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Campus Einführungen
Herausgegeben von
Thorsten Bonacker (Marburg)
Hans-Martin Lohmann (Frankfurt a. M.)
Martin Heidegger
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 3-593-37359-9
Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
nennen. Wenn das »Denken« ein »Danken« ist, dann wird da-
mit auch gesagt, dass die Philosophie ein Gespräch ist und der
Philosoph die Fähigkeit haben muss, sich etwas sagen zu lassen,
also mehr zu hören und zu antworten statt sich im Monolog
abzuschließen. Wir müssen dem Anderen dankbar sein, weil er
uns denken lässt.
Häufig hat Heidegger betont, dass jeder Philosoph nur eine
einzige Frage habe. Seine war die »Frage nach dem Sinn von
Sein«. Sie ist nur zu verstehen aus dem Anfang der europäi-
schen Philosophie bei Platon und Aristoteles. An diese Denker
lehnt sich Heidegger an, wenn er vom »Sein selbst«, vom »Sei-
enden« und vom »Seienden im Ganzen« spricht. Doch es darf
nicht verkannt werden, dass Heidegger in seinen ersten phäno-
menologisch-hermeneutischen Vorlesungen als Privatdozent in
Freiburg zunächst die »Faktizität des Lebens« thematisiert.
Ohne den Blick auf das volle Leben ist die »Seinsfrage« nicht zu
verstehen. Wenn man daher Heideggers Denken zunächst als
»Existenzphilosophie« rezipierte, traf man in der Verkürzung
etwas Richtiges. Die »Seinsfrage« ist sozusagen die Existenz-,
die Lebensfrage. Das »Faktische« blieb immer im Spiel, auch
wenn sich Heideggers Denken in den dreißiger Jahren in die
»Geschichte des Seyns« begibt.
Als das erste Hauptwerk Heideggers gilt das Fragment
gebliebene Sein und Zeit aus dem Jahre 1927. Ohne ein genaues
Studium dieser Schrift bleibt Heideggers gesamtes Werk unzu-
gänglich. Hier präsentiert sich sein Denken als »Daseinsana-
lytik«, im Grunde als eine Analyse des »faktischen Lebens«.
Doch nach seiner eigenen Interpretation hat er dabei das Fra-
gen nach dem »Sein selbst« zu sehr aus der Perspektive des
Lebens initiiert. Eine Modifikation des Denkens wurde nötig.
Diese Modifikation wird zumeist mit dem Begriff der »Keh-
re« zu fassen versucht. Im Denken nach Sein und Zeit soll das
Fragen nicht mehr beim »Dasein«, sondern beim »Sein selbst«
beginnen, um von dort auf das Leben des »Daseins« zurückzu-
16 Einleitung
Zugang zu ihm ist. Diese Erfahrung hat nichts oder nur wenig
mit einem empiristischen Begriff von Erfahrung zu tun. Hei-
deggers Verständnis von Erfahrung ist stets eingebettet in ein
bestimmtes Pathos. Eine Erfahrung wird nicht »gemacht«, son-
dern erlitten. Sie ist immer eine pathische Erfahrung.
Aus diesem Sachverhalt ergibt sich schon für den frühen Hei-
degger ein Problem, das ihn bis zuletzt bewegen wird. Wenn
Erfahrung der eigentliche Zugang zum Grundphänomen der
Philosophie ist, wenn der Philosoph nur dann über sein Thema
sprechen kann, wenn er dieses Thema »lebt«, dann muss die
Frage nach der »Wissenschaftlichkeit« von Philosophie über-
haupt gestellt werden. Für gewöhnlich halten wir die Philoso-
phie für eine Wissenschaft. Diese charakterisiert Heidegger als
»erkennendes, rationales Verhalten« (GA 60, 8). Doch das
Leben besteht nur am Rande in einem solchen »Verhalten«.
Zumeist erfahren wir unser Leben gerade nicht »erkennend«.
Deshalb macht Heidegger früh darauf aufmerksam, dass »das
Problem des Selbstverständnisses der Philosophie« »immer zu
leicht genommen« wurde. Ist das Leben das Thema der Philo-
sophie, und ist dieses Thema nur dadurch zu erreichen, dass
auch der Philosoph seinem Leben nicht aus dem Wege geht,
dann kann geschlossen werden, »daß die Philosophie der fakti-
schen Lebenserfahrung entspringt«. Für Heidegger ist die Phi-
losophie von Anfang an eine endliche Tätigkeit des Denken-
den – so endlich das Leben, so endlich ist auch das Denken, das
dieses volle Leben thematisiert. Die Philosophie, die der »fak-
tischen Lebenserfahrung entspringt«, »springt [. . .] in diese
selbst zurück«. Daraus ergibt sich eine Verstrickung des Den-
kens in das Leben, die es schwierig macht, das »Ideal der Wis-
senschaft« für die Philosophie aufrecht zu erhalten.
Diese anfängliche Einsicht in die Verstricktheit von Denken
und Leben hat Heidegger schon früh dazu getrieben, über das
Verhältnis von Philosophie und Universität nachzudenken. Be-
reits im Kriegsnotsemester 1919 bespricht Heidegger die Mög-
24 Philosophie des Lebens
tigen. Dies leistet sie nach Heidegger mit der so genannten »for-
malen Anzeige«. Sie ist eine hermeneutische Methode, welche
das »Faktische« »dahingestellt« sein lässt, »formal« auf es hin-
zeigt, ohne es mit einer vorgegebenen philosophischen Begriff-
lichkeit so zurechtzuschneiden, dass es seinen unmittelbaren
Sinn verliert. Für die »Hermeneutik der Faktizität« hat die
»formale Anzeige« eine »unumgängliche Bedeutung« (GA 59,
85), weil sie die Geltungsansprüche der philosophischen Be-
griffsordnungen einschränkt. Die »formale Anzeige« versucht
das »Faktische« in der Philosophie so erscheinen zu lassen, wie
es ist.
Die »Bedeutsamkeiten«, die wir im Leben verstehen und
auslegen, bilden einen bestimmten zeitlichen Zusammenhang
aus. Wir leben nicht nur im Heute, sondern haben es mit Bedeu-
tungen zu tun, die uns von früheren Generationen überliefert
werden oder die noch aus der Zukunft auf uns zukommen. Das
»faktische Leben« ist ein Leben in der Geschichte. Der frühe
Heidegger bezeichnet dieses Phänomen als »das Historische«
(GA 60, 31). Er geht so weit zu behaupten, dass der Begriff des
»Faktischen« nur vom »Begriff des ›Historischen‹ her ver-
ständlich« wird. Denn das »Faktische« unseres Lebens ist im-
mer auf die eine oder andere Weise von der Geschichte her
bestimmt. Wer kann zum Beispiel noch ein Flugzeug besteigen,
ohne sich unwillkürlich an die Bilder vom Anschlag auf das
World Trade Center zu erinnern?
Mit diesem Phänomen hängt zusammen, dass das »Histori-
sche« nicht bloß als Gegenstand der Geschichtswissenschaft
aufgefasst werden darf. In der Geschichtswissenschaft wird das
»Historische« nicht mehr aus der »Faktizität des Lebens« her
verstanden, sondern als ein zu erforschender Gegenstand ob-
jektiviert. Heidegger geht es um die »unmittelbare Lebendig-
keit« des »Historischen« oder, wie er anschaulich sagt, um die
»lebendige Geschichtlichkeit, die sich in unser Dasein gleich-
sam eingefressen hat« (ebd., 33). Die »lebendige Geschichtlich-
28 Philosophie des Lebens
keit« teilt sich uns vordringlich aus der Überlieferung mit. Eine
»lebendige Geschichtlichkeit« ist eine kulturelle Erbschaft, die
wir in der Geschichtswissenschaft vergegenständlichen kön-
nen, in der wir (und das heißt auch die Historiker) aber primär
»leben«. Die Fundamente der europäischen Kultur in der grie-
chischen Philosophie, dem römischen Rechtsdenken und der
christlichen Religion bilden eine »lebendige Geschichtlich-
keit«. Überall lassen sich ihre Spuren im »faktischen Leben«
auffinden. Um ein Beispiel zu nennen, sei auf die Shoah verwie-
sen. Sie hat einerseits immer wieder Einfluss auf unser alltägli-
ches Leben, kann aber andererseits zum Gegenstand der Ge-
schichtswissenschaft gemacht werden. Für Heidegger hat die
»unmittelbare Lebendigkeit« der Geschichte einen Vorrang vor
ihrer Vergegenständlichung in der Wissenschaft. Dieser Vor-
rang ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass das »faktische Le-
ben« selbst stets den Bezugspunkt bilden soll, an den die Ge-
schichte zurückgebunden bleibt. Geschichte ist für ihn immer
hier und jetzt gelebte Geschichte. Wenn sie zu einem reinen
Wissensobjekt gemacht wird, wird ihr eigentlicher Sinn ver-
fehlt. Später wird sich dieser Gedanke, dass Geschichte vor-
dringlich gelebte Geschichte ist, zuweilen in einer unbändigen
Wut auf die Geschichtswissenschaft Luft machen, da sie nach
Heidegger den Kontakt mit der »lebendigen Geschichtlichkeit«
verloren hat.
Heideggers frühe Wendung zur Geschichte ergibt sich syste-
matisch aus der Bestimmung einer »phänomenologischen Her-
meneutik der Faktizität«. Das »faktische Leben« ist in sich ge-
schichtlich verfasst. Ich habe gezeigt, inwiefern sich aus dieser
Bestimmung der Philosophie gewisse methodische Probleme
ergaben. Erstens entsteht eine Spannung im Verhältnis von Phi-
losophie und Wissenschaft. Wissenschaftlichkeit, wie sie bei-
spielsweise Max Weber definiert, besteht in einer Vorausset-
zungsfreiheit der Perspektive, die wir im »faktischen Leben«
niemals einnehmen oder auch nur anstreben. In ihm geht es
Phänomenologie und Hermeneutik 29
In einem kurzen Text aus dem Jahre 1954 erinnert sich Heideg-
ger an seine Kindheit:
»In der Frühe des Weihnachtsmorgens gegen halb vier Uhr kamen die
Läuterbuben ins Mesmerhaus. Dort hatte ihnen die Mesmermutter
den Tisch mit Milchkaffee und Kuchen gedeckt. Er stand neben dem
Christbaum, dessen Duft von Tannen und Lichtern noch vom Hl.
Abend her in der warmen Stube lag. Seit Wochen, wenn nicht das
ganze Jahr, freuten sich die Läuterbuben auf diese Stunde im Mesmer-
haus. Worin mag sich ihr Zauber verborgen haben?« (GA 13, 113)
der ihn auffassen möchte. Dass die Gegenwart mit dem »Sinn
der Geschichte« verknüpft ist, verweist auf das Verhältnis von
Geschichte und Zeit. Das Leben in der Geschichte ist ein in sich
zeitliches Phänomen. Das leuchtet darum unmittelbar ein, weil
die Geschichte Fakten und Daten enthält, die vergangen sind.
Aber diese haben nicht bloß als Vergangenes eine Bedeutung.
Indem wir uns aus der Gegenwart heraus mit der Geschichte
auseinandersetzen, hat sie eine Bedeutung für das »faktische
Leben« hier und jetzt.
Die Frage nach der Geschichte wirft das Problem der »Zeit-
lichkeit« des »faktischen Lebens« auf. Die phänomenologische
Denkweise gebietet, dieses Verhältnis von Geschichte und »Zeit-
lichkeit« in der »ursprünglichen faktischen Erfahrung von Zeit-
lichkeit« selbst zu explizieren. Diese »faktische Erfahrung« der
»Zeitlichkeit« untersucht Heidegger im Blick auf die »urchrist-
liche Religiösität«. Sie ist für ihn die »faktische Lebenserfah-
rung« selbst. Denn: »Die faktische Lebenserfahrung ist histo-
risch. Die christliche Religiosität lebt die Zeitlichkeit als sol-
che.« (Ebd.,80) Der Schlüssel zur Interpretation der christlichen
Existenz ist das Faktum, dass sich das urchristliche Leben als ein
Vollzug der »Zeitlichkeit als solcher« und damit genuin als ein
Leben in der Geschichte darstellt.
Um diese Zusammenhänge deutlich werden zu lassen, führt
Heidegger eine Interpretation der im Neuen Testament über-
lieferten zwei Briefe an die Thessalonicher (ebd., 87 ff.), die er
beide dem Paulus zuschreibt, durch. Aus dieser Auslegung
extrahiert Heidegger die Grundzüge einer »urchristlichen Reli-
giösität« bzw. einer »christlichen Existenz«.
Das »Ziel« der »urchristlichen Religiösität« ist das »Heil«
(soterı́a) und das »Leben« (zoé). Aus diesen beiden Polen sei
»die Grundhaltung des christlichen Bewußtseins« zu verste-
hen. Der urchristliche Bezug zum Heil und zu dem aus diesem
Bezug entspringenden Leben sei nur aus einer spezifischen Situ-
ation der Existenz zu verstehen. Das Heil wird »verkündigt«
34 Philosophie des Lebens
und mit ihm der Anspruch verbunden, das alltägliche, von vor-
christlichen Gewohnheiten geprägte Leben hinter sich zu las-
sen. In der »urchristlichen Existenz« geht es um einen »vollen
Bruch mit der früheren Vergangenheit, mit jeder nicht-christli-
chen Auffassung des Lebens« (ebd., 69). Dieser »volle Bruch«
betrifft die Vergangenheit der jeweiligen Existenz. Zugleich
besteht er in einer »absoluten Umwendung« (ebd., 95). Es geht
nicht nur darum, dasjenige, was einst als Gewohnheit galt, hin-
ter sich zu lassen, sondern sich einer anderen Existenzweise
zuzuwenden, indem diese als eine Möglichkeit des Lebens über-
nommen und realisiert wird.
Mit diesem »vollen Bruch« erhält das christliche Leben eine
ganz eigentümliche Charakteristik. Die »absolute Umwen-
dung« als »Bruch« ist nicht als sukzessive Veränderung zu ver-
stehen. Im »Bruch« hört augenblicklich etwas auf, etwas an-
deres beginnt. Das christliche Leben beginnt erst dann, wenn
dieser »Bruch« vollzogen wird. Dabei ist es nicht so, als würde
das anders angefangene Leben vom handelnden Subjekt her-
stammen. Die »Faktizität« des christlichen Lebens kann »nicht
aus eigener Kraft gewonnen werden«, sie »stammt von Gott«
(ebd.,121). Die christliche Existenz ist sich dessen bewusst, dass
sie der »Gnade« Gottes entspringt. Christ zu sein steht ur-
sprünglich nicht im Vermögen des Menschen. Die christliche
Existenz ist eine Gabe Gottes, die nur durch jenen »Bruch«, der
eine vergangene Zeit beendet und eine neue Gegenwart er-
schließt, zu empfangen ist.
Diese Zuwendung zu einer neuen Gegenwart ist für die
»urchristliche Faktizität« damit verbunden, dass Jesus Chris-
tus seine Wiederkehr angekündigt hat. Dadurch entsteht in der
Gegenwart eine eigentümliche Spannung, die nicht nur Auswir-
kungen auf das Zukünftige, sondern auf das Leben jetzt und
hier hat. Das Heil ist nicht aus der Gegenwart allein zu gewin-
nen. Es kommt vielmehr auch aus der Zukunft. Dadurch gerät
das Leben in der Gegenwart in eine »Bedrängnis«. Die »Erwar-
Die urchristliche »Faktizität des Lebens« 35
Als Heidegger im Jahre 1927 sein Werk Sein und Zeit erschei-
nen lässt, hatte er seit elf Jahren nichts mehr publiziert. Das
Buch veränderte die Diskussionslage zunächst der deutschen
und dann der europäischen Philosophie – es gilt heute als eines
der wichtigsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts.
Selbst der Heidegger sehr kritisch begegnende Jürgen Haber-
mas merkt zum Erscheinen von Sein und Zeit an: »Noch von
heute aus gesehen bildet dieser neue Anfang den wohl tiefs-
ten Einschnitt in der deutschen Philosophie seit Hegel.«1 Doch
Sein und Zeit beeinflusste nicht nur die Philosophie des Jahr-
hunderts. Das Buch rief darüber hinaus sowohl eine theologi-
sche als auch eine literaturwissenschaftliche Rezeption hervor.
Künstler und Dichter ließen sich von ihm inspirieren.
Mit Sein und Zeit erscheint der Denker Heidegger auf der
großen Bühne der Philosophie. Um die ungeheure Wirkungsge-
schichte dieses Buches zu verstehen, reicht es nicht aus, allein
die sich in ihm ereignenden theoretischen Revolutionen zur
Kenntnis zu nehmen. Sein Erfolg ist ohne Zweifel auch mit dem
Stil verbunden, in dem dieses Werk zu seinen Lesern spricht. Es
handelt sich um jenen charakteristischen Schreibstil, der seit-
dem Leser ebenso verzaubert wie abschreckt. Der Germanist
Emil Staiger beispielsweise spricht von »der finsteren Gewalt
der Sprache« Heideggers, die ihn bei der ersten Lektüre von
Sein und Zeit »unwiderstehlich« gefesselt habe. Zwar handele
es sich um eine von der Öffentlichkeit »vielgeschmähte Spra-
che«. Doch Staiger bekennt, dass sie ihm »als eine der größ-
ten Leistungen auf dem Gebiet der philosophischen Prosa er-
scheint«.2 Wie auch immer ein Leser Heideggers Schreibstil
erfährt und beurteilt, wie auch immer wir das Verhältnis von
Stil und Philosophie betrachten, ohne Zweifel stellt Heideggers
Prosa ähnlich wie Hegels oder Nietzsches Texte eine kostbare
Besonderheit der deutschen Sprache dar.
Sein und Zeit ist Fragment geblieben. Die ersten sechs Aufla-
gen trugen den Untertitel »Erste Hälfte«. Gemäß dem im § 8
des Buches vorgestellten »Aufriß der Abhandlung« hat Heideg-
ger von zwei vorgesehenen Teilen nicht einmal den ersten voll-
endet. Die Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester
1927 Die Grundprobleme der Phänomenologie enthält jedoch
den überarbeiteten dritten Abschnitt, den Heidegger als Schluss-
abschnitt des ersten Teils vorgesehen hatte. Die Frage, ob Hei-
degger bereits über Partien der nicht veröffentlichten Teile ver-
fügte und sie vernichtete, weil er sie für unzureichend erachtete,
ist legendär. Nach allen diese Frage betreffenden bekannten
Zeugnissen müssen wir tatsächlich annehmen, dass der Denker
eine Fortsetzung von Sein und Zeit zurückgehalten hat. Das
Schicksal, Fragment geblieben zu sein, teilt Sein und Zeit mit
anderen großen Werken des 20. Jahrhunderts wie den Roma-
nen Kafkas oder Musils Der Mann ohne Eigenschaften.
In Sein und Zeit nimmt Heidegger den Faden, den er in sei-
nem Natorp-Bericht sowie in seiner Vorlesung über Platons
Sophistes zu knüpfen begann, wieder auf. Er stellt die Frage
nach dem »Sinn von Sein«, will sie auf ein »Fundament« brin-
gen, sodass der Philosoph das Denken von Sein und Zeit »Fun-
damentalontologie« nennt. Zum Ausgangspunkt seiner Ant-
wort wählt Heidegger ein »exemplarisches Seiendes« (GA2, 9).
Dieses »Seiende« ist eines, dem es »in seinem Sein um dieses
Sein selbst geht« (ebd., 16), ein »Seiendes«, das sich nicht nur
um sich, sondern auch um das »Sein selbst« zu sorgen vermag,
das sich also von allem anderen »Seienden« dadurch unter-
scheidet, dass es »Seinsverständnis« hat. Dieses »Seiende« ist
der Mensch. Der Mensch »versteht« »Sein«, indem er nach ihm
zu fragen vermag. Doch Heidegger gibt diesem »Seienden«
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 51
einen eigenen Titel oder Namen. Das »Seiende«, das nach dem
»Sein« zu fragen vermag – der Mensch –, ist das »Dasein«.
Mit dieser Bezeichnung hat es eine besondere Bewandtnis.
Die Aussage, der Mensch bzw. das, was den Menschen als einen
solchen ausmache, sein »Wesen«, sei, insofern er eben seins-
verstehend sei, das »Dasein«, schließt nicht aus, dass das Wesen
des Menschen auch anders bezeichnet werden könnte. Bei Pla-
ton z. B. ist der Mensch das Lebewesen, das zu tanzen vermag
(Nomoi, 653 e), nach Aristoteles ist der Mensch das politische
oder das Sprache habende Lebewesen (zôon politikón bzw.
zôon lógon échon, Politeia, 1253 a), im Christentum ist er das
Geschöpf (ens creatum) im Unterschied zum Schöpfer (ens
increatum). Dieser Galerie der Wesensdefinitionen in Bezug auf
den Menschen könnten noch andere hinzugefügt werden.
Daraus entsteht eine Beliebigkeit, die Heidegger mit seiner fun-
damentaleren Wesensbestimmung als »Dasein« zu überwinden
sucht.
Sein und Zeit formuliert nicht die Aussage: der Mensch ist
»Dasein«, sondern es sagt: das »Dasein« ist Mensch. Es ist
nicht der Fall, dass der Mensch als Grund verschiedener Defini-
tionen fungiert, von denen eine »Dasein« heißt. Auch versteht
Heidegger das »Dasein« nicht als eine Eigenschaft des Men-
schen. Vielmehr ist das »Dasein« der Grund, von dem aus der
Mensch der sein kann, der er ist. Indem das »Dasein« dieses
Fundament ist, kann sich der Mensch auch als politisches oder
Sprache habendes Lebewesen bestimmen.
Das »Dasein« ist keine Eigenschaft eines Gegenstandes
»Mensch«. Das »Dasein«, so Heidegger, ist das »Sein des Da«
(ebd., 316). Das »Da« dürfen wir nicht in dem Sinne verstehen,
wie wir sagen können, »da« ist ein Mensch. Das »Da« ist kein
deiktischer Begriff. Das »Da« kennzeichnet vielmehr die »Er-
schlossenheit« oder »Offenheit« für das Verstehen des »Seins«
überhaupt. Dass es ein Verstehen und Begreifen geben kann,
das ermöglicht die »immer schon« aufgebrochene »Offenheit«
52 Die Frage nach dem Sein
»Wenn uns in unserem Bereich dergleichen wie ein Mensch als ein
Befremdliches begegnet, wie fragen wir ihm entgegen? Wir fragen
nicht unbestimmt, was, sondern wer er sei. Wir erfragen und erfahren
den Menschen nicht im Bereich des So oder Was, sondern im Bereich
des Der und Der, der Die und Die, des Wir.« (GA 38, 34)
Wenn wir uns vor einem Hund fürchten, dann befindet sich
das Bedrohliche vor uns. Die Bedrohung ist ziemlich genau aus-
zumachen. Wenn dieses Vieh dort mich hier beißt, wird das
unangenehme Folgen nach sich ziehen. In der »Angst« gibt es
ein solches Hier und Dort nicht. Ich nehme ein weiteres Beispiel
zur Hilfe. Wir ängstigen uns vor einer Prüfung. Wir haben diese
»Angst« auch, ohne dass wir unmittelbar vor einer Prüfung ste-
hen. Wir haben sie sogar selbst dann, wenn wir faktisch keine
Prüfung zu absolvieren haben. Es genügt einfach, an die Prü-
fungssituation zu denken. Die »Angst« hängt nicht von der
Anwesenheit eines bestimmten Seienden ab. Dies ist nach Hei-
degger ein wichtiges Charakteristikum der »Angst«: »Daß
das Bedrohende nirgends ist, charakterisiert das Wovor der
Angst.« (Ebd., 248) Wir können nicht sagen, an welchem Ort
sich das befindet, wovor wir uns ängstigen. Dieser Sachverhalt
ist nicht etwa ein Einwand gegen die »Angst«, er macht gerade
den positiven Gehalt des Phänomens aus. Es gehört zur
»Angst«, dass wir ihr Objekt nicht lokalisieren können: »Das
Drohende kann sich deshalb auch nicht aus einer bestimmten
Richtung her innerhalb der Nähe nähern, es ist schon ›da‹ – und
doch nirgends, es ist so nah, daß es beengt und einem dem Atem
verschlägt – und doch nirgends.« (ebd., 248) Wer »Angst« hat,
kann auf das, wovor er sich ängstigt, nicht zeigen. Es »beengt«,
ist unsichtbar, ist überall und nirgends.
Dass jenes, wovor wir uns ängstigen, »nirgends« ist, ver-
weist auf seinen ontologischen Status. Das, wovor wir »Angst«
haben, ist kein Ding, keine Sache. Das kann Heidegger mit
einer Redensart andeuten: »Wenn die Angst sich gelegt hat,
dann pflegt die alltägliche Rede zu sagen: ›es war eigentlich
nichts‹.« (ebd., 248) Das, wovor wir »Angst« haben, ist eigent-
lich »nichts«. Was ist dieses »Nichts«? Zunächst erkennen wir,
dass in der »Angst« kein Gegenstand erscheint. In der »Angst«
gibt es nichts »Seiendes«. Doch dieses »Nichts« ist nicht etwas
ganz und gar nichtiges, es kann, obschon es nichts »Seiendes«
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 61
3 Peter Handke, Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975
– März 1977), Salzburg 1997.
62 Die Frage nach dem Sein
wir in der »Angst« uns vor uns selbst ängstigen. Das »Man«
überlässt sich der Zerstreuung in den vielfältigen Unterhaltun-
gen, weil es sich davor ängstigt, das »Gewicht der Welt«, mit-
hin sich selbst tragen und ertragen zu müssen.
Heidegger betont, dass die »Angst« nicht nur ein »Wovor«,
sondern auch ein »Worum« hat. Dasjenige, »wovor« und »wo-
rum« wir uns ängstigen, ist identisch. Wenn das »Man« die
Zerstreuung sucht, weil es »Angst« vor dem »Gewicht der
Welt« hat, dann hat es »Angst«, diese Zerstreuung bietende
Welt zu verlieren: »Die Angst benimmt so dem Dasein die Mög-
lichkeit, verfallend sich aus der ›Welt‹ und der öffentlichen Aus-
gelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück,
worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-
können.« (Ebd., 249) In der »Angst« sind das, »wovor« und
»worum« wir »Angst« haben, dasselbe. Wir haben »Angst«
vor unserem und um unser »In-der-Welt-sein-können«. Wir
können diese Differenz in der erfahrenen »Angst« kaum aus-
einander halten. Es scheint ein Paradox zu sein, dass derjenige,
der aus Kummer und Verzweiflung sich um sein Leben ängstigt,
zugleich vor diesem »Angst« hat. Doch indem ein solches
Leben aus nichts anderem als aus Verzweiflung besteht, wird
deutlich, dass die »Angst«, das Leben zu verlieren, eben aus
diesem Leben selbst hervorgeht. In der »Furcht« übrigens kon-
vergiert das »Wovor« mit dem »Worum« nicht. Wir fürchten
uns nämlich vor dem Hund und um unsere Hosen.
In der »Angst« wird uns deutlich, inwiefern wir uns zugleich
um unsere und vor unseren Lebensmöglichkeiten ängstigen.
Die »Angst« betrifft unser »Dasein«. Sie betrifft es aber nicht
nur von Fall zu Fall. In »Angst« versetzt steht unser ganzes
»Dasein« auf dem Spiel. Die »Ganzheit« des »Daseins«, die
Heidegger in der »Daseinsanalytik« von Sein und Zeit im Blick
hat und zu beschreiben sucht, zeigt sich in der »Angst«. Dass es
so etwas wie eine »Ganzheit« des »Daseins« gibt, erfahren wir
in dieser »Grundbefindlichkeit«. Indem die »Sorge« eine zen-
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 63
5 Emmanuel Lévinas, Gott, der Tod und die Zeit, hg. v. Peter Engel-
mann, Wien 1996, S. 22.
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 67
halb des Verhältnisses von »Dasein« und »Sein« auf die Seite
des »Seins« kündigt sich in den letzten Sätzen von Sein und Zeit
an. Diese Gewichtsverlagerung hat Heidegger später selbst
»Kehre« genannt. Das nach Sein und Zeit folgende Denken
Heideggers hat das Verhältnis von »Dasein« und »Sein« nie-
mals endgültig verlassen. Aber es hat sich nicht mehr als »Da-
seinsanalytik«, sondern als ein »Denken des Seins« verstanden.
In diesem Zusammenhang hat man dann auch des Öfteren von
einem »Scheitern« des Fragment gebliebenen Buches Sein und
Zeit gesprochen. Doch auch wenn Heidegger in zum Teil noch
unveröffentlichten Texten das Buch selbst destruiert, so ist es
doch stets eine Quelle geblieben, an die der Philosoph gern
zurückgekehrt ist, um seine späteren Antworten auf die Frage
nach dem »Sinn von Sein« zu klären.
das »Dasein« ständig auf das »Moderne«, ohne sich für die
Genese seiner Praxis zu interessieren. Der Grund dieses Desin-
teresses ist nach Heidegger das Verfehlen seiner Endlichkeit, die
Flucht vor der Erkenntnis, dass jedes »Dasein« ein Ende hat.
Indem das »Dasein« der »Angst« vor seiner Endlichkeit aus
dem Wege geht, vermag es nicht, die Geschichte als denjenigen
Horizont zu erkennen, der seine Praxis »immer schon« mitdis-
poniert.
Diese »fundamentalontologische« Erörterung der Geschich-
te bzw. der Geschichtlichkeit des »Daseins« strahlt weit in die
gesamte Philosophie Heidegger aus. Eine unmittelbare Folge
dieser Theorie ist die tiefgehende Differenzierung zwischen
Geschichte und Historie (ebd., 518 ff.). Die Historie erscheint
als Vergegenständlichung einer fundamentalen »Seinsweise«
des Menschen. Die »Geschichtswissenschaft« verobjektiviert
das, worin das »Dasein« »immer schon« existiert. Insofern
spricht Heidegger ihr eine gewisse Notwendigkeit für die
Selbstverständigung des »Daseins« zu. Doch im weiteren Ver-
lauf seines Denkens nimmt die Tendenz, dem Anspruch der
Historie, wahre Aussagen über die Geschichte machen zu kön-
nen, die Berechtigung zu bestreiten, zu. So schreibt er ungefähr
zehn Jahre nach Sein und Zeit:
Wenn in Sein und Zeit noch die Absicht vorherrscht, die Histo-
rie in die »Daseinsanalytik« zurückzubinden, spricht Heideg-
ger ihr später jede Kompetenz, die Geschichte zu einem Gegen-
stand der Erkenntnis machen zu können, ab. Eine der »Ge-
72 Die Frage nach dem Sein
6 Vgl. das vor allem aus dem Geist der Rache geschriebene Buch
von Victor Farı́as, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frank-
furt/M. 1989.
7 Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926 – 1969, hg.v. Lotte
Köhler u. Hans Saner, München u. Zürich 1993, S. 84.
Die Geschichtlichkeit des Daseins 75
»Und wenn gar unser eigenstes Dasein selbst vor einer großen Wand-
lung steht, wenn es wahr ist, was der leidenschaftlich den Gott
suchende letzte deutsche Philosoph, Friedrich Nietzsche, sagte: ›Gott
ist tot‹ –, wenn wir Ernst machen müssen mit dieser Verlassenheit des
heutigen Menschen inmitten des Seienden, wie steht es dann mit der
Wissenschaft?« (ebd., 111)
Die Frage nach dem »Sinn von Sein« nimmt nichts »Seiendes«
in den Blick. Doch in Sein und Zeit hatte Heidegger behauptet,
um die Frage beantworten zu können, müsse man mit der Ana-
lyse eines »exemplarischen Seienden« beginnen. Wie geschieht
dann aber der »Überschritt« von einer Analyse des »Seienden«
zur eigentlich »ontologischen Thematisierung des Seins«? Die
Philosophie als »Ontologie« ist keine »Wissenschaft« allein
des »Seienden«, sondern des »Seienden« in seinem Bezug zum
»Sein«. Mit dieser Unterscheidung scheint Heidegger den aris-
totelischen Gedanken einer »ersten Philosophie« (próte philo-
sophı́a) zu reformulieren. Sie ist für Aristoteles die Wissen-
schaft der Wissenschaften, weil sie, wie er in seinen Vorlesun-
gen zur Metaphysik (1025b, 1) erklärt, nicht bloß das sinnliche
»Seiende«, sondern auch dessen Prinzipien und Ursachen (haı̀
archaı̀ kaı̀ tà aı́tia) untersucht.
Gemäß dem methodischen Ansatz von Sein und Zeit beginnt
Die ontologische Differenz 79
Die Phase des Heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit ist
dadurch gekennzeichnet, die über die bloße »Daseinsanalytik«
hinausweisenden Gedanken des Buches aufzunehmen und
voranzutreiben. Vor allem zwei bereits im ersten Hauptwerk
anklingende Leitmotive werden immer wichtiger. Wiederholt
betont Heidegger, dass die Analysen des »Daseins« ihre Bedeu-
tung einzig und allein im Horizont der Frage nach dem »Sinn
von Sein« erhalten. Dieser habe die Aufmerksamkeit des Den-
kens zu gehören. Daneben wird die Erkenntnis wichtig, dass
die im »Sein« gegebene »Zeitlichkeit« sich als Geschichte zur
Erscheinung bringt. Das »Denken des Seins« muss gemeinsam
mit dem Phänomen der Zeit stets die Geschichte im Blick behal-
ten. Über die Geschichte nachzudenken bedeutet aber für Hei-
degger zugleich, sich philosophisch über sich selbst in der fak-
tisch geschehenden Geschichte zu verständigen. Die Philoso-
phie wird zur »Besinnung auf ihre ›Zeit‹« (GA 66, 46), wobei
wir schon hörten, dass eine solche »Besinnung« nicht histo-
risch angelegt ist, sondern das Geschehende aus dem weiteren
Bereich eines geschichtlichen Erbes zu verstehen sucht.
Zudem zeigt sich mit dem fortschreitenden Anwachsen von
Heideggers Texten in der »Gesamtausgabe« immer mehr die
Möglichkeit, sehr viele von Heideggers Schriften aus den Jah-
ren nach 1934 als eine Art philosophischer Selbstkritik seiner
philosophisch-politischen Verstrickung in den nationalsozia-
listischen Totalitarismus zu lesen. So verstanden, wäre diese
Verstrickung als eine Selbstverfehlung der Heideggerschen Phi-
losophie zu deuten. Ich möchte behaupten, dass jeder spätere
Text Heideggers ein Denken gegen den Totalitarismus darstellt;
wobei diese These nur dann sinnvoll verstanden werden kann,
wenn der Totalitarismus nicht als ein historisches Phänomen,
das von 1933 bis 1945 andauerte und dann mehr oder weniger
spurlos verschwand, aufgefasst wird.
Diese Intentionen finden nach Sein und Zeit in den erst im
Jahre 1989 veröffentlichten Beiträgen zur Philosophie (Vom
Zur Struktur des »Ereignisses« 91
Das »Ereignis« oder, wie Heidegger auch sagt, das »Seyn«, ist
nichts anderes als das »Dasein«, weil es jene Einheit von Iden-
tität und Differenz bildet, die wir bereits hinsichtlich der ent-
wickelteren Erörterung der »ontologischen Differenz« kennen
gelernt haben. Einerseits ist das »Ereignis« mit dem »ereigne-
ten« »Dasein« identisch, andererseits entfaltet es in der ihm
immanenten »Verweigerung« eine Differenz.
Was es ermöglicht, diese beiden Aspekte zusammenzuden-
ken, ist die Grundstruktur des gegenseitigen »Brauchens«. In
der »Grunderfahrung« der »Not«, die Heidegger als »Verwei-
gerung« oder auch »zögernde Versagung« anspricht, gibt es
nämlich einen Appell an den Menschen, einen initialen »Zu-
ruf«, von dem er sich »anrufen« lässt. In der »Not« spricht sich
dem Menschen dasjenige zu, was er braucht, um die »Not« zu
überstehen. Erst indem so das Eine mit dem Anderen in ein Ver-
hältnis tritt, entsteht die Einheit des »Ereignisses«. Die Mitte
oder der Angelpunkt dieser Gegenseitigkeit ist die »Kehre«
(ebd., 407). In der sehr eigentümlichen, zuweilen forcierten
Sprache der Beiträge zur Philosophie lautet das folgenderma-
ßen:
»Was ist diese ursprüngliche Kehre im Ereignis? Nur der Anfall des
Seyns als Ereignung des Da bringt das Da-sein zu ihm selbst und so
zum Vollzug (Bergung) der inständlich gegründeten Wahrheit in das
Seiende, das in der gelichteten Verbergung des Da seine Stätte findet.«
(Ebd.,407)
schaft. Es wäre eine Welt, in welcher der Mensch sich von den
aus der Neuzeit entspringenden und mit den Totalitarismen
anwachsenden Beschädigungen und Vernichtungen als befreit
vorfände. Andererseits legen viele Äußerungen Heideggers
auch den Gedanken nahe, dass das »Ereignis«-Denken viel-
mehr deskriptive als gleichsam theo-normative Züge hat. So
betont er sehr häufig, dass es an der »Geschichte des Seyns«
selbst liege, »ob es diese Wahrheit [des Seyns] und sich selbst
verschenkt oder verweigert und so erst eigentlich in seine
Geschichte das Abgründige bringt« (ebd., 93). Das ermöglicht
uns, diese gegenstrebige Struktur von »Verschenkung« und
»Verweigerung« als den wichtigsten Charakter von Geschichte
aufzufassen. Dabei muss auch hier keineswegs ausgeschlossen
werden, dass dem Menschen in einer Ethik der »Bereitschaft«
für das »Verweigerte« ein bestimmtes Denken und Handeln
offen steht. Ich werde auf dieses Problem zurück kommen,
wenn ich mich Heideggers Äußerungen über die »Götter« und
dem von ihm so apostrophierten »letzten Gott« zuwenden
werde.
kann. Die Erde ist das »Bergende«, worauf sich die Welt »grün-
den« kann.
Es gibt also in diesem Welt-Erde-Verhältnis eine auffällige
Bewegung. Die Erde drängt ins Offene, indem sie z. B. Pflanzen
wachsen lässt, deren Wurzeln in die Tiefe treiben. Die Welt, die
den Raum für die Praxis und die Poiesis freigibt, »braucht«
einen Grund, auf den sie sich verlassen kann, indem sie »auf ihn
bauen kann«. Die Bewegung, die daraus erwächst, ist eine ge-
genseitige Durchdringung, ein »Gegeneinander«. Dieses »Ge-
geneinander« hat zwei Bedeutungen. Einerseits brauchen beide
einander, um sich in entgegengesetzter Weise ausweiten zu kön-
nen. Andererseits grenzen sie sich voneinander ab und aus. Das
»Sichverschließende« lässt keine »Offenheit« zu, will die »Of-
fenheit« in sich zurücknehmen, die als solche wiederum der
»Verschlossenheit«, die im Wachsen der Pflanzen sich auszu-
dehnen sucht, entgegensteht. Das »Gegeneinander« von Erde
und Welt ist demnach ein »Streit«. Dieser »Streit« wird von
Heidegger als ein Merkmal der »Wahrheit des Seyns« betrach-
tet. Denn den »Streit zwischen Welt und Erde« (ebd., 42) gibt
es nur, »sofern die Wahrheit als der Urstreit von Lichtung und
Verbergung geschieht«. »Urstreit« und »Streit« bilden zwar
keineswegs einen Kausalnexus, so als ob eine ontologische
Bewegung die Bedingung der Möglichkeit einer Bewegung im
»Seienden« erst bereitstellen müsste. Dennoch erhält der »Ur-
streit von Lichtung und Verbergung« als der Horizont der
Geschichte einen Vorrang im »Ereignis« zugesprochen, ohne
schon das Ganze dieser Geschichte zu sein.
Heideggers Begriff der Erde ist zwar von Hölderlins Dich-
tung maßgeblich beeinflusst worden, geht aber zurück auf den
griechischen Begriff der phýsis. Das Wort phýsis verweist auf
das Verbum phýein, »wachsen«. Die lateinische Übersetzung
von phýsis mit natura rekurriert auf das Verb nasci, »Geboren-
werden«. Beide Wörter stehen im Bezug zu einem bestimmten
Phänomen. Sowohl was wächst als auch was geboren wird
106 Die Geschichte des Seins
kommt aus einem Dunkel ans Licht, erscheint aus einer Verber-
gung und entfaltet sich in einer Offenheit. Dementsprechend
übersetzt Heidegger das griechische Wort phýsis mit »das auf-
gehend-verweilende Walten« (GA 40, 16). Bei dieser Überset-
zung wird jedoch sogleich deutlich, dass der Begriff der Erde
mit dem der phýsis nicht gänzlich übereinstimmt.
So sei das »aufgehend-verweilende Walten« nicht nur das,
was wir als Natur, zu der wir die Erde rechnen, charakterisie-
ren. Natur ist für uns ein spezifischer Bereich, mit dem wir auf
verschiedene Weisen zu tun haben. Wir haben einen von Krank-
heit bedrohten Leib, pflanzen uns fort, fahren in ländliche
Gebiete in den Urlaub oder wundern uns über die Erfolge der
Naturwissenschaft. Das »aufgehend-verweilende Walten« der
phýsis geht über diesen Bereich hinaus. Phýsis »meint daher
ursprünglich sowohl den Himmel als auch die Erde, sowohl
den Stein als auch die Pflanze, sowohl das Tier als auch den
Menschen und die Menschengeschichte als Menschen- und
Götterwerk, schließlich und zuerst die Götter selbst unter dem
Geschick« (ebd., 17) – kurz gesagt, die phýsis ist das »Sein
selbst«. Demnach dürfen wir die »Erde« als phýsis-haft, aber
nicht als mit der phýsis ganz und gar identisch betrachten. Dass
die Erde auf diese Weise zur phýsis gehört, prägt allerdings
ihren Charakter auf entscheidende Weise.
Wir sind gewohnt, uns die Erde als einen Gegenstand vorzu-
stellen. Danach ist die Erde Materie und Material, wobei wir
bei dieser Betrachtung das im lateinischen materia mitzuhö-
rende Mütterliche meist vergessen. Bei dieser Auffassung der
Erde geht der ihr von Heidegger zugesprochene phýsis- oder
»seins«-hafte Charakter verloren. Die Erde ist so verstanden
nicht »das zu nichts gedrängte Hervorkommen des ständig
Sichverschließenden und dergestalt Bergenden«. Aus diesem
Bedeutungsschwund der Erde im modernen Bewusstsein lässt
sich Heideggers Skepsis gegenüber der Naturwissenschaft, die
zuweilen in unverhohlene Ablehnung umschlägt, begreifen. In
Der Streit von Welt und Erde 107
sen, haben wir die Dimension der »Bergung« bzw. die Erde ver-
gessen. Der »Streit von Welt und Erde« findet nicht mehr statt.
Warum soll das aber zu kritisieren sein? Wozu brauchen
wir so etwas wie die »Bergung« der Erde? Ich erklärte bereits,
wie Heideggers Wahrheitsverständnis als »Lichtung der Ver-
bergung« damit zusammenhängt, dass sich sowohl alles, was
sich zeigt, als auch der Bereich selbst, in dem es sich zeigt, ver-
bergen. Die »Verbergung« scheint etwas zu sein, was zur ur-
sprünglichen Weise, wie Wahrheit geschieht, hinzugehört. Wenn
wir im Horizont unseres »In-der-Welt-seins« mit den erschei-
nenden Dingen lediglich von der Möglichkeit ausgehen, sie völ-
lig erklären zu wollen, totalisieren wir ihre »Offenheit« und
vergessen, dass sich der gemäße Charakter dieser »Offenheit«
gerade darin äußert, sich zu verbergen. Wenn wir die Dinge
aber bloß als prinzipiell zu durchschauende Gegenstände auf-
fassen, entreißen wir sie ihrer ursprünglichen Verbundenheit
mit dem Dunklen. Nach Heidegger ist das der Vorgang, in dem
sich die Technik als einziges maßgebliches Verhältnis zu den
Dingen vor allen anderen möglichen Verhältnissen – vor dem
religiösen oder künstlerischen, dem philosophischen oder poe-
tischen – durchsetzt.
Die »Bergung« (GA 65, 389 ff.) steht mit der »Verbergung«
in einer Relation, meint aber nicht das gleiche Phänomen. In
dem, was Heidegger »Bergung« nennt, kommt das »Dasein«
von der Welt, vom »Offenen« her der Verschlossenheit der Erde
entgegen. Die »Bergung« lässt den Dingen den eigenen Charak-
ter der »Verbergung« zum Beispiel in einem Kunstwerk, in ei-
nem Gedicht oder in dem nicht nach Wissen suchenden Gottes-
glauben zukommen. Auch in der Liebe ist die »Bergung« die
Möglichkeit, auf Rationalisierungen zu verzichten, nicht nach
Gründen zu fragen, warum wir den Anderen lieben. Wir über-
lassen eventuelle Gründe der »Verbergung«, weil eine erklär-
bare Liebe keine mehr ist. Diese dem »Dasein« mögliche »Ber-
gung« gibt es nur im »Streit von Erde und Welt«, weil die »Ber-
Die Überwindung der Metaphysik 109
Die Geschichte der Philosophie ist nicht nur eine Spur the-
oretischer Entscheidungen. Sie eröffnet vielmehr die
Möglichkeit, über Jahrhunderte habitualisierte Praktiken
des Menschen zu verstehen. Die Geschichte des Denkens
– und das heißt auch die Geschichte der Politik – wird
durch wenige Vorentscheidungen in der Philosophie Pla-
tons und Aristoteles’ festgelegt. Sie ist eine Geschichte der
Metaphysik. Die europäische Philosophietradition geht
davon aus, dass sich die Frage nach der Wahrheit auf den
Bereich der Aussage, das heißt der Logik einschränken
lässt. Im Verlauf der abendländischen Vernunftgeschichte
110 Die Geschichte des Seins
das Ganze der Philosophie. Sie wird von früh an von zwei wei-
teren »Wissenschaften« flankiert. Die Philosophie als ganze
teilt sich in die klassischen Disziplinen Logik, Ethik und Phy-
sik.2 Wenn wir aber bemerken, dass sowohl im Bereich des
Ethischen als auch auf dem Gebiet der Naturforschung not-
wendig gedacht wird, ergibt sich eine bestimmte Vorrangstel-
lung der Logik als eines Nachdenkens über das Denken, das
alle Handlungen des Menschen begleitet, indem es sie zum Bei-
spiel begründet oder kritisiert, reglementiert oder befreit.
Doch damit ist der Sinn dessen, was unter Logik verstanden
wird, noch nicht erschöpft. In der alltäglichen Welt gibt es
»Redensarten«, die nicht zu Unrecht das wissenschaftliche Ver-
ständnis der Logik auf alltäglich Geschehendes übertragen. So
fasst man das als »logisch« auf, was »folgerichtig« ist. Hier ist
nicht die Wissenschaft der Logik gemeint, sondern »wir meinen
vielmehr die innere Folgerichtigkeit einer Sache, einer Lage,
eines Vorgangs« (GA 55, 186 ff.). Diese »Folgerichtigkeit« im
alltäglichen Leben ist ein ins Gewöhnliche abgesunkener Mo-
dus der wissenschaftlichen Logik. Die »indifferente Normal-
form der Aussage«, »a ist b«, ist ein »Grundzug des alltäglichen
Daseins« hinsichtlich seines »unterschiedslosen Verhaltens zum
Seienden als dem eben Vorhandenen« (GA 29/30, 438). An-
dersherum ist die wissenschaftliche Logik eine ausdrückliche
Formalisierung alltäglicher Denkvollzüge. Die Logik formali-
siert die in sich formale »Folgerichtigkeit« des praxisbezoge-
nen Denkens.
Zwischen der »Logik der Sachen und der Logik des Den-
kens« gibt es folglich einen Zusammenhang. Denken und Sa-
chen sind »ineinandergekehrt«, »eines kehrt im anderen wie-
der«, »eines nimmt das andere in den Anspruch« (GA 55, 196).
der Frage auseinander, wie wir das Urphänomen der Logik, den
lógos selbst, adäquat zu verstehen haben. Dabei orientiert sich
Heidegger zunächst an den Texten Platons und Aristoteles’,
später, in den dreißiger Jahren, tritt der lógos-Begriff Heraklits
in den Vordergrund.
In Sein und Zeit verdichtet sich eine Auseinandersetzung mit
dieser Frage, die bereits über eine Dekade anhält. Der lógos
wird hier als das »Existenzial« der »Rede« vorgestellt. Diese
Übersetzung bezieht ihr Recht aus dem Sachverhalt, dass der
lógos bei Aristoteles als ein deloûn, als ein Offenbarmachen
von dem, »wovon in der Rede ›die Rede‹ ist«, gedacht wird.
Davon ausgehend hat Heidegger das Phänomen der »Sprache«
in den Blick genommen. Ihr »existenzial-ontologisches Funda-
ment« sei die »Rede« (GA2, 213). »Sprache« sei bloß die »Hin-
ausgesprochenheit der Rede« (ebd., 214). »Bedeutungen« kä-
men in der Sprache »zu Wort«: »Den Bedeutungen wachsen
Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen
versehen.«, schreibt Heidegger, ohne zu erklären, wie es eigent-
lich zu dieser Differenz zwischen »Wort« und »Bedeutung«
kommen kann.
Die »Rede« sei »das ›bedeutende‹ Gliedern der Verständlich-
keit des In-der-Welt-seins, dem das Mitsein zugehört«. Insofern
ist die »Rede« all das, was in der Begegnung mit dem Anderen
sprachlich geschieht. Auch und sogar auf besondere Weise ge-
hört das »Hören und Schweigen« zu dieser Begegnung. Sicher-
lich bringt Heideggers phänomenologische Analyse der »Rede«
eine ganze Menge von Resultaten hervor. Doch es wird nicht
deutlich, inwiefern diese Analyse das »Fundament« für eine
»vollzureichende Definition der Sprache« liefern kann.
Wenn wir in Sein und Zeit kein wirkliches Ergebnis aus der
Fundierung der Sprache in der »Rede« finden können, wird
eine Intention dieser Verhältnisbestimmung, die erst später ihre
ganze philosophische Bedeutsamkeit entfaltet hat, erkennbar.
Heidegger erklärt, dass die »Grammatik« der (indo-europäi-
Die Frage nach der Sprache 121
»Mit der gewöhnlichen Sprache [. . .] läßt sich die Wahrheit des Seyns
nicht sagen. Kann diese überhaupt unmittelbar gesagt werden, wenn
alle Sprache doch Sprache des Seienden ist? Oder kann eine neue Spra-
che für das Seyn erfunden werden? Nein.« (GA 65, 78)
Dieses Darbringen besteht darin, daß im Denken das Sein zur Sprache
kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt
der Mensch.« (GA 9, 313)
Die Sprache ist kein »Instrument«, über das der Mensch ver-
fügt, mit dem er die Dinge und sich selbst beherrschen kann,
indem er sich »informiert«. Das Denken kommt zu anderen
Ergebnissen. Die Philosophie Heideggers fasst die Sprache als
eine »Behausung« auf, in welcher der Mensch »wohnt«. Der
Denker behauptet, dass zwischen unserer Art und Weise, in der
Welt zu leben, und unserer Auffassung der Sprache ein Verhält-
nis besteht. So gesehen zeigt sich eine Differenz zwischen der
Auffassung der Sprache als »Information« und derjenigen vom
»Haus des Seins« – eine Differenz, die für das »Wohnen« des
Menschen entscheidend ist. Auch an dieser Stelle unserer Ein-
führung in die Philosophie Martin Heideggers zeigt sich also
eine ethische Tendenz seines Denkens.
4.2 Hölderlin
(hýbris), die Erhebung über das dem Menschen von den Göt-
tern zugeteilte »Maß« hinaus.
Diese entgrenzende, über jedes Maß hinausgehende Macht
ist das sich totalisierende »Ge-Stell«. In seiner Totalisierungs-
tendenz ist es unendlich, entdeckt den subatomaren Elementar-
teilchenbereich und dringt immer tiefer in das Weltall vor. Die-
ser prinzipiell jede Grenze nur als überwindbar erscheinenden
Tendenz entspricht nach Heidegger ein ökonomisch kalkulie-
rendes und forschendes Denken des »Willens zur Macht«, das
sich vor allem in den Naturwissenschaften präsentiert. Dage-
gen gebe es etwas in der Dichtung, und das heißt immer primär
in der Dichtung Hölderlins, den er einmal als den »Bruder des
Sophokles« bezeichnet, das »Grenze« und »Maß«, kurz, das
»Endliche« kenne und beachte. Dies nennt Heidegger das
»Dichterische«. In seinem Hölderlin-Aufsatz »Andenken«
bestimmt er es auf folgende Weise:
»[. . .] das Dichterische ist das Endliche, was sich in die Grenzen des
Schicklichen fügt. Das Dichterische ist das Bündige, das Unangebun-
denes bindet. Das Dichterische ist das in Band und Maß Gehaltene,
das Maßvolle. Überallhin geht das Dichterische auf das Nicht-Verlas-
sen der Grenze, der Ruhe, des Bandes, des Maßes.« (GA 4, 127)
Das Sein und sein Sinn kann als die Offenheit der Welt
charakterisiert werden. Die Welt ist jedoch kein abstrak-
ter Raum, in dem Menschen und Dinge vorkommen. Sie
wird vielmehr von bestimmten Elementen strukturiert,
wobei der Aufbau dieser Struktur auf die vollständige
Konstellation der Elemente angewiesen ist. Fehlt eines,
gibt es auch die Struktur nicht. Die vier Elemente der Welt
sind Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterbli-
chen. Da die Welt die einheitliche Konstellation dieser
vier Elemente ist, nennt sie der Philosoph Geviert. Diese
Struktur dient nicht zu einer kosmologischen überkultu-
rell-invarianten Weltvorstellung, sondern geschieht oder
entzieht sich in der Geschichte. Nach Heidegger ist es die
sich totalisierende Technik, die den Menschen davon
abhält, ein Element des Gevierts zu werden.
Von Anfang an hat sich Heidegger mit der Frage nach dem ein-
heitlichen Zusammenhang, in welchem alles Seiende und
darunter als das hervorragende das »Dasein« zueinander in ein
Verhältnis kommen, auseinandergesetzt. Diese einheitliche,
alles differenzierende Struktur ist für ihn die »Welt«, die er früh
als »Umwelt«, »Mitwelt« und »Selbstwelt« unter verschiede-
nen Hinsichten betrachten kann (vgl. Kap. 1). In Sein und Zeit
ist das »Dasein« als »In-der-Welt-sein« charakterisiert. Die
»Welt« ist das, »worin« das »Dasein« lebt.
Diese Andeutung über die spezifische Räumlichkeit der Welt
lässt sofort erkennen, dass die Welt, die Alles in sich enthält,
kein Seiendes sein kann. Würde sie so gedacht, müsste sie als
eine Art von begrenztem und seinen Inhalt begrenzenden
Behälter vorgestellt werden. Einen solchen Super-Gegenstand
162 Welt und Technik
»Sein selbst« zu sein. Dass Welt und »Sein« sich in dieser Nähe
befinden, bezeugt nämlich Heideggers Äußerung aus dem
Kunstwerk-Vortrag: »Welt weltet und ist seiender als das Greif-
bare und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben.« Das
»Welten« ist ein intensiveres »Sein« als das »Sein«, das dem
bloß »Seienden« zukommt, ohne doch wie dieses gegenständ-
lich zu sein. Doch was ist ein intensiveres »Sein«?
Dieser Gedanke erinnert an die platonische Ontologie, nach
der es möglich ist, einen intensiveren Seinszustand des óntos
ón, des seienden Seienden, von einem nicht seienden Seienden,
dem mè ón zu differenzieren. Aber Heidegger denkt in eine
andere Richtung, wenn er erläuternd schreibt: »Wo die wesen-
haften Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von uns
übernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt wer-
den, da weltet die Welt.« (ebd., 31) Das intensivere »Sein« im
»Welten« besteht in einer Verdichtung von Sinn, die sich im-
mer dann zeigt, wenn »wesenhafte Entscheidungen unserer
Geschichte« anstehen. Eine solche Sinndichte konnte man am
11. September 2001 – ein Datum, das inzwischen nicht mehr
kommentiert werden muss – erfahren. Es geschah etwas, das
»Entscheidungen« evozierte. Die Welt als der einheitliche Zu-
sammenhang von Verschiedenem wurde »seiender«.
Eine solche Intensivierung von Sinn spricht auch aus den
folgenden Bestimmungen der »weltenden Welt«: »Im Welten
ist jene Geräumigkeit versammelt, aus der sich die bewahren-
de Huld der Götter verschenkt oder versagt. Auch das Ver-
hängnis des Ausbleibens des Gottes ist eine Weise, wie Welt
weltet.« Im »Welten« sind die »Götter« anwesend, indem sie
den Menschen Wohlwollen entgegenbringen oder sie, wie die
vor Troja von Hektor sich abwendende Athene, ins Unglück
gehen lassen. Davon unterscheidet Heidegger den Fall, dass
»der Gott« »ausbleibt«, indem dieses als ein »Verhängnis«
erscheint. Die Intensität des Sinnes liegt in diesem Fall darin,
dass die Abwesenheit »des Gottes« als ein »Verhängnis« erfah-
164 Welt und Technik
sich »die Vier« »Erde und Himmel, die Göttlichen und die
Sterblichen« in jeder nur möglichen Welt, unabhängig von aller
kulturellen Eigenart finden lassen. Wenn sich zwar empirisch
eine allgemeine Invarianz dieser Strukturelemente in allen Kul-
turen ausmachen lässt, so trifft eine solche Anwendung des
»Gevierts« doch nicht Heideggers Intention.
Warum das »Geviert« keine invariante, überkulturelle Welt-
struktur ist, lässt sich am besten hinsichtlich des Paares »der
Göttlichen und der Sterblichen« zeigen. Heidegger charakte-
risiert »die Göttlichen« näher als »die winkenden Boten der
Gottheit« (ebd., 17). In dieser Bestimmung orientiert sich der
Philosoph einerseits an der Gestalt des Engels. Die Engel
(angelloı́) sind die »Boten«, die sich nach christlicher Auffas-
sung im Raum zwischen Gott und Mensch befinden und Got-
tes Ratschluss verkünden (z. B. die Empfängnis und Geburt
Christi). Heidegger aber bezeichnet sie als »winkende Boten«.
Ein »Wink« ist ein Hinweis auf etwas, das verborgen ist und
möglicherweise noch kommt. Dies ist nach Heidegger die
»Gottheit«. Sie jedoch ist nicht schon »der Gott« selbst, son-
dern so etwas wie eine Dimension, in welche sich »der Gott«
erst einfinden kann. So schreibt er: »Aus dem verborgenen Wal-
ten dieser [der Gottheit, P. T.] erscheint der Gott in sein Wesen,
das ihn jedem Vergleich mit dem Anwesenden entzieht.« Die
»Göttlichen« sind noch nicht »der Gott«. Sie bereiten erst sein
Kommen vor. Damit bezieht sich Heidegger auf seinen früher
ausgeführten (vgl. Kapitel 4.3), in der zweiten Hälfte der drei-
ßiger Jahre von Hölderlin angeregten Gedanken von einem
»letzten Gott«, vom »Gott der Götter«.
Eine ähnliche philosophische Spezifikation finden wir im
Begriff der »Sterblichen«. Ohne Zweifel bezieht sich Heidegger
auf die bereits in der Ethik des Delphischen Orakels aufgekom-
mene Bestimmung des Menschen als des »Sterblichen« (thne-
tón). Diese ist dann in der griechischen Tragödie wichtig
geworden. Der Mensch ist der »Sterbliche« im Unterschied zu
Ankunft im »Geviert«? 167
schen verhindert. Für den Philosophen ist dieser Tod »in Mas-
sen« ein »grausig ungestorbener Tod«, ein Verbrechen, das
darin besteht, nicht nur das Leben, sondern darüber hinaus
auch den Tod der Menschen zu vernichten. Wie schon an ande-
ren Stellen von Heideggers Bezugnahmen auf den Tod in den
»Vernichtungslagern«, können wir auch hier eine verblüffende
Ähnlichkeit zu Hannah Arendts Totalitarismus-Analyse be-
merken, schreibt sie doch:
»Indem die Konzentrationslager den Tod selbst anonym machten [. . .],
nahmen sie dem Sterben den Sinn, den es immer hatte haben kön-
nen. Sie schlugen gewissermaßen dem einzelnen seinen Tod aus der
Hand, zum Beweise, daß ihm nichts mehr und er niemandem mehr
gehörte.«11
11 Ebd., S. 930.
12 Ebd., S. 921.
Ankunft im »Geviert«? 169
rung« bringt sich nicht als ein reiner Textcorpus zur Erschei-
nung, sie muss vielmehr – und auch hier folgt er einem Heideg-
gerschen Gedanken – »hermeneutisch erfahren«1 werden. In
dem Gedanken einer »eigentlichen Erfahrung« als »Erfahrung
der eigenen Geschichtlichkeit« kehrt Heideggers Auslegung
einer in der »Eigentlichkeit« durchsichtig gewordenen »Fakti-
zität des Lebens« wieder.
Derridas Rezeption der Heideggerschen Philosophie ist in
seinen Texten allgegenwärtig, ohne als solche immer eindeutig
erkennbar zu sein. Im Spannungsfeld von »Schrift«, »Text«
und »Sprache« erhellt Derrida einen von der Vorherrschaft des
metaphysischen Denkens hervorgetriebenen »Logozentrismus«
und »Phonozentrismus«, der die ursprünglichere Bedeutung
der »Schrift« und des »Textes« verstellt.2 Diese ursprünglichere
Bedeutung der »Schrift« kann nicht als Grund oder Prinzip
verstanden werden. Sie bleibt vielmehr von der »différance«,
einem Differieren im doppelten Sinne als »aufschieben« und
»verschieden sein«, das heißt von einem Grund verweigernden
Grund bestimmt. Obwohl Heideggers Denken einerseits in der
Geschichte des »Logozentrismus« verbleibt, beschreibt seine
Philosophie den »Abschluss (clôture)« einer Epoche, aus der
das Denken nicht herauszutreten vermag, indem es sie gleich-
zeitig verlassen hat. Die Auseinandersetzung mit dieser Epoche
ist für Derrida ein Projekt der »Dekonstruktion«, eines Abbaus
von Bedeutungen, die die »différance« verstellen, der zugleich
einen anderen Sinn oder, was im Werke Derridas immer deut-
licher wird, eine andere Ethik entfaltet.
Heideggers Philosophie bildet einen nicht zu unterschätzen-
den Einfluss auf die Texte Peter Sloterdijks. Dies zeigt sich
natürlich vor allem in seiner letzten veröffentlichten Aufsatz-
Unter ihnen befindet sich zum Beispiel »Vom Wesen des Grundes«
(1929), »Vom Wesen der Wahrheit« (1930) und ein offener Brief an
Ernst Jünger mit dem Titel »Zur Seinsfrage« (1955).
Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969
Enthält die überaus wichtigen späten Vorträge »Zeit und Sein«
sowie »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«.
In ihnen befinden sich die spätesten Modifikationen der Heidegger-
schen Philosophie von Belang.
Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit
»1809«, hg. v. Hildegard Feick, Tübingen 1971
Bringt die Freiburger Vorlesung über Schelling aus dem Sommerse-
mester 1936. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass Heidegger in
Schellings Text einführt, ohne den eigenen philosophischen Stand-
punkt gegen ihn auszuspielen.
Frühe Schriften, Frankfurt/M. 1972
Enthält unter anderem die Dissertation und die Habilitationsschrift
Heideggers sowie den Aufsatz »Der Zeitbegriff in der Geschichts-
wissenschaft«.
Vier Seminare, Frankfurt/M. 1977
Versammelt die Protokolle aus den Seminaren, die Heidegger zwi-
schen 1966 und 1973 in Le Thor und Zähringen abgehalten hat. Sie
sind für die französische Rezeption von Heideggers Denken von
größter Bedeutung.
Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt/M. 5/1981
Enthält Aufsätze und Vorträge über Hölderlins Dichtung aus den
Jahren zwischen 1936 und 1968. Heideggers Philosophie ist ohne
ein Studium dieser Texte nicht zu verstehen.
Heraklit, GA 55, hg. v. Manfred S. Frings, Frankfurt/M. 2/1987
Der Band der Gesamtausgabe bringt zwei Vorlesungen aus den
Sommern 1943 und 1944. Sie belegen Heideggers inspirierten Um-
gang mit den Sprüchen des vorsokratischen Philosophen. Heraklit
wird zu einem Zeitgenossen.
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, hg. v. Friedrich-Wil-
helm von Herrmann, Frankfurt/M. 1989
Wohl zwischen 1936 und 1938 entstandene kurze und längere sehr
dichte Aufzeichnungen, die in einen systemähnlichen Zusammen-
hang gebracht werden. Sie sind in ihrer Bedeutung mit Sein und
Zeit zu vergleichen.
Literatur 181
Ereignis Das »Ereignis« ist ungefähr seit dem Jahre 1936 (GA65) das
»Grundwort« im Denken Heideggers. Das »Ereignis« ist eine einheit-
liche, in sich differenzierte zeitlich-geschichtliche Struktur, in der ver-
184 Glossar
Faktizität des Lebens Die »Faktizität des Lebens« (GA 58, 102 ff.) ist
das Hauptphänomen für Heideggers Denken am Beginn der zwanzi-
ger Jahre. »Leben« wird hier als eine Selbstbezüglichkeit der Existenz
verstanden. Im »Leben« geht es bei allem, was wir tun und denken, um
uns. Seine »Faktizität« besteht in dieser unmittelbaren Bedeutung und
Beziehung der Erscheinungen auf unsere jeweilige Existenz. Insofern
ist die Wendung »Faktizität des Lebens« eigentlich ein Pleonasmus.
Wahrheit Anders als die von Platon und Aristoteles ausgehende Tra-
dition der europäischen Philosophie versucht Heidegger, die »Wahr-
heit« nicht als eine Eigenschaft der Aussage oder des Urteils, sondern
als eine Voraussetzung des Aussagens zu bestimmen. Die Vorausset-
zung, dass über Erscheinendes Urteile gefällt werden können, besteht
darin, dass überhaupt ein Erscheinen stattfindet. Diese Offenheit des
Erscheinens nennt der Philosoph seit Sein und Zeit »Lichtung« (GA 2,
177). Da aber diese »Lichtung« kein reines Licht ist, sondern stets an
ihre Herkunft aus der Dunkelheit gebunden bleibt, gehört zu ihr die
Dimension der »Verbergung«. Das Erscheinen von Gegenständen
erscheint nicht wie diese selbst, sondern entzieht sich simultan, indem
es erscheint. Der volle Begriff der »Wahrheit« ist darum als »Lichtung
für das Sichverbergen« (GA 65, 341) zu verstehen. Bereits in Sein und
Zeit macht Heidegger darauf aufmerksam, dass im griechischen Wort
für »Wahrheit« (alétheia) diese gegenzügige Bewegung enthalten ist:
»Wahrheit« ist »Unverborgenheit« (GA 2, 294).
Biographische Daten