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Übungsformen für die produktive Phase

Arbeitsblatt 3 (a)
Vergleichen Sie Auszüge aus zwei verschiedenen Übersetzungen eines belletristischen
Textes. Ermitteln Sie die unterschiedliche Behandlung der (mutmaßlich) im Ausgangstext
enthaltenen Präsuppositionen. Bestimmen Sie all die Elemente, die nach ihrer Meinung vom
Übersetzer zur Berücksichtigung der Verstehensvoraussetzungen des zielsprachigen Lesers
ergänzt wurden. Versuchen Sie, das Vorgehen des Übersetzers nachzuvollziehen.
A
(Aus Deng, Youmei: Phönixkinder und Drachenenkel. Schnupftabakfläschchen. Berlin. 1990)
Nachdem der Jesuit Matteo Ricci 1582 den Schnupftabak am Hofe der Ming-Kaiser eingeführt
hatte, dauerte es nicht lange, bis das Tabakschnupfen bei jedermann, vom höchsten Hofbeamten bis
zum einfachen Mann auf der Straße, populär wurde; unter der mandschurischen Qing-Dynastie
während der Regierungszeit der beiden Kaiser Kangxi (1662-1722) und Qianlong (1736-1795)
erlebte es dann seine Blütezeit. Damals mag man einen Nichtschnupfer für genauso hoffnungslos
zurückgeblieben gehalten haben wie heutzutage jemanden, der Diskotänze nicht beherrscht...
Bei einem Besuch des Kaisers Kangxi in Nanjing überreichten ihm europäische Missionare
landestypische Geschenke aller Art, doch huldvoll ließ er sie ihnen sämtlich wieder zurückgeben,
ausgenommen den "snuff", wie die Engländer den Schnupftabak nennen; den behielt er für sich.
Leser der 1760 während der Regierungszeit Kaiser Qianlongs in handgeschriebenen Kopien
umlaufenden, vom Meister der Klause des Schminkreihsteins kommentierten Version des Romans
"Die Geschichte des Steins" (nachmals als "Der Traum der Roten Kammer" bekannt geworden)
werden sich auch daran erinnern, dass der junge Herr Baoyu der Dienerin Sheyue befahl, für
Qingwen, eine andere Zofe, die infolge einer Erkältung unter Kopfweh und einer verstopften Nase
litt, den Schnupftabak aus Europa zu holen, um sie zum Niesen zu bringen, was ihr auch tatsächlich
Erleichterung verschaffte. Von Zigaretten, solange es sie schon gibt, hat man dagegen nie gehört,
dass sie sich ähnlicher Wertschätzung erfreut oder ebenso segensreiche Wirkungen gezeitigt hätten.
B

Zur Ming-Zeit, im 9. Jahr der Regierungszeit Wanli, brachte Matteo Ricci den Schnupftabak nach
China. Von da an bis zur Zeit der Kaiser Kangxi und Qianlong erlebte der Schnupftabak sein
goldenes Zeitalter und jedermann am Hof wie im Volk, alt und jung, war ihm ergeben. Wer zu
dieser Zeit nicht schnupfte, wurde, wie heute wahrscheinlich jemand, der nicht zu Diskomusik
tanzen geht, als alter Narr angesehen. Als Kaiser Kangxi Nanjing kam, brachten ihm westliche
Missionare Produkte aus ihren Heimatländern dar, die er aber alle zurückwies. Nur "Snuff" behielt
er, und einige Gelehrte sagen, hinter diesen fünf westlichen Buchstaben versteckte sich eben jener
Schnupftabak. Wer einmal den Sittenroman Der Traum der roten Kammer aus dem Jahr Gengchen
in der Regierungszeit des Kaisers Qianlong gelesen hat, mag sich daran erinnern, dass Qing Wen
sich eine Erkältung zugezogen hatte. Um sie von dem schwindeligen Kopf und der verstopften Nase
zu kurieren, ließ Bao Yu westlichen Schnupftabak herbeiholen. Den musste Qing Wen in die Nase
einziehen. Daraufhin nieste sie einige Male herzhaft. Das machte die verstopften Atemwege wieder
frei, und sie konnte erst völlig von ihrer Krankheit genesen. Auch wenn sich die Zigarette schon seit
vielen Jahren großer Beliebtheit erfreut: kamen ihr schon jemals solch hervorragende Eigenschaften
oder außerordentliche Leistungen zu?
Vergleichende Analyse

Beide Übersetzungen vermitteln den Inhalt des Originals sehr gut, sonst gibt es einige
Unterschiede zwischen Variante A und B. Ich glaube, dass man die Variante A als einheimische
bezeichnen kann. Die Variante B kann man als verfremdende Übersetzung bezeichnen.
Zum Beispiel das Wort „Hofbeamte“ in dem Text A gehört zu den deutschen Realien.
In dem Text A kann man viele deutsche Komposita finden. In dem Text B sind diese
Komposita umgeschrieben oder ausgelassen.
In dem Text A wird „Bao Yu“ als „Herr Baoyu“ übersetzt, d.h. das Wort „Herr“ zugegeben
wird.
In dem Text A kann man auch häufiger als im Text B typisch deutsche Konstruktionen und
Wortverbindungen finden. („solange es sie schon gibt“, „infolge einer Erkältung…“). In dem Text
B sind kürzere Sätze und einfachere Konstruktionen häufiger zu treffen.
Die Übersetzung A ist detaillierter und sie ist für einen zielsprachigen Leser, der keine
Kenntnisse der Geschichte Chinas geeignet. Die Übersetzung B eignet sich für einen erfahrenen
Leser, der schon Namen und Perioden dieser Zeit gut kennt.

Präsuppositionen:

 Persönlichkeiten: Matteo Ricci, Kaiser Kangxi und Qianlong, Herr Baoyu.


 Unter dem Wort „westlich“ wird „europäisch“ gemeint.

Elemente, die vom Übersetzer zur Berücksichtigung der Verstehensvoraussetzungen des


zielsprachigen Lesers ergänzt wurden:

 1582 (Text A) / zur Ming-Zeit, im 9. Jahr der Regierungszeit Wanli (Text B)


 Jesuit Matteo Ricci (Text A) / Matteo Ricci (Text B)
 europäische Missionare (Text A) / westliche Missionare (Text B)
 Qingwen, eine andere Zofe (Text A) / Qing Wen (Text B)
 Schnupftabak aus Europa (Text A) / westlichen Schnupftabak (Text B)
 unter der mandschurischen Qing-Dynastie während der Regierungszeit der beiden Kaiser
Kangxi (1662-1722) und Qianlong (1736-1795) (Text A) / von da an bis zur Zeit der Kaiser
Kangxi und Qianlong (Text B)
 „Snuff“, wie die Engländer den Schnupftabak nennen (Text A) / „Snuff“ einige Gelehrte
sagen, hinter diesen fünf westlichen Buchstaben versteckte sich eben jener Schnupftabak
(Text B)

Olha Krovitska

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