwendung ist der Einsatz
des Kniegelenksmodells zum Studium des Einflusses von Veränderungen der Struktur des
Kniegelenks auf die Kniemechanik. Strukturveränderungen beim Kniegelenk ergeben sich
z. B. durch Verletzungen am Bandapparat, Veränderungen bei den Bandansatzpunkten und
den Bandlängen bei operativen Eingriffen nach Verletzungen am Bandapparat oder die Entfer-
nung der Menisken bzw. Teile der Menisken. Solche Simulationsmöglichkeiten sind insbeson-
dere für Orthopäden und Chirurgen aber auch für Sportwissenschaftler von Interesse, um die
komplizierte Mechanik des Kniegelenks grundlegend verstehen bzw. Studenten oder Patienten
anschaulich vermitteln zu können. Mit solchen Simulationen können die Auswirkungen von
geplanten Operationen abschätzt werden und damit die Anzahl von Misserfolgen reduziert
werden. Ferner können hiermit Trainingsmethoden optimiert und die Gefahr von Ver-
schleißerkrankungen minimiert werden.

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Deutschen Gesellschaft für Biomechanik, 2007, S. 94
7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und
Medizin

In den bisherigen Kapiteln wurden mehrere Beispiele eingefügt, um ein vertieftes Verständnis
der Grundlagen zu fördern. Dabei stand bereits die Praxisrelevanz im Mittelpunkt. Einen zu-
sammenfassenden Einblick in die Anwendung der in diesem Buch dargestellten Methoden und
Konzepte sollen auch die nachfolgenden Beispiele aus der Praxis liefern. Zudem werden
präoperative Finite-Elemente-Studien für einen Unterarm, die Entwicklung eines künstlichen
Kniegelenks und strukturmechanische Studien zur Knochenbruchheilung vorgestellt.

7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports


Mit den Grundlagen der Biomechanik lassen sich für zahlreiche Gegebenheiten des menschli-
chen Bewegungsapparats Erklärungen oder sogar Lösungen finden. Ausgewählte Beispiele aus
dem Bereich des Sports sollen die bisher vorgestellten Grundlagen vertiefen.

7.1.1 Wurf- und Stoßbewegungen in der Leichtathletik


In den Wurf- oder Stoßdisziplinen der Leichtathletik gilt es, das Sportgerät über eine möglichst
große Entfernung zu werfen oder zu stoßen. Die Flugweite eines geworfenen oder gestoßenen
Gegenstands ergibt sich grundsätzlich aus
der Abfluggeschwindigkeit v0,
dem Abflugwinkel α0,
der Abflughöhe h 0,
der Luftwiderstandskraft FW = k·v2 sowie
der Erd- oder Schwerebeschleunigung g = 9,81 m/s2.

y v0

α0

h0

x
l
Bild 7-1 Flugbahn beim Kugelstoßen mit Abfluggeschwindigkeit v0, Abflugwinkel α0, Abflughöhe h0
und Flugweite l

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
H. A. Richard und G. Kullmer, Biomechanik,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-28333-9_7
252 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Da beispielsweise beim Kugelstoßen oder beim Hammerwerfen die Luftwiderstandskraft nicht


beeinflusst werden kann, muss sich die Aufmerksamkeit des Leichtathleten auf die Abflugge-
schwindigkeit, den Abflugwinkel und die Abflughöhe richten. Der Luftwiderstand wird bei
den nachfolgenden Betrachtungen vernachlässigt.
Entsprechend Kapitel 4.6.5.3 lassen sich mit den dynamischen Grundgleichungen die Be-
schleunigungskomponenten x und y ermitteln, siehe Gleichung (4.86) und Gleichung (4.87).
Die Koordinaten x und y ergeben sich mit Gleichung (4.88) und Gleichung (4.89), wobei für
die in Bild 7-1 gezeigte Flugbahn die Anfangsbedingungen v0x  v0  cos  0 , v0y  v0  sin  0
sowie x  x0  0 und y  y 0  h0 zum Zeitpunkt t  t 0  0 verwendet werden. Mit den
daraus ermittelten Integrationskonstanten ergeben sich die Koordinaten der Flugbahn
x(t )  v0  t  cos  0 (7.1)

g t2
y (t )    v0  t  sin  0  h0 (7.2)
2
in Parameterdarstellung (mit dem Parameter t) bzw. die Bahngleichung
g
y ( x)  x  tan  0   x 2  h0 (7.3).
2v02 2
 cos  0

Die Wurf- oder Stoßweite erhält man, wenn man für den Auftreffpunkt die Koordinaten x = l
und y = 0 in Gleichung (7.3) einsetzt:

v02  2 g  h0 
l  cos  0   sin  0  sin 2  0   (7.4).
g  v02 
 
Mit dieser Beziehung lässt sich ermitteln, welchen Einfluss die Größen v0, α0 und h0 auf das
Stoß- oder Wurfergebnis haben.
Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse geben Hinweise für die Optimierung der Stoß- oder
Wurfergebnisse in den technischen Disziplinen der Leichtathletik.

7.1.1.1 Einfluss der Abfluggeschwindigkeit


Den größten Einfluss auf die Wurf- oder Stoßweite hat die Größe der Abfluggeschwindig-
keit v0. Sie wird in Gleichung (7.4) mit dem Quadrat ihres Betrages wirksam. Um eine Vorstel-
lung zu gewinnen, in welchem Umfang v0 die Stoß- oder Wurfweite beeinflusst, sind Ergeb-
nisse von Berechnungen in Tabelle 7-1 und in Tabelle 7-2 aufgeführt. Die angegebenen Werte
wurden mit Gleichung (7.4) berechnet, wobei h0 und α0 als konstant angenommen wurden.
Für das Kugelstoßen ergeben sich für h0 = 2,20 m und α0 = 41° die in Tabelle 7-1 angegebenen
Werte. Wenn der Leichtathlet die Abstoßgeschwindigkeit um 2 m/s steigert, wächst beim Ku-
gelstoßen die Stoßweite im Mittel um etwa 5 m.

Tabelle 7-1: Stoßweite l beim Kugelstoßen in Abhängigkeit von der Abfluggeschwindigkeit v0 für
h0 = 2,20 m und α0 = 41°

v0 [m/s] 10 12 14
l [m] 12,19 16,73 22,06
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 253

Beim Hammerwerfen liegen höhere Abwurfgeschwindigkeiten vor. Hier ergeben sich für
h0 = 2,00 m und α0 = 44° die in Tabelle 7-2 angegebenen Werte für die Flugweite. Beim
Hammerwerfen ist infolge der größeren Abfluggeschwindigkeit der Einfluss auf die Wurfweite
noch größer. Wird v0 um 2m/s gesteigert, ergibt sich ein Wurfweitenzuwachs von ca. 10 m.

Tabelle 7-2: Flugweite l beim Hammerwerfen in Abhängigkeit von der Abfluggeschwindigkeit v0 für
h0 = 2,00 m und α0 = 44°

v0 [m/s] 20 22 24 26
l [m] 42,73 51,30 60,68 70,88

7.1.1.2 Einfluss des Abflugwinkels


Einen deutlich geringeren Einfluss auf die Stoß- oder Wurfweite des Sportgerätes hat der Ab-
flugwinkel α0. Hier ergeben sich beim Kugelstoßen für v0 = 12 m/s und h0 = 2,2 m die in Ta-
belle 7-3 aufgeführten Werte.

Tabelle 7-3: Stoßweite l beim Kugelstoßen in Abhängigkeit vom Abflugwinkel α0 für v0 = 12 m/s und
h0 = 2,2 m

α0 [°] 35 40 45 50
l [m] 16,43 16,72 16,62 16,11

Für das Hammerwerfen sind die sich für v0 = 24 m/s und h0 = 2,0 m ergebenden Flugweiten in
Tabelle 7-4 dargestellt.

Tabelle 7-4: Wurfweite l beim Hammerwerfen in Abhängigkeit vom Abflugwinkel α0 für v0 = 24 m/s
und h0 = 2,0 m

α0 [°] 35 40 45 50
l [m] 57,90 60,12 60,65 59,46

Betrachtet man den praktisch interessierenden Bereich von α0 zwischen 38° und 45°, dann ist
im Gegensatz zur Abfluggeschwindigkeit der deutlich geringere Einfluss des Abflugwinkels
zu erkennen. Beim Kugelstoßen ergibt sich ein optimaler Abstoßwinkel von ca. 41°, beim
Hammerwerfen liegt der optimale Abflugwinkel bei ca. 44°.

7.1.1.3 Einfluss der Abflughöhe


Den geringsten Einfluss auf die Stoß- oder Wurfweite hat die Abflughöhe. Ein großer Athlet
hat jedoch Vorteile, wie die nachfolgenden Angaben zeigen.

Tabelle 7-5: Stoßweite l beim Kugelstoßen in Abhängigkeit von der Abstoßhöhe h0 für v0 = 12 m/s
und α0 = 41°

h0 [m] 2,0 2,2 2,4


l [m] 16,56 16,73 16,91
254 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Beim Kugelstoßen ergeben sich für v0 = 12 m und α0 = 41° die in Tabelle 7-5 dargestellten
Stoßweiten. Beim Kugelstoßen führt die Erhöhung von h0 um 0,2 m zu einer Vergrößerung der
Stoßweite von ca. 1 %.

Tabelle 7-6: Wurfweite l beim Hammerwerfen in Abhängigkeit von der Abflughöhe h0 für v0 = 24 m/s
und α0 = 44°

h0 [m] 1,6 1,8 2,0 2,2


l [m] 60,29 60,45 60,68 60,88

Beim Hammerwerfen hat die Abflughöhe h0 einen sehr geringen Einfluss auf die Wurfweite.
Bei einer Vergrößerung der Abflughöhe um 0,2 m wächst die Wurfweite lediglich um ca.
0,3 %.

7.1.2 Fahrradfahren bei Windstille, Rücken- und Gegenwind


Ein Radfahrer fährt mit einer konstanten Leistung P eine ebene Strecke der Länge s hin und
zurück, Bild 7-2a. Der Wind weht mit konstanter Geschwindigkeit c in Bahnrichtung. Damit
hat der Radfahrer bei der Hinfahrt Rückenwind und bei der Rückfahrt Gegenwind.

a)
c v

b) c)
G v c G v
c FF FL FL FF
1 1

v FW v FW

Bild 7-2 Fahrradfahrer fährt bei Wind eine Strecke hin und zurück
a) Fahrstrecke der Länge s (einfache Strecke)
b) Kraftwirkungen bei der Hinfahrt (Rückenwind)
c) Kraftwirkungen bei der Rückfahrt (Gegenwind)
G: Gewicht von Fahrer und Fahrrad v: Geschwindigkeit des Radfahrers
FL: Luftwiderstandskraft c: Windgeschwindigkeit
FF: Vom Fahrer aufzubringende Kraft vFW = v: Geschwindigkeit des Fahrtwindes

Somit stellen sich folgende Fragen:


 Wie schnell ist der Radfahrer bei Windstille?
 Welche Geschwindigkeit vR hat der Fahrer bei Rückenwind?
 Welche Geschwindigkeit vG hat der Fahrer bei Gegenwind?
 Wie groß ist die gesamte Fahrzeit?
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 255

Bei der Fahrt erbringt der Fahrer eine konstante Leistung von P = 250 W, der Wind hat eine
Geschwindigkeit c = 5 m/s, der Windwiderstandswert k beträgt 0,244 Ns2/m2 und die einfache
Strecke ist s = 10 km. Die Luftwiderstandskraft FL ist dem Quadrat der Geschwindigkeit pro-
portional (Proportionalitätsfaktor ist der Windwiderstandswert k), der Rollwiderstand FR des
Fahrrads kann vernachlässigt werden.
Die Fahrt erfolgt im Wesentlichen bei konstanter Geschwindigkeit v, somit liegt keine Be-
schleunigung vor, d. h. a  x  0 . Die Gewichtskraft G wirkt senkrecht zur Bahn und hat bei
der ebenen Bahn keine Komponente in Bahnrichtung, d. h. sie hat keinen Einfluss auf den
Bewegungsvorgang.

7.1.2.1 Geschwindigkeit des Fahrradfahrers bei Windstille


Bei Windstille (c = 0) beträgt die Luftwiderstandskraft

FL  k  v 2 (7.5).

Da eine gleichförmige Bewegung (keine Beschleunigung) vorliegt, muss der Fahrer lediglich
den Luftwiderstand überwinden. Die vom Fahrer aufzubringende Kraft ist somit

FF  FL  k  v 2 (7.6).

Bei geradliniger Bewegung errechnet sich die Leistung nach Kapitel 4.6.7.2 und Gleichung
(4.99). Für den Fahrradfahrer gilt somit

P  FF  v  k  v 2  v  k  v 3 (7.7).

Die Geschwindigkeit des Fahrradfahrers ergibt sich somit zu

P
v  v0  3 (7.8).
k
Mit den gegebenen Größen für P und k erhält man

250 W
v  v0   10,08 m/s  36,3 km/h (7.9).
3 Ns 2
0,244
m2
Die Kennzeichnung v0 weist darauf hin, dass es sich hierbei um eine Basisgeschwindigkeit
bzw. Bezugsgeschwindigkeit für die Fahrt ohne Wind handelt, mit der sich die Geschwindig-
keiten bei Rücken- und Gegenwind vergleichen lassen.

7.1.2.2 Fahrt bei Rückenwind


Die Luftwiderstandskraft ist nun von der resultierenden Geschwindigkeit aus Fahrtwind und
Wind, d. h. v FW  c bzw. v  c , abhängig:

FL  k  (v  c ) 2 (7.10).
256 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Diese Kraft muss vom Fahrer aufgebracht werden. Somit gilt:

FF  FL  k  (v  c) 2 (7.11).

Für die Leistung ergibt sich die Beziehung

P  FF  v  k  (v  c) 2  v (7.12).

v ist dabei die Geschwindigkeit des Radfahrers bei Rückenwind. Durch Umformung erhält
man die kubische Gleichung in der Normalform
P
v 3  2c  v 2  c 2  v  0 (7.13).
k
Diese Gleichung gilt es nach v aufzulösen. Entsprechend einer Diskriminanten
3 2
n q
D     (7.14)
3 2
lässt sich über die Art der Lösungen entscheiden, siehe [7-1]. Dabei sind:

3c 2  (2c ) 2 3c 2  4c 2  c 2
n  
3 3 3
und

2  (2c) 3 (2c)  c 2 P  16c 3 2c 3 P 2 3 P


q       c 
27 3 k 27 3 k 27 k
Für die Diskriminante ergibt sich nun:
2
3  2 3 P
 c 2   c   6  c3 P 
2
27 k c
D           (7.15).
 9   2  729  27 2k 
   
 
Für D > 0, d. h. c < 1,89v0 (für v0 siehe Gleichung (7.8)), erhält man die Fahrgeschwindigkeit:
2c
v     (7.16)
3
mit

2
c3 P c 6  c 3 P 
  3      (7.17)
27 2k 729  27 2k 

und

2
c3 P c 6  c 3 P 
 3      (7.18)
27 2k 729  27 2k 
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 257

bzw.

2
c3 P c 6  c 3 P 
v  vR  3      
27 2k 729  27 2k 
(7.19)
2
c3 P c 6  c 3 P  2c
3       
27 2k 729  27 2k 
 3

Bei einer Leistung von P = 250 W und einem Rückenwind von c = 5 m/s fährt der Radfahrer
mit einer Geschwindigkeit von
m
v  v R  13,68 .
s
Der Rückenwind von 5 m/s = 18 km/h steigert also die Fahrgeschwindigkeit um 3,6 m/s =
12,96 km/h auf 13,68 m/s = 49,25 km/h.
Mit Gleichung (7.19) und v0 nach Gleichung (7.8), d. h.
P
 v03 ,
k
erhält man die relative Fahrgeschwindigkeit

2
3 6  3 
v vR 3 1  c  1 1  c  1  c  1
               
v0 v0 27  v0 
 2 729  v0 

 27  v
 0

 2 
 
(7.20).
2
6  3 
1  c  1 1  c  1  c  1 2  c 
3                
27  v0  2
 729  v0 

 27  v
 0

 2 3  v0 

 

Die Fahrgeschwindigkeit v = vR bei Rückenwind ist in Gleichung (7.20) auf die Fahrge-
schwindigkeit v0 bei Windstille bezogen. Der Zusammenhang zwischen der relativen Fahrge-
schwindigkeit vR/v0 und der relativen Windgeschwindigkeit c/v0 ist in Bild 7-3 für den Rü-
ckenwind dargestellt. Mit zunehmendem Rückenwind steigt die Fahrgeschwindigkeit deutlich
an.

v R /v0

1
Bild 7-3
Relative Fahrgeschwindigkeit vR/v0 in Ab-
hängigkeit der relativen Windgeschwindig-
1 2 c/v0 keit c/v0 bei Rückenwind
258 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

7.1.2.3 Fahrt bei Gegenwind


Auch in diesem Fall ist die Luftwiderstandskraft von der resultierenden Geschwindigkeit aus
Fahrtwind und Wind, d. h. vFW + c bzw. v + c, abhängig:

FL  k  (v  c) 2 (7.21).

Da diese Kraft vom Fahrer aufgebracht werden muss, ergibt sich mit FF = FL die Leistung des
Fahrers

P  FF  v  k  (v  c) 2  v (7.22).

Durch Umformung erhält man die kubische Gleichung in der Normalform:


P
v 3  2c  v 2  c 2  v  0 (7.23).
k
Für die Diskriminante, siehe Gleichung (7.14), ergibt sich nun:
2
3  2 3 P 2
 c  
 c 2 
 27 k c 6  c 3 P 
D          (7.24).
 9


  2  729  27 2k 
 
 
Die Fahrgeschwindigkeit v = vG bei Gegenwind errechnet sich für D > 0, d. h. c > 0, mit

2
c3 P c 6  c 3 P 
v  vG 3      
27 2k 729  27 2k 
(7.25)
2
c 3
P c  c 6
P  3
2c
3       
27 2k 729  27 2k  3

Bei einer Leistung von P = 250 W und einem Gegenwind von c = 5 m/s fährt der Radfahrer
mit einer Geschwindigkeit von v  vG  7,06 m/s . Der Gegenwind von 5 m/s =18 km/h ver-
mindert also die Fahrgeschwindigkeit um 3,02 m/s = 10,87 km/h auf 7,06 m/s = 25,42 km/h.
Mit Gleichung (7.25) und Gleichung (7.8) erhält man die relative Fahrgeschwindigkeit v/v0 bei
Gegenwind:

2
3 6  3 
vG 1  c  1 1  c  1  c  1
3              
v0 27  v0  2 729  v0   27   v  2 
   0  
(7.26).
2
6  3 
1  c  1 1  c  1  c  1 2  c 
3               
27  v0  2 729  v0   27   v  2 3  v0 
    0   
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 259

Die Fahrgeschwindigkeit v = vG bei Gegenwind ist in Gleichung (7.26) auf die Fahrgeschwin-
digkeit v0 bei Windstille bezogen. Der Zusammenhang zwischen der relativen Fahrgeschwin-
digkeit vG/v0 und der relativen Windgeschwindigkeit c/v0 ist in Bild 7-4 für den Gegenwind
dargestellt. Mit zunehmendem Gegenwind sinkt die Fahrgeschwindigkeit sehr deutlich.

vG /v0

0
0 1 2 c/v0
Bild 7-4 Relative Fahrgeschwindigkeit vG/v0 in Abhängigkeit der relativen Windgeschwindigkeit c/v0
bei Gegenwind

7.1.2.4 Fahrzeiten bei Windstille, Rücken- und Gegenwind


Da es sich bei den betrachteten Fahrten um gleichförmige Bewegungen handelt, können die
Fahrzeiten mit Gleichung (4.25) aus der Fahrstrecke x ermittelt werden. Setzt man in Glei-
chung (4.25) für t0 = 0, x0 = 0 und v0 = v ein, so erhält man die Zeit t für das Zurücklegen der
Strecke x:
x
t (7.27).
v
Bei einfacher Fahrt ohne Wind, Bild 7-2a, ergibt sich dann die Zeit
s
t  t0  (7.28),
v
wobei v = v0 nach Gleichung (7.8) einzusetzen ist:
s
t  t0  (7.29).
3
P
k
t0 ist nun die Basiszeit für die Fahrt ohne Wind.
Für eine Fahrerleistung von P = 250 W, einem Windwiderstandswert k = 0,244 Ns2/m2 und
einer Fahrstrecke von s = 10 km ergibt sich eine Fahrzeit von
10000 m
t  t0   991,9 s  16,5 Min .
250 W
3 Ns 2
0,244
m2
Für eine Fahrt mit Rückenwind ist in Gleichung (7.28) die Geschwindigkeit v = vR nach Glei-
chung (7.19) einzusetzen.
260 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Bei sonst gleichen Bedingungen ergibt sich für einen Rückenwind von c = 5 m/s eine Zeit
s 10000 m
t  tR    731 s  12,2 Min .
vR m
13,68
s
Die Fahrt mit Gegenwind dauert natürlich länger. Hier ist in Gleichung (7.28) die Geschwin-
digkeit v = vG nach Gleichung (7.25) einzusetzen.
Für einen Gegenwind von 5 m/s gilt bei sonst gleichen Fahrbedingungen
s 10000 m
t  tG    1416,4 s  23,6 Min .
vG m
7,06
s
Für die Gesamtfahrzeiten bei Hin- und Rückfahrt ergeben sich ohne Wind
t 0ges  2t 0  2  991,8 s  1983,6 s  33,1 Min .

und mit Wind


t Wges  t R  t G  731 s  1416,4 s  2147,4 s  35,8 Min .

Bild 7-5 zeigt die relative Gesamtfahrzeit t/t0 (Zeit t mit Wind und Zeit t0 ohne Wind) in Ab-
hängigkeit der relativen Windgeschwindigkeit c/v0. Man erkennt, dass bei Wind die Gesamt-
fahrzeit bei Hin- und Rückfahrt steigt. Der Zeitverlust bei Gegenwind, z. B. bei der Rückfahrt,
kann durch den Zeitgewinn bei Rückenwind, z. B. bei der Hinfahrt, nicht kompensiert werden.

t/t 0

1 2 c/v0
Bild 7-5 Relative Gesamtfahrzeit t/t0 in Abhängigkeit der relativen Windgeschwindigkeit c/v0

Durch die dimensionslose Darstellung der Ergebnisse, alle Geschwindigkeiten und Fahrzeiten
sind auf die Geschwindigkeit v0 und die Fahrzeit t0, die bei Windstille erzielt werden können,
bezogen, können unterschiedlich leistungsstarke Fahrer direkt miteinander verglichen werden.
Je kleiner die Bezugsgeschwindigkeit v0 umso größer ist bei gleicher Windgeschwindigkeit c
das Verhältnis c/v0. Die gefundenen Ergebnisse zeigen, dass bei einem Zeitfahren auf flacher
Strecke der Zeitvorteil eines leistungsstärkeren Fahrers mit zunehmendem Gegenwind über-
proportional wächst, während bei zunehmendem Rückenwind der Zeitverlust eines leistungs-
schwächeren Fahrers sinkt.
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 261

7.1.3 Optimierung der Tritttechnik beim Fahrradfahren


Die Vorwärtsbewegung beim Fahrradfahren wird augenscheinlich dadurch erzeugt, dass der
Radfahrer mit den Füßen Kräfte auf die Pedale ausübt und dabei die Kurbeln, die mit der Tret-
lagerwelle fest verbunden sind, mit einem möglichst großen Moment dreht. Ebenfalls mit der
Tretlagerwelle fest verbunden ist das vordere Kettenrad mit dem die Kette bewegt wird, wel-
che die Leistung, die der Radfahrer in die Tretlagerwelle einleitet, auf das hintere Ritzel und
damit auf das Hinterrad überträgt. Wird bei der Tritttechnik nur darauf geachtet, wie der Fuß
die Kraft des Fahrers über das Pedal in die Kurbel einleitet, dann liegt bei dieser statischen
Betrachtungsweise die Schlussfolgerung nahe, dass das Drehmoment bei der Tretlagerwelle
bei gegebener Kraft maximal ist, wenn die Kraft während der gesamten Kurbelumdrehung
senkrecht zur Kurbel eingeleitet wird, Bild 7-6. Das ist die Idealvorstellung für die Tritttech-
nik, die als der „Runde Tritt“ bezeichnet wird [7-2].
a) b)
Sektor 1
Schubphase
Kurbelwinkel

Sektor 4 Sektor 2
Hubphase Druckphase
vortriebs-
wirksame Verlustkraft
Kraft

resultierende Sektor 3
Zugphase
Kraft
Bild 7-6 Betrachtung der Kräfte beim „Runden Tritt“ nach [7-2]
a) Kraftkomponenten und resultierende Kraft am Pedal
b) ideale Kraftrichtung senkrecht zur Kurbel

Wie bereits erwähnt, muss der Radfahrer bei der Tretlagerwelle eine Leistung erzeugen. Ent-
sprechend Gleichung (4.99) ist die Leistung das Produkt aus momentaner Kraft F und Ge-
schwindigkeit v in Richtung der Kraft oder, wenn es sich um eine Drehbewegung handelt, das
Produkt aus momentanem Drehmoment M und Winkelgeschwindigkeit ω mit gleicher Dreh-
richtung. Die momentane Leistung P, die zur Vorwärtsbewegung des Fahrrads dient, kann also
zu jedem Zeitpunkt der Kurbelumdrehung aus dem Produkt des momentanen Drehmoments
MT und der momentanen Winkelgeschwindigkeit ωT bei der Tretlagerwelle berechnet werden.
Damit mit den Füßen die Antriebsleistung über die Pedale und die Kurbeln in die Tretlager-
welle eingeleitet werden kann, müssen sich somit die Füße auch mit einer möglichst hohen
Geschwindigkeit in Richtung der Kräfte, welche die Füße auf die Pedale ausüben, bewegen. Es
reicht also nicht aus, die Kräfte zu betrachten, es muss auch die Bewegung der Füße betrachtet
werden. Die Fußbewegung ist leicht zu beschreiben, wenn der Fahrradrahmen als mitbewegtes
Bezugssystem gewählt wird. Hierbei führt die Pedalachse eine Kreisbewegung um die Tretla-
gerwelle aus, welche der Fußballen im Wesentlichen mitmacht. Das ist der Fall, wenn der
Schuh mittels Klickverbindung, die im Radsportbereich üblich ist, fest mit dem Pedal verbun-
den ist. Das ist aber auch beim Standardpedal der Fall, solange der Fuß bei der Tretbewegung
auf dem Pedal und der Fußballen über der Pedalachse positioniert bleibt.
262 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Damit der Fuß der Kreisbewegung der Pedalachse folgen kann, ist eine Bewegung des gesam-
ten Beins erforderlich. Das Bein kann hauptsächlich durch Drehbewegungen im Hüftgelenk
und im Kniegelenk sowie in vergleichsweise geringem Maße im Sprunggelenk gestreckt und
gebeugt werden. Wie in Abschnitt 5.4.2 beschrieben, werden Drehbewegungen in Gelenken
durch Muskelkräfte hervorgerufen. Die Größe des Moments, das auf ein Gelenk wirkt, ist ein
Maß für die wirksame Muskelkraft. Die Wirkungen der Muskeln auf Gelenke können also als
Muskelmomente aufgefasst werden.
a)

Muskelmoment und
Drehrichtung im
Kniegelenk
gleichgerichtet
=>
konzentrische
Muskelmoment Muskelarbeit
und Drehrichtung
im Hüftgelenk
Wirkungslinie
gleichgerichtet
der Pedalkraft
=>
konzentrische
Muskelarbeit

Resultierende
Pedalkraft
b)

Muskelmoment und
Drehrichtung im
Kniegelenk
entgegengesetzt
gerichtet
Muskelmoment =>
und Drehrichtung exzentrische
im Hüftgelenk Muskelarbeit
gleichgerichtet
=>
konzentrische Wirkungslinie
Muskelarbeit der Pedalkraft

Resultierende
Pedalkraft

Bild 7-7 Auswirkungen auf die Art der Muskelarbeit infolge des beim „Runden Tritt“ geforderten
Verlaufs der Wirkungslinie der Pedalkraft senkrecht zur Kurbel
a) Verlauf der Wirkungslinie der Pedalkraft im Bereich zwischen Hüft- und Kniegelenk
b) Verlauf der Wirkungslinie der Pedalkraft rechts von Hüft- und Kniegelenk

Bewegt sich gleichzeitig mit dem Muskelmoment das Gelenk mit einer Winkelgeschwindigkeit
ω, dann überträgt der Muskel bei diesem Gelenk eine Leistung P auf den Bewegungsapparat.
Sind das Muskelmoment und die Drehung gleichgerichtet, d. h. der Muskel verrichtet konzen-
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 263

trische Arbeit, dann wird der Bewegung Energie zugeführt und diese dadurch unterstützt. Sind
das Muskelmoment und die Drehung entgegengesetzt gerichtet, d. h. der Muskel verrichtet
exzentrische Arbeit, dann wird der Bewegung Energie entzogen und diese dadurch gehemmt.
In Bild 7-7 sind zwei ausgewählte Beinstellungen bei der Tretbewegung dargestellt. Außerdem
ist der notwendige Verlauf der Wirkungslinie der resultierenden Pedalkraft relativ zum Hüft-
bzw. zum Kniegelenk eingezeichnet, wenn die resultierende Pedalkraft, wie beim runden Tritt
als Ideal gefordert, senkrecht zur Kurbel wirken soll. Verläuft die Wirkungslinie, wie in Bild
7-7a dargestellt, zwischen den beiden Gelenken, dann ist beim Hüftgelenk ein rechtsdrehendes
und beim Kniegelenk ein linksdrehendes Muskelmoment notwendig, um bei der Pedalachse
eine Kraft mit der geforderten Richtung hervorrufen zu können. Da bei dieser Beinstellung das
Bein für die Kurbeldrehung gestreckt werden muss, findet beim Hüftgelenk eine Rechtsdre-
hung und beim Kniegelenk eine Linksdrehung des Unterschenkels relativ zum Oberschenkel
statt. Damit sind bei beiden Gelenken das Muskelmoment und die momentane Drehrichtung
gleichgerichtet und die Muskelarbeit konzentrisch und unterstützend für die Tretbewegung.
Verläuft die Wirkungslinie, wie in Bild 7-7b dargestellt, rechts von den beiden Gelenken, dann
ist bei beiden Gelenken ein rechtsdrehendes Muskelmoment notwendig, um bei der Pedalachse
eine Kraft mit der geforderten Richtung hervorrufen zu können. Weil jedoch das Bein auch in
dieser Position für die Kurbeldrehung weiterhin gestreckt werden muss, sind die Drehrichtun-
gen bei den Gelenken dieselben wie bei der ersten Position. Somit ist die Muskelarbeit nur
noch beim Hüftgelenk konzentrisch und unterstützend für die Tretbewegung während sie beim
Kniegelenk exzentrisch ist und die Tretbewegung hemmt. Entsprechende Folgerungen gelten
auch für Beugebewegung des Beins, wenn sich die Kurbel wieder nach oben bewegt. Diese
Überlegungen zeigen, dass die alleinige Betrachtung, wie die Kraft auf das Pedal wirkt, nicht
ausreicht und zum Teil zu unsinnigen Forderungen führt.
Ein Mensch kann mit seinem Bewegungsapparat Leistung erbringen, indem er durch Muskel-
momente Drehungen bzw. Winkelgeschwindigkeiten in Gelenken erzeugt. Idealerweise kann
er bei jedem Gelenk, das an einer Gesamtbewegung beteiligt ist, Leistungsanteile erbringen,
die sich zu einer Gesamtleistung summieren. Während der Tretbewegung beim Fahrradfahren
können die beteiligten Gelenke in der Sagittalebene als ideale, einachsige Scharniergelenke
und die beteiligten Körperglieder als starre Körper mit konstanter Länge betrachtet werden.
Damit ergibt sich die in Bild 7-8a dargestellte Gelenkkette. Es handelt sich hierbei um eine
ebene, geschlossene Fünfgelenkkette bzw. ein Fünfgelenkgetriebe [7-4]. Die beteiligten ana-
tomischen Gelenke sind das Hüftgelenk, das Kniegelenk und das Sprunggelenk. Das Zehen-
grundgelenk gehört nicht dazu, weil bei der Tretbewegung insbesondere bei Klickpedalen der
Fußballen üblicherweise mit dem Pedal in Kontakt bleibt. Vervollständigt wird die Fünfge-
lenkkette durch die Pedalachse und die Tretlagerwelle, die zum Fahrrad gehören. Die Gelenke
werden durch den Oberschenkel, den Unterschenkel und den Fuß, welche die anatomischen
Getriebeglieder darstellen sowie die durch das Fahrrad gegebenen Getriebeglieder, die Kurbel
und das Sitzrohr einschließlich Sattel, verbunden. Wird der Fahrradrahmen als mitbewegtes
Bezugssystem zur Beschreibung der Kinematik der Gelenkkette verwendet, sind die Tretla-
gerwelle und das Hüftgelenk zwei ortsfeste Gelenkpunkte, solange der Radfahrer bei der Tret-
bewegung auf dem Sattel sitzt. Die Verbindungslinie zwischen Tretlagerwelle und Hüftgelenk,
die im Prinzip durch das Sitzrohr und den Sattel gebildet wird, stellt somit das Gestell bzw. das
ruhende Bezugsglied des Getriebes dar [7-5].
Nach [7-4] besitzen Fünfgelenkgetriebe zwei Bewegungsfreiheitsgrade. Um eine eindeutige
Beschreibung der Bewegung der Getriebeglieder zu ermöglichen, sind an zwei Gelenken der
kinematischen Kette Vorgaben für die Winkelstellung zwischen zwei benachbarten Gliedern
264 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

erforderlich. Da bei der Tretbewegung letztendlich eine Drehung der Kurbel um die Tretla-
gerwelle relativ zu dem Gestell erreicht werden soll, wird die Bewegung der Getriebeglieder in
Abhängigkeit vom Kurbelwinkel α beschrieben, womit die erste Vorgabe für die Winkelstel-
lung zwischen zwei benachbarten Gliedern festgelegt ist.
a)

Hüftgelenk

1
LO
Kniegelenk

LU
LS L UF

Sprunggelenk 
 LF
Tretlagerwelle L Pedalachse
K

b)

Hüftgelenk
1

LO
Kniegelenk

LS L UF

 Pedalachse
Tretlagerwelle
LK

Bild 7-8 Definition der kinematischen Gelenkkette für die Tretbewegung beim Fahrradfahren
a) Fahrradantrieb als Fünfgelenkkette
b) Fahrradantrieb als Viergelenkkette
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 265

Konsequenterweise wird definiert, dass der Kurbelwinkel α null ist, wenn die Kurbel mit dem
Gestell deckungsgleich liegt und in Richtung des Hüftgelenks zeigt, Bild 7-8. Als zweite not-
wendige Vorgabe für den Zwanglauf des Fünfgelenkgetriebes wird der Winkel δ, Bild 7-8a,
zwischen Unterschenkel und Fuß in Abhängigkeit vom Kurbelwinkel α festgelegt. Damit ist
die Bewegung des gesamten Getriebes eindeutig bestimmt. Da die Winkeländerung im
Sprunggelenk im Vergleich zu den Winkeländerungen in den übrigen Gelenken der Gelenk-
kette während einer Kurbelumdrehung vergleichsweise gering ist, wird für die hier vorgesehe-
nen grundsätzlichen Betrachtungen zur Tritttechnik vereinfachend angenommen, dass der
Winkel δ während der Tretbewegung konstant bleibt. Das ist gleichbedeutend damit, dass
keine Bewegung im Sprunggelenk stattfindet. Der Unterschenkel mit dem Fuß kann somit als
ein einzelner starrer Körper betrachtet und durch ein Getriebeglied mit der Länge LUF, das die
direkte Verbindung zwischen Kniegelenk und Pedalachse beschreibt, ersetzt werden. Damit
erhält man die in Bild 7-8b dargestellte Viergelenkkette. Nach [7-4] ist eine Viergelenkkette
zwangläufig und die Bewegung aller Getriebeglieder ist eindeutig in Abhängigkeit vom Kur-
belwinkel α beschreibbar.
Das beschriebene Viergelenkgetriebe ist nach [7-5] eine Kurbelschwinge, weil ein Getriebe-
glied, die Kurbel, umlauffähig ist. Für die Umlauffähigkeit der Kurbel muss nach dem Satz
von GRASHOF die Bedingung, dass die Summe der Längen des längsten Getriebeglieds, der
Sitzhöhe LS, und des kürzesten Getriebeglieds, der Kurbel LK, kleiner ist als die Summe der
Längen der übrigen Getriebeglieder
LS  LK  LO  LUF (7.30),

erfüllt sein. Der Oberschenkel LO ist die Schwinge und die Kombination aus Unterschenkel
und Fuß LUF die Koppel des Getriebes. Die GRASHOFsche Bedingung wird erfüllt, indem
typischerweise die passende Rahmenhöhe des Fahrrads bzw. die Sitzhöhe LS und die Kurbel-
länge LK in Abhängigkeit von der Schrittlänge des Radfahrers gewählt werden, die hiernach in
der Summe nicht zu groß sein dürfen. Bei technischen Anwendungen von Kurbelschwingen,
wie z. B. dem Scheibenwischerantrieb bei einem Auto, wird in der Regel die Kurbel mit einem
gleichmäßig drehenden Motor angetrieben, um eine Schwingbewegung der Schwinge, dem
Scheibenwischer, relativ zum Gestell, der Windschutzscheibe, zu erzeugen. Bei der Tretbewe-
gung wird das Viergelenkgetriebe jedoch sowohl beim Hüftgelenk als auch beim Kniegelenk,
also an den beiden Enden der Schwinge des Getriebes, durch eine schwingende Muskelaktivi-
tät bzw. durch einen stetigen Wechsel zwischen Beugung und Streckung in den beiden Gelen-
ken angetrieben, um die Drehung der Kurbel zu erreichen.
Wird das Getriebe durch ein Muskelmoment beim Hüftgelenk angetrieben, überträgt die Kop-
pel die erzeugte Leistung auf die Kurbel. Die Wirkungslinie des Pedalkraftanteils FH verläuft
entlang der Verbindungslinie zwischen Kniegelenk und Pedalachse, weil die Koppel für den
Antrieb beim Hüftgelenk entsprechend Abschnitt 5.5.6.1 eine Pendelstütze darstellt, Bild 7-9a.
Bei einem Antrieb des Getriebes durch ein Muskelmoment beim Kniegelenk wirkt die Vierge-
lenkkette entsprechend der Getriebesystematik nach [7-5] wie eine zentrische Kurbelschwinge.
Dabei verläuft die Wirkungslinie des Pedalkraftanteils FK entlang der Verbindungslinie der
zum angetriebenen Gelenk benachbarten Gelenke, dem Hüftgelenk und der Pedalachse. Dies
gilt, weil entsprechend Abschnitt 2.5.4 Gelenke keine Momente übertragen können und des-
halb die Hebelarme der Kraft FK zu diesen Gelenken verschwinden müssen, Bild 7-9b. Auffäl-
lig ist, dass beim Hüftgelenkantrieb die Wirkungslinie des Pedalkraftanteils FH durch das
Kniegelenk und beim Kniegelenkantrieb die Wirkungslinie des Pedalkraftanteils FK durch das
Hüftgelenk verlaufen. Damit bewirken bei beiden Antriebsvarianten die Pedalkraftanteile kein
266 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Moment auf das jeweils andere angetriebene Gelenk. Deshalb addieren sich bei der Tretbewe-
gung die anteiligen Leistungen zu der Gesamtleistung, die auf die Tretlagerwelle wirkt, ohne
sich gegenseitig zu beeinflussen. Damit können die Wirkungen der beiden Antriebsvarianten
unabhängig voneinander untersucht werden. In Bild 7-9 sind für beide Antriebsvarianten die
Wirkungslinien sowie die wirksamen Hebelarme der Pedalkraftanteile sowohl zu den angetrie-
benen Gelenken als auch zur Tretlagerwelle dargestellt. Die Gesamtkraft auf das Pedal ist die
vektorielle Addition der beiden Pedalkraftanteile FH und FK.
a) b)

HH
H K
MH MK
HK

HTK
TH TK
HTH
MTH MTK FK
FH

Bild 7-9 Pedalkraftanteile durch die Antriebe des Viergelenkgetriebes bei Hüft- und Kniegelenk
a) Wirkungslinie und Hebelarme des Pedalkraftanteils FH für den Antrieb beim Hüftgelenk
b) Wirkungslinie und Hebelarme des Pedalkraftanteils FK für den Antrieb beim Kniegelenk

Eine wesentliche Eigenschaft eines Getriebes ist die Übersetzung i, die nach [7-5] mit dem
Verhältnis der Winkelgeschwindigkeit ωan beim Antrieb zur Winkelgeschwindigkeit ωab beim
Abtrieb
an
i (7.31)
ab
definiert ist. Da bei einem idealen Getriebe die Antriebsleistung Pan und die Abtriebsleistung
Pab gleich sind, gilt
Pan  M an  an  M ab  ab  Pab (7.32)

und damit für die Übersetzung


an M ab
i  (7.33).
ab M an
Das bedeutet, dass das Abtriebsmoment Mab des Getriebes, also bei der Tretbewegung das
Moment bei der Tretlagerwelle, bei gegebenem Antriebsmoment Man umso größer ist, je grö-
ßer die Übersetzung i ist. Eine Kurbelschwinge ist nach [7-5] ein ungleichmäßig übersetzendes
Getriebe, weil sich die Drehrichtung der Winkelgeschwindigkeit beim angetriebenen Gelenk
der Schwinge notwendigerweise periodisch ändert.
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 267

Beim Hüftgelenkantrieb gilt für die Übersetzung


H M F H H
iTH   TH  H TH  TH (7.34).
TH MH FH  H H HH

Die Übersetzung iTH ist umso größer, je größer für den Pedalkraftanteil FH der wirksame He-
belarm HTH zur Tretlagerwelle und je kleiner der wirksame Hebelarm HH zum Hüftgelenk ist,
Bild 7-9a. Entsprechend der ungleichmäßigen Übersetzung iTH ändert sich auch das Hebelarm-
verhältnis während der Kurbelumdrehung. Die Hebelarme haben gleiches Vorzeichen, solange
sie beide auf der gleichen Seite der Wirkungslinie des Pedalkraftanteils liegen. Ansonsten sind
die Vorzeichen verschieden, weil dann auch die jeweiligen Winkelgeschwindigkeiten bei den
Gelenkpunkten unterschiedliche Drehrichtungen aufweisen. Der Hebelarm HTH zur Tretlager-
welle ist null, wenn die drei Gelenke, Kniegelenk, Pedalachse und Tretlagerwelle auf einer
Geraden liegen. Das ist beim Hüftgelenkantrieb der Fall, wenn die Kurbel zum Kniegelenk
zeigt, das ist die obere Totlage, und wenn die Kurbel vom Kniegelenk weg zeigt, das ist die
untere Totlage. Der Kurbelwinkel beträgt bei der oberen Totlage   30  35 und bei der
unteren Totlage   180 abhängig von den Längenverhältnissen der Getriebeglieder. Die
Totlagen sind gleichzeitig die Umkehrpunkte für die Beuge- und Streckbewegung im Hüftge-
lenk, bei denen die Winkelgeschwindigkeit ωH momentan null ist. Bei der oberen Totlage ist
der Winkel γ zwischen dem Oberschenkel LO und der Sitzhöhe LS maximal und bei der unteren
Totlage minimal, Bild 7-10a. Mit der Drehrichtungsänderung im Hüftgelenk beim Überschrei-
ten der Totlagen muss sich auch die Drehrichtung des Antriebsmoments MH beim Hüftgelenk
ändern, damit die Muskelarbeit beim Hüftgelenk jederzeit konzentrisch ist.
Beim Kniegelenkantrieb gilt für die Übersetzung
 K M TK F  H TK H
iTK    K  TK (7.35).
TK  M K FK   H K   H K

Hierbei ist berücksichtigt, dass die Drehrichtungen beim Knie und bei der Kurbel entgegenge-
setzt sind und die Hebelarme zunächst auf verschiedenen Seiten zur Wirkungslinie des Pedal-
kraftanteils FK liegen. Die Übersetzung iTK ist umso größer, je größer für den Pedalkraftanteil
FK der wirksame Hebelarm HTK zur Tretlagerwelle und je kleiner der wirksame Hebelarm HK
zum Kniegelenk ist, Bild 7-9b. Der Hebelarm HTK zur Tretlagerwelle ist null, wenn die drei
Gelenke, Hüftgelenk, Pedalachse und Tretlagerwelle auf einer Geraden liegen. Das ist beim
Kniegelenkantrieb der Fall, wenn die Kurbel zum Hüftgelenk zeigt, das ist die obere Totlage,
und wenn die Kurbel vom Hüftgelenk weg zeigt, das ist die untere Totlage. Weil nach [7-5]
hierbei eine zentrische Kurbelschwinge vorliegt, ist der Kurbelwinkel bei der oberen Totlage
unabhängig von den Längenverhältnissen der Getriebeglieder   0 und bei der unteren
Totlage   180 . Die Totlagen sind die Umkehrpunkte für die Beuge- und Streckbewegung
im Kniegelenk bei denen die Winkelgeschwindigkeit ωK null ist. Bei der oberen Totlage ist der
Winkel β zwischen dem Oberschenkel LO und der Kombination aus Unterschenkel und Fuß
LUF minimal und bei der unteren Totlage maximal, Bild 7-10a. Mit der Drehrichtungsänderung
im Kniegelenk beim Überschreiten der Totlagen muss sich auch die Drehrichtung des An-
triebsmoments MK beim Kniegelenk ändern, damit die Muskelarbeit auch beim Kniegelenk
jederzeit konzentrisch ist.
Für beide Antriebsvarianten existieren zwei Totlagen, bei denen das anteilige Moment beim
Abtrieb, der Tretlagerwelle, null ist, selbst wenn beim Antrieb ein Moment auf das Gelenk
wirkt. Da die Totlagen für die beiden in der Regel zusammen wirkenden Antriebsvarianten bei
268 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

unterschiedlichen Kurbelwinkeln α überstrichen werden und der Antrieb gleichzeitig mit dem
zweiten Bein um einen Kurbelwinkel   180 versetzt erfolgt, stellt sich bei der Tretbewe-
gung in der Regel keine Position ein, bei der die Kurbel aufgrund einer generellen Totlagen-
stellung nicht mehr weiterbewegt werden kann. Lediglich beim Anfahren, wenn ein großes
Antriebsmoment bei der Tretlagerwelle benötigt wird und zunächst nur mit einem Bein der
Antrieb erfolgt, sollte die Kurbel so positioniert werden, dass der Anfangskurbelwinkel bei
  60 liegt. Dann kann über einen relativ großen Kurbelwinkelbereich ein ausreichendes
Drehmoment bei der Tretlagerwelle erzeugt werden, um das Fahrrad soweit zu beschleunigen
und mit beiden Beinen die Tretbewegung weiterzuführen.
Die getrennte Betrachtung der Tretbewegung durch den Antrieb beim Hüftgelenk und den
Antrieb beim Kniegelenk ermöglicht, den Einfluss von Änderungen bei den Abmessungsver-
hältnissen der Getriebeglieder auf die Übersetzung des Getriebes zu untersuchen. Für den
Radfahrer sind die Längen des Oberschenkels LO, des Unterschenkels LU, des Fußes LF und bei
fixiertem Sprunggelenk auch der Kombination aus Unterschenkel und Fuß LUF unveränderbare
Größen. Veränderbar sind jedoch die Getriebeglieder, die durch das Fahrrad hinzukommen,
die Sitzhöhe LS, die über die Rahmengröße und die Sattelhöhe angepasst werden kann, und die
Kurbellänge LK. Wobei in der Praxis bei Rennrädern Kurbellängen je nach Rahmengrößen
zwischen 170 mm und 175 mm verwendet werden. Eine effektive Anpassung an die Schritt-
länge des Radfahrers wie bei der Rahmenhöhe findet in der Praxis also kaum statt. Dennoch
wird im Folgenden sowohl der Einfluss der Sitzhöhe LS als auch der Kurbellänge LK auf die
Übersetzungen iTH und iTK in Abhängigkeit vom Kurbelwinkel α für den Antrieb bei der Hüfte
bzw. beim Kniegelenk untersucht.
Zur formelmäßigen Beschreibung der Übersetzungsverhältnisse iTH und iTK sollen die in Bild
7-10a definierten Abmessungen, LS für die Sitzhöhe, LK für die Kurbellänge, LO für die Ober-
schenkellänge, LUF für die Länge der Kombination aus Unterschenkel und Fuß und die defi-
nierten Winkel, α für den Kurbelwinkel, β für den Kniebeugewinkel und γ für den Hüftbeuge-
winkel verwendet werden. Hierbei ist zu beachten, dass der Kniebeugewinkel β den Winkel
zwischen Oberschenkel und der Verbindungslinie zwischen Kniegelenk und Pedalachse dar-
stellt und nicht den Winkel zwischen Oberschenkel und Unterschenkel, der deutlich kleiner ist.
Für die analytische Berechnung der Übersetzungen iTH und iTK ist es jedoch einfacher, die
Getriebeglieder entsprechend [7-5] als eine Vektorkette aufzufassen und systematisch durch-
zunummerieren, Bild 7-10b, sowie die Ausrichtung der einzelnen Getriebeglieder mit den
relativen Winkellagen zum Gestell mit φ21 bis φ41 zu beschreiben. Zwischen den Winkeldefini-
tionen gelten die Zusammenhänge
   21 (7.36),

   41   31 (7.37),

  180   41 (7.38).

Da die Gelenkkette zwangläufig ist, sind bei festgelegten Längen der Getriebeglieder alle
Winkel eindeutig vom Kurbelwinkel α abhängig. Weil das Viergelenkgetriebe eine geschlos-
sene kinematische Kette ist, muss nach [7-5] die Maschengleichung gelten und die Vektor-
summe
   
r1  r2  r3  r4  0 (7.39)

verschwinden.
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 269

a) b)
Hüftgelenk y  y

r4
LO Oberschenkel

 Kniegelenk
 
r1
Sitzhöhe, LS D Kombination
Gestell aus  r3
UF
Unterschenkel
und Fuß
 
Pedalachse
LK
r2
Tretlagerwelle Kurbel 

x x
Bild 7-10 Geometrisches Modell des Fahrradantriebs als Viergelenkkette
a) Definition des Kurbelwinkels α, des Kniebeugewinkels β und des Hüftbeugewinkels γ
b) Definition der Getriebeglieder als Vektoren und der Winkel relativ zum Gestell

Mit Verwendung des in Bild 7-10 eingeführten Koordinatensystems und den definierten Rela-
tivwinkeln zum Gestell lautet Gleichung (7.39) in Komponentenschreibweise

1   cos  21    cos  31   cos  41   0 


LS    LK    LUF    LO      (7.40).
 0  sin  21   sin  31    sin  41   0 
Daraus und mit Gleichung (7.36) ergeben sich formal die beiden Bestimmungsgleichungen
LUF  cos  31  LO  cos  41  LS  LK  cos  (7.41)

und
LUF  sin  31  LO  sin  41   LK  sin  (7.42).

für die Winkel φ31 und φ41 als Funktion des Kurbelwinkels α. Allerdings ist es nicht ohne Wei-
teres möglich, diese Gleichungen direkt nach den beiden gesuchten Winkeln aufzulösen. Für
die indirekte Bestimmung der beiden Winkel werden zunächst die Gleichungen (7.41) und
(7.42) quadriert und addiert

LUF  cos 31  LO  cos  41 2  LUF  sin 31  LO  sin  41 2 


(7.43)
LS  LK  cos  2   LK  sin  2
und erhält

LUF 2  cos 2 31  2 LUF  LO  cos 31  cos  41  LO 2  cos 2  41 


LUF 2  sin 2  31  2 LUF  LO  sin  31  sin  41  LO 2  sin 2  41  (7.44).
2 2 2 2 2
LS  2 LS  LK  cos   LK  cos   LK  sin 
270 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Mit dem für alle Winkel φ gültigen Zusammenhang

cos 2   sin 2   1 (7.45)

sowie dem Additionstheorem unter Berücksichtigung von Gleichung (7.37)


cos  31  cos  41  sin  31  sin  41  cos  41   31   cos  (7.46)

vereinfacht sich Gleichung (7.44) zu

LUF 2  LO 2  2 LUF  LO  cos   LS 2  LK 2  2 LS  LK  cos   D 2 (7.47).

Die Gleichungen (7.47) entsprechen der zweifachen Anwendung des Kosinussatzes für die
beiden Dreiecke LUFLOD mit dem Kniebeugewinkel β als Innenwinkel und LSLKD mit dem
Kurbelwinkel α als Innenwinkel, die sich mit Einführung der Diagonalen D in Bild 7-10a erge-
ben. Damit kann der Kniebeugewinkel β als Funktion des Kurbelwinkels α ausgedrückt wer-
den:

L 2
 LO 2  LS 2  LK 2  2 LS  LK  cos  
  arccos UF
(7.48).
 2 LUF  LO 
 
Zur Bestimmung des Hüftbeugewinkels γ werden ebenfalls die beiden Dreiecke LSLKD mit dem
Teilhüftbeugewinkel γ1 als Innenwinkel und LUFLOD mit dem Teilhüftbeugewinkel γ2 als In-
nenwinkel betrachtet und erhält mit Hilfe des Sinussatzes und der Gleichung (7.47) für den
Teilhüftbeugewinkel γ1
 
 LK  sin    LK  sin  
 1  arcsin   arcsin  (7.49)
 D   L  L 2  2 L  L  cos 
2 
 S K S K 
sowie für den Teilhüftbeugewinkel γ2 unter zusätzlicher Berücksichtigung der Gleichung (7.48)
 
 LUF  sin    LUF  sin  
 2  arcsin   arcsin  (7.50).
 D   L 2  L 2  2 L  L  cos  
 S K S K 
Für den gesuchten Hüftbeugewinkel γ gilt:
  1   2 (7.51).

Mit den Gleichungen (7.48) und (7.51) sowie den Gleichungen (7.37) und (7.38) sind auch die
in den Gleichungen (7.41) und (7.42) noch unbekannten Winkel φ31 und φ41 als Funktion des
Kurbelwinkels α bekannt.
Das eigentliche Ziel dieser analytischen Berechnung ist die formelmäßige Beschreibung der
Übersetzungsverhältnisse iTH und iTK für den Hüft- bzw. den Kniegelenkantrieb. Für das Über-
setzungsverhältnis iTH gilt mit Gleichung (7.34) und Bild 7-10b

2  41
H t   41   
iTH   41 (7.52)
TH  
2 
t
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 271

und mit Gleichung (7.38)

  180      
iTH   41 (7.53).

Entsprechend gilt für das Übersetzungsverhältnis iTK nach Gleichung (7.35) und Bild 7-10a

 2 
 K t       
iTK   (7.54)
TK  
2 
t
und mit Gleichung (7.37)

iTK       41   31    31
   41
 (7.55).

Zur Bestimmung der Ableitungen der Winkel φ31 und φ41 nach dem Kurbelwinkel α werden
zunächst die Gleichungen (7.41) und (7.42) nach dem Kurbelwinkel α differenziert. Unter
Berücksichtigung der Kettenregel der Differentiation ist das Ergebnis
  LO  sin  41   41
 LUF  sin  31   31   LK  sin  (7.56)

und
  LO  cos  41   41
LUF  cos  31   31    LK  cos  (7.57).

Das ist ein lineares Gleichungssystem für die beiden gesuchten Ableitungen. Die Auflösung
dieses Gleichungssystems ergibt
LK sin   cos  41  cos   sin  41 
 
 31 (7.58)
LUF sin  41  cos  31  cos  41  sin  31 

und
LK sin   cos  31  cos   sin  31 
 
 41 (7.59).
LO sin  41  cos  31  cos  41  sin  31 

Mit Berücksichtigung der Additionstheoreme sowie den Gleichungen (7.37) und (7.38) kön-
nen die Ergebnisse auch in der Form
LK  sin   41   LK  sin   
 
 31  (7.60)
LUF  sin 41   31  LUF  sin 

und
LK  sin   31   LK  sin     
 
 41  (7.61)
LO  sin 41   31  LO  sin 

dargestellt werden. Für die Übersetzungsverhältnisse iTH und iTK entsprechend den Gleichun-
gen (7.53) und (7.55) gilt damit
L  sin     
  K
iTH      41 (7.62)
LO  sin 
272 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

und
 LK  sin    LK  sin     
iTK       31
   41
   (7.63).
LUF  sin  LO  sin 

Diese beiden Beziehungen können auf anschauliche Formen gebracht werden, welche die
wesentlichen Einflussgrößen auf die Übersetzungsverhältnisse und die Totlagenwinkel direkt
erkennen lassen, wenn entsprechend Bild 7-11 die Zusammenhänge für den Winkel ε zwischen
der Kurbel LK und der Koppel LUF und den Projektionen der Getriebeglieder auf die Kurbel-
normale genutzt werden.

Bild 7-11 Definition des Winkels ε zwischen Kurbel LK und Koppel LUF und geometrischer Zusam-
menhang zwischen den Projektionen der Getriebeglieder auf die Kurbelnormale

Demnach ist für den Winkel ε


  360       (7.64)

und somit
sin   sin360         sin         sin      (7.65)

sowie für die Projektionen der Getriebeglieder auf die Kurbelnormale


LO  sin     LUF  sin   LO  sin     LUF  sin       LS  sin  (7.66)

gültig. Damit lauten die Gleichungen (7.62) und (7.63) für die Übersetzungsverhältnisse
L  sin      LK  sin 
iTH   K  (7.67)
LO  sin  LO  sin 

und
 LK LO  sin     LUF  sin      L  L  sin 
iTK   K S (7.68).
LO  LUF  sin  LO  LUF  sin 
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 273

Mit diesen Beziehungen wird direkt ersichtlich, dass bei den Winkeln ε = 0° und ε = 180°, das
sind die untere und die obere Totlage für den Hüftgelenkantrieb, sowie bei den Kurbelwinkeln
α = 0° und α = 180°, das sind die obere und die untere Totlage für den Kniegelenkantrieb, die
entsprechenden Übersetzungsverhältnisse null sind. Außerdem kann mit diesen Beziehungen
untersucht werden, wie sich die Übersetzungsverhältnisse iTH und iTK während einer Kurbe-
lumdrehung in Abhängigkeit der Längenverhältnisse der Getriebeglieder ändern. Exemplarisch
werden dafür LO = 400 mm für die Oberschenkellänge und LUF = 483 mm für die Länge der
Kombination aus Unterschenkel und Fuß als feste Werte für einen groß gewachsenen Fahrer
angenommen.
Um den Einfluss der veränderbaren Längen der Getriebeglieder, der Sitzhöhe LS und der Kur-
bellänge LK, auf die Übersetzungsverhältnisse zu zeigen, werden zum einen bei konstanter
Kurbellänge LK = 175 mm die Sitzhöhe LS und zum anderen bei konstantem Wert für die
Summe der Längen aus Sitzhöhe und Kurbellänge LS + LK = 879 mm die Kurbellänge LK vari-
iert. Bei der Variation der Kurbellänge LK ist berücksichtigt, dass hier LS + LK = 879 mm als
zulässiges Maximum für die Summe festgelegt ist, weil sich ansonsten beim Kurbelwinkel
α = 180° der Kniebeugewinkel β = 180° nähert und aus physiologischer Sicht unzulässig groß
wird und aus getriebetechnischer Sicht der Satz von GRASHOF, Gleichung (7.30), nicht mehr
ausreichend erfüllt ist. Gleichzeitig darf die Kurbellänge LK nicht zu groß gewählt werden,
weil dadurch der Kniebeugewinkel β bei dem Kurbelwinkel α = 0° zu klein wird. Hohe Werte
für die Übersetzungen werden erreicht, wenn der Kniebeugewinkel während der Streckbewe-
gung des Beins Werte zwischen β >> 90° und β < 180° annimmt, weil in den beiden Gleichun-
gen (7.67) und (7.68) durch den Sinus dieses Winkels dividiert wird. Die Ergebnisse für die
Variation der Sitzhöhe LS sind in Bild 7-12 und für die Variation der Kurbellänge LK in Bild
7-13 dargestellt.
Die Ergebnisse der Parametervariationen zeigen, dass sowohl für den Antrieb beim Hüftgelenk
als auch für den Antrieb beim Kniegelenk eine an die Schrittlänge des Radfahrers angepasste
möglichst große Sitzhöhe LS und eine möglichst große Kurbellänge LK hohe absolute Werte für
die Übersetzungsverhältnisse iTH und iTK liefern. Das gilt insbesondere im Kurbelwinkelbe-
reich von α = 30° bis von α = 180°, in dem das Bein gestreckt wird. Hohe Werte für die Über-
setzungsverhältnisse bewirken nach Gleichung (7.33) ein großes Abtriebsmoment Mab bei der
Tretlagerwelle, das gleichzeitig das Antriebsmoment für das Kettengetriebe beim Fahrrad ist.
Die allgemeine Erfahrung zeigt, dass das Fahrradfahren schwerer fällt und nur schlechte Leis-
tungswerte erzielt werden können, wenn die Sattelhöhe des Fahrrads zu niedrig eingestellt ist.
Damit wird offensichtlich, dass hohe Werte für die Übersetzungsverhältnisse iTH und iTK, die
sich über einen möglichst großen Kurbelwinkelbereich erstrecken, vorteilhaft sind, um die
beim Hüftgelenk und beim Kniegelenk erzeugten Antriebsmomente MTH und MTK effektiv auf
die Tretlagerwelle übertragen zu können. Hierbei ist zu beachten, dass für die Übersetzungs-
verhältnisse grundsätzlich die Längenverhältnisse und nicht die absoluten Längen der Getrie-
beglieder maßgeblich sind. In der Praxis kann die Sitzhöhe LS sehr gut an die individuellen
Abmessungen des Radfahrers angepasst werden. Bei der Kurbellänge LK ist das der Regel
nicht möglich, weil standardmäßig Kurbellängen je nach Rahmengrößen nur zwischen 170 mm
und 175 mm verwendet werden. Eine effektive Anpassung an die Schrittlänge ist dadurch nur
sehr beschränkt möglich. Offensichtlich sind Radfahrer mit kleinen Schrittlängen gegenüber
solchen mit großen Schrittlängen im Vorteil, weil für sie Standardkurbeln relativ lang sind und
sie damit größere Werte bei den Übersetzungsverhältnissen erreichen.
274 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

a)

b)

Bild 7-12 Übersetzungsverhältnis bei Variation der Sitzhöhe LS für LK = 175 mm


a) iTH beim Hüftgelenkantrieb
b) iTK beim Kniegelenkantrieb
LS = 704 mm
LS = 654 mm
LS = 604 mm
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 275

a)

b)

Bild 7-13 Übersetzungsverhältnis bei Variation der Kurbellänge LK für LS + LK = 879 mm


a) iTH beim Hüftgelenkantrieb
b) iTK beim Kniegelenkantrieb
LK = 175 mm
LK = 245 mm
LK = 105 mm
276 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Die Ergebnisse der Parametervariationen zeigen auch, dass bei beiden Antriebsarten grund-
sätzlich zwei Nulldurchgänge für das Übersetzungsverhältnis bei den jeweiligen Totlagen
auftreten. Bemerkenswert ist, dass die obere Totlage beim Hüftgelenkantrieb trotz der relativ
groß gewählten Variationsbandbreite für die Sitzhöhe LS und die Kurbellänge LK in einem
engen Kurbelwinkelbereich von α = 30° bis von α = 34° auftritt, während die untere Totlage
für diese Antriebsart mit zunehmender Sitzhöhe LS sich von Werten deutlich über α = 200°
dem Grenzwert α = 180° nähert. Der untere Totlagenwinkel beim Hüftgelenkantrieb beträgt
α = 180°, wenn die unzulässige Strecklage des Getriebes erreicht wird, bei der sich alle vier
Gelenke des Getriebes auf einer Geraden befinden. Hierbei gilt LS  LK  LO  LUF und der
Satz von GRASHOF (7.30) ist gerade nicht mehr erfüllt. Beim Kniegelenkantrieb befinden
sich die beiden Totlagen unabhängig von den Längenverhältnissen der Getriebeglieder bei
α = 0° und α = 180°. Das bedeutet, dass die beiden oberen Totlagenwinkel für die beiden An-
triebsarten einen Unterschied von mindestens 30° aufweisen, während die beiden unteren Tot-
lagenwinkel bei einer zu großen Sitzhöhe LS nahezu zusammenfallen.
Die kinematische Betrachtung des Viergelenkgetriebes ergibt, dass bei Verwendung von
Klickpedalen, die ein Ziehen an den Pedalen ermöglichen, auch während der Beugephase des
Beins ein antreibendes Moment bei der Tretlagerwelle erzeugt werden kann, wie es auch beim
„Runden Tritt“ gefordert wird. Beim Kniegelenkantrieb ist der Verlauf für die Übersetzung iTK
beim Beugen und Strecken punktsymmetrisch zu den Totlagenwinkeln, d. h. bei den korres-
pondierenden Kurbelwinkeln ruft ein gleich großes Antriebsmoment MK beim Kniegelenk
einen entsprechend großen Abtriebsmomentenanteil MTK bei der Tretlagerwelle hervor. Beim
Hüftgelenkantrieb liegt zu den Totlagenwinkeln jedoch keine Symmetrie der Übersetzung iTH
vor. In dem Kurbelwinkelbereich, in dem der Oberschenkel aufwärts schwingt und das Bein
gebeugt wird, ist die Übersetzung iTH deutlich kleiner als während des Abwärtsschwingens des
Oberschenkels, der Streckphase des Beins. Damit ruft bei der Beugebewegung des Beins ein
gleich großes Antriebsmoment MH beim Hüftgelenk über weite Bereiche einen deutlich kleine-
ren Abtriebsmomentenanteil MTH bei der Tretlagerwelle hervor als bei der Streckbewegung.
Außerdem ist die Streckmuskulatur des Beins durch das Gehen und Laufen, wofür diese Mus-
kulatur natürlicherweise eingesetzt wird, deutlich kräftiger als die Beugemuskulatur. Das führt
dazu, dass selbst bei gut trainierten Radsportlern während der Beugung des Beins in der Regel
kein wesentliches Antriebsmoment und oft sogar ein gegenläufiges Moment an der Tretlager-
welle erzeugt wird, wie Messungen der Pedalkraft während der Tretbewegung in [7-2] zeigen.
Dieser deutliche Unterschied zwischen der Beuge- und der Streckphase des Beins ist auch der
Grund, weshalb Fahrradkurbeln um 180° versetzt montiert werden und der Antrieb im Wesent-
lichen abwechselnd mit den beiden Beinen erfolgt, um letztendlich einen näherungsweise
gleichmäßigen Antrieb über die gesamte Kurbelumdrehung zu erreichen.
Bei Handbikes hingegen sind beide Kurbeln in der Regel gleichgerichtet, weil die Arme eines
Menschen sowohl in der Streck- als auch in der Beugephase vergleichbar gut Leistung erzeu-
gen können. Außerdem ist eine gleichförmige Bewegung beider Arme koordinativ einfacher
und der Oberkörper wird symmetrisch belastet. Handbikes werden ebenfalls über eine Kurbel-
schwinge angetrieben. Hier wird die Viergelenkkette von dem Schultergelenk, dem Ellenbo-
gengelenk, dem Handgriff und dem Tretlager gebildet. Die Verbindungslinie zwischen Schul-
tergelenk und dem Tretlager ist das Gestell, der Oberarm die Schwinge und der Unterarm mit
der Hand die Koppel. Bei Handbikes werden im Vergleich zu Fahrradkurbeln verhältnismäßig
lange Kurbeln verwendet, die sich, wie die Ergebnisse in Bild 7-13 zeigen, äußerst günstig auf
die jeweiligen Übersetzungsverhältnisse für die Antriebe beim Schulter- bzw. beim Ellenbo-
gengelenk auswirken. Diese in Relation zum Beinantrieb sehr langen Kurbeln sind hier auch
7.1 Ausgewählte Anwendungsfälle aus dem Bereich des Sports 277

deswegen einsetzbar, weil der mögliche Bewegungsumfang der Arme bei der Streckung und
Beugung vergleichsweise wesentlich größer ist als bei den Beinen.
Nach [7-5] ist ein Getriebe eine mechanische Einrichtung zum Übertragen von Bewegungen
und Leistungen. Das Übertragen der Bewegungen bedeutet, dass die gegenseitige Beweglich-
keit der einzelnen Getriebeglieder durch die Art der Verbindung, den Gelenken, bestimmt und
nicht durch die Art des Antriebs beeinflussbar ist. Daher sollte ein Radfahrer nicht, wie es
beim „Runden Tritt“ gefordert ist, versuchen, die Kraft auf das Pedal senkrecht zur Kurbel
auszurichten und damit gewissermaßen das Pedal zu führen, weil die Kraftrichtungen durch
den Hüft- und den Kniegelenkantrieb jederzeit durch die Getriebeabmessungen vorgegeben
und nicht beeinflussbar sind. Er sollte sich von der Pedalbewegung führen lassen und die
zwangläufige Bewegung mit einer aktiven Bewegung sowohl beim Hüft- als auch beim Knie-
gelenk unterstützen. Bei den durch den Zwanglauf des Getriebes vorgegebenen Drehrich-
tungsänderungen beim Durchlaufen der Totlagen für die jeweiligen Gelenkantriebsvarianten
muss auch die Drehrichtung des dazugehörigen Muskelmoments geändert werden. Das mo-
mentane Muskelmoment ist dabei null. Damit ist gewährleistet, dass die Muskelarbeit bei den
an der Tretbewegung beteiligten Gelenken stets konzentrisch ist und nicht, wie oben beim
„Runden Tritt“ beschrieben, teilweise exzentrisch, siehe auch [7-3]. Das Übertragen der Leis-
tung bedeutet, dass die Leistung, die antriebsseitig in das Getriebe eingeleitet wird, abtriebssei-
tig in gleicher Höhe wieder abgegeben wird. Idealerweise ist also der Wirkungsgrad bei der
Tretbewegung 100 %, wenn der Leistungsverlust durch Reibung in den Gelenken vernachläs-
sigt und exzentrische Muskelarbeit während des Tretzyklus vermieden wird. Der Wirkungs-
grad ist nicht davon abhängig, ob die Kraft auf das Pedal senkrecht zur Kurbel ausgerichtet ist,
weil die Kraftkomponente in Längsrichtung der Kurbel keine Verschiebung erfährt und somit
keine Arbeit verrichtet und folglich keine Leistung verbraucht.
Durch die Betrachtung des Fahrradantriebs mit einem Viergelenkkettenmodell anstatt einem
Fünfgelenkkettenmodell können die Effekte der wesentlichen Einflussparameter Sitzhöhe LS
und Kurbellänge LK auf die Übertragung des Drehmoments auf die Tretlagerwelle anschaulich
beschrieben werden. Bei einer genaueren Betrachtung der Tretbewegung mit einem Fünfge-
lenkkettenmodell bleiben die wesentlichen Aussagen unverändert. Durch eine geeignete Fuß-
bewegung, welche die Streck- bzw. Beugebewegung des Beins während des Tretzyklus zu-
sätzlich unterstützt, kann auch beim Sprunggelenk ein Leistungsanteil erzeugt werden, der sich
zur Gesamtleistung addiert. Gleichzeitig können durch eine geeignete Fußbewegung auch die
momentanen Übersetzungen iTH und iTK des Getriebes für den Antriebsanteil von Hüft- und
Kniegelenk weiter verbessert werden. Prinzipiell darf sich jedoch z. B. bei der Streckbewe-
gung des Beins der Fuß nicht beugen, d. h. der Winkel δ zwischen Unterschenkel und Fuß darf
nicht abnehmen, weil ansonsten eine exzentrische Muskelarbeit beim Sprunggelenk auftritt.
Beugt sich bei der Streckbewegung des Beins der Fuß, dann wird ein Teil der Leistung für die
Streckung der Fußbeugemuskeln gegen die Kraft in den Fußbeugemuskeln verbraucht und
steht nicht mehr für den Fahrradantrieb zur Verfügung. Ebenso darf die zusätzliche Bewegung
des Fußes nicht zu Drehungen entgegen der Muskelmomente beim Hüft- oder Kniegelenk
führen, um eine exzentrische Muskelarbeit bei diesen Gelenken zu vermeiden.
278 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

7.2 Untersuchung von Heilungsmaßnahmen sowie von Bewegungs-


und Heilungshilfen
Die Grundlagen der Biomechanik, die in Kapiteln 1 bis 6 vorgestellt werden, ermöglichen
auch die Untersuchung zahlreicher Anwendungsfälle in der Medizin. So konnten in der Fach-
gruppe Angewandte Mechanik der Universität Paderborn ein künstliches Kniegelenk für Bein-
amputierte entwickelt, präoperative Studien für einen pathologisch deformierten Unterarm
durchgeführt, REHA-Maßnahmen für einen Patienten nach der Implantation eines künstlichen
Hüftgelenks untersucht und strukturmechanische Studien zur Knochenheilung durchgeführt
werden. Diese Maßnahmen werden nachfolgend zusammenfassend dargestellt.

7.2.1 Betrachtung von REHA-Maßnahmen nach Implantation eines künstlichen


Hüftgelenks
Nach einer Implantation wird ein Patient mit dem Ziel, die volle Funktionsfähigkeit des Hüft-
gelenks wiederherzustellen, physiotherapeutisch behandelt. Das soll durch Training der gesam-
ten beteiligten Muskulatur erreicht werden. Mittels der Biomechanik soll geklärt werden, ob
Bewegungsübungen bei einer Seitenlage des Patienten besser bei gestrecktem oder angewin-
keltem Bein durchgeführt werden sollten. Entscheidend sind hierbei die Kräfte, die übungsbe-
dingt zwischen Hüftprothese und Knochen auftreten.

7.2.1.1 Gestrecktes Bein


Das Gesamtgewicht G des Beins setzt sich aus den Teilgewichten GO des Oberschenkels und
dem Gesamtgewicht GUF des Unterschenkels und des Fußes zusammen. Es gilt somit
GB  GO  G UF (7.69),

wobei sich GUF aus dem Gewicht GU des Unterschenkels und dem Gewicht GF des Fußes
ergibt:
GUF  GU  GF (7.70).

Oberschenkel-
αM schaftachse
F
O Knie Beinachse
UF
x αS
l
O
y UF
l
l
l l
l

Bild 7-14 Kräfte und Schwerpunktabstände beim liegenden Patienten mit gestrecktem Bein
7.2 Untersuchung von Heilungsmaßnahmen sowie von Bewegungs- und Heilungshilfen 279

Die entsprechenden Schwerpunktskoordinaten sind in Bild 7-14 eingezeichnet. Der Abstand lS


des Gesamtschwerpunkts vom Hüftgelenk ergibt sich, entsprechend Kapitel 2.4.1, mit der
Beziehung
GO  lSO  G UF  (lO  lSUF )
lS  (7.71).
GB

Bezogen auf das Körpergewicht G folgen nach Kapitel 1.2.5


das Gewicht des Oberschenkels
GO  0,114G ,

das Gewicht des Unterschenkels


G U  0,053G

und das Gewicht des Fußes mit


GF  0,018G .

Für das Beingewicht GB ergibt sich somit nach Gleichung (7.69) und (7.70):
GB  0,114G  0,053G  0,018G  0,185G .

Das Gesamtgewicht von Unterschenkel und Fuß ist dabei


G UF  0,053G  0,018G  0,071G .

Geht man von einer Gesamtlänge l des Beins zwischen Hüftgelenk und Fußgelenk (Fuß-
schwerpunkt) aus, so erhält man nach Bild 1-7b eine Oberschenkellänge von
l O  0,45l

und eine Unterschenkellänge einschließlich des Fußes von


l UF  l  l O  0,55l .

Der Schwerpunkt des Oberschenkels, Bild 7-14, hat nach Bild 1-7b einen Abstand
lSO  0,43lO  0,43  0,45l  0,194l

vom Hüftgelenk.
Für den Gesamtschwerpunkt von Unterschenkel und Fuß kann angenommen werden, dass er
sich im Abstand
lSUF  0,43  0,55l  0,236l

vom Kniegelenk befindet.


Der Gesamtschwerpunkt für das gestreckte Bein lässt sich nach Gleichung (7.71) errechnen
mit:
0,114G  0,194l  0,071G  (0,45  0,236)  l
lS   0,384l (7.72).
0,185G
280 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Die resultierende Muskelkraft FM und Gelenkkraftkomponenten erhält man entsprechend dem


Freischnitt in Bild 7-14 mit den Gleichgewichtsbedingungen der ebenen Statik:
H : FM  l M  GO  lSO  G UF  (l O  lSUF )  0 (7.73),

: H x  FM  cos  M  0 (7.74),

: H y  FM  sin  M  GO  G UF  0 (7.75).

Somit ergibt sich für die resultierende Muskelkraft


GO  lSO  G UF  (lO  lSUF )
FM  (7.76),
lM

die horizontale Hüftkraft


H x  FM  cos  M (7.77),

und die vertikale Hüftkraft


H y  FM  sin  M  GO  G UF  FM  sin  M  GB (7.78).

Mit den zuvor angenommenen Gewichtsanteilen und Schwerpunktabständen erhält man für die
Muskelkraft
0,114G  0,194l  0,071G  (0,45  0,236)  l l
FM   0,0711G  (7.79)
lM lM

und die Hüftkraftkomponenten


l
H x  0,0711G   cos  M (7.80),
lM

 l 
H y   0,0711  sin  M  0,185   G (7.81).
 l M 
Die Komponenten Hx und Hy ergeben die resultierende Kraft im Hüftgelenk

H  H x2  H y2 (7.82).

Sie wirkt unter einem Winkel


Hy
  arctan (7.83)
Hx

zur Beinachse (siehe Bild 7-14 und Bild 7-15).


Die Kräfte zwischen Oberschenkelknochen (Femur) und Prothese lassen sich mit der Gelenk-
kraft H ermitteln.
7.2 Untersuchung von Heilungsmaßnahmen sowie von Bewegungs- und Heilungshilfen 281

N1

S S
II
R
H
N2

Bild 7-15 Kräfte auf die Hüftprothese:


H: Gelenkkraft
N1, N2 und R: Kräfte zwischen Oberschenkelknochen (Femur) und Prothese

Mit den folgenden Gleichgewichtsbedingungen für die Hüftprothese, Bild 7-15:


: R  H  cos(   S )  0 (7.84),

I : N 2  l 2  H  h  cos(   S )  H  l1  sin(   S )  0 (7.85),

: N1  N 2  H  sin(   S )  0 (7.86)

ergeben sich
R  H  cos(   S ) (7.87),

H
N2  l1  sin(   S )  h  cos(   S ) (7.88)
l2

und
N1  N 2  H  sin(   S ) (7.89).

Für eine Person mit einem Gesamtgewicht von G = 900 N, einer Beinlänge von l = 1 m und
den sonstigen geometrischen Größen lM = 50 mm, αS = 6°, αM = 15°, h = 70 mm, l1 = 30 mm
und l2 = 200 mm ergeben sich
1000 mm
FM  0,0711  900 N   1279,8 N ,
50 mm

1000 mm
H x  0,0711  900 N   cos15  1236,2 N ,
50 mm

 1000 mm 
H y   0,0711   sin 15  0,185   900 N  497,7 N
 50 mm 
und somit
282 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

H  1236,2 2 N 2  497,7 2 N 2  1332,6 N

und
497,7 N
  arctan  arctan 0,4026  21,93 .
1236,2 N

Daraus folgen für


R  1332,6 N  cos(21,93  6)  1177,4 N ,

1332,6 N
N2   30 mm  sin(21,93  6)  70 mm  cos(21,93  6)   318,5 N ,
200 mm

N1  318,5 N  1332,6 N  sin(21,93  6)  305,7 N .

7.2.1.2 Abgewinkeltes Bein


Für den um 90° abgewinkelten Unterschenkel ergeben sich mit den Gleichgewichtsbedingun-
gen in der x-y-Ebene
z
: FM  l M  GO  lSO  G UF  l O  0 (7.90),

: H x  FM  cos  M  0 (7.91),

: H y  FM  sin  M  GO  GUF  0 (7.92)

(siehe Bild 7-16).

y
αM S UF
F
O UF

x αS
l
x
O
y l
z l
l

Bild 7-16 Schwerpunktabstände beim liegenden Patienten mit einem um 90° abgewinkelten Bein

Daraus lassen sich


GO  lSO  G UF  l O
FM  (7.93),
lM
7.2 Untersuchung von Heilungsmaßnahmen sowie von Bewegungs- und Heilungshilfen 283

H x  FM  cos  M (7.94),

H y  FM  sin  M  GO  G UF  FM  sin  M  GB (7.95),

H  H x2  H y2 (7.96),

Hy
  arctan (7.97)
Hx

für das abgewinkelte Bein errechnen.


Für die Kräfte N1, N2 und R zwischen Femur und Prothese ergeben sich entsprechend Bild
7-15 dann:
R  H  cos(   S ) (7.98),

H
N2  l1  sin(   S )  h  cos(   S ) (7.99),
l2

N1  N 2  H  sin(   S )  0 (7.100).

Mit den in Kapitel 7.2.1.1 angegebenen Zahlenwerten erhält man für das abgewinkelte Bein:
0,114G  0,194l  0,071G  0,45l l
FM   0,0541G   973,8 N
lM lM

H x  973,8 N  cos15  940,6 N ,

H y  973,8 N  sin 15  0,185  900 N  418,5 N ,

H  940,6 2 N 2  418,5 2 N 2  1029,5 N ,

418,5 N
  arctan  23,99 ,
940,6 N

R  1029,5 N  cos(23,99  6)  891,7 N ,

1029,5 N
N2   30 mm  sin(23,99  6)  70 mm  cos(23,99  6)   234,9 N ,
200 mm

N1  234,9 N  1029,5 N  sin(23,99  6)  279,7 N .

Zusätzlich wirkt u. a. auch noch ein Torsionsmoment M T  G UF  cos  S  lSUF  15,3 Nm um


die Längsachse der Prothese. Dieses muss durch Form- und Reibschluss zwischen Prothese
und Femur aufgefangen werden.
284 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

7.2.1.3 Hinweis
Mit den in Kapitel 7.2.1.1 und Kapitel 7.2.1.2 vorgestellten Vorgehensweisen und allgemeinen
Formeln lassen sich die Kräfte, die übungsbedingt zwischen Hüftprothese und Knochen auftre-
ten in Abhängigkeit der Beingewichte, der Beinabmessungen und Beinstellung sowie der Pro-
thesenabmessungen ermitteln. Sollte der Patient zunächst die Muskelkräfte nicht aufbringen
können, sind Unterstützungsmaßnahmen erforderlich, die bei zunehmendem Muskelaufbau
kontinuierlich reduziert werden. Es stellt sich heraus, dass die Kräfte bei abgewinkeltem Bein
deutlich kleiner sind als bei gestrecktem Bein. Allerdings tritt bei abgewinkeltem Bein ein
Torsionsmoment auf, das durch zusätzliche Hilfestellung vermieden werden sollte.

7.2.2 Knochenbrüche und ihre Heilung


Der gefährlichste Versagensfall eines festen Materials unter mechanischer Belastung ist der
Bruch. Im speziellen Fall des Knochenbruchs, der Fraktur, kann das Versagen vielfältige Ursa-
chen haben.
Am häufigsten ist der Bruch Folge einer direkten, örtlich begrenzten oder indirekten Gewalt-
einwirkung auf den gesunden Knochen (traumatischer Bruch). Ein Bruch kann aber auch bei
normaler Belastung ohne Gewalteinwirkung an krankhaft veränderten Knochen auftreten (pa-
thologische Fraktur). Ursache für den Bruch eines gesunden Knochens kann auch eine, z. T.
lokal begrenzte, zyklische Dauerbeanspruchung sein (Ermüdungsfraktur).
Für die Mechanik des Bewegungsapparats bedeutet eine Kontinuitätsunterbrechung des Ske-
lettsystems, dass die wesentliche Funktion des Abstützens des Organismus nicht mehr in ge-
wohnter Weise wirken kann. Jede Frakturbehandlung hat somit die Schaffung von optimalen
mechanischen und biologischen Voraussetzungen für die Frakturheilung zum Ziel.
Die Heilung eines gebrochenen Knochens wird über eine Abfolge verschiedener lokaler Reak-
tionen des Körpers bewältigt, an deren Ende in der Regel eine vollständige biomechanische
Wiederherstellung des frakturierten Knochens steht. Auf mikroskopischer und makroskopi-
scher Ebene steuern zellulare, biomechanische und biophysikalische Prozesse und deren kom-
plexes Zusammenspiel diesen Regenerationsprozess, [7-6]. Die Heilungsdauer ist dabei u. a.
abhängig von
 der Art des Bruchs,
 dem Alter des Patienten und
 der Art der medizinischen Versorgung
und beträgt je nach Körperteil zwischen 3 und 32 Wochen, [7-7].

7.2.2.1 Starre Frakturfixationssysteme zur Knochenbruchheilung


Die Behandlung einer Fraktur kann mit unterschiedlichen Methoden durchgeführt werden. Die
erste Methode basiert auf einer flexiblen Fixation, wie z. B. einem Gipsverband oder einem
axial-beweglichen Fixateur extern, die eine natürliche Knochenheilung mit Frakturkallusbil-
dung zur Folge hat.
Bei der zweiten Methode erfolgt die Behandlung der Fraktur durch eine rigide Fixation, z. B.
durch Platten oder Schrauben. Diese Behandlungsmethode erfordert eine operative Frakturbe-
handlung (Osteosynthese). In der Regel erfüllen die osteosynthetischen Implantate die Anfor-
derung, die gebrochenen Knochenteile in ihrer natürlichen und ursprünglichen Lage zu fixie-
7.2 Untersuchung von Heilungsmaßnahmen sowie von Bewegungs- und Heilungshilfen 285

ren und gleichzeitig den kranken Knochen zu entlasten. Es kommt also zu einer Kraftflussum-
lenkung vom gesunden Knochen über den temporären Fixateur, z. B. Verriegelungsnagel (sie-
he Bild 7-17a) und damit zur Schonung des kranken Knochens. Das Implantat soll dem Patien-
ten nach kurzer Zeit die Aufnahme seiner alltäglichen Tätigkeiten ohne wesentliche Ein-
schränkungen ermöglichen. Nach fortgeschrittener Heilung wird das temporäre Fixateursystem
in der Regel wieder entfernt.

a) b) c)
F F

proximale
αS Verriegelung
αS

des Imp sbereich


Bruchstelle N

lantats
mit Kallusbildung M

g
Wirkun
Verriegelungsnagel
Q
Verriegelungsschrauben distale
Verriegelung
x
x

F F F

Bild 7-17 Versorgung eines Oberschenkelbruches mit einem Verriegelungsnagel


a) Oberschenkelknochen (Femur) mit der wirkenden Kraft F sowie mit Bruchstelle und
Verriegelungsnagel (schematisch)
b) Vereinfachte Darstellung des Femurs mit dem Wirkungsbereich des Implantats
c) Normalkraft, Querkraft und Biegemoment im Femur

Die heute eingesetzten Implantate, wie z. B. Platten oder statisch verriegelte Marknägel, sind
starre Heilungshilfen, die sich nicht oder nur in geringem Maße an den Heilungsprozess anpas-
sen. Ein Nachteil dieser Fixation ist die nicht vollständige Wiedererlangung der gesamten
Tragfähigkeit des Knochens. Solange das Implantat verbleibt, baut sich der Knochen als natür-
liches Organ nur soweit wieder auf, wie es gerade notwendig ist, um gemeinsam mit dem Im-
plantat die Gesamtlast zu tragen.

7.2.2.2 Strukturmechanische Modelle zur Knochenbruchheilung


Der bei der Knochenbruchheilung ablaufende Vorgang soll an einem gebrochenen Oberschen-
kelknochen, der operativ mit einem Marknagel versorgt ist, biomechanisch untersucht werden,
Bild 7-17a. Der Nagel ist durch Schrauben mechanisch verriegelt, so dass der Wirkungsbe-
reich des Implantats zwischen den inneren Verriegelungsschrauben liegt, Bild 7-17b. Als Be-
lastung wird die übertragene Kraft F, die sich im Wesentlichen aus dem Körpergewicht ergibt,
angenommen.
286 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Im Schaft des Oberschenkelknochens wird dann eine Normalkraft


N  F  cos  S (7.101),

sowie ein Biegemoment M  F  x  sin  S sowie eine Querkraft Q  F  sin  S übertragen


(siehe Bild 7-17c, [7-8]).
Im in Bild 7-17b gekennzeichneten Wirkungsbereich übernimmt zu Beginn des Heilungspro-
zesses das Implantat die Übertragung der Kräfte und Momente. Im Verlauf der Heilung ist der
Knochen in der Lage, zunehmend Belastung zu übernehmen. Dieser Vorgang lässt sich durch
biomechanische Modelle ansatzweise beschreiben. Dies wird nachfolgend anhand eines Mo-
dells für die Normalkraftbelastung aufgezeigt.
Für die Übertragung der Normalkraft kann als biomechanisches Modell ein Federsystem, be-
stehend aus einer Feder, die die Steifigkeit des Implantats widerspiegelt, und ein parallel ge-
schaltetes Federsystem, das die Steifigkeit des gebrochenen Knochens darstellt, verwendet
werden, Bild 7-18a.

a) b)
N N
t
Implanta

c K1 c K1
cI cI
Femur

cC cC

c K2 c K2

NI
NK

Bild 7-18 Biomechanisches Ersatzfedermodell für die Normalkraftbelastung des gebrochenen Femur
a) Beschreibung des Implantats durch die Federkonstante cI und des Knochens durch die
Federkonstanten cK1 und cK2 des gesunden Bereichs bzw. cC für den heilenden Knochen
(Kallus im Frakturspalt)
b) Aufteilung der Normalkraft N in NI des Implantats und NK des Knochens

Die Federkonstante des Implantats wird mit cI bezeichnet. Das Federsystem des Knochens
besteht aus den Federkonstanten cK1 und cK2 für den oberen und unteren Teil des Knochens
sowie aus der Federkonstanten cC für den Kallus. Dieses biomechanische Modell erlaubt nun
die Ermittlung der in Abhängigkeit von dem Heilungsprozess übertragenen Normalkräfte NI
im Implantat und NK im Knochen, Bild 7-18b. Dazu wird angenommen, dass zu Beginn des
Heilungsvorgangs der Kallus keine Kraft übertragen kann, d. h. der Kallus die Federsteifigkeit
cC = 0 besitzt, weil der Elastizitätsmodul EC des Kallus null ist. Zum Ende der Heilung hat der
knöchern durchbaute Kallus den E-Modul EC = EK1 = EK2 des gesunden Knochens annähernd
erreicht. Bei dem Ersatzsystem in Bild 7-18 sind die Federn des Knochens in Reihe und das
Implantat und der gesamte Knochen parallel geschaltet, siehe auch Kapitel 3.6.
7.2 Untersuchung von Heilungsmaßnahmen sowie von Bewegungs- und Heilungshilfen 287

Für den Knochen ergibt sich somit die Federkonstante cK mit der Beziehung
1 1 1 1
   (7.102).
c K c K1 cC c K2

Die Gesamtfederkonstante von Implantat und Knochen errechnet sich mit


cges  cI  c K (7.103).

Dementsprechend wird im Implantat die Normalkraft


cI c
NI   N  I  F  cos  S (7.104)
cges c ges

und im Knochen die Normalkraft


cK c
NK   N  K  F  cos  S (7.105),
cges c ges

übertragen, siehe hierzu auch Kapitel 3.6.2.

100
90
80 b) a)
Normalkraftanteil [%]

Knochenheilung [%]
70
60 Prozentuale
50
40
30
20 c)
10
0
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Heilungszeit (Heilungsstufen)
Bild 7-19 Normalkraftverteilung zwischen Knochen und Implantat in Abhängigkeit vom Heilungspro-
zess des Knochen
a) E-Modul EC des Kallus in Prozentanteilen des E-Moduls EK des gesunden Knochens
(Kortikalis)
b) Normalkraftanteil NI/N im Implantat in %
c) Normalkraftanteil NK/N im Knochen in %

Bild 7-19 zeigt die Normalkraftverteilung zwischen Knochen und Implantat im Verlauf des
Heilungsprozesses. Die „Zeitachse“ auf der Abszisse stellt Stufen der Knochenbruchheilung
dar. Stufe 1 zeigt die Situation unmittelbar nach der Operation. Die Heilung hat noch nicht
eingesetzt, d. h. EC/EK = 0. Stufe 4 zeigt eine fortgeschrittene Heilung mit EC/EK = 0,1 = 10 %.
Heilungsstufe 6 geht von EC/EK = 0,5 = 50 % aus usw. Entsprechend der einzelnen Heilungs-
stufen errechnen sich die Normalkraft NI im Implantat und die Normalkraft NK im Knochen.
Zu Beginn der Heilung, d. h. in Stufe 1, wird 100 % der Normalkraft im Implantat übertragen.
In Heilungsstufe 4 übernimmt bei den hier angenommenen Gegebenheiten der Knochen schon
53 % und in Stufe 6 übernimmt der Knochen 56 % der Normalkraft.
288 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Man erkennt, dass auch bei zunehmender Heilung das Implantat (starrer Marknagel) noch
einen hohen Anteil der Normalkraft überträgt. Nach Ausbau des Implantats hat der Knochen
somit aufgrund von Um- und Abbauprozessen lediglich einen Anteil seiner ursprünglichen
Tragfähigkeit und kann noch nicht voll belastet werden. Die Gefahr einer Refraktur ist in die-
ser Phase groß und Rehabilitationsmaßnahmen sind nötig.
Mit strukturmechanischen Modellen können also die Heilungsprozesse bei einem Knochen-
bruch veranschaulicht werden. Ausführliche Überlegungen zu dieser Thematik sind in [7-8 bis
7-11] zu finden. Dort werden auch biomechanische Modelle für die Biegebelastung und Finite-
Elemente-Studien zur Knochenbruchheilung vorgestellt.

7.2.2.3 Entwicklung eines aktiven Implantats


Für eine optimale und schnelle Knochenheilung, die zu einer schnelleren Gesundung und so-
mit auch Arbeitsfähigkeit des Patienten führt, ist eine Heilungshilfe sinnvoll, die während des
Heilungsprozesses ihre Steifigkeit vermindert. Dadurch wird der Knochen angeregt, schneller
zu heilen und im Endstadium der Heilung die volle Last zu übernehmen. Die Gefahr einer
Refraktur nach Entfernen des Implantats wird somit deutlich gemindert. Zudem bietet ein so
genanntes intelligentes Implantat dem Arzt die Möglichkeit, den Heilungsprozess informati-
onstechnisch zu überwachen.
Ein solches aktives Implantat wurde in der Fachgruppe Angewandte Mechanik der Universität
Paderborn entwickelt [7-9 bis 7-13]. Ziel war es, das Versteifungsverhalten eines Verriege-
lungsnagels, den variierenden Bedürfnissen der Frakturheilung über den gesamten Heilungs-
verlauf hinweg anzupassen. Die mechanischen Eigenschaften des Implantats sollten dabei
entweder diskret oder stetig verändert werden können.

Aktor 1
Informationsverarbeitung Fraktur

Sensor 1

temporäre Verbindung Aktor 2


zum behandelnden Arzt

Sensor 2

Informationsfluss
Bild 7-20 Schema eines aktiven Implantats mit den wesentlichen Funktionselementen
7.2 Untersuchung von Heilungsmaßnahmen sowie von Bewegungs- und Heilungshilfen 289

Bild 7-20 zeigt das Schema eines aktiven Implantats, das insbesondere mit folgenden Funkti-
onselementen ausgestattet ist:
 Aktor 1: Aktives Federsystem, das eine kontinuierlich veränder-
bare Axialsteifigkeit des Implantats bewirkt.
 Aktor 2: Translationsmechanismus, der in der Lage ist, Mikro-
bewegungen im Frakturspalt auszuführen.
 Sensor 1: Messfühler, der den Heilungsverlauf im Frakturspalt
überwacht.
 Sensor 2: Messsystem, das am Marknagel Bewegungs- und Belas-
tungsart sowie Belastungshöhe misst.
 Informationsverarbeitung: System, das alle notwendigen Parameter während der
Heilung erfasst, auswertet und gleichzeitig die Aktoren
entsprechend den Zieldefinitionen ansteuert.
Die einzelnen Konzepte für die Systemkomponenten des aktiven Implantats sowie die Kon-
struktion und Ausführung des letztlich realisierten Konzepts sind in [7-9] und [7-10] ausführ-
lich beschrieben.
Mit struktur- und biomechanischen Untersuchungen konnten auch für das aktive Implantat die
Entwicklung der Normalkräfte im Implantat und im Knochen während der Heilung untersucht
werden, Bild 7-21.

100
90 b)
80 c)
Normalkraftanteil [%]

Knochenheilung [%]
70
Prozentuale

60
a)
50
40
30
20
10
0
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Heilungszeit (Heilungsstufen)
Bild 7-21 Normalkraftentwicklung im Knochen und im Implantat bei einem durch einen aktiven
Marknagel gesteuerten Heilungsverlauf
a) E-Modul EC des Kallus in Prozentanteilen des E-Moduls EK des gesunden Knochens
(Kortikalis)
b) Normalkraftanteil NI/N im Implantat in %
c) Normalkraftanteil NK/N im Knochen in %

Es zeigt sich, dass mit zunehmender Heilung das Implantat nahezu komplett entlastet wird und
der Knochen gegen Ende des Heilungsprozesses in der Lage ist, die gesamte Belastung aufzu-
nehmen und zu ertragen. Das entwickelte Heilungssystem führt durch die Aktoren 1 und 2
auch die Vorteile der flexiblen und der starren Fixation zusammen, so dass die Ziele beider
Methoden erreicht werden und es zu einer schnellen und effektiven Heilung kommen kann.
290 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

7.2.3 Entwicklung eines künstlichen Kniegelenks


Vielfach sind folgenschwere Unfälle oder auch Knochentumore der Grund für eine Ober-
schenkelamputation, so dass Patienten aller Altersschichten davon betroffen sein können. Mit
modernen, modular aufgebauten Beinprothesen kann den Patienten ein großer Teil der ur-
sprünglichen Bewegungsfreiheit zurückgegeben werden. Ein wesentlicher Bestandteil für die
Funktionalität einer Beinprothese ist das Prothesenkniegelenk. Ziel eines Forschungsprojekts
war daher die Entwicklung eines kompatiblen Kniegelenks für Oberschenkelamputierte, das
die physiologischen Eigenschaften des menschlichen Kniegelenks möglichst übernimmt und
sich in weiten Bereichen an die Bedürfnisse der Patienten anpassen lässt.

7.2.3.1 Anforderungen an ein Prothesenkniegelenk


Folgende Anforderungen sollen mit dem künstlichen Kniegelenk erfüllt werden:
 naturgetreue Kinematik,
 sichere Standphase ohne Einrastmechanismus, um den kontinuierlichen Übergang
vom Stehen zum Gehen zu ermöglichen,
 ausschließlich mechanische und keine aktiven Elemente,
 kompakte Bauweise zur möglichen Integration des Kniegelenks in modulare Beinpro-
thesen sowie
 kostengünstige Konstruktion.
Biomechanische Studien zeigen, dass die Führung der Bewegung zwischen Femur und Tibia
durch die Gelenkflächen und den Bandapparat, das Halten definierter und stabiler Gelenkstel-
lungen unter Belastung, die Vermeidung bzw. das Abbremsen ungewollter Bewegungen sowie
die Unterstützung gewollter Bewegungen mit Hilfe der Muskulatur wichtige Eigenschaften des
menschlichen Kniegelenks sind, die mit dem künstlichen Gelenk nachgebildet werden müssen.
Für das Prothesenkniegelenk sind somit insbesondere folgende Komponenten notwendig:
 eine Gelenkkette zur Festlegung der Relativbewegung zwischen Unterschenkel- und
Oberschenkelteil,
 ein geeigneter Bremsmechanismus, der in der Standphase die Bewegung automatisch
hemmt und
 ein geeigneter Vorbringermechanismus, der während der Schwungphase die Pendel-
bewegung des Beins unterstützt.

7.2.3.2 Kinematik des Prothesenkniegelenks


Basis für die Kinematik des Prothesenkniegelenks ist eine Viergelenkkette mit sich kreuzenden
starren Koppelgliedern in Anlehnung an die Kreuzbänder des natürlichen Kniegelenks, siehe
z. B. Kapitel 5.5.4 und Kapitel 6.7. Die Koppelglieder des Prothesengelenks können im Ge-
gensatz zu den Kreuzbändern auch Druckkräfte übertragen, d. h. die Gelenkflächen beim
Femur und der Tibia, die beim natürlichen Gelenk für die Übertragung der Druckkräfte zu-
ständig sind, müssen nicht nachgebildet werden.
7.2 Untersuchung von Heilungsmaßnahmen sowie von Bewegungs- und Heilungshilfen 291

Die Anordnung der Gelenkpunkte und die Abmessungen sind an die Verhältnisse des natürli-
chen Knies angepasst (siehe Kapitel 5.5.4). Ein Prototyp dieses Kniegelenks ist in Bild 7-22
abgebildet.

a) Oberschenkelanbindung b) Oberschenkelanbindung
(Femurposition) (Femurposition)

Lagerstelle
hinteres vorderes
Kreuzband Kreuzband
vorderes (Ober-
Kreuzband schenkelteil)
Lagerstelle
hinteres
Kreuzband
(Ober-
schenkelteil)

Unterschenkelanbindung Unterschenkelanbindung
(Tibiaposition) (Tibiaposition)
Bild 7-22 Prototyp des Prothesenkniegelenks als Viergelenkkette
a) Gestrecktes Knie (Bein)
b) Gebeugtes Knie

Bild 7-22a zeigt die Situation bei gestrecktem Bein mit der Oberschenkelanbindung (Femurpo-
sition) oben und der Unterschenkelanbindung (Tibiaposition) unten. Bild 7-22b stellt das ge-
beugte Knie mit einem Beugewinkel von ca. 45° dar. Zu sehen sind insbesondere das vordere
und das hintere Kreuzband, die mechanisch gesehen als Stäbe und Balken ausgeführt sind und
somit die komplette Kraftübertragung zwischen Oberschenkel und Prothesenunterschenkel
übernehmen.

7.2.3.3 Nachbildung der Muskelaktivitäten beim Prothesenkniegelenk


Zur Nachbildung der Muskelaktivitäten beim Gehen sind ein Bremsmechanismus, der in der
Standphase die Bewegung automatisch hemmt, und ein Vorbringermechanismus, der während
der Schwungphase die Pendelbewegung des Beins unterstützt, erforderlich. Mit grundlegenden
Finite-Elemente-Simulationen wurde eine Vielzahl möglicher Anordnungen für den Brems-
bzw. den Vorbringermechanismus untersucht. Aufgrund dieser Ergebnisse konnte eine
Klemmbremse entworfen werden, die während der Standphase durch das Körpergewicht die
Drehung eines der Gelenke der Viergelenkkette automatisch bremst. Das Funktionsprinzip der
Bremse ist in Bild 7-23 dargestellt.
292 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

Oberschenkelteil oben
(Lasteinleitungsstelle
Stützstelle für den Hebelmechanismus zur
für das Körpergewicht)
Betätigung der lastabhängigen Drehbremse

Lagerstelle "vorderes
Kreuzband, Oberschenkelteil"

Lagerstelle für den


Hebelmechanismus
zur Betätigung der
lastabhängigen Dreh- Oberschenkelteil
bremse unten

Klemmschlitz Lagerstelle "hinteres Kreuzband,


Oberschenkelteil" und Drehbremse
Bild 7-23 Funktionsprinzip der im Oberschenkelteil integrierten Klemmbremse

Der Vorbringermechanismus ist ein Feder-Dämpfersystem, das im ersten Teil der Schwung-
phase über ein Gestänge gespannt wird und ein übermäßiges Pendeln des Unterschenkels nach
hinten bremst. Im zweiten Teil der Schwungphase unterstützt der Vorbringer über das Gestän-
ge das Pendeln des Unterschenkels nach vorne, so dass das Prothesenbein rechtzeitig zum
Beginn der Standphase gestreckt ist. Bild 7-24 zeigt das mechanische Modell des Vorbringers
mit seinen wesentlichen Komponenten.

Oberschenkelteil
feste Einspannung verstellbares oberes Lager
am Oberschenkelteil des Vorbringergestänges

Vorbringergestänge
vorderes
Kreuzband hinteres
Kreuzband

Unterschenkelteil

vorspannbare
Vorgabe der Drehung Vorbringerrückstellfeder

Bild 7-24 Mechanisches Modell des Vorbringers

Die Eigenschaften der Klemmbremse und des Vorbringers lassen sich durch Einstellvorrich-
tungen in weiten Bereichen verändern und auf die individuellen Verhältnisse des Patienten
anpassen.
7.2 Untersuchung von Heilungsmaßnahmen sowie von Bewegungs- und Heilungshilfen 293

7.2.3.4 Eigenschaften des Prothesenkniegelenks


Am Ende des Entwicklungsprozesses, siehe auch [7-14], ist ein Prothesenkniegelenk entstan-
den, das die in Kapitel 7.2.3.1 beschriebenen Anforderungen erfüllt. Eine Ausführung des
künstlichen Kniegelenks ist in Bild 7-25 gezeigt.

Bild 7-25 Künstliches Kniegelenk für Oberschenkelamputierte

Das neuentwickelte Kniegelenk besitzt folgende Komponenten und Eigenschaften:


 eine polyzentrische Gelenkkette, die den physiologischen Bewegungsablauf nachbil-
det,
 eine Beinlängenverkürzung in physiologischem Maße,
 ermöglicht das Begehen von schiefen Ebenen aufwärts, ohne dass der Patient die Hüf-
te zusätzlich anheben muss,
 eine veränderbare Lastlinie im Balance- und Bequemstand in der Ruhephase des Pati-
enten,
 einen geringen Energiebedarf für die Ausführung der Schwungphase,
 eine Standphasensicherung über eine Bremse, die das Begehen von schiefen Ebenen
in beide Richtungen zulässt.
Das Kniegelenk unterstützt ein natürliches Bewegungsmuster trotz Einsatz einer mechanischen
Bremse als Standphasensicherung. Die durch die Viergelenkkette festgelegte, naturgetreue
Kinematik des Kniegelenks wird weder durch die Bremse noch durch den Vorbringer verän-
dert. Es handelt sich um eine Konstruktion in kompakter Bauweise, welche die Integration des
Kniegelenks in eine modulare Beinprothese erlaubt.
294 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

7.2.4 Präoperative Studien für einen Unterarm


Für einen Patienten mit krankhaft verformtem Unterarm sollte eine präoperative Bewegungs-
studie durchgeführt werden. Die Studie sollte aufzeigen, weshalb der Patient seinen rechten
Unterarm und damit Handgelenk und Hand aktiv nur sehr eingeschränkt drehen kann. Nach
Analyse des Röntgenbildes, siehe Bild 7-26, wurde vermutet, dass es infolge der starken Ver-
krümmung von Elle (Ulna) und Speiche (Radius) bei der Bewegung zum Kontakt der beiden
Knochenstrukturen und damit zur Blockade der Drehung kommt. Eine Lösungsmöglichkeit

Bild 7-26 Röntgenaufnahme des pathologisch deformierten Unterarms

bestand darin, die vermutete Kontaktblockade durch eine operative Begradigung von Elle und
Speiche zu vermeiden. Vor einer Operation sollte jedoch durch eine computergestützte Bewe-
gungssimulation geklärt werden, ob nicht andere Gegebenheiten die Blockade der Drehung
nach einem möglichen Verdrehwinkel von ca. 30° auslösen. Dies sollte mit einer individuellen
Finite-Elemente-Simulation für den pathologisch deformierten Unterarm erfolgen.

7.2.4.1 Individuelles Finite-Elemente-Modell für den Unterarm


Für die Simulation der Unterarmdrehung wurde ein individuelles Finite-Elemente-Modell
basierend auf CT-Bildern des pathologischen Unterarms des Patienten erstellt. Die CT-
Aufnahmen für eine Schichtdicke von 2 mm lieferten Informationen über die Querschnittsab-
messungen von Elle und Speiche, Bild 7-27.

Bild 7-27 Schichtweise Ermittlung der Konchenkonturen aus Computertomografiedaten (CT-Daten)


a) CT-Schichtbild des Unterarms
b) gefilterte Knochenkontur

Eine CT-Schichtaufnahme ist in Bild 7-27a gezeigt. Durch entsprechende Filterung mit dem
Programm FAMFiltraCT [7-15 bis 7-17] konnten die Knochenquerschnitte für die Elle und Spei-
che ermittelt werden, Bild 7-27b. Durch Anwendung dieser Methode für alle CT-Schichten
entstand das in Bild 7-28a gezeigte, geometrische Schichtmodell der Knochenstrukturen des
Unterarms. Aus dem Schichtmodell ließ sich dann ein CAD (Computer Aided Design) -
7.2 Untersuchung von Heilungsmaßnahmen sowie von Bewegungs- und Heilungshilfen 295

a) b)

Ellbogengelenk

Elle

Speiche

Bild 7-28 Ermittlung der Geometrie der Unterarmknochen aus den ermittelten Schichtdaten
a) Geometrisches Schichtmodell der Knochen
b) CAD-Modell der Knochen

Modell für den Unterarm erstellen, Bild 7-28b. Das CAD-Modell war Basis für die Generie-
rung eines Finite-Elemente-Modells. Die detaillierte Vorgehensweise ist z. B. in [7-15 bis 7-
20] beschrieben.

7.2.4.2 Simulation der Drehbewegung des Unterarms


Die Finite-Elemente-Simulation des Unterarms wurde durchgeführt mit dem FE-Code
ABAQUSTM. Der Studie gingen einige kinematische Vorstudien voraus (näheres hierzu siehe
in

a)

Rotationsachse
der Speiche
φ=0

b)

Rotationsachse
der Speiche
φ

Bild 7-29 Finite-Elemente-Simulation der Unterarmdrehung


a) Ausgangsposition: φ = 0°
b) Drehung der Speiche um φ
296 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

[7-18]). Bei der Einwärtsdrehung (Innenrotation, Pronation) kreuzen sich die Unterarmkno-
chen, bei der Auswärtsdrehung (Außenrotation, Supination) verlaufen die Knochen parallel
zueinander.

idealisierte Kontur
pathologisch der gesunden Elle
deformierte Elle (Ulna)
Speiche (Radius)
im um φ ≈53°
verdrehten Zustand

Speiche (Radius) im
Ausgangszustand: φ = 0°

Bild 7-30 Darstellung der Unterarmdrehung im Bereich des Handgelenks

Bild 7-29 zeigt simulierte Stadien der Unterarmdrehung. Die Rotationsachse verläuft vom
ellenbogenseitigen Ende der Speiche zum handseitigen Kopf der Elle. Der Drehwinkel ist φ.
Bild 7-29a zeigt die Ausgangsposition, φ = 0°, für die Außenrotation. Die Drehung der Spei-
che um den Winkel φ ist in Bild 7-29b in der Seitenansicht gezeigt. Die Verdrehung wird auch
deutlich mit Bild 7-30. Hier wird die Situation im Bereich des Handgelenks bei einer Unter-
armdrehung in einer Vorderansicht (Blick von distal auf die Elle und Speiche) gezeigt. Das
handgelenknahe Ende der Speiche dreht um den Kopf der Elle um den Winkel φ. In dieser
Darstellung wird deutlich, dass die Gelenkkontur der Elle des Patienten handseitig stark de-
formiert ist, was zur Blockierung der Drehbewegung führt. Bei einem gesunden Arm ist das
Ellenköpfchen rund und glatt und lässt im Vergleich zur Situation des Patienten eine nahezu
momentenfreie Drehbewegung zu.

7.2.4.3 Ursachen für die Einschränkung der Unterarmdrehung des Patienten


Ursache für die Einschränkung der Unterarmdrehung bzw. die Blockade der Drehung bei ei-
nem bestimmten Drehwinkel ist die pathologisch veränderte Gelenkkontur der Elle (Ulna) des

pathologisch veränderter Knochenbereich

Bild 7-31 Pathologisch deformierte Elle im handgelenknahen Bereich


Literatur zu Kapitel 7 297

Gelenks zwischen Elle und Speiche (Radius) im handgelenknahen Bereich, siehe Bild 7-31.
Dadurch ist bei der Drehung des Unterarms, ab einem Drehwinkel von φ ≈ 30°, Bild 7-30, ein
enormer Anstieg des Drehmomentes zu verzeichnen. Dieses sehr hohe Drehmoment kann von
dem Patienten, wie auch die medizinischen Befunde zeigen, nicht selbstständig aufgebracht
werden. Damit einher geht auch ein starker Anstieg der Bandspannungen im Handgelenk, die
letztlich eine Drehung des Unterarms durch den Patienten nur in kleinen Winkelbereichen
erlaubt. Bild 7-32 zeigt den Vergleich der relativen Bandspannungen im deformierten Handge-
lenkbereich und im gesunden Ellenbogenbereich. Ein Anstieg der Bandspannungen bei der
Rotation ergibt sich nur im krankhaft deformierten Handgelenkbereich.

1,6

1,5
relative Bandspannungen

1,4
a)
1,3

1,2

1,1
b)
1

0,9
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55
Verdrehwinkel φ
Bild 7-32 Relative Bandspannungen bei den Gelenken zwischen Elle und Speiche in Abhängigkeit
vom Verdrehwinkel φ
a) Stark ansteigende Bandspannungen im handgelenknahen Bereich
b) Nahezu konstante Bandspannungen im ellenbogennahen Bereich

7.2.4.4 Abschließende Bemerkungen


Ausführliche Beschreibungen zu diesen präoperativen Studien sind in [7-18 bis 7-20] zu fin-
den. Dieses Beispiel sowie die Beispiele in Kapitel 6 zeigen, dass mit Hilfe biomechanischer
Studien und insbesondere mit Finite-Elemente-Simulationen wichtige Erkenntnisse gewonnen
werden können.

Literatur zu Kapitel 7
[7-1] Papula, L.: Mathematische Formelsammlung für Ingenieure und Naturwissenschaft-
ler. Verlag Vieweg + Teubner, Wiesbaden, 2009
[7-2] Hillebrecht, M.; Schwirtz, A.; Stapelfeldt, B.; Stockhausen, W.; Bührle, M.:
Trittechnik im Radsport: Der „runde Tritt“ - Mythos oder Realität? In: Leistungs-
sport 28 (6), 1998, S. 58-62
[7-3] Petzke, W.: Muskelleistung und Wirkungsgrad beim Radfahren. In: Leistungssport
36 (3), 2006, S. 47-54
298 7 Anwendungsbeispiele der Biomechanik in Sport und Medizin

[7-4] Kerle, H.; Pittschellis, R.; Corves, B.: Einführung in die Getriebelehre, Analyse und
Synthese ungleichmäßig übersetzender Getriebe. 3. Auflage, Teubner Verlag, Wies-
baden, 2007
[7-5] Volmer, J. (Hrsg.): Getriebetechnik – Grundlagen. Verlag Technik, Berlin, Mün-
chen, 1992
[7-6] Mc Kibbin, B.: The biology of fracture healing in long bones. In: J. Bone Joint
Surg. 60, 1978, S. 150-162.
[7-7] Müller, M. E.; Allgöwer, M.; Schneider, R.; Willenegger, H.: Manual der Osteosyn-
these AO-Technik, Springer-Verlag, Berlin, 1992
[7-8] Richard, H. A.; Beier, T.; Kullmer, G.; Dee, W.: Strukturmechanische Berech-
nungsmodelle der Knochenbruchheilung im Hinblick auf einen in der Steifigkeit
veränderbaren Marknagel. In: DVM-Bericht 313, Implantologie. Deutscher Verband
für Materialforschung und –prüfung, Berlin, 2000, S. 201-212.
[7-9] Beier, T.; Richard, H. A.: Realisierungskonzepte zur Entwicklung eines aktiven
intramodullären Implantats. In: DVM-Bericht 313, Implantologie. Deutscher Ver-
band für Materialforschung und –prüfung, Berlin, 2000, S. 191-200.
[7-10] Beier, T.: Strukturmechanische Untersuchungen zur Knochenbruchheilung und
Entwicklung eines aktiven Implantats. Fortschritt-Berichte VDI, Reihe 17: Nr. 216,
VDI-Verlag, Düsseldorf, 2001
[7-11] Beier, T.; Richard, H. A.; Kullmer, G.: Knochenbrüche und ihre Heilung: In: DVM-
Bericht 233: Anwendung der Bruch und Schädigungsmechanik. Deutscher Verband
für Materialforschung und –prüfung, Berlin, 2001, S. 181-198.
[7-12] Richard, H. A.; Beier, T.: Vorrichtung zur Retention und Protektion von beschädig-
ten Knochen, Offenlegungsschrift, DE 19855254 A1, Deutsches Patent- und Mar-
kenamt, München, 1998
[7-13] Beier, T.; Richard, H. A.; Kullmer, G.: Entwicklung eines aktiven intramodullären
Implantats zur Knochenbruchheilung. In: Z. Konstruktion 54, 2002 S. 65-66.
[7-14] Kullmer, G.; Richard H. A.; Grießer, M.: Neuentwicklung eines Prothesenkniege-
lenks auf der Basis biomechanischer Studien des menschlichen Kniegelenks. In: Ta-
gungsband, 2. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Biomechanik, 2001, S. 139-
140.
[7-15] Kullmer, G.; Weiser, J.; Richard H. A.: Construction of finite element models on the
basis of computed tomography data. In: Middleton, J.; Jones, M. L.; Pande; G. N.:
Computes methods in biomechanics & biomedical engineering – 2, Gordon and
breach science publishers, 1998, S. 231-238
[7-16] Weiser, J.: Automatisierte Erstellung von individuellen Computermodellen zur
Simulation des menschlichen Bewegungsapparates mittels der Finite-Elemente-
Methode. Fortschritt-Bericht VDI, Reihe 17: Biotechnik/Medizintechnik Nr. 220,
VDI-Verlag, Düsseldorf, 2002.
[7-17] Kullmer, G.: Biomechanische Analysen des menschlichen Bewegungsapparats mit
Hilfe der Finite-Elemente-Methode. Fortschritt-Bericht VDI, Reihe 17: Biotech-
nik/Medizintechnik Nr. 196, VDI-Verlag, Düsseldorf, 2000
Literatur zu Kapitel 7 299

[7-18] Kullmer, G.; Richard H. A.: Preoperative movement study for a forearm with patho-
logically deformed ulna using the finite element method. In: Y. Payhan (Ed.): Bio-
mechanics Applied to Computer Assisted Surgery, 2005, S. 53-66
[7-19] Kullmer, G.; Weiser, J.; Richard H. A.; Figge, V.: Preoperative Finite Element
simulation for a forearm with pathologically deformed forearm bones. In: J. Middle-
ton, N. G. Shrive, M. L. Jones (Eds.): Computer Methods in Biomechanics & Bio-
medical Engineering - 4, 2001, CD-ROM Proceedings of the 5th International Sym-
posium on Computer Methods in Biomechanics & Biomedical Engineering, Rome,
Italy, 2001.
[7-20] Kullmer, G.; Weiser, J.; Richard, H. A.; Figge, V.: Präoperative Bewegungsstudie
für einen Unterarm mit der Finite-Elemente-Methode. In: Tagungsband, 2. Tagung
der Deutschen Gesellschaft für Biomechanik, 2001, S. 63-64.
Sachwortverzeichnis

Beispiel ‒ , Komponenten 113


‒ , Beinübung 44 ‒ , mittlere 115
A ‒ , Bergzeitfahren 143 ‒ , momentane 115
Abfluggeschwindigkeit 252 ‒ , Breitbeinstand 97 ‒ , wegabhängige 125
Abflughöhe 253 ‒ , Einbeinstand 101 ‒ , zeitlich veränderliche 122
Abflugwinkel 253 ‒ , Fahrradfahren 11, 254, Beschleunigungs-Zeit-
aktiver Bewegungsapparat 3 261 Diagramm 120, 121, 122
Anatomie 1, 147, 175 ‒ , Fallschirmspringer 124 Bewegung 109, 111
anatomische ‒ , Fußballspieler 74 ‒ , Abfluggeschwindigkeit
Richtungsbezeichnung 6 ‒ , Ganganalyse 30 252
Anfangsbedingung 118 ‒ , Hammerwerfen 252 ‒ , Abflughöhe 253
Antrieb ‒ , Hüftbeuger 69 ‒ , Abflugwinkel 253
‒ , Fahrrad 264 ‒ , Hüftgelenk 223, 278 ‒ , Bahn 137
‒ , Hüftgelenk 267, 274, 275 ‒ , Hüftprothese 281 ‒ , Bewegungsbahn 111
‒ , Kniegelenk 267, 274, 275 ‒ , Hundertmeterlauf 115 ‒ , Drehbewegung 133, 294
Arbeit 141 ‒ , Kind auf Schaukel 139 ‒ , dynamische
Arbeitssatz 143 ‒ , Kniebeuge 225 Grundgleichung 131
Arm ‒ , Kniegelenk 219 ‒ , Einteilung 111
‒ , Muskel 191 ‒ , Knieprothese 12 ‒ , Finite-Elemente-Analyse
Armbeuge ‒ , Kugelstoßen 252 231, 238, 241
‒ , Biegemomentenverlauf ‒ , künstliches Hüftgelenk 11 ‒ , geradlinige 112, 114
192, 193, 194 ‒ , Liegestütz 9, 64 ‒ , geschwindigkeitsabhän-
‒ , Muskel 191 ‒ , menschlicher Körper 19 gige Beschleunigung 123
Aufgaben d. Biomechanik 8 ‒ , Oberarmknochen 94 ‒ , gleichförmig beschleunigte
Axiom 131 ‒ , Oberschenkelknochen 10 120
‒ , Bewegungsgesetz 131 ‒ , Person am Reck 41 ‒ , gleichförmige 112, 119
‒ , Dynamik 131 ‒ , Person auf schiefer Ebene ‒ , Kniegelenk 238
‒ , Gleichgewicht 22 55 ‒ , Kraft 135
‒ , Kräfteparallelogramm 24 ‒ , Person sitzend 71 ‒ , ohne Luftwiderstand 136
‒ , Linienflüchtigkeit 23 ‒ , PKW-Fahrerin 20 ‒ , Rotation 128
‒ , Trägheitsgesetz 131 ‒ , präoperative Studie 294 ‒ , schiefer Wurf 136
‒ , Wechselwirkungsgesetz ‒ , Prothesenkniegelenk 290 ‒ , Sprung 136
23, 132 ‒ , REHA-Maßnahme 278 ‒ , Stoß 251
‒ , Röhrenknochen 36 ‒ , Translation 127
B ‒ , Rollstuhl 136 ‒ , wegabhängige
Bahngleichung ‒ , Rugbyspieler 10, 77 Beschleunigung 125
‒ , kartesische Koordinaten ‒ , Scheibe 34 ‒ , Wurf 136, 251
111 ‒ , Turmspringer 138 ‒ , zeitlich veränderliche
‒ , Stoß 252 ‒ , Turner am Reck 28 Beschleunigung 122
‒ , Wurf 252 Belastung Bewegungsapparat 46, 147
Balken 47 ‒ , Anpassung 196 ‒ , aktiver 3, 46
Band 46, 162, 177 ‒ , Bewegungsapparat 190 ‒ , Anpassung an Belastung
‒ , Aufbau 162 ‒ , Kombination 96 190
‒ , Belastungsadaption 203 ‒ , Überlagerung 96 ‒ , Aufbau 147
‒ , Eigenschaft 162 Belastungsart 80 ‒ , Festigkeit 79
‒ , Funktion 163 Beschleunigung 113 ‒ , Finite-Elemente-Analyse
‒ , Spannung 294 ‒ , Bestimmung 114 209
Bandapparat 177 ‒ , geschwindigkeits- ‒ , Funktion 147
abhängige 123 ‒ , Grundaufbau 1

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
H. A. Richard und G. Kullmer, Biomechanik,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-28333-9
Sachwortverzeichnis 301

‒ , kartesische Koordinaten 4 ‒ , Schwerpunktsatz 132 ‒ , Spannungsverteilung im


‒ , Kinematik 109 ‒ , Translation 132 Hüftbein 224
‒ , Kinetik 109 ‒ , Spannungsverteilung in
‒ , Lagebeschreibung 4 der Patella 221
‒ , mechanische Belastung E ‒ , Spannungsverteilung in
190 Einbeinstand 180 der Tibia 221
‒ , mehrteilige Struktur 46 Einteilung d. Biomechanik 8 ‒ , Unterarm 294
‒ , passiver 2, 46 Elastizitätsmodul 91, 156 ‒ , Vorgehen 209
‒ , Relativbewegung 5 Energie 141 ‒ , voxelorientierte
‒ , Richtung 4 Energiesatz 143 Netzgenerierung 217
‒ , Statik 15 Flächenträgheitsmoment 86,
‒ , Wechselwirkung 50 F 88, 198
Bewegungsbahn 111 Fahrradantrieb 264, 277 Flugbahn 138, 251
Bewegungshilfe 278 Fahrradfahren 11, 254, 261, Fragestellung der Biomechanik
Biegemoment 84 264 1, 9
Biegemomentenverlauf ‒ , Fahrzeit 259 Freiheitsgrad 52, 59, 109, 110,
‒ , Armbeuge 192, 193, 194 ‒ , Gegenwind 254 126
Biomechanik ‒ , Geschwindigkeit 255 Freischnitt 57, 61
‒ , Anwendung 251 ‒ , Rückenwind 254 Fünfgelenkkette 264
‒ , Aufgabe 1, 8 ‒ , Tritttechnik 261
‒ , Definition 1
‒ , Einteilung 8, 13
‒ , Windstille 254 G
Federkonstante 92 Gelenk 46, 49, 158
‒ , Fragestellung 1, 9 Federschaltung 106
‒ , Kniegelenk 180 ‒ , Anatomie 158
Femorotibialgelenk 187, 188 ‒ , Diarthrose 159
‒ , Leichtathletik 251 ‒ , mechanisches Modell 189
‒ , Medizin 251 ‒ , dreiachsiges 162
Femur 154 ‒ , echtes Gelenk 159
‒ , Schwerpunkte 13 Festigkeit
‒ , Sport 251 ‒ , einachsiges 160
‒ , Knochen 199 ‒ , Einteilung 158, 160
‒ , Stoßbewegung 251 ‒ , Stützapparat 79
‒ , Wurfbewegung 251 ‒ , Funktion 158
Festigkeitslehre 79 ‒ , Kinematik 178
Finite-Elemente 209 ‒ , Kniegelenk 175
C ‒ , Knie 217 ‒ , straffes 162
Computertomographie 213 ‒ , Unterarm 294 ‒ , Synarthrose 158
‒ , Hounsfield-Einheit 213 Finite-Elemente-Analyse ‒ , unechtes Gelenk 158
‒ , Knochengeometrie 214 ‒ , Bewegungsapparat 209 ‒ , zweiachsiges 162
‒ , Durchführung 231, 241 Gelenkkette 264
‒ , geometrieorientierte Geschwindigkeit 112, 255
D Netzgenerierung 215 ‒ , Bestimmung 114, 118
Dehnung 89 ‒ , gerissene Kreuzbänder ‒ , Fahrradfahren 255
Diarthrose 159 237 ‒ , Komponenten 113
‒ , Einteilung 160 ‒ , Hüftgelenk 222 ‒ , mittlere 115
Drehbewegung ‒ , Kniebeuge 225 ‒ , momentane 115
‒ , Unterarm 294 ‒ , Kniegelenk 219 Geschwindigkeits-Zeit-
Drehmoment 261 ‒ , Materialkennwert 211 Diagramm 120, 121, 122
Druckbelastung 83 ‒ , Modell 210 Getriebeglied 269
Durchbiegung 93 ‒ , Netzerstellung aus CT- Gewicht 278
dynamische Grundgleichung Daten 212 ‒ , Körperteil 19
131, 132 ‒ , Randbedingung 210, 220, Gewichtsanteile des Körpers
‒ , Drehbewegung 133 223 7, 19
‒ , ebene Bewegung 135 ‒ , Spannungsermittlung 219 Gewichtskraft 16
‒ , kartesische Koordinaten ‒ , Spannungsverteilung im Gleichgewicht 37, 58
132 Femur 221, 224 ‒ , ebene Probleme 37
‒ , Rotation 133 ‒ , räumliche Probleme 38
302 Sachwortverzeichnis

Gleichgewichtsbedingung 37, ‒ , ebene Bewegungsstudie ‒ , Bruchgrenze 153


58 227 ‒ , Brustwirbelknochen 152
Grundaufbau des ‒ , ebenes Modell 185, 232 ‒ , Druckfestigkeit 153
Bewegungsapparats 1 ‒ , Einbeinstand 180 ‒ , Eigenschaft 147
‒ , fehlende Kreuzbänder ‒ , elastische Konstante 154,
236, 237 156
H ‒ , fehlendes hinteres ‒ , Elastizitätsmodul 153, 156
Handbike 276 Kreuzband 237 ‒ , Femur 154
Heilungshilfe 278 ‒ , fehlendes vorderes ‒ , Festigkeit 199
Heilungsmaßnahme 278 Kreuzband 237 ‒ , Festigkeitswert 155, 158
HOOKEsches Gesetz 91, 92 ‒ , Finite-Elemente-Modell ‒ , Flächenträgheitsmoment
Hüftbeugewinkel 269 217 198
Hüftgelenk 11, 224, 278 ‒ , Funktion 175 ‒ , Fließgrenze 153
‒ , Finite-Elemente-Analyse ‒ , Hüllflächentheorie 244 ‒ , Form 152
222 ‒ , Kinematik 178, 290 ‒ , Funktion 147
‒ , Kraft 223 ‒ , Kontaktanalyse 225 ‒ , Geometrie aus CT-Daten
‒ , Randbedingung 223 ‒ , Koppelhüllkurve 183 214
‒ , Spannungsverteilung im ‒ , Kraft 179, 220, 243 ‒ , Hauptachsen 153
Femur 224 ‒ , Kreuzband 183 ‒ , Heilung 284
‒ , Spannungsverteilung im ‒ , künstliches 12, 290 ‒ , Knochenende 201
Hüftbein 224 ‒ , Meniskus 176 ‒ , Kompakta 149
Hüftgelenkantrieb 267, 274, ‒ , mit Kreuzbändern 230, ‒ , Koordinaten 153
275 243 ‒ , Kortikalis 149, 150, 154,
‒ , Modellbildung 227, 239 155
I ‒ , Momentanpol 183 ‒ , kurze Knochen 152
Idealisierung 109 ‒ , ohne Kreuzbänder 230, ‒ , lokale Beanspruchung 203
‒ , Massenpunkt 109 242 ‒ , makroskopischer Aufbau
‒ , Massenpunktsystem 110 ‒ , Pendelstütze 181 151
‒ , starrer Körper 110 ‒ , Polbahn 183 ‒ , Masse 198
Impuls 131 ‒ , Randbedingung 220, 230, ‒ , Materialeigenschschaft
Impulserhaltung 131 240 153
Impulssatz 131, 141 ‒ , räumliches Finite- ‒ , mechanische Funktion
Elemente-Modell 239 147
‒ , räumliches Modell 188, ‒ , mikroskopischer Aufbau
K 238, 241 148
kartesische Koordinaten 4, ‒ , Simulation der Beuge 225 ‒ , optimale Gestalt 201
111, 132 ‒ , Spannungsverteilung im ‒ , Optimalstruktur 196
Kinematik 126 Femur 221 ‒ , platte Knochen 152, 201
‒ , Gelenk 178 ‒ , Spannungsverteilung in ‒ , Querdehnzahl 153
‒ , Kniegelenk 178 der Patella 221 ‒ , Remodeling 202
Kinetik 132 ‒ , Spannungsverteilung in ‒ , Röhrenform 197
‒ , Massenpunkt 130 der Tibia 221 ‒ , Röhrenknochen 152
‒ , starrer Körper 132 ‒ , Viergelenkkette 179, 182, ‒ , Spongiosa 149, 150, 156
Kniebeugewinkel 269 291 ‒ , Steifigkeit 199
Kniegelenk 175, 219, 221 Kniegelenkantrieb 267, 274, ‒ , Substanz 149, 153
‒ , alternative Betrachtung 275 ‒ , Tibia 154
180 Knieprothese 12 ‒ , Trabekel 204
‒ , Anatomie 175 Knochen 46, 152, 284 ‒ , unregelmäßige Form 152
‒ , Aufbau 175 ‒ , Aufbau 147, 148, 151 ‒ , viskoelastische
‒ , Bandapparat 177 ‒ , Belastungsanpassung 196, Eigenschaft 155
‒ , Belastung 179 203 ‒ , Werkstoffeigenschaft 203
‒ , Biomechanik 180 ‒ , breite Knochen 152 ‒ , Zelle 148
‒ , Bruch 284 ‒ , Zugfestigkeit 153
Sachwortverzeichnis 303

Knochenbruch ‒ , ebenes 27 ‒ , Torsionsmoment 87


‒ , aktiver Marknagel 289 ‒ , räumliches 29, 77 ‒ , Vektor 32
‒ , aktives Implantat 288, 289 Kreuzband 183 ‒ , Wirkung 31
‒ , Ersatzfedermodell 286 ‒ , Ansatzpunkt 232 Muskel 46, 165
‒ , Fixationssystem 284 ‒ , hinteres 183 ‒ , Armbeuge 191
‒ , Heilung 284, 285, 288 ‒ , vorderes 183 ‒ , Aufbau 165, 167
‒ , Heilungsmodell 285 Kurbellänge 268, 275 ‒ , Eigenschaft 165
‒ , Normalkraft bei Heilung Kurbelwinkel 261, 268, 269, ‒ , Einteilung 166
287 274, 275 ‒ , Form 168
‒ , Verriegelungsnagel 285 ‒ , Funktion 166
Knochenhaut 151 ‒ , Kraft 280
Knochenmark 151 L ‒ , Leistung 170
Knochenrinde 150 Lagerung 50, 52 ‒ , Muskelfaser 168
Knorpel 151 ‒ , Einspannung 51 ‒ , Muskelspannung 171
Kompakta 149 ‒ , Festlager 51 ‒ , Skelettmuskel 166, 167
Kontaktanalyse 226 ‒ , Loslager 50 Muskelfaser 168
Kontaktkraft 57 ‒ , Stützen und Halten 53 ‒ , Anordnung 169
Koordinaten beim Längenänderung 92 ‒ , Prinzipmodell 169
Bewegungsapparat 4 Last Muskelmoment 262
Körperschwerpunkt 39 ‒ , Art 80 ‒ , Drehrichtung Hüftgelenk
Kortikalis 149, 150, 154 ‒ , Einleitung 190 262
‒ , elastische Konstante 154 ‒ , Wirkung 16 ‒ , Drehrichtung Kniegelenk
‒ , Festigkeitswert 155 Leichtathletik 251 262
Kraft 15 ‒ , Stoßbewegung 251 Muskelspannung 171
‒ , äußere 16 ‒ , Wurfbewegung 251 Muskelsystem 3
‒ , Beschleunigungskraft 16 Leistung 141, 170, 261
‒ , Einzelkraft 18 ‒ , Muskelfaseranordnung
‒ , Flächenkraft 17 170 N
‒ , Fliehkraft 16, 20 Liegestütz 9 NEWTONsche
‒ , Gelenkkraft 61 Literatur 14, 78, 108, 146, Grundgleichung 131
‒ , Gewichtskraft 16 205, 248, 297 ‒ , Anwendung 135
‒ , Haltekraft 58, 62 ‒ , Drehbewegung 133
‒ , ebene Bewegung 135
‒ , innere 21, 63 M Normalkraft 81, 84
‒ , Kniegelenk 243 Masse 198
‒ , Komponente 26 Massenanteil 7
‒ , Kontaktkraft 57, 61 Massenpunkt 109 O
‒ , Linienkraft 17 ‒ , Kinetik 130 Oberschenkelknochen 10
‒ , Massenkraft 17 Massenpunktsystem 110 Optimalstruktur 197
‒ , Normalkraft 81, 84 Massenträgheitsmoment 133 Ortsvektor 111
‒ , Querkraft 84 ‒ , starrer Körper 134
‒ , Reaktionskraft 21, 57, 58, menschlicher
59, 61 Bewegungsapparat 1 P
‒ , resultierende 24, 27, 29, menschlicher Körper Parallelschaltung 107
261 ‒ , Gewichtsanteil 7, 19 passiver Bewegungsapparat 2
‒ , Stützkraft 62 ‒ , Massenanteil 7, 19 Patella 246
‒ , Vektor 18 ‒ , Schwerpunktabstand 7 Pedalkraft 262
‒ , Verlustkraft 261 Moment 31 ‒ , resultierende 262
‒ , vortriebswirksame 261 ‒ , Biegemoment 84 ‒ , Wirkungslinie 262
‒ , Wirkung 15 ‒ , ebene Kräftegruppe 33 Pedalkraftanteil 266
‒ , Zerlegung 25 ‒ , einer Kraft 31 Platte 49
‒ , Zwischenreaktionskraft 59 ‒ , Kräftepaar 36 Prothesenkniegelenk 290
Kräftepaar 36 ‒ , räumliche Kräftegruppe ‒ , Anforderung 290
Kraftsystem 35 ‒ , Eigenschaft 293
304 Sachwortverzeichnis

‒ , Kinematik 290 Seil 47


‒ , Muskelaktivität 291 Sitzhöhe 268, 274
U
Übersetzung 274, 275
‒ , Viergelenkkette 291 Skelettmuskel 166, 167
Übersetzungsverhältnis 268,
‒ , Aufbau 167
272, 274, 275
‒ , Form 168
Q ‒ , Funktion 166
Unterarm 294
Querkraft 84 ‒ , Bandspannung 294
‒ , Leistung 170
‒ , Elle 294
Skelettsystem 2
‒ , Finite-Elemente-Analyse
R Spannung 81
294
REHA-Maßnahme 278 ‒ , Biegespannung 85
‒ , Handgelenk 294
Reibung 54 ‒ , Druckspannung 83
‒ , Speiche 294
‒ , Gleitreibung 56 ‒ , Normalspannung 82, 84
‒ , Haftung 54 ‒ , Oberschenkelhals 105
Reihenschaltung 107 ‒ , Schubspannung 85, 88 V
Richtungsbezeichnung ‒ , Zugspannung 82 Verdrehung 94
‒ , anatomisch 6 Spongiosa 149, 150 Verformung 88
Rotation 110, 128 ‒ , elastische Konstante 156 ‒ , Schub 90
‒ , feste Achse 129 ‒ , Festigkeitswert 158 ‒ , Verzerrung 90
runder Tritt 261 ‒ , Trabekel 204 ‒ , Zug 89
‒ , Druckphase 261 Sprung 136 Verformungsart 80
‒ , Hubphase 261 Stab 47 Viergelenkgetriebe 266
‒ , Schubphase 261 Standfläche 75 Viergelenkkette 264, 291
‒ , Zugphase 261 Standsicherheit 75
starrer Körper 110, 126
‒ , Freiheitsgrad 126 W
S ‒ , Kinematik 126 Wechselwirkungsgesetz 23
Schale 49 ‒ , Kinetik 132 Weg
Scheibe 49 Statik ‒ , Bestimmung 118
Schnittgröße 63, 84 ‒ , Axiom 22 Weg-Zeit-Diagramm 120,
‒ , Ermittlung 64 ‒ , Grundstruktur 47 121, 122
Schnittprinzip 63 ‒ , Stützapparat 15 Widerstandsmoment 86, 88
Schwerpunkt 7, 39, 44, 278 Stoffgesetz 91 Winkelbeschleunigung 129
‒ , Flächen 43 Stützapparat Winkelgeschwindigkeit 129,
‒ , Körper 39 ‒ , Festigkeit 79 261
‒ , Körperhaltung 41 ‒ , Statik 15 Wirbelkörper 215, 218
Schwerpunktsatz 132 Synarthrose 158 Wirkungslinie 18, 22, 262
Sehne 46, 162, 195 Wurf 136
‒ , Ansatzstelle 195 Wurfparabel 138
‒ , Aufbau 162
T
‒ , Belastungsadaption 203 Tibia 154, 245
‒ , Eigenschaft 162 Torsionsmoment 87 Z
Translation 110, 127 Zugbelastung 81
‒ , Funktion 164
Tretbewegung 264, 268 Zugfestigkeit 91
‒ , Sehnenscheide 165
Tritttechnik 261 Zuggurtung 192

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