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Wissenschaftliche Leitung
Zertifizierte Fortbildung
Volker Alt, Regensburg
Peter Biberthaler, München
Thomas Gösling, Braunschweig
Thomas Mittlmeier, Rostock
Distorsion der Halswirbelsäule
Pathophysiologie, Diagnostik, Therapie und Begutachtung
Zusammenfassung
Online teilnehmen unter: Distorsionen oder Beschleunigungstraumata der HWS sind ein verkehrsassoziiertes
www.springermedizin.de/cme Verletzungsmuster, das typischerweise bei Heckkollisionen auftritt, aber nicht auf diese
Kollisions- und Unfallart begrenzt ist. Der größte Anteil dieser Verletzungen ist den
Für diese Fortbildungseinheit
niedrigen Schweregraden der Quebec-Task-Force(QTF)-Klassifikation zuzuordnen; bei
werden 3 Punkte vergeben.
diesen lässt sich in der klinischen und radiologischen Diagnostik kein morphologisch-
Kontakt objektivierbares Korrelat feststellen. Die Prognose ist überwiegend günstig und die
Springer Medizin Kundenservice Erkrankung selbstlimitierend, allerdings ist auf komplexe Verläufe mit chronischen
Tel. 0800 77 80 777 Schmerzen und neuropsychiatrischen Beschwerdemanifestationen zu achten. Aufgrund
(kostenfrei in Deutschland) des Unfallmechanismus tritt dieses Verletzungsbild besonders häufig im Rahmen
E-Mail: von haftpflichtassoziierten Unfällen auf. Die Diskrepanz der subjektiv-beklagten
kundenservice@springermedizin.de
Beschwerden und der vorliegenden objektiven Befunde stellt für den medizinischen
Informationen
Sachverständigen bei der Begutachtung eine besondere Herausforderung dar.
zur Teilnahme und Zertifizierung finden
Schlüsselwörter
Sie im CME-Fragebogen am Ende des
Beitrags. Nackenschmerzen · Biomechanik · Klassifikation · Diagnostische Bildgebung · Begutachtung
Lernziele
Nach Lektüre dieses Beitrages
– können Sie Patienten mit dem zugrunde liegenden Verletzungsmuster zuverlässig
identifizieren.
– sind sie in der Lage, die Pathophysiologie der HWS-Distorsion auf Basis der unfallbe-
dingten biomechanischen Einwirkungen auf die HWS nachzuvollziehen.
– fühlen Sie sich in der Anwendung der gängigen Klassifikationen sicher.
– ist es ihnen möglich, betroffene Patienten klinisch zu beurteilen sowie der adäquaten
Diagnostik und patientenindividuellen Therapie zuzuführen.
Über die Hochschulambulanz wird eine 21-jährige Drogeriefachver- Distortion of the cervical spine. Pathophysiology,
käuferin, die in einen Verkehrsunfall involviert war, vorstellig. Aufgrund diagnostics, treatment and assessment
eines plötzlichen Bremsmanövers innerorts sei ihr ein anderer Distortion or whiplash trauma of the cervical spine is an injury pattern
Verkehrsteilnehmer aufgefahren, sodass es zu einer Heckkollision kam.
associated with motor vehicle collisions and typically occurs after
Airbags ihres Kleinwagens wurden nicht ausgelöst; der Sicherheitsgurt
rear impact collisions, but is not limited to this type of collision and
war angelegt. Die Geschwindigkeit des Unfallgegners ist nicht
accident. The vast majority of these injuries are low-grade injuries
genau bekannt, jedoch herrschte in diesem Verkehrsbereich eine
Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h. Unmittelbar nach dem according to the Quebec Task Force (QTF) classification, whereby no
Unfallereignis bestanden keine Beschwerden, sodass die von der objective morphological correlates can be determined in clinical and
hinzugerufenen Polizei ausgesprochene Empfehlung zur ärztlichen radiological examinations. The prognosis is predominantly favorable
Vorstellung zunächst ignoriert wurde. Im Intervall (nach ca. 2 h) and the condition is self-limiting; however, care must be taken with
bemerkte die Patientin graduell einsetzende Verspannungsgefühle im respect to complex courses with chronic pain and the manifestation of
Bereich des Nackens und Kopfschmerzen, sodass eine selbstständige neuropsychiatric complaints. Due to the mechanism of the accident this
ärztliche Konsultation erfolgte. In der klinischen Untersuchung zeigen injury pattern is particularly frequent in accidents associated with third
sich keine visuellen Traumafolgen; Prellmarken oder Gurtspuren sind party liability insurance claims. The discrepancy between subjective
nicht vorhanden. Palpatorisch lassen sich ein Druckschmerz und complaints and the presence of objective findings is a particular challenge
Verhärtungen im Bereich der paravertebralen Muskulatur der HWS for the assessment by the medical expert.
sowie im Bereich der Ansatzpunkte der okzipitonuchalen Muskulatur
erheben. Die Dornfortsätze sind druckschmerzfrei. Die Rotationsfähig- Keywords
keit der HWS ist schmerzbedingt in beide Richtungen mit jeweils 20° Neck pain · Biomechanics · Classification · Diagnostic imaging · Expert
eingeschränkt. Es bestehen keine sensiblen Ausfallserscheinungen. Die opinion
Kraftgrade der Kennmuskulatur der oberen und unteren Extremitäten
sind mit 5/5 gemäß der Einteilung des Medical Research Council
(MRC) ubiquitär erhalten. Der Reflexstatus ist unauffällig. Gang- oder
Gleichgewichtsstörungen sowie neu aufgetretene Störungen der aufgrund des Unfallmechanismus häufig im Rahmen von haft-
Kontinenz bestehen nicht. pflichtassoziierten Unfällen auftritt.
Interessanterweise ließ sich in mehreren Arbeiten ein Zusam-
menhang zwischen der allgemeinen Zahl von HWS-Distorsionen
Definition und Epidemiologie sowie der Beschwerdedauer und der Erwartbarkeit von Versiche-
rungsleistungen oder finanziellen Entschädigungen herstellen
Das Beschleunigungstrauma der HWS beschreibt eine passiv ein- [4, 5]. In Litauen haben Obeliene et al. im Rahmen einer pro-
wirkende Beschleunigung, die zunächst eine Translations- und spektiven Kohortenstudie 210 Patienten, die in einen Heckaufprall
Retroflexionsbewegung der zervikalen Wirbelsäule bewirkt, mit verwickelt waren, identifiziert und mithilfe von Fragebögen Kopf-
anschließender, durch eine plötzliche Dezeleration bedingter, for- und Nackenschmerzen unmittelbar nach dem Unfallgeschehen,
cierter Ventralflexion („Whiplash“-Mechanismus). Typische Sym- nach 2 Monaten und einem Jahr evaluiert. Typischerweise wird
ptome sind Schmerzen im Bereich Nackenmuskulatur mit beglei- bei dieser Art des Unfalls in Litauen keine Dienstleistung des
tendem Verspannungsgefühl und Bewegungseinschränkung. Auch Gesundheitssystems in Anspruch genommen. Die Konnotationen
Kopfschmerzen und vegetative Symptome wie Übelkeit oder Er- und Kompensationsmechanismen, die HWS-Distorsionen in den
brechen sind möglich. Neurologische Ausfallserscheinungen wie meisten westlichen Gesellschaften begleiten, existieren dort bis-
Paresen, sensible Defizite oder assoziierte Frakturen oder Disloka- her nicht. Eine Schmerzsymptomatik im Bereich der HWS wurde
tionen der HWS sind selten und hohen Schweregraden zuzuordnen. durch 47 % der Befragten berichtet; die mediane Dauer der HWS-
Ein schmerzfreies Intervall zwischen Unfall und Beschwerdebeginn Beschwerden betrug 3 Tage, die maximale Dauer 17 Tage. Die Ent-
kann vorliegen, ist aber nicht obligat. wicklung einer chronischen Beschwerdesymptomatik wurde nicht
Distorsionen der HWS treten v. a. im Rahmen von Pkw-Unfällen, beobachtet [6]. Allerdings gibt es bei den genannten Studien auch
typischerweise beim Heckaufprall, auf. Die Inzidenz dieser Ver- Einschränkungen. Diese betreffen insbesondere den Aspekt, dass
letzung nahm über die vergangenen 3 Jahrzehnte kontinuierlich der Anteil von weiblichen Geschädigten bei Obeliene et al. mit
zu [1]; in Deutschland sind jährlich bis zu 400.000 Beschleuni- 14 % und von angeschnallten Unfallbeteiligten mit 67 % deutlich
gungstraumata der HWS nach Verkehrsunfällen zu verzeichnen geringer ist und somit nur eingeschränkt auf deutsche Verkehrs-
[2]. In 90–95 % der Fälle handelt es sich um eine leichte bis mäßi- realität übertragbar ist. Der Anteil der weiblichen Geschädigten
ge Ausprägung (Grade I und II in der klinischen Klassifikation der beträgt in Deutschland ca. 50,4 % [7].
Quebec Task Force (QTF) Whiplash-Associated Disorders [WAD]; [3]).
Der diesbezüglich geläufige Terminus des „Schleudertraumas“ Pathophysiologie
beschreibt v. a. den zugrunde liegenden Unfallmechanismus und
wurde durch „Distorsion“ oder „Beschleunigungstrauma der HWS“ Letztlich herrscht bezüglich des pathoanatomisch-morphologi-
überwiegend abgelöst. Die QTF prägte den Begriff der „whiplash- schen Korrelats der überwiegenden Zahl der HWS-Distorsionen, die,
associated disorders“. Anhand dieser Bezeichnung wird bereits wie dargestellt, leicht- bis mäßiggradig einzustufen sind, kein end-
verdeutlicht, dass es sich um ein Beschwerdebild mit heterogenen gültiger Konsens. Strukturelle Verletzungen wie ossäre Läsionen
Ausprägungen handelt, in die psychosoziale Aspekte einfließen. oder Dislokationen sind definitionsgemäß den hohen Schwere-
Eine besondere Bedeutung erhält dieses Verletzungsbild, da es graden zuzuordnen und selten. Bei den leichten bis mäßiggradigen
Schweregraden werden Hyperlaxizitäten und Elongation der liga-
CME
konkludierten, dass in Beschleunigungsversuchen mit Leichen- die Sitzposition der Insassen im Rahmen einer unfallanalytischen
präparaten keine entsprechenden Verletzungen der Ligg. alaria Rekonstruktion berechnet werden.
erzeugt werden konnten und somit kein Hinweis auf die Ätiolo- Die bei der Heckkollision auf den Insassen einwirkende Kraft
gie der festgestellten Auffälligkeiten im Bereich der Ligg. alaria ist von der Steifigkeit der Fahrzeugkarosserien abhängig. Im Fall
durch den „Whiplash-Mechanismus“ vorlag. Ebenso seien durch der Verkehrsunfallrekonstruktion lassen sich aus der resultieren-
das MRT Normvarianten von potenziell traumaassoziierten Signal- den Verformung der Fahrzeuge über die „Energie-equivalent-
alterationen der Ligg. alaria nicht adäquat abzugrenzen [9] und die speed“-Werte (EES-Werte) die Geschwindigkeiten der Fahrzeuge
Kausalität somit zumindest anzuzweifeln [10]. Hartwig et al. simu- vor der Kollision, die Stoßdauer und die mittlere Beschleunigung
lierten 2007 im Rahmen von Kadaverversuchen Seitkollisionen mit bestimmen. Relevant für die resultierende Kraft sind auch die
einem Beschleunigungsapparat und konnten keine Verletzungen Fahrzeugmassen.
der Ligg. alaria nachweisen [11]. Schädigungen neuronaler Struk- Die Krafteinleitung auf den Insassen, die über den Sitz auf den
turen können bei den höhergradigen Verletzungen im Rahmen Insassen übertragen wird, führt zunächst durch die Scherbewe-
von Verletzungen der Bandscheiben, Frakturen oder Dislokationen gung zwischen Oberkörper und Kopf zu einer horizontalen Hals-
und hiermit bedingter Beeinträchtigung des Myelons oder aus- wirbelkörperverschiebung. Die anschließende Dorsalextension
tretender Nervenwurzeln entstehen. Ebenso sind unfallbedingte bedingt die Rotation des Kopfes mit konsekutivem Kopfaufprall
Schäden des Plexus brachialis oder der hirnversorgenden Ge- gegen die Kopfstütze. Die Position und Gestaltung der Kopfstüt-
ze ist relevant, insbesondere wird häufig eine zu tief eingestellte
Tab. 1 Klassifikation des HWS-Beschleunigungstraumas nach Erdmann, mod. nach Keidel 1998. (Aus Tegenthoff et al. [15])
Kriterien Grad 0 Grad I Grad II Grad III Grad IV
(Kein Trauma) (Leicht) (Mittel) (Schwer) (Tödlich)
Symptomatik Keine Schmerzen der Hals- Wie I, aber meist ohne Wie I und II, primäre In- Hohe Querschnittsläh-
muskulatur und/oder Intervall; möglich sind se- suffizienz der Halsmusku- mung, Tod im zentralen
HWS, die bewegungs- kundäre Insuffizienz der latur möglich; Brachial- Regulationsversagen,
eingeschränkt sein Halsmuskulatur, Schmer- gien, Armparaesen, evtl. meist am Unfallort, Bul-
kann, meist nach In- zen im Mundboden-/ kurze initiale Bewusstlo- bärhirnsyndrom
tervall („steifer Hals“) Interskapularbereich, sigkeit
Parästhesien der Arme
Symptomfreies – Häufig, meist > 1 h, max. Selten, meist < 1 h, bis 8 h Fehlt meist Nicht vorhanden
Intervall 48 h, typisch 12–16 h möglich
Beschwerde- – Meist Tage bis Wochen, Wochen bis Monate Oft Monate, selten Meist Tod am Unfallort
dauer < 1 Monat > 1 Jahr
Bettlägerigkeit – Meist nicht gegeben Häufig Sehr häufig Dauerhaft möglich
Neurostatus Normal bzw. Keine Ausfälle, evtl. Be- Keine Ausfälle, schmerzhaf- Sensible und/oder moto- Tetrasymptomatik, Schä-
unverändert wegungseinschränkung te Bewegungseinschrän- rische Reiz- und Ausfaller- digung vitaler Medulla-
der HWS kung der HWS scheinungen oblongata-Zentren mög-
lich
Morphologie Keine Läsion Distorsion, Dehnung Wie I; Gelenkkapseleinrisse, Wie II, über mehr als ein Markkontusion, evtl. so-
und Zerrung des HWS- Gefäßverletzungen mög- Segment, Diskusblutung gar Markdurchtrennung,
Weichteilmantels lich (retropharyngeales oder -riss, Bandruptur, Schädigung der Medul-
Hämatom, Muskelzerrun- Wirbelkörperfraktur, Lu- la oblongata bzw. des
gen) xation, Nerven-, Wurzel-, untersten Hirnstamms,
Rückenmarkläsion Schädelbasis- und Kopf-
gelenkbrüche möglich
HWS-Röntgen Unverändert Unverändert, evtl. neu Evtl. neu aufgetretene Fraktur, Fehlstellung, Frakturen mit Dislokatio-
aufgetretene Steilstel- Steilstellung, kyphotischer Aufklappbarkeit bei Funk- nen
lung Knick, leichte Instabilität tionsaufnahmen
Tab. 2 Schweregradklassifikation von HWS-Beschleunigungstraumata nach Quebec Task Force [QTF] nach Spitzer et al. 1995 bei HWS-Beschleuni-
gungsverletzung. (Aus Tegenthoff et al. [15])
Schweregrad 0 I II III IV
Klinisches Er- Keine HWS- Nur HWS-Beschwerden HWS-Beschwerden wie un- HWS-Beschwerden wie unter I HWS-Beschwer-
scheinungsbild Beschwerden, in Form von Schmerzen, ter I und muskuloskeletale und neurologische Befunde den wie unter I
keine objek- Steifigkeitsgefühl oder Befunde (Bewegungsein- (abgeschwächte oder aufge- und HWS-Frak-
tivierbaren Überempfindlichkeit, keine schränkung, palpatorische hobene Muskeleigenreflexe, tur oder -Dislo-
Ausfälle objektivierbaren Ausfälle Überempfindlichkeit) Paresen, sensible Defizite) kation
CME
schwerden (Nackenschmerzen, -steifheit, Schwindel, Kopfschmer- gion sowie eine Gibbusbildung oder ein Klaffen der Dornfortsätze
zen, Tinnitus, Übelkeit, Parästhesien, Paresen) sollten auch der ge- zu erfassen. Sensibilität und Motorik der Kenndermatome und
naue Unfallhergang und Unfallmechanismus, etwaig bekannte -muskulatur sowie Reflexstatus sind zu überprüfen und exakt
Geschwindigkeiten der Fahrzeuge und Fahrzeugdeformation (ggf. zu dokumentieren (bei vorliegender Querschnittsymptomatik an-
auch fremdanamnestisch) erfragt werden, um Rückschlüsse auf hand einer standardisierten Klassifikation, beispielsweise des Sche-
die Schwere des Unfallmechanismus zu erlangen. Auch sollten mas der American Spinal Injury Association, ASIA). Zeichen eines
bereits prätraumatisch bestehende Beschwerden der HWS erfasst kompletten Querschnittssyndroms sind ein fehlender Bulboka-
werden, v. a. im Hinblick auf eine spätere Begutachtung. Ebenfalls vernosus- oder Analsphinkterreflex, während beim inkompletten
sollten psychosoziale Vorerkrankungen oder Risikofaktoren für Querschnittssyndrom eine sakrale Aussparung vorliegt sowie sen-
einen chronifizierenden Verlauf und Symptome einer akuten Be- sible und motorische Restqualitäten zu erwarten sind. Bezüglich
lastungsreaktion (Intrusion, Ängste, Vermeidungsveralten, disso- der Indikation zur bildgebenden Untersuchung ist das Protokoll
ziative Symptome) identifiziert werden. Wichtig ist die sorgfältige gemäß der Canadian C-Spine Rule (Abb. 2) zu erwähnen; dieses
und vollständige Dokumentation. stellt eine Entscheidungshilfe zum Ausschluss einer relevanten
strukturellen Verletzung dar. Stiell et al. errechneten 2003 in einer
prospektiven Kohortenstudie mit 8283 Patienten eine Sensitivi-
tät von 99,4 % und eine Spezifität von 45,1 % für die Canadian
C-Spine Rule [16]. Im Rahmen eines „clinical pathway“ werden
nein
ja
ja
Bildgebende Untersuchungen
Röntgen
Meist erfolgt das zunächst Röntgen der HWS in 2 Ebenen mit
transoraler Dens-Spezialaufnahme. Hier können Frakturen und
Luxationen identifiziert werden (Abb. 3, 4 und 5). Auf eine aus-
reichende Aufnahmequalität mit kompletter Visualisierung der
gesamten HWS im seitlichen Strahlengang ist zu achten. Dem
zervikothorakalen Übergang C7/Th1 ist als Prädilektionsort für
Luxationen Rechnung zu tragen. Ist die seitliche Darstellung z. B.
durch Überlagerung der Schultern nicht komplett, ist bei klinischem
Verdacht die weitere Abklärung mithilfe der Computertomographie
oder von Schwimmeraufnahmen indiziert.
7 Cave
Auf die vollständige Darstellung der HWS im seitlichen Strahlengang ist
zu achten.
Schnittbildgebende Verfahren Abb. 3 8 Hilfslinien zur Beurteilung der HWSim seitlichen Strahlengang.
Zur weiteren Beurteilung von knöchernen Verletzungen oder Dislo- A vordere Wirbelkörperlinie, B hintere Wirbelkörperlinie, C spinolaminäre
kationen stellt die Computertomographie der HWS das Verfahren Linie, D Verbindungslinie der Dornfortsätze. (Aus Weigel und Nerlich [17]).
der Wahl dar und besitzt somit bei den WAD-Graden III und IV
höchste Relevanz. Die Magnetresonanztomographie kommt zur
Beurteilung von diskoligamentären Läsionen und zum Nachweis
von Myelon- oder Nervenwurzelverletzungen zum Einsatz. Des
Weiteren ist das MRT bei anhaltenden Beschwerden auch im Hin-
blick auf eine spätere Begutachtung wichtig. Die aktuelle Leitlinie
empfiehlt ab einem Beschwerdezeitraum von 4 Wochen ohne
Nachweis einer strukturellen Verletzung die Durchführung eines
spinalen MRT zum Ausschluss einer Weichteilläsion. Bei Verdacht
auf eine Dissektion der Halsgefäße kommen die Dopplersono-
graphie und das kontrastmittelgestützte MRT der Halsweichteile
infrage. Als mögliche klinische Erscheinungsformen sind bei der
Dissektion der Halsgefäße plötzlich auftretende, (einseitige) fron-
totemporale Kopf- und Nackenschmerzen, das ipsilaterale Horner-
Syndrom, ein pulssynchroner Tinnitus und schließlich Symptome
einer zerebralen Ischämie anzuführen [19].
Abb. 4 8 Segmentaler Versatz mit Kyphosierung als Zeichen der segmenta-
len Instabilität. (Aus Weigel und Nerlich [17])
CME
körperlichen Schonung mit einem frühmobilisierenden, aus wie-
derholten submaximal aktiven Bewegungen bestehenden Regime
verglichen, dass der Patient eigenständig zu Hause durchführen
kann. Letztgenannte Methode zeigte sich in der Schmerzreduktion
deutlich effektiver [22]. Dieses Mobilisationsregime können bei-
spielsweise wiederholte Kopfdrehungen im maximal möglichen
Bewegungsradius sein; diese kann der Patient mehrmals am Tag ei-
genständig zu Hause und am Arbeitsplatz durchführen. Der zeitlich
befristete Einsatz von Muskelrelaxanzien kann erwogen werden
(z. B. Tolperison), ebenso wie lokale Kälte- und Wärmeapplikation.
Abb. 5 8 Atlantoaxiales Intervall (1), nicht größer als 3 mm. (Aus Josten[18])
Im Fall von chronifizierenden Verläufen ist gemäß Leitlinie der Ein-
satz von schmerzmodulierender Medikation (z. B. Amitriptylin)
Neurologische Untersuchung und der Triggerpunktinjektionstherapie mit Lokalanästhetika
(z. B. Lidocain) im Bereich der Nackenmuskulatur zu erwägen.
Bei Beteiligung des Nervensystems sind eine fachneurologische Insbesondere ist bei kompliziertem Verlauf mit einem Chronifizie-
Untersuchung zu ergänzen und befundabhängig weiterführende rungsrisiko eine psychosomatische/psychiatrische Evaluation zu
neurophysiologische Untersuchungen (somatosensorisch evo- erwägen, um ggf. frühzeitig ein multimodales Behandlungskon-
zierte Potenziale [SEP], motorisch evozierte Potenziale [MEP], Elek- zept zu etablieren [15].
tromyographie [EMG], Nervenleitgeschwindigkeit [NLG]) zu initi-
ieren. Bei zusätzlich vorliegendem Schädel-Hirn-Trauma ist die 7 Merke
Notwendigkeit einer ergänzenden kraniellen bildgebenden Un- Fixierende Zervikalorthesen und lang dauernde Krankschreibungen
tersuchung zu berücksichtigen. sind bei den WAD-Graden I und II zu vermeiden.
Sie diagnostizieren eine HWS-Distorsion Grad II nach QTF. Sie klären schrittiges, indizienorientiertes Vorgehen notwendig, das an
die Patientin über die günstige Prognose des zugrunde liegenden den pathophysiologisch-gesicherten Erkenntnissen vom Verlauf
Krankheitsbildes auf, weisen sie zu Aktivität und Bewegung an und des Regelfalles einer nichtstrukturellen Verletzung anknüpft [27].
verordnen ein nichtsteroidales Antiphlogistikum. Sie demonstrieren
ein zervikales Mobilisationsprogramm mit der Empfehlung, Somit ist in der Zusammenschau von Aktenlage, Anamnese und
dieses zu Hause und auf der Arbeit in regelmäßigen Intervallen Ermittlung des Unfallgeschehens, klinischer und radiologischer Un-
durchzuführen. Sie klären über Warnsymptome (plötzlich auftretender tersuchung, wenn möglich verkehrstechnischer Analyse und ggf.
Vernichtungskopfschmerz, sensomotorische Defizite, Kontinenz- Zusatzgutachten, die aufgrund vorhandener neurologischer oder
und Gangstörung, persistierende Bewegungseinschränkung psychiatrischer Beschwerdesymptomatik veranlasst werden, eine
oder Schmerzen) auf und erläutern die Notwendigkeit einer
Wiedervorstellung zur Schnittbilddiagnostik bei plötzlicher fundierte Stellungnahme möglich [28]. Zur Erleichterung des struk-
Befundverschlechterung oder persistierenden Beschwerden. turierten Begutachtungsablaufs ist das Prüfschema nach Schröter
[29] anzuführen, in dem die genannten Aspekte schrittweise ab-
gehandelt werden, um schlussendlich zu einem tragfähigen Urteil
zu gelangen.
CME
5 Die Distorsion der HWS tritt typischerweise bei der Heckkollision im
Rahmen von Pkw-Unfällen auf, ist jedoch nicht auf diese Kollisions-
und Unfallart begrenzt.
5 Die Einteilung erfolgt v. a. gemäß der Klassifikation der Quebec
Task Force (QTF). Der überwiegende Anteil der Verletzungen ist den
Schweregraden 0–II zuzuordnen.
5 Ein standardisiertes Untersuchungsprotokoll sollte zum Einsatz
kommen, um relevante strukturelle Verletzungen auszuschließen.
5 Bei komplizierten Verläufen mit hohem Chronifizierungsrisiko ist
die frühzeitige Integration eines multimodalen Therapiekonzeptes
zu erwägen.
5 Bei der Begutachtung der HWS-Distorsion kann eine enorme Diskre-
panz zwischen geklagten Beschwerden und objektivierbaren Befun-
den möglich sein. Dies macht ein mehrschrittiges, indizienorientier-
tes Vorgehen notwendig.
? Welcher Unfallmechanismus ist typi- ? Welcher Therapieansatz bei der HWS ◯ Bewegungseinschränkung und palpato-
scherweise ursächlich für das Auftre- Distorsion erscheint am sinnvollsten? rische Überempfindlichkeit werden beim
ten eines HWS-Beschleunigungstrau- ◯ Eine Ruhigstellung mithilfe einer weichen Schweregrad II beschrieben.
mas? Halskrawatte sollte standardmäßig zur ◯ Paresen der oberen Extremitäten und Sen-
◯ Frontaler Sturz des älteren Menschen auf Sicherheit bis zur erweiterten MRT Diag- sibilitätsstörungen sind typisch für den
den Kopf nostik erfolgen. Schweregrad I.
◯ Axiale Stauung der oberen HWS, wie z. B. ◯ Die Infiltration der muskulären Trigger-
bei einem Sprung in seichtes Wasser punkte mit einem Lokalanästhetikum soll- ? Ein 37-jähriger Pkw-Fahrer wird im
◯ Pkw-Unfall mit Heckaufprall te bei der initialen Behandlung unmittelbar Rahmen eines Arbeitsunfalles vom
◯ Sturz aus großer Höhe mit gleichzeitigem durchgeführt werden. Rettungsdienst in die Notaufnahme
Kopfanprall ◯ Die Selbstmobilisation der HWS durch den gebracht. Zuvor war dem Patienten ein
◯ Forcierte aktive Reklination und Inklination Patienten unter Analgesie mithilfe von Lkw mit ca. 50 km/h auf der Autobahn
wie beispielsweise beim Kopfball nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) ins Heck aufgefahren. Es besteht ein
kann den Heilungsprozess positiv beein- Mittelliniendruckschmerz der HWS.
? Welche Art der bildgebenden Diag- flussen. Der Patient gibt Kribbelparästhesien
nostik sollte bei der HWS-Distorsion ◯ Chronische Schmerzen treten meist un- im gesamten rechten Arm an. Welches
erfolgen? abhängig von der initial durchgeführten ist der nächste sinnvolle Schritt im Rah-
◯ Das MRT sollte vorrangig zur Detektion Therapiemaßnahme auf. men der weiteren Notfallbehandlung?
knöcherner Verletzungen der HWS zum ◯ Eine initiale Krankschreibung über meh- ◯ Eine forcierte Prüfung der Beweglichkeit
Einsatz kommen. rere Tage beeinflusst den Heilungsprozess der HWS sollte zur Erfassung des Bewe-
◯ Unabhängig von Unfallmechanismus und positiv, da der Patient hierbei mehr Zeit für gungsausmaßes durchgeführt werden.
klinischem Befund sollte bei Schmerzen die physiotherapeutische Beübung hat. ◯ Die initiale Anlage einer starren Zervikalor-
der oberen HWS eine Röntgendiagnostik these mit anschließender Röntgendiag-
erfolgen. ? Welche Aussage zur Klassifikation des nostik der HWS in 3 Ebenen ist indiziert.
◯ Konventionelle Röntgendiagnostik der HWS-Beschleunigungstraumas nach ◯ Da es sich um einen Arbeitsunfall han-
HWS in 3 Ebenen, ggf. ergänzt durch eine der Quebec Task Force ist korrekt? delt, werden Funktionsaufnahmen der
Computertomographie. ◯ Beim Schweregrad 0 treten die Beschwer- HWS durchgeführt, um einen möglichen
◯ Die Dopplersonographie sollte zum Aus- den typischerweise im Zeitintervall von Erstkörperschaden zu beweisen.
schluss einer Myelonverletzung durchge- mehr als 1 h auf. ◯ Es sollte unmittelbar eine kontrastmittel-
führt werden. ◯ Beim Schweregrad III sind keine objekti- gestützte MRT der Halsweichteile erfolgen.
◯ In der erweiterten CT-Diagnostik können vierbaren Ausfälle nachweisbar. ◯ Wenn der Patient selbstständig aus dem
diskoligamentäre Verletzungen gut detek- ◯ Schweregrad IV beschreibt Schmerzen Pkw aussteigen konnte, besteht keine
tiert werden. oder ein Steifheitsgefühl ohne strukturelle Indikation zur Röntgendiagnostik.
Schäden.
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„Fortbildungszertifikat der Ärztekammer“ werden die von deutschen zierten Kurs ist nur online auf – Für eine erfolgreiche Teilnahme müssen
gemäß § 5 ihrer Fortbildungsordnung mit Landesärztekammern anerkannten www.springermedizin.de/cme möglich. 70% der Fragen richtig beantwortet
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damit auch für andere Ärztekammern Gleichwertigkeit im gleichen Umfang als 12 Monate. Den Teilnahmeschluss – Teilnehmen können Abonnenten dieser
anerkennungsfähig. DFP-Punkte anerkannt (§ 14, Abschnitt 1, finden Sie online beim Kurs. Fachzeitschrift und e.Med-Abonnenten.
Verordnung über ärztliche Fortbildung, – Die Fragen und ihre zugehörigen – Abonnenten von „Die Orthopädie“ oder
Österreichische Ärztekammer (ÖÄK) 2013). Antwortmöglichkeiten werden „Die Unfallchirurgie“ können kostenlos
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zusammengestellt. teilnehmen.