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Riemer - Latinistik-2 Kopie 2
Riemer - Latinistik-2 Kopie 2
2, Textkritik
2,1. Ausgangslage
Textkritik 67
man alle Quellen, die sich in irgendeiner Form auf den zu edierenden
Text beziehen oder ihn auszugsweise zitieren oder in irgendwie mo-
difizierter Form wiedergeben. Dazu gehören Übersetzungen (etwa
ins Arabische oder Syrische), Zitate, antike Kommentare, Lexikonar-
tikel, Paraphrasen, Parodien,
Ein Text sei durch sechs Hss. überliefert, die mit den Abkürzungen
(Siglen) A, B, C, D, E, F bezeichnet werden, Die recensio führt zu fol-
genden Ergebnissen:
(1) Die sechs Hss, enthalten einige allen gemeinsame Fehler; diese
Fehler verbinden die Hss. zu einer Gruppe («Bindefehler) und lassen
68 Vom Autograph zur modernen Edition
nur zwei Schlußfolgerungen zu — entweder (a): Sie hängen alle von ei-
ner Vorlage ab, die ebenfalls diese Fehler hatte und die nicht erhalten
ist; oder (b): Eine der sechs ist die Vorlage, von der alle anderen abge-
schrieben sind,
(2) Jede der sechs His, enthält nur ihr eigene Fehler, die in keiner
der anderen stehen und die so beschaffen sind, daß sie von einem Ko-
pisten nicht hätten beseitigt werden können. Damit scheidet Mög-
lichkeit (b) aus, da diejenige Hs. unter den sechs, die Vorlage aller an-
deren wäre, solche Sonderfehler nicht haben dürfte, Die ın jeder ein-
zelnen enthaltenen Sonderfehler trennen die sechs Hss. also
voneinander (-Trennfehler) und beweisen, daß Schlußfolgerung (a)
zutrifft;
Die nicht erhaltene, aber sicher zu erschließende Hs. [a] nennt man
den <Archetypus» (oft werden solche erschlossenen Vorlage-Hss.
auch mit griechischen Minuskeln bezeichnet).
Textkritik 69
hinaus noch einige weitere eigene. Daraus folgt: F ist eine Abschrift
von B:
[2]
PA
A [5]
SANS
BCDE
N
(5) Schließlich zeigt sich, daß D und E einige gemeinsame Fehler ha-
ben, von denen B, € (und auch F) frei sind. Die Existenz von Trenn-
fehlern in D und E [vgl. (2)] garantiert, daß die eine nicht Vorlage der
anderen sein kann; also müssen sie von einem weiteren Hyparchety-
pus abhängen, der seinerseits auf [b] zurückgeht, nicht aber auch für
B und € Vorlage gewesen ist:
[a]
PA
A b)
ZN
3 C [c]
ON
F DE
Das auf diese Weise erschlossene Stemma ermöglicht es, den Textzeu-
gen das Gewicht einzuräumen, das ihnen gemäß ihrem Platz in dem
Abhängigkeitsgeflecht gebührt, und so die Frage nach dem überlie-
ferten Wortlaut zu beantworten; Ziel ist die Gewinnung des Wortlau-
tes, der in dem ältesten erschließbaren Textzeugen, also dem Archety-
pus [a] stand. Man geht folgendermaßen vor:
(2) Wo D und E übereinstimmen, liegt der Text von [c] vor. Wo sie
nicht übereinstimmen, entscheidet die Übereinstimmung mit B und
C oder nur mit B oder nur mit C darüber, welches der Wortlaut von
[c] gewesen ist.
79 Vom Autograph zur modernen Edition
(3) Aus der Übereinstimmung von B, C und {c] läßt sich nunmehr
der Wortlaut von {b] rekonstruieren. Wo sie nicht übereinstimmen,
entscheidet nicht etwa die Mehrheit (zum Beispiel B und [c] gegen C),
sondern die Übereinstimmung mit A darüber, welcher Wortlaut für
{b7 zu rekonstruieren ist.
(4) Im letzten Schritt wird aus der Übereinstimmung von A und [b]
der Archetypus [a} rekonstruiert. Wo keine Übereinstimmung be-
steht, müssen beide Versionen als überliefert gelten und die Entschei-
dung kann erst im nächsten Schritt fallen.
Aus dem beschriebenen Verfahren wird klar, daß für die Feststel-
Jung des Überlieferten Hss. nicht gezählt, sondern «gewogen werden.
So hat in unserem Beispiel jeweils B und C das gleiche Gewicht wie D
und E zusammen und A das gleiche Gewicht wie alle vier (bzw. fünf)
anderen zusammen.
+ Textkritik 71
Die beiden auf die recensio folgenden Stadien der constitxtio textus
heißen examinatio (Überprüfung) und emendatio (<Fehlerbeseiti-
gung»). Sie gehören insofern zusammen, als sie auf dasselbe Ziel aus-
gerichtet sind, nämlich auf die Wiederherstellung des ursprünglichen
Wortlautes, und mit denselben Kriterien arbeiten. Sie unterscheiden
sich dadurch voncinander, daß die examinatio der emendatio Voraus-
geht und letztere nur dort zur Anwendung kommt, wo erstere zu ei-
nem bestimmten Ergebnis geführt hat.
Der in der recensio festgestellte Überlieferungsbefund wird einer
genauen Prüfung unterzogen, wobei man darauf achtet, ob das Über-
lieferte dem vom Autor intendierten Sinn, soweit sich dieser aus dem
Kontext erschließen läßt, entspricht, und in Sprache, Stil und sonsti-
gen Merkmalen (Dialekt, Hiatmeidung, Prosarhythmus, Metrum) zu
den für den Autor als typisch erkannten Ausdrucksgewohnheiten
paßt. Wo die Überlieferung nur eine Version bietet, kann dieses Ver-
fahren prinzipiell nur zu dem Ergebnis führen, daß man den Wortlaut
als akzeptabel übernimmt oder als nicht akzeptabel verwirft. An all
denjenigen Stellen, an denen zwei oder mehrere Versionen überliefert
sind, muß eine Entscheidung getroffen werden. Diese fällt leicht,
wenn sich alle Versionen außer einer als offenkundig fehlerhaft er-
weisen. Gibt es aber zwei oder mehr Varianten, die die Anforderun-
gen der examinatio erfüllen, kann die Entscheidung schwierig wer-
den. Hilfreich ist hier oft die Überlegung #trum in alterum abiturum
erat? — also: Von welcher der beiden Versionen ist eher zu erwarten
und einleuchtender zu erklären, daß sie zu der anderen verändert
wurde? In diesem Zusammenhang gilt das Prinzip vom Vorrang der
lectio difficılior, da die Änderung einer in irgendeiner Hinsicht
«schwieriger (semantisch, syntaktisch, logisch usw.) Version zu einer
deichteren> wahrscheinlicher ist als das umgekehrte. Weiterhin darf
man sich bei der Entscheidung zwischen verschiedenen Lesarten
nicht von der Mehrheit der Textzeugen leiten lassen und nicht von
vornherein ältere Hss. jüngeren vorziehen (recentiores non deteriores,
d.h. jüngere Hss, müssen nicht per se eine schlechtere Qualität auf-
weisen). All diese Prinzipien können aber nur Hilfen geben und müs-
sen nicht in jedem Fall zu einem überzeugenden Resultat führen.
Textkritik 73
über der Zeile (supra lineam) oder am Rand (in margine) und anderes
mehr. Man unterscheidet in der Textkritik zwischen einem. anegati-
ven» und «positiver kritischen Apparat. Die möglichst knappe Form
des kritischen Apparates bezeichnet man als «negativ», d.h., die Her-
kunft der im Text stehenden Version wird nicht eigens angegeben, da
sie sich im Zusammenhang von selbst versteht. Im «positiven» Appa-
rat dagegen führt der Herausgeber zunächst die Lesart an, die in sei-
nem Text steht (mit Herkunftsangabe), bevor, jeweils durch Doppel-
punkt abgetrennt, andere Lesarten und am Ende Konjekturen folgen.
Für die im kritischen Apparat verwendeten lateinischen Abkürzun-
gen gibt es kein einheitliches System. Ein Verzeichnis der gebräuch-
lichsten Abkürzungen findet sich am Ende des Bandes (S. 220f.). Der
eigentliche textkritische Apparat kann durch weitere Apparate berei-
chert sein: Ein «Testimonien-Apparat» kann textbegleitend über je-
weils feststellbare Quellen und Vorbilder informieren, ein weiterer
kann die bekannten Imitationen und Zitate zusammenstellen. Häufi-
ger findet man solche Angaben aber nicht in den Editionen, sondern
in den wissenschaftlichen Kommentaren.
Als Beispiel für den Umgang mit Text und Apparat einer kritischen
Ausgabe wird im folgenden der Schluß eines der größeren Gedichte
(carmina maiora) des Dichters Catull (ca. 87-52 oder 47 v. Chr.}in der
erstmals 1958 erschienenen Edition von R.A.B. Mynors behandelt.
Die Catull-Überkieferung bietet, was die Hauptquellen angeht, nach
Textkritik 75
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codices recentiores
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