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Luboš Tichý*
I. Einführung
* Der Autor bedankt sich bei Jan Kalbheim, DAAD-Lektor an der juristischen Fakul-
tät der Karlsuniversität Prag, für anregende Diskussionen.
1 Zu den bemerkenswerten Beiträgen gehören: Ormand, La notion de „l´effet utile“
des traités communautaires dans la jurisprudence de la cour de justice des commu-
nauté européennes, Paris 1975; Streinz, in: FS für Everling, Due/Lutter/Schwarze
(Hrsg.), Bd. II, 1995, 491 ff.; Seyr, Der Effet utile in der Rechtsprechung des
EuGH, Berlin 2008; Potacs EuR 2009, 469 ff.; Tichý/Potacs/Dumbrovský (Hrsg.),
Effet utile, Prag 2014.
2 Für alle Stotz, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2. Aufl., 2010,
661.
3 Siehe den Spruch: ut res magis valeat quam tereat. Mehr dazu Heinze, in: Basedow/
Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des europäischen Privatrechts, 2009,
338 und Vogenauer, Auslegung vor Rechtsnormen, ibidem, 131 ff.
4 EuGH, Urt. v. 6.10.1970, Rs. C-9/70 (Franz Grad v. Finanzamt Traunstein),
Slg. 1970, I-825.
1112 https://doi.org/10.5771/9783845264783-1112
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„Effet utile“
dung wird in den Entscheidungen des EuGH jedoch praktisch nicht be-
gründet5.
Der EuGH hat jedoch bis heute den Inhalt dieses Begriffs nicht defi-
niert, und zwar trotz der Häufigkeit und der unterschiedlichen Formen sei-
ner Anwendung. Der effet utile stellt deshalb ein sehr ungenügend begrün-
detes Instrument mit einem sehr vagen begrifflichen Inhalt dar.
Der Zweck dieses kurzen Beitrags ist, den Versuch zu unternehmen,
nach einer Beschreibung (II) die Natur des effet utile im Widerspruch zur
herrschenden Meinung zu definieren (III). Infolge dieser Erkenntnis ist es
konsequent, sich mit den Voraussetzungen der Anwendung des effet utile
sowie dessen Grenzen zu beschäftigen (IV). Im letzten Teil erfolgt eine
Zusammenfassung (V).
1. Die Lage
Wie schon angedeutet, hat sich der EuGH nicht mit der Begründung der
Anwendung beschäftigt, geschweige denn, dass er deren Hintergründe er-
klären würde.
Die Antwort auf die Frage, warum er Gebrauch vom effet utile macht,
muss man im jeweiligen Kontext suchen. In den „großen“ Fällen ging es
um die grundsätzlichen Fragen des Verhältnisses zwischen dem Gemein-
schaftsrecht (Unionsrecht) und der nationalen Rechtsordnung der Mit-
gliedstaaten (II.2), in denen die bedeutendsten Doktrinen, nämlich des
Vorrangs und der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts,
und die Doktrin der mittelbaren und unmittelbaren Wirkung, getragen
durch die Idee der funktionsfähigen Integration der Gemeinschaft, ent-
wickelt wurden. Auch der Eingriff des Gemeinschaftsrechts in die natio-
nalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten stand auf dem Plan.
Schwieriger ist der Grund der Nutzung des effet utile in den weniger
wichtigen Entscheidungen zu entdecken. Hier kann man manchmal kaum
die Motive seiner Anwendung entdecken. Hier spielt der Umstand eine
Rolle, dass aufgrund der grammatikalischen oder der systematischen Inter-
pretation die Wirkung des Normenzwecks nicht durchsetzbar ist. Ganz un-
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Luboš Tichý
beantwortet wird hier die Frage gelassen, ob man immer zum denselben
Ergebnis kommt, ohne den effet utile ausdrücklich zu nennen.
Als Beispiel dient die Entscheidung Grad,6 die zur Anwendung nicht nur
der nichtumgesetzten Richtlinien, sondern auch des Primärrechts ange-
wandt werden sollte (insbesondere Urteile von Binsbergen7 und
Reyners8).
Im Urteil Grad wurde die „nüchterne“ Terminologie (effet utile, effec-
tiveness, nützliche Wirksamkeit) angewandt, die für die weitere Spruch-
praxis grundlegend war, und die man als einheitlich in allen sprachlichen
Fassungen betrachten kann. Terminologisch unterscheiden sich die Urteile
von Binsbergen und Reyners (trotz unerheblicher Verschiebungen) nicht.
Durch ihr Maß an Ingerenz in die nationalen Rechtsordnungen stellen die
Entscheidungen einen Wandel zugunsten des Gemeinschaftsrechts dar.
Den Mitgliedstaaten wurde eine zwar nur auf die Rechtsprechung be-
6 S. (Fn. 4).
7 EuGH, Urt. v. 3.12.1974, Rs. C-33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, I-1299.
8 EuGH, Urt. v. 21.6.1974, Rs. C-2/74 (Reyners), Slg. 1974, I-631.
1114 https://doi.org/10.5771/9783845264783-1112
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„Effet utile“
Trotz bahnbrechender Bedeutung dieses Urteils hat der EuGH den Mit-
gliedstaaten keine konkreten expliziten Verpflichtungen auferlegt. Im Ur-
teil ist die Durchsetzung (auch der effet utile) nicht erwähnt: die Relevanz
der Entscheidung ist erheblich, ihre Wirkung aber erst mittelbar.
9 EuGH, Urt. v. 13.2.1969, Rs. C-14/68 (Walt Wilhelm und andere v. Bundeskartell-
amt), Slg. 1969, I-1.
10 EuGH, Urt. v. 15.7.1964, Rs. C-6/64 (Costa v. E.N.E.L.), Slg. 1964, I-1141.
11 EuGH, Urt. v. 31.3.1971, Rs. C-22/70 (Kommission v. Rat (AETR)), Slg. 1971,
I-263.
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Luboš Tichý
In der Entscheidung Kreil14 ist der EuGH in die Organisation von Militär
der Mitgliedstaaten eingeschritten, obschon diese Materie nicht in der
Kompetenz der EU liegt. Trotz enormem Aufwand, der mit der Erfüllung
(Durchsetzung) der den Mitgliedstaaten auferlegten Verpflichtung verbun-
den ist, vermied der EuGH, überhaupt den effet utile zu erwähnen.
Neben den 7 bedeutendsten Entscheidungen wurden weitere 11 Urteile
kurz analysiert.15 Die Ergebnisse der zwei Gruppen von Urteilen unter-
scheiden sich praktisch nicht. Daher können die Resultate basierend auf
12 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 (Francovich), Slg. 1991,
I-5957.
13 Siehe z.B. Dänzer-Vanotti (Fn. 5).
14 EuGH, Urt. v. 11.1.2000, Rs. C-285/98 (Kreil v. Deutschland), Slg. 2000, I-69.
15 EuGH, Urt. v. 7.10.2010, Rs. C-162/09 (Lassal), Slg. 2010, I-9217 (effet utile, ef-
fectiveness, praktische Wirksamkeit); Urt. v. 2.8.1993, Rs. C-158/91 (Ministere
Public and Direction du Travail et de I’Émploi/Levy), Slg. 1993, I-4287 (le plein
effet, full efffect, praktische Wirksamkeit); Urt. v. 8.9.2010, Rs. C-409/06 (Winner
Wetten), Slg. 2010, I-8015 (la plénitude des effets, effectiveness, volle Wirkung);
Urt. v. 24.11.1992, Rs. C-286/90 (Anklagemyndigkeden/Poulsen u. Diva Navigati-
on), Slg. 1992, I-6019 (le maximum d’effet utile, the practical effect, größtmögli-
che Wirkung); Urt. v. 6.10.1976, Rs. 12/76 (Industrie Tessili Italiana/Dunlop AG),
Slg. 1976, 1473 (efficacité, fully effective, volle Wirksamkeit); Urt. v. 5.10.2004,
verb. Rs. C-397/01 – 403/01 (Bernhard Pfeiffer u.a.), Slg. 2004, I-8835 (pleine ef-
fectivité, full effectiveness, volle Wirksamkeit); Urt. v. 8.11.1983, Rs. 165/82 (Eu-
ropäische Kommission/UK), Slg. 1983, 3431 (complet effet, completely effective,
volle Wirksamkeit); Urt. v. 7.5.1998, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Services/
Landeshauptmann von Wien), Slg. 1998, I-2521 (etre efficace et utile, truly effec-
tive, volle Wirkung); Urt. v. 4.12.1974, Rs. 41/74 (Van Duyn/Home Office),
Slg. 1974, 1337; Urt. v. 21.9.1983, Rs. 205/82-215/82 (Deutsche Milchkontor
GmbH), Slg. 1983, 2633 (efficacité, effectiveness, Wirksamkeit); Urt.
v. 11.9.2003, Rs. C-201/01 (Walcher), Slg. 2003, I-8827 (plein effet, full effect,
volle Wirksamkeit).
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„Effet utile“
Das Prinzip der Effektivität und der Begriff effet utile werden relativ oft
verwechselt, was auch in der Standardliteratur nachweisbar ist.16 Es wird
auch die Meinung vertreten, dass das Effektivitätsprinzip eine Unterkate-
gorie des Effet utile ist.
Der EuGH verwendet das Prinzip der Effektivität im Zusammenhang
mit der Durchsetzung von Rechten, die durch die nationalen Gerichte und
Ämter gewährt wurden.17 Die nationalen Organe der Mitgliedstaaten sind
verpflichtet, diese Rechte und deren Schutz mit der Unterstützung der ei-
genen Rechtsordnung, falls die Rechtsinstrumente der Union fehlen, zu
gewährleisten. Dieser Schutz sollte nicht weniger nützliche Ergebnisse ha-
ben als diejenigen, die das innerstaatliche Recht für innerstaatlich gewähr-
te Rechte festlegt. Ihr Vollzug darf nicht durch die mitgliedstaatliche
Rechtsordnung unmöglich gemacht oder erschwert werden, was eine Fol-
ge der unvollständigen Gesetzgebung der EU ist. Dieses Prinzip überlässt
ihre Durchsetzung den nationalen Rechtsordnungen. Es geht nicht um ein
Auslegungsprinzip, sondern um eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten
zur effektiven Durchsetzung des Unionsrechts, die durch das Richterrecht
der Union kreiert wurde.
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Im Falle des effet utile und des Prinzips der Effektivität geht es um
zwei Begriffe, die sich in ihrer Bedeutung überlappen, ohne dass der eine
dem anderen unterworfen oder sein Teil wäre. Ihre gegenseitige Unter-
schiedlichkeit ergibt sich schon daraus, dass der effet utile durch die
Rechtsprechung des EuGH in das Unionsrecht eingeführt wurde, während
das Prinzip der Effektivität vor dem Lissabonner Vertrag aus dem Art. 10
EGV bzw. Art. 4 Abs. 3 EUV abgeleitet wurde und seit dem Lissabonner
Vertrag in den Art. 19 Abs. 1 und 2 des EUV festgeschrieben ist. Das
Prinzip der Effektivität ist dadurch eigentlich im geschriebenen Primär-
recht der EU kodifiziert.
Im Hinblick auf den effet utile und seine Anwendung muss man seine
Aufgabe in der Rechtsanwendung betonen. Diesen Begriff sollte man als
einen Begriff verstehen, der unterschiedliche Gebiete einbezieht. Man
kann hier zwischen der Anwendung von durch den Staat oder die Union
erlassenen Rechtsnormen, dem Richterrecht und der Umsetzung der
Rechtsnormen des Unionsrechts unterscheiden. Und um die Umsetzung
des Unionsrechts (im weiteren Sinn) geht es in der Rechtsprechung des
EuGH.
Entscheidend für die Rechtsanwendung ist nicht nur eine kognitive
Vorstellung. Die Rechtsanwendung ist zwar eine Form des logischen Her-
angehens, die darin besteht, dass der Schluss über die Existenz einer
Pflicht oder eines Rechts sich aus der Rechtsnorm und den Fakten ergibt,
die unter den Anwendungsbereich dieser Rechtsnorm zu subsumieren
sind. Dieses Vorgehen ist aber um eine Vorbereitung der höheren und
niedrigeren Prämisse reicher, aus der man den Schluss ableiten kann.18
Die Vorbereitung der höheren Prämisse ist ein Ergebnis der Rechtsausle-
gung, das ein bestimmtes Maß der Unsicherheit seines Ergebnisses einbe-
zieht.19 Eine Gestaltung der höheren Prämisse ist also die Sache der Aus-
legung, aber auch der richterlichen Rechtsfortbildung. Hier wird der effet
utile eingeführt. Er verhilft dem Zweck der Rechtsnorm mit einer Intensi-
tät, die von der Auslegung des Kontexts und der höheren Prinzipien ab-
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„Effet utile“
Die Bedingungen der Anwendung des effet utile im konkreten Fall sind
nicht nur durch den Zweck der konkreten anwendbaren Rechtsnorm gege-
ben, sondern sie sind auch aus anderen Quellen bekannt, wie z.B. aus der
Rechtsprechung des EuGH und vor allem aus den Prinzipien des Unions-
Gesetzgebers. Man sollte also nicht nur die teleologische Auslegung, son-
dern auch vor allem die systematische Interpretation berücksichtigen.22 Da
die relevanten Faktoren auch nicht nur parallel, sondern gegenseitig wir-
ken können, ist die Intensität der Durchsetzung, die von dem Maß des ef-
fet utile abhängt, unterschiedlich.
Die Rechtsprechung sollte das Maß der Durchsetzung, das mit dem da-
mit verbundenen Aufwand ihrer Adressaten zusammenhängt, in der ent-
sprechenden Stufe des Adjektivs des effet utile zum Ausdruck bringen.
Relevant wird der potentielle Konflikt zwischen den Vorschriften und
den Prinzipien des Binnenmarkts einerseits und der Charta der Grundrech-
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te der Union andererseits.23 Auch der effet utile ist den Prinzipien der Sub-
sidiarität und Verhältnismäßigkeit des Unionsrechts zu unterwerfen. Diese
beiden Prinzipien, zusammen mit dem Prinzip der begrenzten Einzeler-
mächtigung, sind Maßstäbe seiner Anwendung.
Die Bedingungen für die Anwendung des effet utile sind von zweierlei
Art. Ihre Grundlage ist in der Rechtstechnik, und die Bedingung besteht in
den Lücken im System des Unionsrechts. Die andere Voraussetzung ist
die Notwendigkeit zur Durchsetzung der Rechtsnorm unter zwei Voraus-
setzungen: der Durchsetzung des Unionsrechts, um dadurch einen Beitrag
zur Integration der EU sowie der Harmonisierung des Rechts zu leisten,
oder der Gewährung von Rechten der Unionsbürger und deren Rechts-
schutz.
Der effet utile sichert, dass der Zweck der Norm erzielt wird. Bei meh-
reren möglichen Auslegungen einer unionsrechtlichen Vorschrift wird die-
jenige Auslegung gewählt, die die Wirksamkeit dieser Vorschrift zu wah-
ren geeignet ist. Bei dieser Wahl müssen die relevanten Interessen und
Werte, die für die Abstufung der Wirkung (der Intensität der Einwirkung
des Unionsrechts auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten) relevant
sind, berücksichtigt werden.
V. Zusammenfassung
Der effet utile ist ein Instrument des Unionsrechts, das ausgehend von der
Rechtsauslegung der Rechtsanwendung dient und als ein relatives Opti-
mierungsgebot zu verstehen ist. Er ist unter anderem auch durch die jewei-
lige Rechtsprechungspolitik/politische Wertgrundlage bedingt.24 Der effet
utile unterscheidet sich unter den Rechtsauslegungsmethoden vor allem
von der teleologischen Methode dadurch, dass die Durchsetzung des Ziels
der Rechtsnorm akzentuiert wird. Die Intensität oder das Maß der Intensi-
tät der Anwendung des effet utile hängt vom Kontext in der konkreten
Lage ab.
Die Intensität des effet utile wird durch ein Adjektiv zum Ausdruck ge-
bracht. Die Abstufung geht von einer nützlichen Wirkung als mildeste
Form der Einwirkung bis zur maximalen Effektivität als der intensivsten
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