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Agathologie*
Denken als Wahrnehmung des Guten
oder:
Auf der Suche nach dem offenbarsten Geheimnis
Die Geschichte der europäischen Metaphysik ist durch eine
Orientierung auf das Eine geprägt, die eine tiefgreifende Ein-
wirkung auf die Gestaltung der philosophischen sowie theolo-
gischen Reflexion ausübte und noch heute ausübt. Ausgehend
von Platon soll hier eine Wendung in eine alternative Richtung
angeregt werden, durch die der philosophische Blick die eigene
Aufmerksamkeit und Wahrnehmung auf das Gute konzen-
trieren kann. Durch skizzenhafte Exkurse in die trinitarische
Theologie sowie in die moderne und zeitgenössische Reflexion
über das Ich möchte dieses Experiment eines agathologischen
Blicks implizit zeigen, wie manche wesentliche Fragen der phi-
losophischen bzw. theologischen Debatte in einem neuen Hori-
zont wirksam angegangen werden könnten.
Der Liebe gehts wie der Phil[osophie] – sie ist und soll allen –
Alles und jedes seyn. Liebe ist also das Ich – das Ideal jeder
Bestrebung.
(Novalis)
*
Die Termini Agathologie bzw. agathologisch werden nicht im Sinne der
Ethik bzw. der praktischen Philosophie verwendet, sondern möchten auf
einen protologischen und ontologischen Horizont hinweisen, in dem sich das
Gute als das vorrangigste Attribut vom Urgrund des Seins offenbart.
1
Ein erster Ansatz zu dieser Betrachtung über das Staunen befindet sich in:
Staunen-Fragen-Staunen, hrsg. v. Philosophicum-Basel, Basel 2011, 80.
2.2 Das Sonnengleichnis und das Gute als Idéa. Denken als
Wahrnehmung des offenbarsten Geheimnisses
ragend (Resp. 509 b 6-10),4 von der eigenen Kraft der Selbst-
Offenbarung als Urgrund des Seins getrennt werden. Das Gute
wäre also nicht das Gute, wenn es sich nicht durch das eigene
geistige Licht sichtbar/erkennbar machen würde.
Das Gute ist insofern das Gute, als es sich selbst bedingungs-
los in die Sichtbarkeit der eigenen Idéa, des eigenen Gesichts
ergießt – ἰδέα ist das, was von einem Wesen gesehen wird
(ἰδεῖν), sein Aussehen, seine Gestalt. Demzufolge besteht das
Gute in der eigenen unmittelbaren Offenbarung als Urbild alles
Seienden bzw. in der Unverborgenheit, in der vollkommen er-
kennbaren Wahrheit der eigenen Ikone. Das Gute erweist sich
somit als sich bedingungslos verströmende Kraft der Selbst-
Verbildlichung:5 Kraft, die einem Anderen die eigene Absolut-
heit schenken will. Vor diesem Hintergrund wird es verständ-
lich, warum Platon im Sonnengleichnis das Licht der Sonne mit
Sein und Wahrheit gleichsetzt (Resp. 508 d4-6 und 508 e6-509
a2). Das Sein ist eben die bedingungslose Unverborgenheit/
Sichtbarkeit, die ἀλήϑεια des Guten!6 So wird auch verständ-
4
Zur Transzendenz des Guten im Sonnengleichnis vgl. Th. A. Szlezák, Die
Idee des Guten in Platons Politeia. Beobachtungen zu den mittleren Büchern,
St. Augustin!2003, 124-126.
5
In diesem Horizont offenbaren sich jene Interpretationen von Platons Philo-
sophie als nicht gerechtfertigt, die von einer vermeintlichen Bilderfeindlich-
keit Platons ausgehen. Denn das Gute besteht in der bedingungslosen Selbst-
offenbarung durch ein Bild, durch eine Ikone (εἰκών). Zum ikonopoietischen
Aspekt des Guten vgl. Lavecchia (wie Anm. 2), 11-16, 78-80. Zum metaphy-
sischen Hintergrund von Platons εἰκών-Begriff vgl. Lavecchia (wie Anm. 3),
199-202; M. Bontempi, L’icona e la città. Il lessico della misura nei dialoghi
di Platone, Milano 2009, 197-224 passim.
6
Diese Sichtbarkeit des Guten erklärt den Grund, warum die Metaphorik des
Sehens in Platons Schriften eine zentrale Funktion im Bereich der Erkenntnis
annimmt. Vgl. L. Paquet, Platon. La médiation du regard,! Leiden 1973; L.
M. Napolitano Valditara, Lo sguardo nel buio. Metafore visive e forme
greco-antiche della razionalità, Roma-Bari 1994; dies., Platone e le ‚ragioni‘
dell’immagine. Percorsi filosofici e deviazioni tra metafore e miti, Mila"#!
2007, passim.
7
Für weitere Vertiefungen über diesen Punkt vgl. S. Lavecchia, ἰδέα τοῦ
ἀγαϑοῦ – ἀγαϑὸν ἐπέκεινα τῆς οὐσίας Überlegungen zu einer platonischen
Antinomie, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittel-
alter 10 (2005), 1-20; Lavecchia (wie Anm. 2), 43-55.
8
Hiermit verliert Platons Ideenbegriff die Abstraktheit, die mit ihm oft ver-
bunden wird. Wenn das Urbild jeder Idea die Selbst-Manifestation des Guten
ist, dann wird jede Idea das eminent Manifestative, das Neidlose des Guten
nachbilden. So offenbaren sich Platons Ideen als produktive Wesenheiten, die
sich, wie das Gute, durch Selbst-Verbildlichung manifestieren wollen. Über
dieses Thema vgl. Lavecchia (wie Anm. 3), 116-117, 216-222, 225-231, 278-
279, 286 (mit weiterführender Bibliographie); Lavecchia (wie Anm. 2), 13-
15.
9
Diesen Ausdruck verdanke ich Michele Abbate.
die dieses Wissen verwirklicht (508 e1-509 a8). Und wie das
Auge im Bereich des Sichtbaren als Subjekt des Sehens zu be-
trachten ist, so ist der Intellekt, der νοῦς im Bereich des Noeti-
schen/Geistigen das Subjekt der Tätigkeit, die das Gute wahr-
nehmen kann (508 b13-c2). Diese Tätigkeit ist nichts anderes als
das intuitive Denken – die νόησις – , das sein Subjekt zum vor-
aus-setzungslosen/unableitbaren Urgrund aller Seienden – zur
ἀνυπόϑετον ἀρχὴν (510 b4-10, 511 b6-7) – bzw. zur direkten
Begegnung mit dem offenbarsten Geheimnis des Guten führt.
Wie das Auge und das Sehen ein Zentrum konstituieren, wo
das sich ergießende Sonnenlicht sich selbst wahrnimmt, so bil-
den der Intellekt und das Denken – seine Tätigkeit – auch ein
Zentrum, wo die Offenbarung des Guten zur Selbst-Wahrneh-
mung bzw. zum Selbst-Bewusstsein gelangt. Vor diesem Hinter-
grund manifestiert sich das Denken in seinem wahren Wesen
nicht als abstrahierende, verstandesmäßige Tätigkeit, die sein
Subjekt vom Seinsgrund bzw. von den anderen Seienden trennt,
die Spaltung von Subjekt und Objekt setzend. Denken ist hier
nämlich die vollkommen selbstbewusste Wahrnehmung, die jene
Spaltung überwindet: Weil das Gute sich bedingungslos in die
eigene Manifestation ergießt und hiermit entäußert, so kann sich
die Unverborgenheit des Guten als innerster Kern eines Be-
wusstseins im Denken ergreifen. Anders ausgedrückt: Innen und
Außen bilden in diesem Horizont die lebendige, absolute Einheit
von Offenbarung und Geheimnis, wo das Absolute sich unvor-
denkbar/unableitbar, uneingeschränkt als sich-selbst-ergreifende
Licht eines absoluten Bewusstseins schenkt. Nun besteht Den-
ken gerade in der unmittelbaren, vollkommen bewussten Selbst-
Wahrnehmung dieses Lichtes, das jenseits der Polarität von Sub-
jekt und Objekt schöpferisch schwebt, wie das Sonnenlicht jen-
seits der Relation von Sehendem und Gesehenem webt (vgl.
Resp. 507 d11-508 a3). In seinem Wesen ist Denken, anders
gesagt, individualisiertes Bewusstsein der coincidentia in alteri-
tate, die das Absolute mit seiner Manifestation eint: Selbst-
2.3 Das Gute als Nicht-Dualität des Einen und des Nicht-
Einen. Zum gemeinsamen Ursprung von Individualität
und Gemeinschaft
Wie die Sonne nicht nur Sichtbarkeit und Sehen, sondern auch
Werden, Wachsen und Nahrung spendet, so spendet das Gute
nicht nur Erkennbarkeit und Erkenntnis, sondern auch Sein und
Seiendheit (τὸ εἶναί τε καὶ τὴν ο ὐσίαν Resp. 509 b7-8), sich
somit als seinstranszendent erweisend (ἐπέκεινα τ ῆς ο ὐσίας
509 b9). Lässt sich nun im Sonnengleichnis eine Ebene finden,
die auf die seinstranszendente Hervorbringung des Seins vonsei-
ten des Guten hindeutet?
Im Sonnengleichnis werden, wie Sokrates explizit sagt, viele
Dinge beiseite gelassen (Resp. 509 c7 συχνά γε ἀπολείπω). So
ist das Gleichnis einerseits durch die Präsenz des Lichtes, ande-
rerseits durch die vollkommene Absenz jedes Hinweises auf die
Wärme geprägt. Ist aber doch eben die Wärme dasjenige, was
auf eine seinstranszendente Charakteristik des Guten und seiner
Kraft hindeuten könnte, die sich als unvordenkbare Wurzel des
Seins offenbart? Der Bereich des Seins wird nämlich im Gleich-
nis mit dem Bereich des Lichts gleichgesetzt (508 d4-5), so dass
der Bereich der Wärme notwendigerweise mit einer Ebene
gleichzusetzen ist, die sich jenseits des Seins befindet. Wenn
nun das Licht die Offenbarung der manifestativen Kraft des Gu-
ten versinnbildlicht, die sich zu den verschiedenen Seinsformen
gestaltet, dann könnte die Wärme uns auf die Quelle jener Kraft
bzw. – bildhaft ausgedrückt – auf das Sonnenhafte jenseits des
Lichts verweisen: Auf den Un-Grund jenes bedingungslosen
Sich-Schenken-Wollens, in dem das diffusivum sui des Guten
besteht. Wärme wäre also jenes eminent unableitbare Wollen,
vor und jenseits seiner Verdichtung als Lichtpunkt, der sich un-
mittelbar als unendliche Sphäre des Seins offenbart. Dieses
Wollen ohne Warum, eminent nicht-kausal, geschieht jenseits
jeder bestimmten Relation zwischen dem Absoluten und seiner
Manifestation; denn eine solche Relation würde dieses Wollen
bedingen. Gerade diese absolute Freiheit macht aber dieses
Wollen zur Substanz jener urbildhaften, seinsbegründenden,
metarelationalen Relationalität, in der das Gute besteht. Wärme
kann innerhalb des Sonnengleichnisses die soeben angedeutete
Relationalität deswegen versinnbildlichen, weil sie sich als das
Ur-Verbindende offenbart. Während Licht jenes Unterscheiden-
de/Individualisierende, jenes Selbst-Bewusste versinnbildlicht,
das die Autonomie des Seins und der Seienden manifestiert,
kann Wärme als analog mit jenem Gemeinschaftsbildenden be-
trachtet werden, das in Platons Perspektive das Sein als Ikone
der ontopoietischen Relationalität des Guten offenbart, alle Sei-
ende durch eine allumfassende Allverwandtschaft verbindend.10
Das Absolute, dessen bedingungsloser Wille zum Sich-Schen-
ken durch die Analogie mit der Wärme versinnbildlicht wird,
weilt nicht im Verborgenen, in einer einseitigen Transzendenz.
Als uneingeschränktes Sich-Schenken-Wollen, als das Gute an
sich, ereignet sich dieses eminent relationale Absolute in der
Untrennbarkeit vom Bestehen eines Anderen, für das die Abso-
lutheit seines Sich-Schenkens geschieht. Dieses Andere ist aber
wiederum das bedingungslos offenbare Gute, die Idea, die un-
eingeschränkt erkennbare Ikone des Guten: Die Ur-Manifesta-
tion, die in der unmittelbaren, bedingungslosen Ur-Gemein-
10
Zur Allverwandtschaft in Platons Philosophie vgl. Lavecchia (wie Anm.
3), 225-231 (mit weiterführender Bibliographie).
11
Hier können die zahlreichen Interpretationen von Platons Prinzipienphilo-
sophie nicht erörtert werden. Für eine erste Einführung sowie für weiterfüh-
rende Bibliographie vgl. H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum
Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959
[Amsterdam 19672]; K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur
geschichtlichen und systematischen Begründung der Wissenschaften in der
Platonischen Schule, Stuttgart 19682; V. Hösle, Wahrheit und Geschichte.
Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Ana-
lyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon, Stuttgart/Bad Cannstatt
1984, 459-506; J. Halfwassen, Monismus und Dualismus in Platons Prinzi-
pienlehre, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter
2 (1997), 1-21; H. J. Krämer, Platone e i fondamenti della metafisica, Milano
20016 (1982); G. Reale, Per una nuova interpretazione di Platone, Milano
200321 (19841); M. Erler, Platon, in: Grundriss der Geschichte der!Philoso-
phie, begründet von F. Ueberweg, Die Philosophie der Antike, hrsg. von H.
Flashar, Band 2/2, Basel 2007, 406-429 und 703-707. Für eine Sammlung der
Testimonia zu Platons Prinzipienphilosophie mit deutscher Übersetzung vgl.
Gaiser, 441-547; eine ausführlichere Sammlung, mit französischer Überset-
zung, befindet sich in: M. D. Richard, L’enseignement oral de Platon, Paris
1986.
12
Vgl. Gaiser (wie Anm. 11), 13 und 200; Hösle (wie Anm. 11), 480-490.
13
Vgl. H. M. Baumgartner, Von der Möglichkeit, das Agathon als Prinzip zu
denken. Versuch einer transzendentalen Interpretation zu Politeia 509b, in:
K. Flasch (Hrsg.), Parousia. Studien zur Philosophie Platons und zur Pro-
blemgeschichte des Platonismus. Festgabe für J. Hirschberger, Frankfurt am
Main 1965, 89-101, bes. 99.
14
Zu diesen Aspekt des Guten vgl. Bontempi (wie Anm. 4), 91; Lavecchia
(wie Anm. 2), 59-62.
15
Vgl. zum Beispiel Aristot. Met. N 4, 1091 b13-15 (Test. 51 Gaiser, 65
Richard); Eth. Eud. I8, 1218 a15-33 (Test. 79 Richard); siehe auch Met. A6,
988 a14-15 (Test. 22A Gaiser, 34 Richard); Λ10, 1075 a33-37; 1084 a35
(Test. 61 Gaiser, 58 Richard); Aristoxen. Harm. II, 39-40 Da Rios (Test. 7
Gaiser, 1 Richard). Die Identität des Guten mit dem Einen wird auch in Pla-
tons Schriften vorausgesetzt: Vgl. Krämer, Arete (wie Anm. 11), 471-478.
16
Vgl. Baumgartner (wie Anm. 13), 98-99. Auffallenderweise findet Plat.
Tim. 29 e-30 a6 in Baumgartners Betrachtungen keine Beachtung.
17
Dies weist deutlich darauf hin, dass die Implikationen der ersten Hypothese
im Horizont von Platons Denken als unakzeptabel betrachtet werden sollen.
Vgl. E. Berti, Struttura e significato del Parmenide di Platone, in: Giornale di
Metafisica 26 (1971), 495-527 (=Id., Studi aristotelici, L’Aquila 1975, 297-
327); M. Migliori, Dialettica e verità. Commentario filosofico al ‚Parmenide‘
di Platone, Milano 1990, 218-222; Krämer, Platone (wie Anm. 11), 200-202;
Lavecchia (wie Anm. 2), 17-20.
18
Die Interpretationen, die in der ersten Hypothese des Parmenides die In-
szenierung einer Kontradiktion sehen, sind gerechtfertigt – zu dieser Position
vgl. jetzt A. Coltelluccio, Dialettica aporetica. Il Parmenide di Platone nella
dialettica hegeliana, Saonara 2010, 37-80, mit weiterführender Bibliographie.
Sie erweisen sich aber als philologisch unbegründbar – und deswegen als
unstimmig – in jenen Fällen, wo die Interpreten der Negation der Implikatio-
nen von dieser Hypothese nicht die angemessene Bedeutung zukommen
lassen.
19
Vgl. J. Halfwassen, Speusipp und die metaphysische Deutung von Platons
„Parmenides“, in: L. Hagemann-R. Glei (Hrsg.), ΕΝ ΚΑΙ ΠΛΗΘΟΣ-Einheit
25
Nur scheinbar sind die Analogien zwischen der durch Damaskios hervor-
26
G. Greshake, Der dreieine Gott, Freiburg/Basel/Wien 20075 (nochmals er-
weiterte Auflage der Erstausgabe 1997).
27
Vgl. Greshake, 61-65 und 443-447.
28
Greshake, 61-65.
29
Greshake, 219.
30
Greshake, 61-62 und 443-444.
31
Die geistige Realität dieser Vorwegnahme kann gerade im Horizont der
Theologie Greshakes ernst genommen werden: Vgl. Greshake, 41 (fußend
auf H.U. von Balthasars Theologie) und 505, Anm. 219.
32
A. Ganoczy, Der dreieinige Schöpfer. Trinitätstheologie und Synergie,
Darmstadt 2001, wo an Heinrich Rombachs Strukturontologie angeknüpft
wird.
33
Für eine erste Einführung in die Problematik des Social Trinitarianism vgl.
Th. Mc Call, M.C. Rea (Ed.), Philosophical and Theological Essays on the
Trinity, Oxford 2009.
34
Ichheit möchte auf die absolute, und deswegen von radikal frei wollendem
Bewusstsein durchdrungene Bedingungslosigkeit jedes Einen in der hier
erörterten Drei-Einheit hinweisen. Denn bedingungslos, und deswegen abso-
lut frei wollend bzw. in sich subsistent, ist nicht nur die Identität mit sich
selbst, sondern auch die Universalität des Guten sowie dessen Manifestabili-
tät: Wäre die Universalität durch die Identität bedingt, dann wäre sie keine
absolute und uneingeschränkt bewusste, aktive Offenheit; wäre die Manifes-
tabilität durch die Identität und durch die Universalität bedingt, dann könnte
sie keine absolute Manifestation bewirken bzw. wäre sie unfähig, als Licht
eines anderen absoluten Ich-Bewusstseins zu geschehen.
35
… δι᾿ ὑπερβολὴν τῆς ἐρωτικῆς ἀγαϑότητος ἔξω ἑαυτοῦ γίνεται … καὶ ἐκ
Gute wird von Johannes Scottus Eriugena explizit mit der Trini-
tät identifiziert: Einerseits ist es die Trinität; andererseits ist es
Wurzel jenes bedingungslosen, jede Distanz bzw. Dualität über-
ragenden Abstiegs in die Schöpfung des Seins, die Eriugena
durch eine kühne Vorstellung als Selbst-Schöpfung des Absolu-
ten bzw. der Trinität charakterisiert. 36 Erst mit Richard von
St. Viktor wird aber das summum bonum mit der konkreten Dy-
namik des innertrinitarischen Lebens systematisch verbunden.
Für Richard ist es die Quelle der innertrinitarischen Gemein-
schaft der Liebe bzw. der Ausgangspunkt des trinitarischen
Denkens (De Trin. III 2, 916 D-917 D); denn als bedingungslose
Selbst-Mitteilung kann sich das summum bonum ohne eine Plu-
ralität von Personen nicht ergeben (De Trin, III 5, 918 D-919 a),
das heißt es kann ohne die Gemeinschaft einer schenkenden,
einer empfangenden und einer die Liebe der zwei anderen of-
fenbarenden Person nicht geschehen.37 In diesem Horizont kann
uns eine lapidare Aussage Bonaventuras – der durch Richard
von St. Viktor beeinflusst wurde – nicht überraschen, nach der
die bedingungslose Mitteilsamkeit des Guten die Trinität not-
wendig impliziert: per summam boni communicabilitatem ne-
τοῦ ὑπὲρ πάντα καὶ πάντων ἐξηρηµένου πρὸς τὸ ἐν πᾶσι κατάγεται κατ᾿
ἐκστατικὴν ὑπερούσιον δύναµιν ἀνεκφοίτητον ἑαυτοῦ. Vgl. ebd. IV 10,
705 D, S. 155, 14-20 Suchla.
36
Periphyseon (de divisione naturae) III 678 D-679 A, 85, 2455-2469 Jeau-
neau [...] hoc [...] de summae bonitatis, quae unitas est et trinitas, ineffabili
condescensione in ea quae sunt ut sint, etc. Et de se ipsa se ipsam facit. etc.
Vgl. ebd. 678 C, S. 85, 2443-2455 Jeauneau Proinde non duo a se ipsis
distantia debemus intelligere deum et creaturam, sed unum et id ipsum. Nam
et creatura in deo est subsistens, et deus in creatura etc. creatur, se ipsum
manifestans, invisibilis visibilem se faciens etc. et omnia creans in omnibus
creatum, et factor omnium factus in omnibus etc. et fit in omnibus omnia.
37
Zur Dynamik des trinitarischen Lebens in Richard von St. Viktor vgl. M.
Schniertshauer, Consummatio Caritatis. Eine Untersuchung zu Richard von
St. Victors De Trinitate, Mainz 1996; P. Cacciapuoti, „Deus existentia amo-
ris“. Teologia della carità e teologia della Trinità negli scritti di Riccardo di
San Vittore, Turnhout 1998.
38
Zur trinitarischen Reflexion Bonaventuras vgl. L. Mathieu, La Trinité
créatrice d’après Saint Bonaventure, Paris 1992 (bes. 19-58 zum bonum dif-
fusivum sui in Bonaventuras Denken); K. Obenauer, Summa Actualitas. Zum
Verhältnis von Einheit und Verschiedenheit in der Dreieinigkeitslehre des
heiligen Bonaventura, Frankfurt a. Main 1996 (bes. 29-62 zur Komplementa-
rität von Einheit und Verschiedenheit, und 379-414 zur Differenz als Voll-
zugsmoment der Einheit).
il compito –
ciò che si deve portare a compimento –
è la manifestazione dell'immutabile.
(Emanuele Severino)
Vielleicht haben wir deswegen das Licht, und mit ihr unsere
Ich-Quelle vergessen, weil wir uns immer mehr davor fürchten
bzw. schämen, im Guten das Wesen – verbal verstanden! – des
Seins, die Transzendenz eines absoluten Ich wahrnehmen zu
wollen, das sich aus bedingungsloser Liebe als ontopoietisches,
bewusstseinsspendendes Licht uneingeschränkt sichtbar macht,
somit als Un-Grund eines anderen absoluten Ich erscheinend.
So schweben wir permanent zwischen einem Innen, wo wir
durch verzweifelten Subjektivismus bzw. Solipsismus ins Nichts
einer ego-latrischen, ich-losen Selbst-Austobung verschrumpfen,
und einem Außen, wo wir, von der Unternatur einer post-
humanen, licht-saugenden Welt besessen, den Grund unsres Ich
durch ich-vernichtende Kräfte besetzen lassen. Wurden wir von
diesem ich-losen Schweben vielleicht deswegen gefangen ge-
nommen, weil wir zu lange Zeit Innen und Außen, Ich und Welt,
Noumenon und Phänomenon als Dualität erlebten, hiermit das
Licht als Band des Guten vergessend, das jene Dualität aufhebt?
Ist dann unser licht- und ich-loses Schweben vielleicht nur Zerr-
bild eines anderen Schwebens, in dem das Leben des Ich
besteht? So wäre wahrhaftiges Ich-Bewusstsein in jenem Licht-
Punkt zu erleben, wo Novalis – auf eine für uns postpost-
modernen Aufgeklärten so provokative Art und Weise – den Ur-
Sprung aller Gegensätze bzw. alles Seins verortet: Im Punkt, wo
das wahre Ich, jenseits des Gegensatzes von Ich und Nicht-Ich,
im vollkommen freien Schweben lebt und durch die eigene pro-
duktive Imagination Realität bildet, somit die Identität von Sein
und Freiheit offenbarend (Novalis, Fichte-Studien 555).40 Aus-
40
„Alles Seyn [...] ist nichts als Freysein – Schweben zwischen Extremen, die
nothwendig zu vereinigen und nothwendig zu trennen sind. Aus diesem
Lichtpunkt des Schwebens strömt alle Realität aus – in ihm ist alles enthalten
– Obj[ekt] und Subjekt sind durch ihn, nicht er d[urch] sie. Ichheit oder pro-
duktive Imaginationskraft, das Schweben – bestimmt, producirt die Extreme,
das wozwischen geschwebt wird.“ Zum Gegensatz Ich/Nicht-Ich als abstrac-
tum vgl. Fichte-Studien 558. Novalis’ philosophischen Schriften werden
zitiert nach der Ordnung von R. Samuel, H. J. Mähl, G. Schulz (Hrsg.), No-
valis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. II-III, Das philo-
sophische Werk, Stuttgart 19813 und 19833.
41
Vgl. Allg. Brouill. 820: „Das Princip Ich ist gleichsam das ächte gemein-
schaftliche und [...] universelle Princip [...]. Selbstheit ist [...] der Grund der
Beharrlichkeit im Veränderlichen – auch das Princip der höchsten Mannich-
faltigkeit [...]. Alles kann Ich seyn und ist Ich oder soll Ich seyn.“
42
Die Aufmerksamkeit wird hier auf Novalis nicht deswegen konzentriert,
weil das Ich in der Philosophie der klassischen bzw. der romantischen Epo-
che sonst keine relationale Prägung bekommen würde. Niemand aber, wie
Novalis, verdichtet so wirksam und explizit im eigenen Ich-Begriff jene Mo-
tive, die hier als zentral für die Öffnung und Vertiefung einer agathologi-
schen Perspektive betrachtet werden.
43
„Wir werden die Welt verstehen, wenn wir uns selbst verstehen, weil wir
und sie integrante Hälften sind. Gotteskinder, göttliche Keime sind wir. Einst
werden wir sein, was unser Vater ist.“
44
Die Betonung der Einsamkeit will sich selbstverständlich nur auf die expli-
zite Verbindung des Ich-Begriffs mit dem Guten in Lévinas’ Philosophie
beziehen. Der Akzent auf die relationale/dialogische bzw. weltbezogene Di-
mension des Ich bzw. der Person darf nämlich sonst als Konstante in der
Philosophie des letzten Jahrhunderts betrachtet werden – hier sei lediglich
auf die „klassischen“ Beispiele von Edmund Husserl, Max Scheler, Martin
Heidegger und Martin Buber hingedeutet.
45
Vgl. E. Levinas, Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité, Den Haag 19744,
281: „La bonté [...] sorte d’un moi, est subjective [...] la bonté est la tran-
scendance même. La transcendance est transcendance d’un moi.“ Zur Tran-
szendenz des Guten vgl. 268-269.
46
Lévinas, 268.
47
Lévinas, 268; vgl. 282.
48
Lévinas, 282.
49
Lévinas, 281 „production de l’être, comme être pour autrui.“
50
Lévinas, 281.
51
Lévinas, 282: „se produire comme moi [...] c’est se saisir comme par le
même geste qui se tourne déjà vers l’extérieur pour extra-verser et manifester
[...]“
52
Lévinas, 283: „fecondité [...] comme relation d’homme à homme, et du
Moi avec soi.“
53
E. Lévinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Den Haag 1974, 23:
„L’au delà de l'être [...] a été reconnue comme Bien par Platon. Que Platon
en ait fait une idée et une source de lumière – qu’importe. Toujours l’au-delà
de l’être, se montrant dans le dit, s’y montre énigmatiquement, c’est à dire,
s’y trahit dejá.“
54
Vgl. Lévinas (wie Anm. 44), I. A. 1.
55
Auffallenderweise widmet Lévinas dem etymologischen Hintergrund des
griechischen Wortes idéa keine tiefere Reflexion. Gerade jener Hintergrund,
zusammen mit dem agathologischen Horizont von Platons Ideen-Begriff,
hätte seiner – durchaus tiefen und anregenden – Reflexion über das Gesicht
vielleicht weitere fruchtbare Perspektiven öffnen können.
56
R. Berlinger, Die Weltnatur des Menschen. Morphopoietische Metaphysik.
Grundlegungsfragen, Amsterdam 1988, 365-366. Vgl. auch ders., Das Nichts
und der Tod, Dettelbach 1996.
57
H. Rombach, Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Frei-
burg-München 1971, 271: Freiheit „ist Sinn von Struktur überhaupt.“ Für die
Grundlagen der Strukturontologie vgl. auch ders., Strukturanthropologie.
„Der menschliche Mensch“, Freiburg/München 1987; ders., Die Welt als
lebendige Struktur. Probleme und Lösungen der Strukturontologie, Freiburg
2003.
58
H. Rombach, Der Ursprung. Philosophie und Konkreativität von Mensch
und Natur, Freiburg 1994, 58.
59
Zu diesem Begriff vgl. die zusammenfassenden Erörterungen in E. Severi-
no, La Gloria, Milano 2001, 59-68.
60
Zu den Grundlagen von Severinos Philosophie vgl. ders., La struttura ori-
ginaria, Milano 1981 (19581); ders., Destino della necessità, Milano 1980;
ders., Tautótês, Milano 1995; ders., Oltrepassare, Milano 2007; ders., La
morte e la terra, Milano 2011.
61
Berlinger, die Weltnatur (wie Anm. 56), 146: „Aus dem Grunde der Dialo-
gizität übersteigt das Ich in der Wer-Frage sich selbst zum Du. Dieses Tran-
szendieren-Können ist der Urakt der Person. Zwei Momente sind für diesen
Urakt grundlegend: Freiheit und Liebe.“