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A B K Ü R ZU N G E N FAL L B E I S P I E L
von Rüden C et al. Polytraumamanagement – Behandlung … Z Orthop Unfall 2017; 155: 603–622 603
CME-Fortbildung
D E F I N IT I O N
Aktuelle Definition Polytrauma
Signifikante Verletzungen an 3 oder mehr Orten in nierter präklinischer und innerklinischer Algorithmen zu-
2 oder mehr sog. Abbreviated-Injury-Scale-Regionen rückzuführen wie
(AIS-Regionen) in Verbindung mit einer oder mehr ▪ dem Pre-Hospital Trauma Life Support-(PHTLS®-)Kon-
Abweichungen der folgenden 5 Parameter zept,
▪ dem Advanced Trauma Life Support-(ATLS®-)Konzept
▪ Blutdruck,
oder
▪ Glasgow Coma Scale (GCS),
▪ dem TEAM® Training [11].
▪ Basenüberschuss,
▪ partielle Thromboplastinzeit (PTT),
Im Rahmen der Etablierung des TraumaNetzwerks DGU®
▪ Patientenalter.
wurden zertifizierte lokale, regionale und überregionale
Traumazentren eingerichtet, die in wiederum zertifizier-
ten Traumanetzwerken agieren, welche für die Unfallver-
Merke letzten eine optimale standardisierte und der Komplexi-
Es zeigt sich bei der Berliner Definition des Polytrau- tät des Verletzungsmusters angepasste Behandlung ga-
mas vor allem, dass nicht allein die Verletzungs- rantieren [12].
schwere einen Patienten zum Polytraumatisierten
macht, sondern insbesondere der Schweregrad der Der Faktor Zeit ist hierbei von entscheidender Bedeutung
induzierten pathophysiologischen Veränderungen. für die Prognose, da sie direkt mit dem Zeitintervall zwi-
schen dem Unfall und der initialen Behandlung im geeig-
neten Krankenhaus korreliert. Grundsätzlich gilt die 3-R-
Grundlagen Regel [13]:
Für die unfallbedingte Sterblichkeit Schwerverletzter sind
3 Hauptursachen maßgeblich [9, 10] (s. Infobox).
PRINZIP 3 -R-R EGEL
Die Behandlungsstrategie von schwer- und schwerstver- „Get the right patient to the right hospital in the
letzten Patienten hat in den letzten Jahrzehnten erfreuli- right time“.
cherweise zu einem Sinken der Sterblichkeitsrate nach
Polytraumatisierung von etwa 40 % in den 70er-Jahren
des 20. Jahrhunderts auf heute unter 10 % geführt [11]. Die angemessene Initialtherapie polytraumatisierter Pa-
Diese Entwicklung ist möglicherweise auch auf die Ver- tienten erfordert eine zügige systematische Bestandsauf-
besserung der Traumaversorgung mit Integration defi- nahme des Verletzungsmusters und die sofortige Thera-
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pie akut vital bedrohender Verletzungen [9]. Insofern ha- In Deutschland behandeln lokale Traumazentren durch-
ben die zeitliche Begrenzung der Erstbehandlung am Un- schnittlich 13 Fälle/Jahr, regionale Zentren 43 Fälle/Jahr
fallort und der Transportzeit sowie die korrekte Wahl der und überregionale Zentren 147 Fälle/Jahre, bezogen auf
geeigneten Zielklinik bei diesen Patienten zu einer deut- das im Jahresbericht definierte Basiskollektiv im 3-jähri-
lichen Reduzierung therapiefreier Zeitintervalle geführt gen Durchschnitt [17].
[10].
Verletzungsartenverfahren und
Auch die Anwendung und zunehmende Verbreitung von Schwerstverletzungsartenverfahren –
Damage Control Surgery (DCS-Konzept) und Damage Änderungen ab 01.01.2018
Control Orthopedics (DCO-Konzept) bei Polytraumati- Weiterführend hat die Deutsche Gesetzliche Unfallver-
sierten in initial kritischem Zustand und die Verbesserung sicherung (DGUV) 2013 tiefgreifende Änderungen im
der intensivmedizinischen Behandlung habenzumindest BG-lichen Heilverfahren etabliert [20]. Ab 01.01.2018
in Deutschland breit in die Versorgungsstrategie Eingang wird diese Neuordnung die alleinige Grundlage der Zulas-
gefunden [14]. Daher wurden in den vergangenen Jahren sungen, Verfahren und Überprüfungen im 5-Jahres-Zeit-
die o. g. umfassenden Konzepte zur Initialdiagnostik und raum darstellen.
‑therapie von Schwerstverletzten entwickelt, die in der
S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung Von besonderer Bedeutung ist hier das sog. Verletzungs-
der DGU 2016 evidenzbasiert modifiziert wurden [15]. artenverfahren (VAV), basierend auf § 34 des SGB VII. Es
bildet die gesetzliche Grundlage der o. g. 3-zügigen sta-
TraumaNetzwerk DGU® tionären Traumaversorgung in Deutschland.
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FAL L B E I S P I E L
Der Fall
Vor Umlagerung des im o. g. Fallbeispiel beschriebe-
nen Unfallverletzten erfolgt die Übergabe durch den
Hubschraubernotarzt des Christoph Murnau (hier:
rote Einsatzkleidung) nach A–B‑C–D–E-Schema und
die Wiederholung der Übergabe durch den sog. Trau-
ma Leader (hier: blaue Schürze) (▶ Abb. 3). Folgende
Berufsgruppen sind beteiligt:
▪ Weiterbildungsassistent für Orthopädie und Un-
fallchirurgie in Zusatzweiterbildung für Spezielle
Unfallchirurgie,
▪ Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie,
▪ Spezielle Unfallchirurgie,
▪ Oberarzt Unfallchirurgie,
▪ Pflegekraft Chirurgie,
▪ Pflegekraft Anästhesiologie, ▶ Abb. 1 Schock- und Diagnostikraum sollten zur Optimierung der zeitli-
▪ Fachärztin Anästhesiologie, chen Abläufe direkt nebeneinander lokalisiert sein.
▪ Facharzt für Neurochirurgie,
Aufnahme im Schockraum
Intensivstation
▶ Abb. 2 Schockraumalgorithmus. ATLS® = Advanced Trauma Life Support; FAST = Focused Assessment with Sonography in Trauma; MSCT = Mul-
tislice-CT [25]
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Schockraumphase Maßnahmen Ziel
Ankunft des Patienten Informationsweitergabe durch
den Rettungsdienst
Primary Survey Erkennen und Behandlung akut
lebensbedrohlicher Verletzungen
A u.a. HWS-Stabilisierung mit Stiffneck, Inspektion der oberen Behebung von Atemwegs-
Airway Maintenance Atemwege, Intubation wenn erforderlich, ggf. alternative hindernissen, Sicherung der
with cervical Spine Atemwege (z.B. Larynxmaske, chirurgischer Atemweg), Atemwege
Protection Maskenbeatmung, chirurgischer Atemweg, Absaugung,
Fremdkörperentfernung, Guedel- und/oder Wendel-Tubus,
sog. Chin-lift- oder Jaw-thrust-Manöver
B u.a. Beurteilung der Jugularvenen und Inspektion des Thorax, Sicherung der Oxygenierung
Breathing and manuelle Thoraxpalpation/-kompression, Auskultation, und Ventilation
Ventilation ggf. Punktionsentlastung eines Spannungspneumothorax,
Anlage einer Thoraxdrainage über Mini-Thorakotomie,
Sicherung der Ventilation und Oxygenierung zur Verhinderung
von Sekundärschädigungen, Anlage SpO2-Messung
C u.a. FAST-Sonografie, Bodycheck Abdomen/Becken/Ober- Schocktherapie, Sicherung der
weder der ATLS®-Lehre noch der praktizierten Vor- Das erweiterte Schockraumteam muss verletzungs-
gehensweise in vielen Schockräumen. abhängig innerhalb von 20–30 Minuten verfügbar sein.
Tertiary Survey
Regelmäßige klinische Reevaluation und ggf. erneute ap-
ATLS®-Konzept
parative Diagnostik. Das ATLS®-Konzept des American College of Surgeonsʼ
Committee on Trauma hat sich als empfohlene Standard-
Schockraumteam prozedur zur Behandlung in der Primärphase der Diag-
Für die Erstbehandlung des Verletzten ist das sog. nostik und Therapie Schwerstverletzter mittlerweile in
Schockraumteam zuständig. Das Basisteam im Schock- vielen Ländern der Welt durchgesetzt und wurde im Jahr
raum umfasst gemäß Weißbuch der DGU [16] im über- 2003 durch die DGU in Deutschland offiziell eingeführt
regionalen Traumazentrum dem sog. Facharztstandard [24].
folgend die in der Übersicht gelisteten Personen.
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Nach den ATLS®-Richtlinien werden Verletzungen, die un- Ein Blick auf das Herz (sub-/para-xiphoidal links) dient da-
behandelt innerhalb der ersten Minuten bis Stunden zu, ein Hämatoperikard zu erkennen.
posttraumatisch zum Tod führen würden, nach standar-
disierten Algorithmen primär erkannt und sofort behan- Werden freie Flüssigkeit und/oder eine Organlazeration
delt (ATLS®-Manual [54]). Die Weiterbehandlung erfolgt nachgewiesen und es gelingt keine Kreislaufstabilisierung
ebenfalls in zeitlich definierten Phasen, die sich prioritär durch die Maßnahmen des Schockraumteams, so ist
an maßgeblichen Verletzungen orientieren [24]. durch den Trauma Leader die Entscheidung zur Notlapa-
rotomie vor der weiterführenden Diagnostik zu treffen
Mit dem sog. A‑B‑C‑D‑E-Schema werden im Rahmen der und der Patient unverzüglich in den Operationssaal zu
Erstuntersuchung (sog. Primary Survey) potenziell le- bringen.
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Die Erweiterung des FAST ist das e-FAST, das neben der
Standardbeurteilung des Abdomens und des Herzens
auch die Sonografie des Thorax enthält und höchst sensi-
tiv für die Diagnose eines Pneumothorax ist [26].
Merke
Die durchschnittliche Dauer von der Aufnahme des
Unfallverletzten in der Klinik bis zur FAST-Sonografie
beträgt deutschlandweit durchschnittlich 6 Minuten
[17].
Multislice-Computertomografie
(„Polytraumaspirale“)
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Merke
Ziel des DCS-Konzepts ist die Reduzierung chirurgi-
scher Maßnahmen auf akut lebenserhaltende Inter-
ventionen, um so den vital bedrohten schwerstver-
letzten Patienten möglichst frühzeitig zur weiteren
Behandlung und Wiederherstellung der physiologi-
schen Parameter (sog. Endpoints of Resuscitation)
auf die Intensivstation verlegen zu können [34].
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Damage Control Orthopedics (DCO)
Damage Control Orthopedics (DCO) ist ein weiteres Kon- FA ZIT
zept, das sich mit der Behandlungsstrategie beim Poly- Damage Control Surgery und Damage Control
trauma beschäftigt [41]. Es überlappt mit dem DCS-Kon- Orthopedics
zept in Bezug auf die Blutstillung als wesentliche Kom- Zusammenfassend lässt sich festhalten:
ponente und dem Grundgedanken, dass die initial durch-
Das Stufenprotokoll der DC-Konzepte umfasst 4 zeit-
geführten operativen Maßnahmen in Zeit und Ausmaß li-
lich abgestufte Phasen [24]:
mitiert sein sollten. Lebensrettende Sofortmaßnahmen
1. Lebensrettende Sofortmaßnahmen im Rahmen
genießen nach wie vor die höchste Priorität, während
frühzeitiger Sichtung derjenigen Patienten, die ein
etwa die definitive Frakturstabilisierung prioritär hinten-
DC-Verfahren benötigen (sog. Ground Zero Reco-
ansteht [5]. Das DCO-Konzept adressiert darüber hinaus
gnition Phase)
die Art der Stabilisierung von Frakturen und die Versor-
2. Notoperationen zur Blutungskontrolle (sog. Oper-
gung von Weichteilverletzungen.
ation Room Phase)
3. Intensivmedizinisches Management zur Wieder-
Die Eingangskriterien in Bezug auf den Patienten entspre-
herstellung der physiologischen und immunologi-
chen denen des DCS-Konzepts [17]. Zur Anwendung
schen Grundfunktionen (sog. Intensive Care Unit
kommt es, wenn bei diesen Patienten ausgedehnte
Phase)
Weichteilverletzungen und/oder Frakturen im Becken-/
4. Geplante chirurgische Folgeeingriffe (sog. Recon-
Extremitätenbereich vorliegen. Wesentlich ist die Mini-
structive Phase)
mierung des chirurgischen Gewebetraumas als „Add on“
Pathophysiologisch liegt dem DCO-Konzept die Beobach- Im internationalen Vergleich unterscheidet sich die Be-
tung zugrunde, dass es durch ein Trauma zu einer Ganz- handlungssituation in Deutschland und etlichen anderen
körperentzündungsreaktion mit nachfolgender Immun- europäischen Ländern von derjenigen etwa in den USA
suppression kommt [42]. Die Ausprägung der Entzün- entscheidend dadurch, dass dort in den überregionalen
dungsreaktion korreliert hierbei mit dem Schweregrad Traumazentren der sog. General Surgeon für die Versor-
der Verletzung [43, 44]. gung Schwerverletzter zuständig ist und auch über den
Zeitpunkt der Frakturstabilisierung entscheidet, während
Auch die Art des Traumas trägt zur Ausprägung der Ent- in Europa Notfallmediziner, Anästhesisten und Unfallchi-
zündungsreaktion bei, wobei dem Thoraxtrauma hier rurgen in der Regel für die Erstbehandlung verantwort-
eine besondere Bedeutung zukommt [45]. Wesentlich lich sind. Da diese an der Versorgung von der Aufnahme
ist, dass die Art der chirurgischen Versorgung den Verlauf des Patienten über die Schockraumphase bis zur Ver-
dieser Ganzkörperentzündungsreaktion beeinflusst. legung auf die Intensivstation beteiligt sind, haben sie
Durch eine Marknagelosteosynthese etwa kommt es zu Zugang zu jedem Patienten sowohl in Borderline-Situa-
einer ausgeprägten Verstärkung dieser Reaktion [46], tionen als auch in instabilen oder Extremsituationen. So-
weswegen heute die passagere primäre Frakturstabilisie- mit hat sich die Schwerverletztenversorgung systemisch
rung durch Fixateur externe bei diesen Patienten Mittel gesehen – an die individuellen Gegebenheiten angepasst
der Wahl ist. Bei schwer physiologisch dekompensierten – in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich ent-
Patienten lässt sich so die Inzidenz eines pulmonalen Or- wickelt [49].
ganversagens reduzieren [47].
Dabei erscheint es wesentlich, nicht ohne sorgfältige Ab-
wägung Elemente eines Versorgungskonzepts in ein an-
PR AXISTIPP deres zu übertragen. Dieser Fehler der unkritischen Über-
In der klinischen Umsetzung gilt es, nach initialer tragung amerikanischer Konzepte führte in den 1980er-
operativer Stabilisierung zwischen dem 1. und 5. Tag Jahren zu unzureichenden Behandlungsergebnissen bei
im Rahmen der posttraumatischen Hyperinflamma- europäischen Patienten, als sog. Early-Total-Care-Kon-
tionsreaktion die notwendigen chirurgischen Eingrif- zepte auf alle – auch instabile – Patienten angewandt
fe zu minimieren. wurden. Dieses Vorgehen hatte eine deutlich erhöhte
Im sog. Window of Opportunity ab etwa dem 5. Tag Komplikationsrate mit zum Teil fatalen Verläufen zur Fol-
nach Trauma können dann definitive Stabilisierungs- ge, was wiederum zur Entwicklung der DC-Konzepte bei-
operationen durchgeführt werden [41]. Letztere sind trug.
regelhaft erst nach dem 4.–5. Tag nach Trauma indi-
ziert [48]. Safe Definitive Orthopaedic Surgery (SDS)
Dank aktueller Fortschritte der Notfall- und Intensivmedi-
zin hinsichtlich des „Verstehens“ und der „Lesbarkeit“
schwerverletzter Patienten [50] sind aktuelle Konzepte
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wie das sog. Safe-Definitive-Orthopaedic-Surgery-Kon- Ein sog. Second Look mit definitiver chirurgischer Versor-
zept (SDS-Konzept) [51] in der Lage, angepasst an die ge- gung und sekundärem Bauchdeckenverschluss erfolgt
genwärtige Verfassung des Patienten die zeitgerechte 24–48 Stunden nach initialer Stabilisierung der Vitalfunk-
operative Stabilisierung aller relevanten Frakturen zu er- tionen. Je nach klinischer Situation kann der sekundäre
möglichen [52]. Bauchdeckenverschluss schrittweise im Rahmen mehre-
rer programmierter Folgeeingriffe durchgeführt werden.
Merke Die Rückverlagerung des Laparostomas wird sekundär
Zukünftige Entwicklungen haben die weitere Opti- mindestens 3 Monate, besser 6 Monate nach Anlage
mierung der Konzepte zur Behandlung schwerver- durchgeführt.
letzter Patienten zur Aufgabe und werden voraus-
sichtlich von einer weiteren Bündelung der Versor-
gung an hochspezialisierten Zentren geprägt sein.
Beckentrauma
Instabile Beckenringverletzungen gehen mit einer Zerrei-
ßung des hinteren Beckenrings und ausgedehnten vital
Thoraxtrauma bedrohlichen retroperitonealen Blutungen aus den venö-
Die chirurgische Akutmaßnahme zur Behandlung des sen präsakralen und paravesikalen Plexus und aus dem
schweren Thoraxtraumas mit (Hämato-) Pneumothorax Frakturareal einher [53]. Sie erfordern eine notfallmäßige
besteht in der Anlage einer Thoraxdrainage über eine sofortige Therapie mit geschlossener Reposition des Be-
sog. Minithorakotomie. Diese wird bevorzugt in der Bü- ckenrings und externer Fixierung mit einer Beckenschlin-
lau-Position (4.–5. Interkostalraum in der vorderen Axil- ge (wenn nicht schon am Unfallort oder während des
Bei Schwerstverletzten kommt das Konzept der notfall- Alternativ kann bei arterieller Blutung und kompensier-
mäßigen Tamponade (sog. Packing) und passagerer pro- ten Patienten die selektive Angioembolisation im Becken
visorischer Bauchwanddeckung, z. B. durch Verwendung interventionell-radiografisch durchgeführt werden. Dazu
einer Versiegelung mit leichtem Unterdruck (< 50 mmHg), ist es notwendig, dass der Zustand des Unfallverletzten
zur Anwendung [59]. Bei verletztem Darm mit der Not- intensivmedizinisch überwacht wird, um bei einer Ver-
wendigkeit zur Teilresektion ist die Anlage eines temporä- schlechterung ggf. sofort den Verfahrenswechsel auf
ren Laparostomas oder auch temporärem Blindverschluss eine offene chirurgische Intervention einleiten zu kön-
notwendig. nen.
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Gerinnungsmanagement
Gerinnungsstörungen treten bei Polytraumapatienten
häufig auf. Bei ihrer Ankunft im Schockraum zeigen fast
30 % der Betroffenen eine Störung des Gerinnungssys-
tems [64]. Verbluten stellt bei Polytraumatisierten gleich-
zeitig aber auch die häufigste potenziell vermeidbare To-
desursache dar [66].
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▶ Abb. 8 Fallbeispiel: a Distale Unterschenkelfraktur, Abriss der A. fibularis, Lisfranc-Luxationsfraktur und Frakturen aller Meta-
tarsalia (3-D‑Rekonstruktion). b Bei klinisch vorliegendem Fußkompartmentsyndrom Anlage einer Vakuumversiegelung nach
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Die aktuell verfügbaren Zahlen für das Jahr 2015 zeigen,
Schädel-Hirn-Trauma dass über zwei Drittel der im TraumaRegister DGU® er-
Beim schweren Schädel-Hirn-Trauma stehen die notfall- fassten Verletzten Männer waren. Der Anteil der Senioren
mäßige neurochirurgische Dekompression mit Kranioto- steigt bei einem Altersdurchschnitt von 51 Jahren kon-
mie, ggf. Blutstillung und Anlage einer intrakraniellen tinuierlich, wobei knapp ein Viertel der Betroffenen älter
Hirndrucksonde über eine Bohrlochtrepanation in der als 70 Jahre war. Über die Hälfte dieser Patientengruppe
Akutbehandlung im Vordergrund [70]. zog sich infolge eines vergleichsweise geringen Verlet-
zungsmechanismus ein relativ schweres Trauma zu [75].
Merke Diese Entwicklung bestätigt einen internationalen Trend.
Ein intrakranieller Druckanstieg über 20 mmHg gilt Um ihr gerecht zu werden, wurde im Jahr 2014 die Initia-
als Grenzwert für die Indikation zur notfallmäßigen tive AltersTraumaZentrum® gestartet, in der seit ihrem
operativen Entlastung. Start mit Stand November 2016 mittlerweile 49 Zentren
als AltersTraumaZentrum DGU® in Deutschland und der
Im weiteren Verlauf muss der Hirndruck kontinuierlich Schweiz zertifiziert sind und sich 21 weitere Zentren in
überwacht, ggf. muss der Hirndruck gesenkt werden; ge- Vorbereitung auf die Zertifizierung befinden [76].
eignete Maßnahmen sind z. B. Lagerung, Mannitol-Gabe,
erneute Operation etc. Ein schweres Schädel-Hirn-Trau- Bezüglich des mittel- und langfristigen funktionellen
ma und ein ausgeprägtes Thoraxtrauma prädestinieren Outcomes beklagen viele Betroffene eine Beeinträchti-
einen Patienten zum DCO-Konzept, allerdings können gung bei der Verrichtung alltäglicher und beruflicher Tä-
auch andere Faktoren wie nicht ausreichende Blutkonser- tigkeiten. In früheren Untersuchungen gab etwa die Hälf-
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620 von Rüden C et al. Polytraumamanagement – Behandlung … Z Orthop Unfall 2017; 155: 603–622
Punkte sammeln auf CME.thieme.de
Diese Fortbildungseinheit ist 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar.
Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter cme.thieme.de/hilfe
eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten
der Fragen!
VNR 2760512017152373504
Frage 1 Frage 4
Welches ist eine Hauptursache für die unfallbedingte Sterblich- Die FAST-Sonografie detektiert im Rahmen des Punktes C des
keit Schwerverletzter? A-B‑C-D-E-Schemas des ATLS®-Protokolls freie Flüssigkeit im …
A Sekundentod am Unfallort infolge nicht mit dem Leben ver- A Rutherford-Pouch (Leber)
einbarer Verletzungen B Garrison-Pouch (subphrenisch)
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Frage 8 Frage 10
Welche Indikationsempfehlung zur Anmeldung und Durchfüh- Welche Vorgabe macht die Deutsche Gesetzliche Unfallversiche-
rung einer Schockraumbehandlung findet sich hinsichtlich des rung (DGUV) im Schwerstverletzungsartenverfahren (SAV) be-
Verletzungsmusters in der S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerver- züglich der Ausstattung des Schockraums eines überregionalen
letzten-Behandlung? Traumazentrums?
A systolischer Blutdruck > 90 mmHg A 2 Schockräume mit einer Grundfläche von wenigstens je-
B Glasgow Coma Scale (GCS) < 11 weils 70 m2 zur gleichzeitigen Behandlung von mindestens
C periphere Nervenaffektion 4 Schwerverletzten
D offene Schädelverletzung B 3 einzeln nutzbare Schockräume in räumlicher Nähe zur
E Verbrennung > 5 % Körperoberfläche und > Grad IIa Krankenanfahrtszone, dem Hubschrauberlandeplatz, der ra-
diologischen Abteilung und den Notfall-OPs
Frage 9 C Vorhaltung von OP-Sieben für unfall-, viszeral-, neuro-, tho-
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