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Martin Heidegger

Campus Einführungen

Herausgegeben von
Thorsten Bonacker (Marburg)
Hans-Martin Lohmann (Frankfurt a. M.)

Peter Trawny, Dr. phil. habil., ist Privatdozent an der Bergi-


schen Universität Wuppertal und Angestellter an der Albert-
Ludwigs-Universität Freiburg. Von ihm erschien »Die Zeit
der Dreieinigkeit. Untersuchungen zur Trinität bei Hegel und
Schelling« (2002) sowie »Heidegger und Hölderlin oder Der
Europäische Morgen« (2003).
Peter Trawny

Martin Heidegger

Campus Verlag
Frankfurt/New York
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 3-593-37359-9

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Umschlagmotiv: Martin Heidegger. Foto: Eric Schaal
Satz: TypoForum GmbH, Seelbach
Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Hemsbach
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.
Printed in Germany
Inhalt

Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 Philosophie des Lebens


1.1 Phänomenologie und Hermeneutik . . . . . . . . . . 19
1.2 Die urchristliche »Faktizität des Lebens« . . . . . . 30
1.3 Anfänge mit Aristoteles und Platon . . . . . . . . . . 38

2 Die Frage nach dem Sein


2.1 Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein
zum Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
2.2 Die Geschichtlichkeit des Daseins . . . . . . . . . . . 68
2.3 Die ontologische Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

3 Die Geschichte des Seins


3.1 Zur Struktur des »Ereignisses« . . . . . . . . . . . . . 89
3.2 Der Streit von Welt und Erde . . . . . . . . . . . . . . . 101
3.3 Die Überwindung der Metaphysik . . . . . . . . . . . 109
6 Inhalt

4 Denken und Dichten


4.1 Die Frage nach der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . 119
4.2 Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
4.3 Die Götter und der Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

5 Welt und Technik


5.1 Friedrich Nietzsche und Ernst Jünger . . . . . . . . . 143
5.2 Zur Zweideutigkeit des »Gestells« . . . . . . . . . . . 149
5.3 Ankunft im »Geviert«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

6 Rezeption und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Biographische Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188


Siglen

Sämtliche Schriften Heideggers werden (mit einer Ausnahme)


nach der in Frankfurt am Main im Verlag Vittorio Klostermann
erscheinenden »Gesamtausgabe« (GA) nach Band- und Seiten-
zahl zitiert.

GA 2 Sein und Zeit, (hg. v.) Friedrich-Wilhelm von Herr-


mann, 1977
GA 4 Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Friedrich-
Wilhelm von Herrmann, 1981
GA 5 Holzwege, Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1977
GA 7 Vorträge und Aufsätze, Friedrich-Wilhelm von
Herrmann, 2000
GA 8 Was heißt Denken?, Paola-Ludovika Coriando,
2002
GA 9 Wegmarken, Friedrich-Wilhelm von Herrmann,
2/1996
GA 12 Unterwegs zur Sprache, Friedrich-Wilhelm von
Herrmann, 1985
GA 13 Aus der Erfahrung des Denkens 1910 – 1976, Her-
mann Heidegger, 1983
GA 15 Seminare, Curd Ochwadt, 1986
GA 16 Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges,
Hermann Heidegger, 2000
8 Siglen

GA 19 Platon: Sophistes, Ingeborg Schüßler, 1992


GA 24 Die Grundprobleme der Phänomenologie, Fried-
rich-Wilhelm von Herrmann, 1975
GA 27 Einleitung in die Philosophie, Otto Saame und Ina
Saame-Speidel, 1996
GA 29/30 Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlich-
keit – Einsamkeit, Friedrich-Wilhelm von Herr-
mann, 1983
GA 36/37 Sein und Wahrheit, Hartmut Tietjen, 2001
GA 38 Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache,
Günter Seubold, 1998
GA 39 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«,
Susanne Ziegler, 2/1989
GA 40 Einführung in die Metaphysik, Petra Jaeger, 1983
GA 53 Hölderlins Hymne »Der Ister«, Walter Biemel,
1984
GA 55 Heraklit, Manfred S. Frings, 2/1987
GA 56/57 Zur Bestimmung der Philosophie, Bernd Heimbü-
chel, 1987
GA 58 Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20),
Hans-Helmuth Gander, 1993
GA 59 Phänomenologie der Anschauung und des Aus-
drucks, Claudius Strube, 1993
GA 60 Phänomenologie des religiösen Lebens, Matthias
Jung, Thomas Regehly und Claudius Strube, 1995
GA 61 Phänomenologische Interpretationen zu Aristo-
teles. Einführung in die phänomenologische For-
schung, Walter Bröcker und Käte Bröcker-Olt-
manns, 1985
GA 63 Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Käte Brö-
cker-Oltmanns, 1988
GA 65 Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Friedrich-
Wilhelm von Herrmann, 2/1994
GA 66 Besinnung, Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1997
Siglen 9

GA 75 Zu Hölderlin. Griechenlandreisen, Curd Ochwadt,


2000
GA 79 Bremer und Freiburger Vorträge, Petra Jaeger, 1994
NB »Phänomenologische Interpretationen zu Aristote-
les (Anzeige der hermeneutischen Situation)«, hg. v.
Hans-Ulrich Lessing, in: Dilthey Jahrbuch 6, 1989,
S.235 – 269
Einleitung

»Ach, man kann ein solches Phänomen von


verschiedenen Seiten sehen.«
Max Kommerell über Heidegger1

»Wege – nícht Werke«2, schreibt Martin Heidegger am Beginn


seiner sich auf über hundert Bände auswachsenden Gesamtaus-
gabe und will damit auf den offenen Charakter seines Denkens
hinweisen. Holzwege (GA 5), Wegmarken (GA 9) sind seine
Texte. Unterwegs zur Sprache (GA 12) ist seine Philosophie.
Der Feldweg (GA 13, 87 ff.) ist dem Denker besonders lieb. Der
Plural »Wege« weist darauf hin, dass sein Denken nicht den
einen und einzigen Weg kennt, sondern dass es auf vielen We-
gen wandert und sich zuweilen verirrt.
»Holzwege« sind eine Art Irrwege. »Wegmarken« sind Ori-
entierungspunkte, die ein Vorgänger auf seinem Weg hinter-
ließ, um denen, die selbst auf einen Weg kommen wollen, zu
helfen. Doch seinen Weg zu finden, ist keine leichte Aufgabe.
Deshalb geht Heideggers Denken mitunter in die Irre und
begibt sich auf Abwege. Es gehört zum eigentümlichen Pathos
dieser Philosophie, das Falsche, das Entlegene, auch das Obs-
kure nicht zu scheuen; vermutlich deshalb nicht, weil Heideg-
ger immer dachte, dass das Denken nah am Lebensweg, nah an
den Schicksalen der Menschen bleiben müsse.
1 Max Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen. 1919 – 1944, hg. v.
Inge Jens, Olten u. Freiburg im Breisgau 1967, S. 403.
2 Martin Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, hg. v. Friedrich-Wilhelm
von Herrmann, Frankfurt/M. 1978, S. IV.
12 Einleitung

Dieses Pathos, im Denken irren zu können, weil das Leben


irren kann, ist eines der Ärgernisse, die Heideggers Philosophie
auch heute noch immer wieder erregt. Auf der einen Seite einer
der wenigen wirklich bedeutsamen Philosophen des 20. Jahr-
hunderts – für den Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker ist er
»vielleicht der Philosoph des 20. Jahrhunderts«3 –, wird er von
vielen Kritikern massiv abgelehnt. Diese Ablehnung geht nicht
zuletzt auf Heideggers Verirrung in den Nationalsozialismus
zurück, doch sie lässt sich nicht darauf reduzieren.
Das Ärgerliche und Provozierende in Heideggers Denken
hat viele Quellen und es scheinen dieselben Quellen zu sein,
die so glühende Verehrung für diesen Denker hervorgebracht
haben und immer noch hervorbringen. Der wahrscheinlich
berühmteste und einflussreichste Schüler Heideggers, Hans-
Georg Gadamer, bekennt 71-jährig in einem Brief, dass er sei-
nem Lehrer zu Dank verpflichtet sei. Dann fügt er vielsagend
hinzu: »[. . .] und ich weiß auch recht gut, daß gerade meine
Neigung zur Moderation, eine letzte, fast bis zum (hermeneu-
tischen) Prinzip erhobene Unentschiedenheit mich eingängig
und zulässig macht, wo Ihr originaler Einsatz unzugänglich ist
und als unzulässig gilt.«4 Heideggers Denken ist alles, nur nicht
»moderat«. Der Philosoph kennt die Extreme und nimmt kein
Blatt vor den Mund, indem er das Äußerste zum Maßstab für
die Norm erklärt und andersherum nicht denken möchte. Im-
mer wieder thematisiert er die »Entscheidungen« und Brüche,
die tiefen Einschnitte und Schrecken der Existenz, aber auch
das Heilende, das jedes Leben kennt. Und war das Leben in bei-
den Hälften des 20. Jahrhunderts nicht von Kriegen und Völ-
kermorden auf extreme Weise betroffen? In der Tat: Heideg-

3 Richard Wisser (Hg.), Martin Heidegger im Gespräch, Freiburg


und München 1970, S. 13.
4 Hans-Georg Gadamer, Ausgewählte Briefe an Martin Heidegger,
Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft 2002, S. 43.
Einleitung 13

gers Philosophie hat sich den Katastrophen dieses Jahrhunderts


gestellt und ist dadurch eine Art Echo der Zeit geworden. Wer
Heideggers Texte liest, spürt den Druck, den die Geschichte im
letzten Jahrhundert erzeugt hat. Diese Geschichte intellektuell
und moralisch stets auf dem richtigen Weg zu überstehen, das
hätte nur der vermocht, der ihr unentwegt ausgewichen wäre.
Das war Heideggers Sache nicht – denn wie soll man sich aus
dem Leben heraushalten?
Man kann die wenig verhohlene Lust an der Provokation
spüren, wenn Heidegger in einem Vortrag aus dem Jahre 1952
die skandalösen Worte ausspricht: »Die Wissenschaft denkt
nicht.« (GA 7, 133) Hatte er nicht gewusst, dass er damit viele
Wissenschaftler brüskiert? Hatte er nicht geahnt, wie er damit
vielen akademischen Philosophiegelehrten, die es ernst neh-
men, dass die Philosophie an einer Institution für Wissenschaft
und Bildung unterrichtet bzw. erforscht wird, und die sich nicht
einem ständigen Selbstwiderspruch aussetzen wollen, vor den
Kopf stößt? Doch so provokant dieser Satz zu sein scheint, so
verständlich wird er, wenn man ihn im Kontext versteht. Wie-
der einmal evoziert er eine Entscheidung und bringt zum Aus-
druck, dass Indifferenz nicht geduldet werden kann. Ist die Phi-
losophie eine Wissenschaft im modernen Sinne oder nicht? Hei-
degger hat von Anfang an erklärt, dass sie entweder im aristote-
lisch-hegelischen Sinne die Wissenschaft aller Wissenschaften
oder keine Wissenschaft sei. Aber wie soll heute eine sich wis-
senschaftlich auslegende Philosophie mit einem Denken umge-
hen, das jede Forderung, es müsse sich vor einer ihm überlege-
nen Instanz oder gar Institution rechtfertigen, für unannehm-
bar hält?
»Denken ist Danken« (GA8, 149ff.), sagt Heidegger in einer
Vorlesung vom Anfang der fünfziger Jahre. Das Denken sei
keine Wissenschaft, sondern ein »Danken« – eine scheinbar
pathetische Übertreibung. Auch diese Äußerung weckt immer
noch Befremden und wird zuweilen dem für esoterisch gehalte-
14 Einleitung

nen Stil oder gar den Stilblüten des Philosophen zugeschrieben.


Dabei schwingt in diesem Gedanken nur das mit, was auch
im Wort »Vernunft« anklingt, dass nämlich das Denken kein
spontanes Vermögen ist, sondern auf das angewiesen ist, was es
»vernimmt«. Wieder scheint es um eine Entscheidung zu gehen:
Macht sich das Denken seine Gedanken selbst oder empfängt
es sie – hat sich der Mensch die Sprache selbst erfunden oder
entspringt der Mensch der Sprache?
Doch der Spruch »Denken ist Danken« kann noch anders
verstanden werden. Wenn man einerseits vor dem gar nicht
»moderaten« Ton und einem manchmal esoterischen Moment
in Heideggers Denken zurückschreckt, wenn viele Kritiker hier
eine prophetische Pose vermuten, dann muss dagegen betont
werden, dass kein anderer deutscher Philosoph des letzten Jahr-
hunderts so viele bedeutsame Schüler hatte und sich mit so vie-
len und unterschiedlichen Gesprächspartnern einließ wie Hei-
degger. Unter den Schülern sind Hans-Georg Gadamer, Karl
Löwith, Hans Jonas oder auch Herbert Marcuse zu nennen.
Hannah Arendt hat unübersehbar von ihrem Lehrer und Ge-
liebten gelernt. Mit Ernst Jünger trat er in eine einzigartige
philosophische Auseinandersetzung ein. Mit den Philosophen
Max Scheler und Karl Jaspers führte er einen intensiven Gedan-
kenaustausch. Mit dem ehemaligen Psychoanalytiker Medard
Boss begründete er die »Daseinsanalyse«. Die Freundschaften
mit der Pädagogin Elisabeth Blochmann und der Witwe des ver-
ehrten Hölderlin-Editors Norbert von Hellingrath Imma von
Bodmershof dokumentieren ausführliche Briefwechsel. Der
Theologe Rudolf Bultmann lernte von ihm in seiner Marburger
Zeit. Die Germanisten Max Kommerell, Emil Staiger und Beda
Allemann erkannten sein hermeneutisches Genie. Paul Celan
suchte seine Nähe, während der Philosoph die große Bedeu-
tung des Dichters erkannte. Nach dem Krieg knüpfte er Bezie-
hungen in Frankreich mit Jean Beaufret und dessen Schülern, er
begegnete dem Dichter René Char. Viele andere wären noch zu
Einleitung 15

nennen. Wenn das »Denken« ein »Danken« ist, dann wird da-
mit auch gesagt, dass die Philosophie ein Gespräch ist und der
Philosoph die Fähigkeit haben muss, sich etwas sagen zu lassen,
also mehr zu hören und zu antworten statt sich im Monolog
abzuschließen. Wir müssen dem Anderen dankbar sein, weil er
uns denken lässt.
Häufig hat Heidegger betont, dass jeder Philosoph nur eine
einzige Frage habe. Seine war die »Frage nach dem Sinn von
Sein«. Sie ist nur zu verstehen aus dem Anfang der europäi-
schen Philosophie bei Platon und Aristoteles. An diese Denker
lehnt sich Heidegger an, wenn er vom »Sein selbst«, vom »Sei-
enden« und vom »Seienden im Ganzen« spricht. Doch es darf
nicht verkannt werden, dass Heidegger in seinen ersten phäno-
menologisch-hermeneutischen Vorlesungen als Privatdozent in
Freiburg zunächst die »Faktizität des Lebens« thematisiert.
Ohne den Blick auf das volle Leben ist die »Seinsfrage« nicht zu
verstehen. Wenn man daher Heideggers Denken zunächst als
»Existenzphilosophie« rezipierte, traf man in der Verkürzung
etwas Richtiges. Die »Seinsfrage« ist sozusagen die Existenz-,
die Lebensfrage. Das »Faktische« blieb immer im Spiel, auch
wenn sich Heideggers Denken in den dreißiger Jahren in die
»Geschichte des Seyns« begibt.
Als das erste Hauptwerk Heideggers gilt das Fragment
gebliebene Sein und Zeit aus dem Jahre 1927. Ohne ein genaues
Studium dieser Schrift bleibt Heideggers gesamtes Werk unzu-
gänglich. Hier präsentiert sich sein Denken als »Daseinsana-
lytik«, im Grunde als eine Analyse des »faktischen Lebens«.
Doch nach seiner eigenen Interpretation hat er dabei das Fra-
gen nach dem »Sein selbst« zu sehr aus der Perspektive des
Lebens initiiert. Eine Modifikation des Denkens wurde nötig.
Diese Modifikation wird zumeist mit dem Begriff der »Keh-
re« zu fassen versucht. Im Denken nach Sein und Zeit soll das
Fragen nicht mehr beim »Dasein«, sondern beim »Sein selbst«
beginnen, um von dort auf das Leben des »Daseins« zurückzu-
16 Einleitung

kommen. Aber die Einteilung von Heideggers Philosophie in


ein Denken »vor« und »nach« der »Kehre« ist schief. Vielmehr
muss gesehen werden, dass Heidegger stets »in« der »Kehre«
denkt, das heißt, dass es das Verhältnis von »Sein« und »Da-
sein« betrachtet. Wenn er in wenigen Texten betont, einzig und
allein das »Sein selbst« in den Blick nehmen zu wollen, dann
weiß er um die extreme Schwierigkeit dieses Versuchs.
Um die Mitte der dreißiger Jahre findet Heidegger zu einer
besonderen Interpretation des »Seins«. Das »Sein« sei in Wahr-
heit »das Ereignis«. Bereits in seinem ersten Hauptwerk hatte
er auf den Zusammenhang von Sein und Zeit aufmerksam
gemacht. Für Heidegger stellt sich der »Ereignis«-Gedanke als
eine Radikalisierung dieses Zusammenhangs dar. Diese Ra-
dikalisierung betrifft besonders ein bestimmtes Moment der
»Zeitlichkeit«. Für uns geschieht Zeit als »Geschichte«. Im
Denken des »Ereignisses« wird die Geschichte zu einem wich-
tigen Element. Es ist offensichtlich, dass auch diese Betonung
der Geschichte einen Anhaltspunkt im »faktischen Leben« hat,
wurde es für Heidegger doch immer deutlicher, dass die politi-
schen Geschehnisse seiner Zeit nicht vom Himmel fielen, son-
dern aus der Welt kamen und deshalb durch eine Besinnung
auf ihre Herkunft in der europäischen Geschichte zu verstehen
waren.
Vielleicht ist der Einfluss des faktischen Geschichtsverlaufs
in den dreißiger und vierziger Jahren auf Heideggers Denken
bisher noch nicht gerecht und nüchtern genug betont worden.
Damit meine ich Folgendes: Wenn der Philosoph in der zweiten
Hälfte der dreißiger Jahre, animiert durch eine immer wichtiger
werdende Interpretation von Hölderlins Dichtung, den Gedan-
ken fasst, bestimmte Leitmotive der europäischen Philosophie
»überwinden« zu müssen, dann darf an der Koinzidenz dieser
Absicht mit der sich immer stärker totalisierenden Herrschaft
der Nationalsozialisten nicht vorbeigesehen werden. In der Tat
steht der Gedanke der »Überwindung der Metaphysik«, der
Einleitung 17

auf den schon in den frühen zwanziger Jahren entwickelten


Begriff der »Destruktion« zurückgeht, mit dem faktischen Le-
ben im totalen Staat des »Dritten Reichs« und den sich daraus
ergebenden Schrecken in einer Verbindung. Die Frage nach
der Technik und ihrer Macht wird jetzt immer brennender. Die
vorliegende Einführung möchte diesen Zusammenhang unauf-
dringlich pointieren.
Nach dem Krieg wird das »Ereignis«-Denken durch zwei
neue Begriffe erweitert. In den dreißiger Jahren hatte Heidegger
das »Wesen der Technik« als »Machenschaft« charakterisiert.
Jetzt fasst er es als das »Gestell«. Dem »Gestell« korrespon-
diert der Begriff des »Gevierts«, der eine spezifisch vierfach
gegliederte Weltstruktur entfaltet. In dieser Zeit beschäftigt
sich Heidegger beinahe ausschließlich mit der Frage, wie der
Mensch in einer sich immer intensiver technisierenden Welt zu
leben vermag. Dabei ist deutlich, dass Heidegger nicht glaubte,
nach 1945 hätten sich die fundamentalen, Politik und Ethik
bestimmenden Ideen wirklich geändert.
Eine Einführung in die Philosophie Martin Heideggers ist
besonders mit einem Problem konfrontiert. Heideggers Begriff-
lichkeit sieht auf den ersten Blick sehr einfach aus. Der Philo-
soph verwendet kaum Spezialtermini, er spricht ein zuweilen
eckig-expressives, dann wieder schlichtes, knorriges Deutsch.
Dabei kommt es vor, dass er Worte, die wir alltäglich verwen-
den, in einem ganz eigentümlichen Sinne gebraucht. Das be-
ginnt schon mit den Wörtern »Leben« oder »Ereignis«. Wenn
das aber so ist, wird die Frage nach dem Gebrauch von Anfüh-
rungszeichen akut. Setze ich keine, könnte der Anschein entste-
hen, das Wort werde im gewöhnlichen Sinne verstanden. Setze
ich sie, kommt es sogleich zu einer ganzen Invasion. Ich habe
versucht, einen Mittelweg zu gehen – mit einer Ausnahme. Die
Begriffe »Sein«, »Seiendes« und »Dasein« sind Grundworte
des Heideggerschen Denkens. Sie kommen in der Alltagsspra-
che kaum vor. Außerdem versteht der Denker sie in einem sehr
18 Einleitung

spezifischen Sinne. Ich habe mich daher entschlossen, sie fast


durchgängig in Anführungszeichen zu setzen.
Letztlich ist eine vollkommene Übersetzung von Heideggers
Lexik und Grammatik in Alltags- oder Wissenschaftssprache
unmöglich. Zu erheblich wäre der Bedeutungsverlust. Man
würde vor allem Heideggers Texte aus der zweiten Hälfte der
dreißiger Jahre ihrer Eigenheit berauben. Darum schwebt jede
erstellt von ciando
Einführung in diese Philosophie in der Gefahr, entweder zu
oberflächlich über ihre eigentlichen Intentionen hinwegzuge-
hen oder zu identifikatorisch in ihnen zu verschwinden. Ich
habe mir Mühe gegeben, beides zu vermeiden.
Ich möchte Nadescha Bergmann und Hermann Eller für ihre
hilfreichen Anmerkungen bei der Herstellung des Manuskripts
danken.
1 Philosophie des Lebens

»Da war kaum mehr als ein Name,


aber der Name reiste durch ganz
Deutschland wie das Gerücht vom
heimlichen König.«1
Hannah Arendt

1.1 Phänomenologie und Hermeneutik

Heideggers Philosophie ist von Anfang an auf das fakti-


sche Leben bezogen. Dieses Leben erscheint in einer Welt,
sodass es der Philosoph mit Phänomenen zu tun hat.
Jedes Leben ist bedingt, indem es von der Geschichte
abhängt, in der sich das jeweilige Leben entfaltet. Will
sich der Mensch in seinem Leben mithilfe der Philosophie
selbst verstehen, muss er sich mit dem Sinn der Geschichte
auseinandersetzen. Zu einem solchen Verstehen ist der
Mensch in der Lage, weil er die Gabe hat, sprechen zu
können. In der diskursiven Auseinandersetzung findet er
zu einer Auslegung, die vor allem praktische Konsequen-
zen hat. Die Philosophie wird zu einer Auslegung von
Phänomenen des tatsächlichen Lebens, zu einer Herme-
neutik der Faktizität.

Martin Heideggers philosophischer Anfang lässt sich nicht ein-


fach bestimmen. In einer Vorlesung sagt er einmal: »Begleiter

1 Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und an-


dere Zeugnisse, hg. v. Ursula Ludz, Frankfurt/M. 1998, S. 180.
20 Philosophie des Lebens

im Suchen war der junge Luther und Vorbild Aristoteles, den


jener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mir
Husserl eingesetzt.« (GA 63, 5) Jede dieser Figuren hat Spuren
im Denken Heideggers hinterlassen. Doch es wäre zu kurz
gedacht, wollte man es bei diesem Quartett belassen. So wären
auch Wilhelm Dilthey und Oswald Spengler, oder Hegel und
die Philosophie des Mittelalters zu nennen. Der Neukantianer
und Lehrer Heideggers, Heinrich Rickert, schreibt in seinem
Gutachten zur Habilitationsschrift seines Schülers, dass dieser
sich in der Erforschung des »›Geistes‹ der mittelalterlichen Lo-
gik« »große Verdienste erwerben«2 könne. Mit anderen Wor-
ten: Heideggers philosophischer Beginn speist sich aus vielen
Quellen, und es wäre verfehlt, sein Philosophieren aus einer
Tradition ableiten zu wollen.
Es ist jedoch möglich, den Anfang von Heideggers Denken
mithilfe zweier philosophischer Methoden zu kennzeichnen. Es
sind zwei methodische Entscheidungen, die Heidegger bereits
in seinen ersten Vorlesungen exerzierte und die seine Philoso-
phie wiederholt mit immer neuen Anstößen belebt haben. Früh,
am Beginn der zwanziger Jahre, hat er sich auf die beiden philo-
sophischen Methoden und Schulen der Phänomenologie und
der Hermeneutik eingelassen. »Schulen« lassen sich diese bei-
den Denkmethoden nur insofern nennen, als man in der Schule
lernt, wie gedacht werden kann. Unter Phänomenologie und
Hermeneutik sind also keine besonderen Denkinhalte zu ver-
stehen, sondern Weisen, wie philosophische Fragen gestellt und
beantwortet werden können.
Heidegger hat angegeben, bereits als Student in seinem ers-
ten Semester im Winter 1909/10 Edmund Husserls Logische
Untersuchungen von 1900 bearbeitet zu haben.3 Dieses Werk

2 Martin Heidegger/Heinrich Rickert, Briefe 1912 bis 1933 und


andere Dokumente, hg.v. Alfred Denker, Frankfurt/M. 2002, S.97.
3 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 81.
Phänomenologie und Hermeneutik 21

gilt als das Stiftungszeugnis der »Phänomenologie«, einer phi-


losophischen Methode, die es sich zum Ziel gesetzt hat, nicht
die Theorien über die »Sachen«, sondern die »Sachen selbst«,
die Art und Weise, wie die »Sachen« gegeben werden, wie sie er-
scheinen, zu ihrem Thema zu machen. Das Erscheinende heißt
griechisch phainómenon. So ist die »Phänomenologie« ein
Denken, das sich mit dem Erscheinenden und seinem Erschei-
nen beschäftigt.
Schon Heideggers erste Vorlesungen zeigen eine eigenstän-
dige Ausprägung und eine unabhängige inhaltliche Orientie-
rung dieser Methode. Das Thema dieser Vorlesungen, die
Grundfrage seines Denkens zu jener Zeit, ist das »faktische
Leben«. »Leben« bedeutet hier einen zumeist unthematischen
Bezug des Menschen zu sich selbst. Es ist eine Art von »Selbst-
genügsamkeit«. Wir leben von uns selbst aus auf uns selbst zu.
Die Faktizität des Lebens, d.h. seine Tatsächlichkeit bzw. Gege-
benheit, besteht im alltäglichen Vollzug des Existierens und sei-
ner Motivationen. Unser Leben geschieht jederzeit gleichsam
von selbst uns selbst. Heidegger bringt das mit einer Redeweise
zum Ausdruck: »So ist nun einmal das Leben, so gibt es sich.«
(GA 58, 35) Eine Philosophie des »faktischen Lebens« hat es
mit dessen »Gegebenheitsweisen« zu tun. Ein Phänomen stellt
sich als eine unvordenkliche »Phänomengabe« (GA 61, 89) dar.
Die Phänomenologie ist ein zurückhaltendes Denken, weil sie
betrachtet, was »es gibt«.
Dabei hält Heidegger das Grundphänomen seines frühen
Denkens, seinen Begriff vom »Leben«, von allen biologistischen
Nuancen frei. Die Phänomenologie ist »absolute Ursprungswis-
senschaft des Geistes überhaupt« (GA 58, 19, Hervorh. P.T.). Es
ist also nicht das Leben des Leibes, sondern das Leben des »Geis-
tes«, das den jungen Philosophen interessiert. Der Einfluss einer
frühen Lektüre von Hegels Phänomenologie des Geistes ist spür-
bar. In dieser Schrift hatte Hegel das »Leben des Geistes« in sei-
nen ihm eigenen Metamorphosen auseinandergelegt.
22 Philosophie des Lebens

Das Leben liegt nie als isolierter Gegenstand vor. Es hat


jeweils seinen eigenen Ort und seine eigene Zeit. »Unser Leben
ist unsere Welt« (ebd., 33), schreibt Heidegger und meint
damit, dass das Leben sich auf vielfältige Weisen in undurch-
dringlichen Verhältnissen zu den Mitmenschen und den Dingen
entfaltet. Eine Phänomenologie des Lebens hat es mit den
»Lebenswelten« (GA 61, 146) zu tun, in denen sich der Mensch
auf seine jeweilige Art und Weise praktisch und theoretisch ver-
strickt.
Der Begriff »Welt« oder »Lebenswelt« korrespondiert mit
diesem Begriff des »Lebens« vorzüglich. Er bietet Möglichkei-
ten zu einer Differenzierung, die der »Lebens«-Begriff zu seiner
Bereicherung fordert. So ist »Welt« immer »Umwelt«, »Mit-
welt« und »Selbstwelt« (GA 58, 33). Wir leben in konzentrisch
ineinander übergehenden »Welten«, die möglicherweise schließ-
lich eine einheitliche Welt bilden. Wir leben mit unseren Freun-
den, Geliebten und Feinden etc., und wir leben in einer je »per-
sonalen Rhythmik«. Auf der Basis eines so differenzierten
Welt-Verständnisses führt Heidegger seine phänomenologi-
schen Analysen durch. Wir werden sehen, inwiefern er auf dem
gesamten Weg seines Denkens das von ihm sehr ernstgenom-
mene Welt-Problem immer wieder untersucht.
Das Leben, das Heidegger in seinen Vorlesungen am Beginn
der zwanziger Jahre thematisiert, ist ein »faktisches« »Existie-
ren«. Zur »Existenz« gehört eine fundamentale Unsicherheit
und Endlichkeit. Es gibt »irregeleitetes Leben«, wie es »echtes
Leben« (ebd., 22) gibt. Leben, das in die »Irre« geht, und »ech-
tes Leben« schließen sich nicht aus. Beide Tendenzen finden
sich in der Unsicherheit des Lebens zusammen. Das Leben hat
einen »Fraglichkeitscharakter«, dem es sich nicht entziehen
kann. Die Realisierung des »faktischen Lebens« besteht gerade
darin, diese »Fraglichkeit« immer wieder zu erfahren. Es bildet
einen »faktischen Erfahrungszusammenhang«. »Erfahrung« ist
der primäre Ausdruck des »faktischen Lebens« so, wie sie der
Phänomenologie und Hermeneutik 23

Zugang zu ihm ist. Diese Erfahrung hat nichts oder nur wenig
mit einem empiristischen Begriff von Erfahrung zu tun. Hei-
deggers Verständnis von Erfahrung ist stets eingebettet in ein
bestimmtes Pathos. Eine Erfahrung wird nicht »gemacht«, son-
dern erlitten. Sie ist immer eine pathische Erfahrung.
Aus diesem Sachverhalt ergibt sich schon für den frühen Hei-
degger ein Problem, das ihn bis zuletzt bewegen wird. Wenn
Erfahrung der eigentliche Zugang zum Grundphänomen der
Philosophie ist, wenn der Philosoph nur dann über sein Thema
sprechen kann, wenn er dieses Thema »lebt«, dann muss die
Frage nach der »Wissenschaftlichkeit« von Philosophie über-
haupt gestellt werden. Für gewöhnlich halten wir die Philoso-
phie für eine Wissenschaft. Diese charakterisiert Heidegger als
»erkennendes, rationales Verhalten« (GA 60, 8). Doch das
Leben besteht nur am Rande in einem solchen »Verhalten«.
Zumeist erfahren wir unser Leben gerade nicht »erkennend«.
Deshalb macht Heidegger früh darauf aufmerksam, dass »das
Problem des Selbstverständnisses der Philosophie« »immer zu
leicht genommen« wurde. Ist das Leben das Thema der Philo-
sophie, und ist dieses Thema nur dadurch zu erreichen, dass
auch der Philosoph seinem Leben nicht aus dem Wege geht,
dann kann geschlossen werden, »daß die Philosophie der fakti-
schen Lebenserfahrung entspringt«. Für Heidegger ist die Phi-
losophie von Anfang an eine endliche Tätigkeit des Denken-
den – so endlich das Leben, so endlich ist auch das Denken, das
dieses volle Leben thematisiert. Die Philosophie, die der »fak-
tischen Lebenserfahrung entspringt«, »springt [. . .] in diese
selbst zurück«. Daraus ergibt sich eine Verstrickung des Den-
kens in das Leben, die es schwierig macht, das »Ideal der Wis-
senschaft« für die Philosophie aufrecht zu erhalten.
Diese anfängliche Einsicht in die Verstricktheit von Denken
und Leben hat Heidegger schon früh dazu getrieben, über das
Verhältnis von Philosophie und Universität nachzudenken. Be-
reits im Kriegsnotsemester 1919 bespricht Heidegger die Mög-
24 Philosophie des Lebens

lichkeit einer »echten Reform im Bereich der Universität«


(GA 56/57, 4). Drei Jahre später befragt er noch einmal den
»lebendigen Lebenszusammenhang« »Universität« und denkt
darüber nach, »ob die Universität weiter auf Bedürfnisse zuge-
schnitten werden soll« (ebd., 70). Wenn Heidegger im Jahre
1933 auf die »Selbstbehauptung der deutschen Universität« zu
sprechen kommen wird, greift er auf einen Themenkomplex
zurück, der ihm schon am Beginn seines Philosophierens am
Herzen lag. Ich werde später noch auf diese Verbindung auf-
merksam machen.
»Faktizität« ist der Titel für die Verstricktheit von Denken
und Leben. Wenn Heidegger an diesem Titel im Verlauf seiner
Karriere nicht festhalten wird, so müssen wir sehen, dass er
dem Phänomen »Faktizität« treu geblieben ist. Das philosophi-
sche Denken ist in seiner Endlichkeit in die welthaften Verflech-
tungen des jeweils Philosophierenden dermaßen eingewoben,
dass es eine von diesen Verflechtungen vollkommen befreite
Erkenntnis nicht geben kann. Zwei wesentliche Momente der
Verstrickung in die »Faktizität« sind die Phänomene Sprache
und Geschichte.
Bereits Aristoteles bezeichnet den Menschen als ein Lebewe-
sen, das die Sprache hat (zôon lógon échon). Menschliches Le-
ben ist dadurch ausgezeichnet, dass es sich selbst über sich ver-
ständigen kann. Für den Menschen ist charakteristisch, dass
»das Leben immer in seiner eigenen Sprache sich anspricht und
sich antwortet« (GA 58, 42). Leben und Sprache sind für den
Menschen keine unabhängigen Phänomene, sondern gehören
von vornherein zusammen. Die Betonung dieser Zusammenge-
hörigkeit weist auf eine wichtige Tendenz von Heideggers Den-
ken. Das Leben, das Heidegger in den Blick nimmt, ist das poeti-
sche oder praktische Leben, das wir arbeitend und handelnd mit
den Anderen führen, in dem wir uns in einem ständigen Ge-
spräch befinden. Für die vermeintlich sprachlosen Instinkte und
Triebe des Lebens bringt Heidegger nur wenig Interesse auf.
Phänomenologie und Hermeneutik 25

Eine Phänomenologie des Lebens hat es damit zu tun,


dass sich dieses Leben ausspricht. Leben geschieht in einem
Spielraum von Bedeutungen oder »Bedeutsamkeiten«. Unser
Handeln ist zweckhaft, wir verfolgen Ziele. So leben wir »im
Faktischen als einem ganz besonderen Zusammenhang von
Bedeutsamkeiten, die sich ständig durchdringen« (ebd., 105).
»Bedeutsamkeiten« verweisen aufeinander, widersprechen,
durchkreuzen sich. Wenn wir das Leben betrachten, müssen
wir uns diesem ständigen Erscheinen von »Bedeutsamkeiten«
zuwenden.
Die »Bedeutsamkeiten« des Lebens zeigen sich dem han-
delnden Menschen einerseits in der Wahrnehmung. Sie »er-
scheinen« und bilden als »Erscheinungen« den Gegenstand
der »Phänomenologie«. Doch sie rufen danach, »ausgelegt« zu
werden. Unser faktisches Handeln besteht in einem unentweg-
ten Auslegen von verschwindenden und neu auftauchenden
Zielen und Zwecken. Darum ist die Phänomenologie ein ausle-
gender Umgang mit dem Erscheinenden. Die Phänomenologie
Heideggers ist von Anfang an eine »phänomenologische Her-
meneutik« (GA 61, 187).
Vermutlich ist Heideggers Bezugnahme auf die »Hermeneu-
tik« durch Wilhelm Dilthey4 angeregt worden. Aber der Philo-
soph macht selbst darauf aufmerksam, dass der erste explizite
Hinweis auf die Hermeneutik den Gott Hermes als ihren Ahn-
vater nennt (GA 63, 9). Hermes ist der Bote, der den Menschen
mitteilt, was die Götter über sie entschieden haben. Er ist der
Sprecher der Götter. Platon bestimmt in seinem Dialog Ion die
Dichter als diejenigen, die mitteilen, was die Götter sagen. Sie
sind die Sprecher der Sprecher.
4 Vgl. Diltheys Aufsatz «Die Entstehung der Hermeneutik« aus dem
Jahre 1900 in Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des
Lebens. Erste Hälfte. Abhandlung zur Grundlegung der Geistes-
wissenschaften. Gesammelte Schriften. V. Band, Stuttgart 1957,
S.317 – 338.
26 Philosophie des Lebens

Im Verlauf der Geschichte der Philosophie ist die Hermeneu-


tik zu einer Auslegungskunst von Texten geworden. Die Her-
meneutik etwa bei Friedrich Schleiermacher ist die Kunst des
»Verstehens« von schriftlichen Mitteilungen. Für Heidegger
stellt sich dies aber als eine Verkürzung des ursprünglichen
Begriffs der Hermeneutik dar. Nach ihm ist das Leben in Bedeu-
tungen überhaupt hermeneutisch. Das »faktische Leben« ist
grundsätzlich ein Verstehen, sei es, dass es sich selbst verstehen
und auslegen muss, sei es, dass es das, was in der Welt geschieht,
interpretiert. Das Leben ist in sich hermeneutisch, weil es ein
fragendes, antwortendes, verstehendes und sich verkennendes
Leben ist.
Die Berührung der Philosophie mit diesem sich verstehenden
und missverstehenden Leben ist alles andere als ein einfaches
Phänomen. Wie kommt die Philosophie eigentlich an das »fak-
tische Leben« heran? Für gewöhnlich leben wir ziemlich unre-
flektiert in den Tag hinein. Wir sind unmittelbar betroffen von
dem, was uns geschieht. Die Philosophie ist indes ein vermit-
telndes Denken, ist nicht nur die Reflexion unseres Handelns,
sondern darüber hinaus die Reflexion der Reflexion. Diese
Sachlage zeigt sich in der Weise, wie die Philosophie ihre Ge-
genstände be- und verhandelt, wie sie sie bespricht. Sie vermag
es nicht, einfach im »Faktischen« zu bleiben. Sie gibt den Pro-
blemen des »faktischen Lebens« eine »Gegenständlichkeit«,
welche die faktischen Phänomene normalerweise nicht haben,
sie macht die lebendigen Phänomene zu Objekten, die sie im
Lebensvollzug nicht sind. Es besteht ein Unterschied zwischen
einer philosophischen Behandlung der Liebe oder des Todes
und dem Leben, in welchem Liebe und Tod uns betreffen. Für
Heidegger ist diese »formale Bestimmtheit des Gegenständli-
chen« (GA 60, 63) der Philosophie ein »Präjudiz«, eine vorge-
gebene Einstellung, die auch die Begrifflichkeit des Philoso-
phierens bestimmt. Eine »phänomenologische Hermeneutik
der Faktizität« muss diese vorgegebene Einstellung berücksich-
Phänomenologie und Hermeneutik 27

tigen. Dies leistet sie nach Heidegger mit der so genannten »for-
malen Anzeige«. Sie ist eine hermeneutische Methode, welche
das »Faktische« »dahingestellt« sein lässt, »formal« auf es hin-
zeigt, ohne es mit einer vorgegebenen philosophischen Begriff-
lichkeit so zurechtzuschneiden, dass es seinen unmittelbaren
Sinn verliert. Für die »Hermeneutik der Faktizität« hat die
»formale Anzeige« eine »unumgängliche Bedeutung« (GA 59,
85), weil sie die Geltungsansprüche der philosophischen Be-
griffsordnungen einschränkt. Die »formale Anzeige« versucht
das »Faktische« in der Philosophie so erscheinen zu lassen, wie
es ist.
Die »Bedeutsamkeiten«, die wir im Leben verstehen und
auslegen, bilden einen bestimmten zeitlichen Zusammenhang
aus. Wir leben nicht nur im Heute, sondern haben es mit Bedeu-
tungen zu tun, die uns von früheren Generationen überliefert
werden oder die noch aus der Zukunft auf uns zukommen. Das
»faktische Leben« ist ein Leben in der Geschichte. Der frühe
Heidegger bezeichnet dieses Phänomen als »das Historische«
(GA 60, 31). Er geht so weit zu behaupten, dass der Begriff des
»Faktischen« nur vom »Begriff des ›Historischen‹ her ver-
ständlich« wird. Denn das »Faktische« unseres Lebens ist im-
mer auf die eine oder andere Weise von der Geschichte her
bestimmt. Wer kann zum Beispiel noch ein Flugzeug besteigen,
ohne sich unwillkürlich an die Bilder vom Anschlag auf das
World Trade Center zu erinnern?
Mit diesem Phänomen hängt zusammen, dass das »Histori-
sche« nicht bloß als Gegenstand der Geschichtswissenschaft
aufgefasst werden darf. In der Geschichtswissenschaft wird das
»Historische« nicht mehr aus der »Faktizität des Lebens« her
verstanden, sondern als ein zu erforschender Gegenstand ob-
jektiviert. Heidegger geht es um die »unmittelbare Lebendig-
keit« des »Historischen« oder, wie er anschaulich sagt, um die
»lebendige Geschichtlichkeit, die sich in unser Dasein gleich-
sam eingefressen hat« (ebd., 33). Die »lebendige Geschichtlich-
28 Philosophie des Lebens

keit« teilt sich uns vordringlich aus der Überlieferung mit. Eine
»lebendige Geschichtlichkeit« ist eine kulturelle Erbschaft, die
wir in der Geschichtswissenschaft vergegenständlichen kön-
nen, in der wir (und das heißt auch die Historiker) aber primär
»leben«. Die Fundamente der europäischen Kultur in der grie-
chischen Philosophie, dem römischen Rechtsdenken und der
christlichen Religion bilden eine »lebendige Geschichtlich-
keit«. Überall lassen sich ihre Spuren im »faktischen Leben«
auffinden. Um ein Beispiel zu nennen, sei auf die Shoah verwie-
sen. Sie hat einerseits immer wieder Einfluss auf unser alltägli-
ches Leben, kann aber andererseits zum Gegenstand der Ge-
schichtswissenschaft gemacht werden. Für Heidegger hat die
»unmittelbare Lebendigkeit« der Geschichte einen Vorrang vor
ihrer Vergegenständlichung in der Wissenschaft. Dieser Vor-
rang ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass das »faktische Le-
ben« selbst stets den Bezugspunkt bilden soll, an den die Ge-
schichte zurückgebunden bleibt. Geschichte ist für ihn immer
hier und jetzt gelebte Geschichte. Wenn sie zu einem reinen
Wissensobjekt gemacht wird, wird ihr eigentlicher Sinn ver-
fehlt. Später wird sich dieser Gedanke, dass Geschichte vor-
dringlich gelebte Geschichte ist, zuweilen in einer unbändigen
Wut auf die Geschichtswissenschaft Luft machen, da sie nach
Heidegger den Kontakt mit der »lebendigen Geschichtlichkeit«
verloren hat.
Heideggers frühe Wendung zur Geschichte ergibt sich syste-
matisch aus der Bestimmung einer »phänomenologischen Her-
meneutik der Faktizität«. Das »faktische Leben« ist in sich ge-
schichtlich verfasst. Ich habe gezeigt, inwiefern sich aus dieser
Bestimmung der Philosophie gewisse methodische Probleme
ergaben. Erstens entsteht eine Spannung im Verhältnis von Phi-
losophie und Wissenschaft. Wissenschaftlichkeit, wie sie bei-
spielsweise Max Weber definiert, besteht in einer Vorausset-
zungsfreiheit der Perspektive, die wir im »faktischen Leben«
niemals einnehmen oder auch nur anstreben. In ihm geht es
Phänomenologie und Hermeneutik 29

gerade um praktische Ziele und Zwecke, um Realisierungen


von ethischen Orientierungen und Voraussetzungen. Zweitens
ergibt sich eine Spannung zwischen der »Hermeneutik der Fak-
tizität« und den überlieferten Begriffsstrukturen der Philoso-
phie selbst. Diese Spannung bekundet sich in Heideggers
Gedanken einer »formalen Anzeige«, einer spezifisch herme-
neutischen Zugangsweise zum »Faktischen«. Diese beiden Pro-
bleme konzentrieren sich in der Bedeutung der »lebendigen
Geschichtlichkeit« des Denkens. Denn beide entstammen der
kulturellen Überlieferung des europäischen Denkens. Die Fra-
gen: Wie verhält sich die Philosophie zu einem etablierten Ideal
der Wissenschaftlichkeit?, oder: Vermag die Philosophie aus
ihrer eigenen Überlieferung heraus das »faktische Leben« zu
erreichen?, lassen es als notwendig erscheinen, die Geschichte
des europäischen Denkens selbst einer »Destruktion« zu unter-
ziehen. Sie wird als ein »Grundstück phänomenologischen Phi-
losophierens« (GA 59, 35) eingeführt.
Das Wort »Destruktion« stammt vom lateinischen Wort
»destruere« (zerstören) ab. Die »phänomenologische Destruk-
tion« der europäischen Geschichte des Denkens hat hingegen
nicht die Absicht, das überlieferte wissenschaftliche bzw. phi-
losophische Denken bloß zu zerstören. Vielmehr soll sie diese
Überlieferung so erschüttern, dass Verdeckungen und Verstel-
lungen der Quellen dieser Überlieferung abgetragen werden. Es
gibt in Heideggers Denken von Anfang an eine Neigung, die
Ursprünge des »faktischen Lebens« und das aus diesen hervor-
kommende und in sie zurückgehende Denken freizulegen.
Diese Intention bezeugt bereits die erste Kennzeichnung der
Phänomenologie als einer »Ursprungswissenschaft«.
Es gehört zu Heideggers Eigentümlichkeiten, dass sich für
ihn die Herkunft einer europäischen »Faktizität« oder, wenn
man so will, Identität aus zwei Quellen speist. Die »Hermeneu-
tik der Faktizität« hat es mit einer »griechisch-christlichen
Lebensauslegung« (NB, 259) zu tun. Dem Traditionsstamm
30 Philosophie des Lebens

der römischen Antike schenkt Heidegger zunächst keine Auf-


merksamkeit, später wird er ihm polemisch begegnen. Die
»Destruktion« der europäischen Geschichte des Denkens be-
zieht sich dementsprechend auf jene beiden Quellen. So schreibt
er im Wintersemester 1920/21:
»Es wird nicht zu vermeiden sein, daß die Aufdeckung der Phäno-
menzusammenhänge die Problematik und Begriffsbildung von Grund
aus ändert und eigentliche Maßstäbe beistellt für die Destruktion
der christlichen Theologie und der abendländischen Philosophie.«
(GA 60, 135)

Am Ausgangspunkt seines Denkens bezeichnet Heidegger die


Themenfelder, mit denen er sich zeit seines Lebens beschäftigen
sollte. Es geht um eine Destruktion bzw. Freilegung der Her-
künfte unseres Lebens; eines Lebens, das sich selbst zu verste-
hen sucht und darum seine Geschichte betrachtet.

1.2 Die urchristliche »Faktizität des Lebens«

Eine oder vielleicht auch die wesentliche Habitualisie-


rung unseres (das heißt europäischen) Lebens ist das
Christentum. Um dieses Leben philosophisch auszulegen,
ist es nötig, seine christliche Disposition zu untersuchen.
Das macht es nötig, so nahe es geht an den Ursprung des
Christentums zurückzukehren. Ihn finden wir in den
grundlegenden Dokumenten der christlichen Urgemein-
de. Ihre Auslegung fördert zu Tage, dass das Hauptcha-
rakteristikum des christlichen Lebens in einem besonde-
ren Verhältnis zur Zukunft besteht.
Die urchristliche »Faktizität des Lebens« 31

In einem kurzen Text aus dem Jahre 1954 erinnert sich Heideg-
ger an seine Kindheit:

»In der Frühe des Weihnachtsmorgens gegen halb vier Uhr kamen die
Läuterbuben ins Mesmerhaus. Dort hatte ihnen die Mesmermutter
den Tisch mit Milchkaffee und Kuchen gedeckt. Er stand neben dem
Christbaum, dessen Duft von Tannen und Lichtern noch vom Hl.
Abend her in der warmen Stube lag. Seit Wochen, wenn nicht das
ganze Jahr, freuten sich die Läuterbuben auf diese Stunde im Mesmer-
haus. Worin mag sich ihr Zauber verborgen haben?« (GA 13, 113)

Heideggers Vater war »Mesmer« oder »Küster« der katholi-


schen Kirche St. Martin am Schloss in Meßkirch, dem Geburts-
ort des Philosophen. Die »Läuterbuben« erschienen, um beim
(überregional berühmten, inzwischen im Internet zu hörenden
siebenstimmigen) Läuten der Glocken zu helfen und das Ge-
heimnis des Glockenturms erklingen zu lassen. Der katholische
Theologe Conrad Gröber, ebenfalls in Meßkirch geboren und
ab 1932 Erzbischof in Freiburg, gehörte zu den ersten Förde-
rern des heranwachsenden Denkers. Es lag nahe, dass Heideg-
ger im Winter 1909/10 begann, in Freiburg Theologie zu stu-
dieren. Viel später, wiederum um das Jahr 1954, schrieb Hei-
degger: »Ohne diese theologische Herkunft wäre ich nie auf
den Weg des Denkens gelangt. Herkunft aber bleibt stets Zu-
kunft.« (GA 12, 91) Heideggers philosophischer Anfang ist mit
jenem »Zauber« des »Duftes von Tannen und Lichtern« ver-
bunden. Seine späteren Polemiken gegen das Christentum rich-
ten sich gegen eine spezifische Art von christlicher Heuchelei,
keineswegs jedoch gegen das christliche Leben an sich.
Wenn sich im fortgeschrittenen Denken Heideggers kaum
noch Spuren einer systematischen Auseinandersetzung mit der
Theologie oder mit dem Christentum finden lassen, so ist das
am Beginn seiner Dozententätigkeit anders. Die phänomenolo-
gisch-hermeneutische Erforschung der »Faktizität des Lebens«
führt von sich zum Phänomen der »Geschichte«. Diese muss
32 Philosophie des Lebens

der Philosoph einer Destruktion unterziehen, einer Freilegung


der ursprünglichen Gedanken, die im Verlauf der Geschichte
durch fortwährende, sich ablagernde Auslegungen verschüttet
wurden. Im Zuge dieser hermeneutischen Wendung zur Ge-
schichte schreibt Heidegger schon im Sommersemester 1920:

»Es besteht die Notwendigkeit einer prinzipiellen Auseinandersetzung


mit der griechischen Philosophie und der Verunstaltung der christli-
chen Existenz durch sie. Die wahrhafte Idee der christlichen Philoso-
phie; christlich keine Etikette für eine schlechte und epigonenhafte
griechische. Der Weg zu einer ursprünglichen christlichen – griechen-
tumfreien – Theologie.« (GA 59, 91)

Der Fokus auf das Christentum ist die »christliche Existenz«,


ein ohne Zweifel durch Kierkegaard beeinflusster Begriff. Sie
unterliegt einer »Verunstaltung« durch die »griechische Philo-
sophie«, die »destruktiv« zu beseitigen ist. Erst auf Grund einer
solchen »Destruktion« kann die »wahrhafte Idee der christli-
chen Philosophie« in den Blick genommen werden.
Das Motiv zur Bezugnahme auf die »christliche Existenz«
ergibt sich aus der phänomenologisch-hermeneutischen Un-
tersuchung des »faktischen Lebens«. Dieses erscheint als in
»geschichtlichen Zusammenhängen« verstrickt. Die Absicht,
»ein echtes und ursprüngliches Verhältnis zur Geschichte zu
gewinnen«, dient einer Erhellung der »Faktizität«. Heidegger
konturiert diese Absicht mit der methodischen Erkenntnis,
dass es »eine Geschichte nur aus einer Gegenwart heraus gibt«.
Wenn sich aus diesen Vorgaben eine Bezugnahme zur christli-
chen Existenz ergibt, dann muss diese sowohl mit der Frage
nach der Geschichte als auch mit der »Gegenwart« (GA 60,
124f.), von der aus diese Frage gestellt werden muss und in wel-
che sie stets zurückgebunden bleibt, zusammenhängen.
Das Verhältnis von »Geschichte« und »Gegenwart« betrifft
nicht nur das methodische Problem, dass jede Auffassung des
»Sinns der Geschichte« vom Standpunkt desjenigen abhängt,
Die urchristliche »Faktizität des Lebens« 33

der ihn auffassen möchte. Dass die Gegenwart mit dem »Sinn
der Geschichte« verknüpft ist, verweist auf das Verhältnis von
Geschichte und Zeit. Das Leben in der Geschichte ist ein in sich
zeitliches Phänomen. Das leuchtet darum unmittelbar ein, weil
die Geschichte Fakten und Daten enthält, die vergangen sind.
Aber diese haben nicht bloß als Vergangenes eine Bedeutung.
Indem wir uns aus der Gegenwart heraus mit der Geschichte
auseinandersetzen, hat sie eine Bedeutung für das »faktische
Leben« hier und jetzt.
Die Frage nach der Geschichte wirft das Problem der »Zeit-
lichkeit« des »faktischen Lebens« auf. Die phänomenologische
Denkweise gebietet, dieses Verhältnis von Geschichte und »Zeit-
lichkeit« in der »ursprünglichen faktischen Erfahrung von Zeit-
lichkeit« selbst zu explizieren. Diese »faktische Erfahrung« der
»Zeitlichkeit« untersucht Heidegger im Blick auf die »urchrist-
liche Religiösität«. Sie ist für ihn die »faktische Lebenserfah-
rung« selbst. Denn: »Die faktische Lebenserfahrung ist histo-
risch. Die christliche Religiosität lebt die Zeitlichkeit als sol-
che.« (Ebd.,80) Der Schlüssel zur Interpretation der christlichen
Existenz ist das Faktum, dass sich das urchristliche Leben als ein
Vollzug der »Zeitlichkeit als solcher« und damit genuin als ein
Leben in der Geschichte darstellt.
Um diese Zusammenhänge deutlich werden zu lassen, führt
Heidegger eine Interpretation der im Neuen Testament über-
lieferten zwei Briefe an die Thessalonicher (ebd., 87 ff.), die er
beide dem Paulus zuschreibt, durch. Aus dieser Auslegung
extrahiert Heidegger die Grundzüge einer »urchristlichen Reli-
giösität« bzw. einer »christlichen Existenz«.
Das »Ziel« der »urchristlichen Religiösität« ist das »Heil«
(soterı́a) und das »Leben« (zoé). Aus diesen beiden Polen sei
»die Grundhaltung des christlichen Bewußtseins« zu verste-
hen. Der urchristliche Bezug zum Heil und zu dem aus diesem
Bezug entspringenden Leben sei nur aus einer spezifischen Situ-
ation der Existenz zu verstehen. Das Heil wird »verkündigt«
34 Philosophie des Lebens

und mit ihm der Anspruch verbunden, das alltägliche, von vor-
christlichen Gewohnheiten geprägte Leben hinter sich zu las-
sen. In der »urchristlichen Existenz« geht es um einen »vollen
Bruch mit der früheren Vergangenheit, mit jeder nicht-christli-
chen Auffassung des Lebens« (ebd., 69). Dieser »volle Bruch«
betrifft die Vergangenheit der jeweiligen Existenz. Zugleich
besteht er in einer »absoluten Umwendung« (ebd., 95). Es geht
nicht nur darum, dasjenige, was einst als Gewohnheit galt, hin-
ter sich zu lassen, sondern sich einer anderen Existenzweise
zuzuwenden, indem diese als eine Möglichkeit des Lebens über-
nommen und realisiert wird.
Mit diesem »vollen Bruch« erhält das christliche Leben eine
ganz eigentümliche Charakteristik. Die »absolute Umwen-
dung« als »Bruch« ist nicht als sukzessive Veränderung zu ver-
stehen. Im »Bruch« hört augenblicklich etwas auf, etwas an-
deres beginnt. Das christliche Leben beginnt erst dann, wenn
dieser »Bruch« vollzogen wird. Dabei ist es nicht so, als würde
das anders angefangene Leben vom handelnden Subjekt her-
stammen. Die »Faktizität« des christlichen Lebens kann »nicht
aus eigener Kraft gewonnen werden«, sie »stammt von Gott«
(ebd.,121). Die christliche Existenz ist sich dessen bewusst, dass
sie der »Gnade« Gottes entspringt. Christ zu sein steht ur-
sprünglich nicht im Vermögen des Menschen. Die christliche
Existenz ist eine Gabe Gottes, die nur durch jenen »Bruch«, der
eine vergangene Zeit beendet und eine neue Gegenwart er-
schließt, zu empfangen ist.
Diese Zuwendung zu einer neuen Gegenwart ist für die
»urchristliche Faktizität« damit verbunden, dass Jesus Chris-
tus seine Wiederkehr angekündigt hat. Dadurch entsteht in der
Gegenwart eine eigentümliche Spannung, die nicht nur Auswir-
kungen auf das Zukünftige, sondern auf das Leben jetzt und
hier hat. Das Heil ist nicht aus der Gegenwart allein zu gewin-
nen. Es kommt vielmehr auch aus der Zukunft. Dadurch gerät
das Leben in der Gegenwart in eine »Bedrängnis«. Die »Erwar-
Die urchristliche »Faktizität des Lebens« 35

tung der Wiederkunft des Herrn« bringt eine »Not« hervor.


Alles, was in der Gegenwart getan wird und getan werden muss,
steht unter dem Zeichen dieser »Wiederkehr«. Der Christ »lebt
ständig im Nur-noch, das seine Bedrängnis erhöht« (ebd., 119).
Was getan werden muss, muss »noch« getan werden. Die christ-
liche Existenz, die in einem »vollen Bruch« das vergangene,
nicht-christliche Leben hinter sich gelassen hat, kann sich der
»Bedrängnis« nicht entziehen. Es muss sich für die »Wiederkehr
des Herrn« durch ein »Sich-hinein-Stellen in die Not« (ebd.,98)
offen halten. Die faktische Erfahrung der Zeit und der Ge-
schichte besteht also in einer solchen »Not« hinsichtlich einer
zukünftigen Erfüllung der Existenz.
Diese Art der »zusammengedrängten Zeitlichkeit« erlaubt
es nicht, den Zeitpunkt der Rückkehr des Herrn genauer zu
erfragen oder zu bestimmen. Die »faktische Erfahrung« dieser
Zeitlichkeit kennt keine »eigene Ordnung und feste Stellen«
(ebd., 104). Sie ist weder eine objektive noch eine subjektive
Zeiterfahrung. Die »Wiederkehr des Herrn« kann nicht »als
zukünftig in der Zeitlichkeit stehendes abgehobenes Ereignis«
(ebd., 114) erwartet werden. Die christliche Existenz besteht
einzig und allein im augenblicklichen Erleiden einer »Not«, die
dem verkündeten Heil entspringt.
Diese »Not« wird durch eine besondere »faktische Erfah-
rung« verstärkt. Im Zweiten Brief an die Thessalonicher spricht
dessen Verfasser von einer bestimmten Bedingung für die Rück-
kehr Gottes. Erst müsse ein »Widersacher« (Zweiter Brief an
die Thessalonicher 1, 4) erscheinen, bevor der Herr wieder er-
scheine. Dieser »Widersacher« wird als »Satan« (1, 9) bezeich-
net. Es ist vielleicht charakteristisch für Heidegger, dass er die-
sen Sachverhalt besonders ernst nimmt. Denn er folgert: »Wer
wahrhaft Christ ist, das wird dadurch entschieden, daß er den
Antichrist erkennt.« (ebd., 110) Die besondere Zeiterfahrung
der christlichen Existenz impliziert ein »Erkennen« des »Wi-
dergöttlichen« (ebd., 155). Dieses »Erkennen« besteht darin,
36 Philosophie des Lebens

die vom »Antichrist« verbreiteten Lügen und Verführungen zu


durchschauen. Das Heil kann nicht ohne diese Möglichkeit,
sich in den Verführungen des »Widergöttlichen« zu verirren,
erlangt werden. Die »Bedrängnis« der Gegenwart der christ-
lichen Existenz wird von der Präsenz des »Antichristen« ent-
scheidend bestimmt.
Die christliche Existenz, welche die »Zeitlichkeit als solche«
»lebt«, kennt das »Widergöttliche«, das sich primär weder als
Ursünde noch als moralische Verfehlung, sondern in der realen
Gestalt des »Antichristen« darstellt. In einem Brief aus dem
Jahre 1921 schreibt Heidegger an seinen Lehrer Rickert: »Die
Gewissenserforschung innerhalb der Phänomenologie ist un-
umgänglich geworden.«5 Diese Bemerkung steht ohne Zweifel
in einem religionsphilosophischen Kontext. »Gewissenserfor-
schung« wird in der christlichen Existenz nötig, weil in der
»faktischen Erfahrung« der Zeitlichkeit das »Widergöttliche«
hervorkommt. Vielleicht wird man die häufig formulierte Kri-
tik an Heideggers vermeintlicher Taubheit für moralische oder
ethische Fragen insofern besser begründen können, als man
erkennt, dass Heideggers Zugang zu den Verirrungen des »fak-
tischen Lebens« eine Versubjektivierung von Moral und Ethik
verbietet. Jedenfalls fasst Heidegger in den Analysen der christ-
lichen Existenz das Böse nicht als eine subjektive Eigenschaft
des Menschen, sondern als einen Charakterzug der Geschichte
selbst auf.
Heideggers phänomenologisch-hermeneutische Auseinan-
dersetzung mit der christlichen Überlieferung des Glaubens
steht im Zeichen der Herausarbeitung einer urchristlich-fakti-
schen Existenz, eines Christentums an seinem Ursprung. Seine
Absicht entspringt dem Programm der »phänomenologischen
Destruktion« der Geschichte. Im Mittelpunkt dieser Freilegung
steht der Versuch, ein ursprünglicheres Verstehen des »fakti-

5 Heidegger/Rickert 2002, S. 57.


Die urchristliche »Faktizität des Lebens« 37

schen Lebens« mit seiner Verstricktheit in Zeit und Geschich-


te zu ermöglichen. Heideggers Auseinandersetzungen mit der
»christlichen Existenz« fallen in den engen Zeitraum vom Be-
ginn der zwanziger Jahre. In dieser Form ist er auf sie nie mehr
zurückgekommen. Das freilich erlaubt es nicht, die Bedeutung
dieser Analysen für Heideggers Denken zu unterschätzen. So ist
unbezweifelbar, dass Heideggers eigene Auffassung der Zeit-
lichkeit in ihrer ganzen Breite eher von einem christlichen als
von einem griechischen Zeitverständnis bestimmt worden ist.
Das wichtigste Charakteristikum dieser Zeitauffassung besteht
sowohl im Vorrang der Zukunft vor der Vergangenheit und
der Gegenwart als auch darin, dass das Verhältnis zu dieser
Zukunft eine besondere Bedeutung für die aktuelle Praxis hat,
indem sie sie radikal verwandelt.
38 Philosophie des Lebens

1.3 Anfänge mit Aristoteles und Platon

Neben dem Christentum bildet die Philosophie und Dich-


tung des antiken Griechenland die zweite wesentliche
Überlieferung der europäischen Existenz. Der Versuch,
diese Überlieferung zu verstehen, führt also notwendig
dazu, auch diesen Traditionsstrang auszulegen. Im Ver-
lauf dieser Interpretation wird deutlich, inwiefern die
Begrifflichkeit unseres Verstehens immer wieder unbe-
merkt von der platonisch-aristotelischen Ontologie beein-
flusst wird. Um diese unbemerkte Einfärbung des Verste-
hens zu durchschauen, ist es unvermeidbar, den Ursprung
dieser Tradition im Denken von Platon und Aristoteles zu
betrachten. Dabei wird erkannt, dass das fundamentalste
Phänomen, um das es dem Philosophen gehen muss, nicht
das Leben, sondern das Sein ist.

Heidegger geht davon aus, dass eine Erkenntnis der »Faktizität


des Lebens« nur durch eine Auslegung seiner geschichtlichen
Herkunft zu gewinnen ist. Die geschichtliche Herkunft »unse-
rer« »Faktizität« bildet die »griechisch-christliche Lebensaus-
legung«. Eine »Hermeneutik der Faktizität« muss sich darüber
Rechenschaft ablegen, dass ihre Begrifflichkeit und ihre prakti-
sche Bedeutung von dieser »Lebensauslegung« bestimmt wird.
Die anthropologischen Selbstverständlichkeiten, die unser
Menschenbild unthematisch prägen, entstammen einer christ-
lichen Auslegung griechischer Quellen. Der Ausgangspunkt
einer solchen Auslegung ist für Heidegger die Philosophie des
Aristoteles. Die christliche Auffassung des Menschen vor allem
in der scholastischen Theologie des Mittelalters, die Heidegger
durch sein Studium der katholischen Theologie sehr genau
kannte, besteht in einer spezifischen Rückübertragung christ-
Anfänge mit Aristoteles und Platon 39

lich-theologischer Kategorien auf die aristotelische Philoso-


phie. Daher lag es für Heidegger nahe, die Ausarbeitung der
»Faktizität des Lebens« auf eine hinter die christlich-scholasti-
sche Aneignung des Aristoteles zurückgehende ursprünglichere
Interpretation dieser Philosophie zurückzuführen. Das frühes-
te Dokument dieses Rückgangs ist ein Text, den Heidegger
Ende 1922 auf Nachfrage des Philosophen Paul Natorp anfer-
tigte, der den Text verlangte, um eine Grundlage für die Beset-
zung einer in Marburg vakant gewordenen Professorenstelle
(die Heidegger dann auch erhielt) zu haben. Dieser so genannte
Natorp-Bericht fasst Resultate zusammen, die Heidegger in
eben jenen Jahren in seinen Vorlesungen vortrug. Zudem bildet
er die Keimzelle des fünf Jahre später erschienenen Buches Sein
und Zeit. Er stellt sich als eine phänomenologische Auslegung
von aristotelischen Texten dar.
Die Besonderheit von Heideggers Zugang zur Philosophie
des Aristoteles besteht in dem Sachverhalt, dass der Philosoph
die Texte des großen Mit-Initiators der abendländischen Philo-
sophie vor allem als eine begriffliche Entfaltung des poetisch-
praktischen Lebens auslegt. Entscheidend dabei ist die Ver-
schiebung, die der Lebens-Begriff in dieser Interpretation er-
fährt. Das Leben wird nun als das »Sein« aufgefasst, das Leben
wird »ontologisch« verstanden: »Es kommt auf Sein an, d. h.
daß es ›ist‹, Seinssein, daß Sein ›ist‹, d. h. als Sein echt und nach
seinem Belang (im Phänomen) da ist.« (GA 61, 61), schreibt
Heidegger in einer Vorlesung dieser Zeit. In diesem Kontext
wird das Leben als »menschliches Dasein«, d. h. als ein beson-
deres »Seiendes« charakterisiert: »Leben = Dasein, in und
durch Leben ›Sein‹.« (ebd., 85) Der Gegenstand des philosophi-
schen Denkens ist der »Seinscharakter« des »menschlichen
Daseins«. Die hermeneutische Phänomenologie wird zu einer
»ontologischen Phänomenologie« (ebd., 60). Damit stellen
sich die Weichen für die Begrifflichkeit von Sein und Zeit.
Diese Verschiebung des Lebens-Begriffs zur Frage nach dem
40 Philosophie des Lebens

»Sein« ist der entscheidende Schritt für Heideggers Philosophie


überhaupt. Die Frage nach dem »Sinn von Sein« (GA 2, 1) wie
es in Sein und Zeit heißen wird, hat Heideggers Denken um-
getrieben und immer wieder angestoßen. Sie ist der Dreh- und
Angelpunkt seiner eigentümlichen Wege. Ich werde darauf zu-
rückkommen.
Die Uminterpretation des »Lebens« zum »Sein« geht zurück
auf Anstöße, die Heidegger von der Philosophie des Aristoteles
empfing. Dessen Ontologie entfaltet sich in seinen Vorlesungen
über die Natur bzw. über die Physik (phýsis = Natur) und über
das Seiende, das über die Natur hinausgeht und den Hin-
tergrund der Natur bildet (das Seiende méta tà physikà = das
Seiende »hinter« den Naturdingen). Am Beginn des vierten Bu-
ches der Vorlesungen (1003 a, 21) zur Metaphysik stellt Aristo-
teles eine Wissenschaft (epistéme) vor, die das Seiende als Seien-
des (tò òn hê ón) betrachtet. Diese Theorie des Seienden ist mit
keiner anderen Wissenschaft vergleichbar, da diese anderen
Wissenschaften jeweils besonderes Seiendes, beispielsweise das
Seiende als Zahl, untersuchen, nicht aber allgemein vom Seien-
den als Seiendem handeln. Da die Philosophie ein Fragen nach
den ersten Ursachen (aı́tia oder archaı́) des Seienden ist, muss
eine Theorie des Seins nach den ersten Ursachen des Seienden
als solchem suchen.
Diese besondere Theorie des Seins unterscheidet das Denken
des Aristoteles von anderen Wissenschaften. Nicht alles Wissen
hat es mit den ersten Gründen des Seins zu tun. So gibt es neben
dem theoretischen Wissen (epistéme theoretiké) ein Wissen von
der Politik (epistéme politiké) vom Handeln (epistéme prak-
tiké) und eines vom Hervorbringen (epistéme poietiké). Das
theoretische Wissen umfasst drei Seinsregionen: die natürli-
chen Dinge (Physik), die Zahlen (Mathematik) und das Göttli-
che (Theologie). Diese theoretischen Wissenschaften haben vor
den anderen einen Vorzug. Unter diesen drei Seinsregionen ragt
wiederum die des Göttlichen hervor. Die Theorie, die das Gött-
Anfänge mit Aristoteles und Platon 41

liche thematisiert, ist folglich die erste Philosophie (próte philo-


sophı́a, 1026 a, 24) von allen.
Das Seiende zu untersuchen, bedeutet zuerst, sich mit dem
Wesen (ousı́a) des Seienden zu beschäftigen. Das Wesen wird
von Aristoteles dreifach differenziert (1069 a, 30). So gibt es
zwei natürliche (bewegte), sinnlich wahrnehmbare Wesen, die
von einem dritten unbewegten unterschieden sind. Die zwei
natürlichen Wesen sind erstens Lebewesen jeder Art, die verge-
hen, so wie zweitens die Sterne, die ewig sind. Das unbewegte
Wesen ist das Göttliche (theı̂on) oder der Gott (theós). Dieser
Gott ist nach Aristoteles ganz und gar Geist bzw. Denken
(noûs). Er ist die reine Wirklichkeit (enérgeia), er vollzieht die
beste aller möglichen Tätigkeiten, indem er unermüdlich zu
denken vermag. Da er nur das Beste zu denken vermag, denkt
er immerwährend sich selbst. Darum kann Aristoteles dieses
Wesen als das sich selbst denkende Denken (nóesis noéseos,
1074 b, 34) bezeichnen. Diesem Göttlichen fällt zudem die
Bedeutung zu, das All des Seienden in Bewegung gesetzt zu
haben. Es ist das Wesen, das Alles bewegt, ohne selbst bewegt
zu werden (ti kinoûn autò akı́neton, 1072 b, 7). Dieses Wesen
ist das erste unbewegt Bewegende (prôton kinoûn akı́neton).
Nun besteht nach Aristoteles die höchste Glückseligkeit des
Menschen darin, dieses Göttliche zu betrachten. Eine solche
Betrachtung ist keine praktische und poetische, sondern eine
theoretische Tätigkeit. Mit diesem Votum für die Theorie oder
die erste Philosophie als Theologie hat Aristoteles der europäi-
schen Philosophie sowie der christlichen Theologie eine Rich-
tung gegeben, die noch heute das Ethos und Pathos vieler Philo-
sophen bestimmt.
Heidegger jedoch hat dieser aristotelischen Entscheidung
widersprochen. Im Mittelpunkt der konkreten Auslegung aris-
totelischer Texte steht für Heidegger das Sechste Buch der
Nikomachischen Ethik, in dem Aristoteles die so genannten
»dianoetischen Tugenden«, d. h. diejenigen Tugenden oder,
42 Philosophie des Lebens

dem griechischen Wort aretaı́ entsprechender, Bestheiten, die


das Denken und Erkennen leiten, erläutert. Von diesen Tugen-
den werden zwei von Heidegger hervorgehoben: die Klugheit
(phrónesis) und das Wissen (sophı́a).
Die phrónesis ist nach Heidegger eine »fürsorgende Um-
sicht« (NB, 255) für die praktischen Belange des alltäglichen
Lebens. Sie leitet den Umgang mit den Angelegenheiten, die
unser Leben betreffen, ohne dass schon die eigentlichen und
letzten Fragen gestellt werden. Die phrónesis ist eine Art des
Wissens, das uns in den täglichen Geschehnissen des Lebens
weiterhilft. Sie kennt nicht die letzte Wahrheit des theoreti-
schen Wissens, sondern eine Wahrheit, die eine praktische
Bedeutung hat. Diese »Wahrheit der Praxis« findet sich im »je-
weils unverhüllten vollen Augenblick des faktischen Lebens im
Wie der entscheidenden Umgangsbereitschaft mit ihm selbst«
(ebd., 259). Dieser »volle Augenblick des faktischen Lebens«
enthält den gesamten Bereich unseres nicht auf letzte Erkennt-
nisgültigkeit ausgehenden Handelns. Da Heidegger in jener
Zeit, als er eine tiefe Beschäftigung mit dem Denken des Aristo-
teles beginnt, sich vor allem dem Phänomen des »faktischen
Lebens« widmete, wird verständlich, inwiefern er gerade die
dianoetische areté der phrónesis für eine entscheidende Ent-
deckung des Aristoteles gehalten hat.
Dagegen geht Heidegger mit der sophı́a anders um. Sie sei
ein »eigentliches, hinsehendes Verstehen« (ebd., 255), das sei-
ne höchste Erfüllung in der Betrachtung der »Idee des Göttli-
chen« (ebd., 263) finde. Anders als die phrónesis, die sich mit
der »Wahrheit der Praxis« auskennt, erkennt die sophı́a die
höchste theoretische Wahrheit. Diese ist das Göttliche, das
Aristoteles nicht in einer »religiösen Grunderfahrung zugäng-
lich« wurde, sondern »in der ontologischen Radikalisierung
der Idee des Bewegtseienden«. Dieses »Bewegtsein« besteht
nach Heidegger in einem »reinen Vernehmen«, das »frei von
jedem emotionalen Bezug zu seinem Worauf« ist. Gleichgültig,
Anfänge mit Aristoteles und Platon 43

ob diese Interpretation Heideggers zutreffend ist oder nicht:


Worauf Heidegger hinaus will, das sind »die ontologischen
Grundstrukturen, die späterhin das göttliche Sein im spezifisch
christlichen Sinne« bestimmt haben. Er will darauf aufmerk-
sam machen, dass die christliche Theologie und die unter ihrem
Einfluss stehenden philosophischen Spekulationen etwa des
Deutschen Idealismus, indem sie auf die erste Philosophie des
Aristoteles zurückgehen, »in erborgten, ihrem eigenen Seins-
felde fremden Kategorien« sprechen. Dagegen betont Heideg-
ger eine klare Differenz zwischen der griechischen Ontologie
und der christlichen Predigt. Wir sahen bereits, wie der Philo-
soph paulinische Texte des Urchristentums auslegt, ohne sich in
»ontologische Grundstrukturen« zu verstricken, die durch die
Aristoteles-Rezeption des Mittelalters in die christliche Theolo-
gie eingedrungen sind.
Heideggers Auseinandersetzung mit der Philosophie des
Aristoteles wird von der Absicht getragen, in der Differenzie-
rung von griechischer Philosophie und christlicher Religion ein
Fundament für das eigene Denken zu finden. Er glaubt, dass
der Verlauf des europäischen Denkens eine Traditionsverwir-
rung hervorgebracht hat, in der das ursprüngliche Wissen von
dem, was die Philosophie und was ein Philosoph ist, verloren
ging. Im Rückgang auf die griechische Philosophie glaubte Hei-
degger, sich ein solches Wissen erarbeiten zu können. Dies ver-
suchte er jedoch nicht nur in einer Auseinandersetzung mit
Aristoteles, sondern auch mit Platon.
Von der Annäherung an die platonische Philosophie zeugt
die Marburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1924/25
über den Dialog Sophistes. Heidegger geht auf Platons Denken
zu, indem er einen Rückgang zu ihm durch Aristoteles voll-
zieht. Dessen Denken ist dem theologisch geschulten Heidegger
vertrauter. So hält er sich an den hermeneutischen Vorsatz,
»daß man beim Auslegen vom Hellen ins Dunkle gehen soll«
(GA19, 11). Der Bezug zu Platon soll tiefer in den Ursprung der
44 Philosophie des Lebens

europäischen Philosophie reichen. Von Platon will Heidegger


erfahren, was die ursprüngliche Bestimmung der Philosophie
und des Philosophen ist.
Denn »die Aufgabe, zu klären, was der Philosoph sei« (ebd.,
245), leiste derjenige Dialog, der erörtert, was ein Sophist im
Unterschied zum Philosophen sei. Doch Heidegger will diesen
Unterschied nicht einfach bloß mitteilen, sondern in einer Inter-
pretation des Dialogs sorgfältig entfalten. Mit Platon geht es
um eine »Vergegenwärtigung der Sachen«, die explizieren, was
ein Sophist ist. So werde dieser Dialog zu einer »Probe«, ob die
Philosophie des 20. Jahrhunderts ȟber die Freiheit der Sach-
lichkeit verfügt« (ebd.,257). In der Auseinandersetzung mit der
griechischen Philosophie soll sich erweisen, ob das Denken in
der Moderne noch die Kraft aufbringt, »Philosophie« zu sein.
Dabei ist es offenkundig unmöglich, das Wesen des Philoso-
phen zu erläutern, ohne danach zu fragen, was das Thema der
Philosophie ist. Heideggers Interesse an diesem Dialog gilt
besonders den Passagen, in denen Platon dieses Thema zur Dar-
stellung bringt. In diesem Sinne ist folgende Äußerung Platons
von größter Wichtigkeit. Sie hat Heidegger später zum Motto
von Sein und Zeit gemacht: »Da nun wir keinen Ausweg wis-
sen, so müsst ihr selbst uns zeigen, was ihr doch andeuten wollt,
wenn ihr Seiendes (ón) sagt. Denn offenbar wisst ihr dies seit
langem, wir aber glaubten es vorher zwar zu wissen, jetzt aber
sind wir ratlos.« (Stephanus-Zählung 244a) Die Frage nach der
Bedeutung des Seienden zu beantworten sei »das eigentlich
zentrale Bemühen« »des ganzen Dialogs« (GA 19, 447).
Die Auseinandersetzung um die Bedeutung des Seienden
wird von der Hauptfigur des »Sophistes«, von dem »Fremden«
(xénos), etwas später als eine gigantomachı́a perı̀ tês ousı́as
(St. 246 a), als eine Riesenschlacht um das Sein bezeichnet. Hei-
degger stellt sich dementsprechend die Frage, was der »Frem-
de« mit diesem Hinweis auf diesen philosophischen Krieg um
das Sein sagen will. Um was handelt es sich bei dieser rätselhaf-
Anfänge mit Aristoteles und Platon 45

ten Charakterisierung? Nach Heidegger geht es »um die Ent-


deckung des Seienden, das dem Sinn von Sein eigentlich ge-
nügt« (GA19, 466). Das ist eine Einsicht, die nicht nur eines der
Hauptwerke der Philosophie des 20. Jahrhunderts beherrscht,
sondern darüber hinaus das gesamte Denken des Philosophen:
Philosophieren heiße, die Frage nach dem »Sinn von Sein« zu
stellen. Die ganze europäische Philosophie sei im Grunde gar
nichts anderes als das Projekt, diese Frage stets unterschiedlich
zu beantworten.
Entscheidend ist allerdings zu sehen, dass die europäische
Philosophie seit Platon diese Frage nach dem »Sinn von Sein«
niemals explizit gestellt hat. Schon dieser große Lehrer abend-
ländischen Denkens habe diese Frage nicht formuliert. Das
heiße jedoch nicht, dass Platon oder Aristoteles den »Sinn von
Sein« nicht gekannt hätten. Platon und Aristoteles stellen die
Frage nach dem »Sinn von Sein« nicht, weil er ihnen zu »selbst-
verständlich« war. Der »Sinn von Sein« bilde folglich so etwas
wie einen unthematischen Hintergrund des griechischen und
damit des europäischen Philosophierens. Es gehe daher nun
darum, diese »nicht befragte Selbstverständlichkeit« durch
eine »nachkommende Auslegung ausdrücklich« zu machen.
Heideggers Philosophie versteht sich selbst als diese »nach-
kommende Auslegung«, wobei es darauf ankommt, deutlich
werden zu lassen, wo der Philosoph bei dieser »Auslegung« den
»Sinn von Sein« soweit modifiziert, dass er den unmittelbaren
Einfluss des platonisch-aristotelischen Anfangs der europäi-
schen Philosophie verlässt.
Der »selbstverständliche« »Sinn von Sein«, der das griechi-
sche Denken unbemerkt leite, wird von Heidegger prägnant
auf den Begriff gebracht. Er laute kurz und knapp: »Sein =
Anwesenheit«. Heidegger gelangt zu dieser Erkenntnis, indem
er auf eine spezifische Bedeutung des griechischen Wortes ousı́a
verweist. Ousı́a bedeutet nämlich im Griechischen keineswegs
bloß »Sein« oder »Wesen«. So wie mit dem deutschen Wort
46 Philosophie des Lebens

»Anwesen« auch der »Besitz« oder das »Haus« gemeint sein


kann, so bedeutet auch ousı́a »Anwesen« im Sinne des »Besit-
zes«. Wenn jemand auf seinen Besitz, auf seinen Grund und
Boden verweist, dann bezieht er sich auf etwas, worauf er sich
verlassen kann, auf etwas, das nicht erst werden muss oder
schon vergangen ist, sondern ständig einfach anwesend ist. Für
Heidegger ist dieser Sachverhalt der Hinweis, dass der »Sinn
von Sein« mit der Zeit zusammenhängt.
Der »Sinn von Sein« als »Anwesenheit« entspringe somit
nicht einer abgehobenen philosophischen Idee, sondern – das
zeigt die Bedeutung von ousı́a als »Anwesen« in der Bedeutung
von Besitz oder Haus – dem »faktischen Dasein«. Da die Grie-
chen und nach ihnen auch kein anderer Philosoph den unthe-
matisch gebliebenen »Sinn von Sein« bedacht habe, dieser aber
das Zentrum der europäischen Philosophie sei, weil »darin das
ganze Problem der Zeit und damit der Ontologie des Daseins
beschlossen liegt« (ebd., 467), war es für Heidegger nötig
geworden, die Frage nach dem »Sinn von Sein« explizit zur
Hauptaufgabe der Philosophie zu machen.
Heideggers Denken ist mit der Verschiebung seines Themas
von der »Faktizität des Lebens« zum »Sinn von Sein« auf sei-
ne Bahn gekommen. Für Heidegger bedeutet Philosophieren
schlechthin, ihrer griechischen Prägung zu folgen. Immer wie-
der ist er darum auf Aristoteles und Platon sowie auf das vor-
platonische Dichten und Denken der Griechen zurückgekom-
men. Dieser Schritt hin zur griechischen Prägung der europäi-
schen Überlieferung der Philosophie hat ohne Zweifel das
gesamte Denken des 20. Jahrhunderts angeregt. Weder Hus-
serls Phänomenologie noch der Neukantianismus hatten ein
authentisches Verhältnis zum griechischen Anfang der Philoso-
phie. Hannah Arendt hat das einmal so ausgedrückt: »Tech-
nisch entscheidend war, daß z. B. nicht über Plato gesprochen
und seine Ideenlehre dargestellt wurde, sondern daß ein Dialog
durch ein ganzes Semester Schritt für Schritt verfolgt und abge-
Anfänge mit Aristoteles und Platon 47

fragt wurde, bis es keine tausendjährige Lehre mehr gab, son-


dern nur eine höchst gegenwärtige Problematik. Heute klingt
Ihnen das vermutlich ganz vertraut, weil so viele es jetzt so
machen; vor Heidegger hat es niemand gemacht.« 6 Heideggers
ständiger Rekurs auf die Griechen, sein Vermögen, ihr Denken
lebendig erscheinen zu lassen, hat Generationen von Philoso-
phen und auch Philologen bis heute beeinflusst. Ein systemati-
scher Gewinn an Auslegungsmöglichkeiten wesentlicher Phä-
nomene der Welt des 20. Jahrhunderts aus dieser Quelle steht
außer Zweifel. Dennoch müssen wir erkennen, dass sich Hei-
degger mit der Entscheidung für die griechische Tradition des
Denkens festgelegt hat: Philosophieren heißt nach dem »Sein«
zu fragen.
Jahrzehnte später hat Heidegger einmal angemerkt, dass,
wenn er »noch eine Theologie schreiben würde«, »in ihr das
Wort ›Sein‹ nicht vorkommen« (GA 15, 437) würde. In seiner
Interpretation des am Urchristentum erörterten »faktischen
Lebens« hatte Heidegger ein Phänomen vor Augen, das durch
die »ontologischen Grundstrukturen« des platonisch-aristote-
lischen Denkens nicht zu fassen war. Die Bewegung des Heideg-
gerschen Denkens vom »faktischen Leben« zum »faktischen
Dasein«, von der »Faktizität des Lebens« zum »Sinn von Sein«
scheint kein notwendiger Fortschritt gewesen zu sein. Welche
Möglichkeiten verbergen sich noch in einer nichtontologischen
Hermeneutik des »faktischen Lebens«? Freilich soll mit dieser
Frage keineswegs gesagt werden, dass Heideggers Ontologisie-
rung der »Hermeneutik der Faktizität« zu einem Desinteresse
gegenüber den Phänomenen der »Faktizität« geführt hat. In
wesentlichen Gesichtspunkten sollte Sein und Zeit eine vehe-
mente Erweiterung der Analyse dieser Phänomene erbringen.

6 Arendt/Heidegger 1998, S. 182.


2 Die Frage nach dem Sein

2.1 Die Analytik des Daseins oder Existieren


als Sein zum Tode

Das Leben ist, wenn alle biologischen oder biologieanalo-


gen Interpretationen dieses Begriffs ausgeblendet werden,
ein Sein. Diesen Grundansatz des Denkens übernimmt
Heidegger von Platon und Aristoteles. Doch in seinem bis
heute einflussreichen Buch Sein und Zeit macht er deut-
lich, dass zwischen dem praktisch-technisch in einer Welt
existierenden Menschen und dem Sein selbst ein Unter-
schied besteht. Die Dinge, mit denen wir täglich umge-
hen, und wir selbst sind nicht schon das Sein, sondern wir
befinden uns in einem Bezug zum Sein. Gemäß diesem
Bezug sind die Dinge und die Menschen Seiendes. Da der
Mensch ein besonderes Seiendes ist, wird er als Dasein
bezeichnet. Auffällig ist, dass sich in der Untersuchung
des Bezugs zwischen dem Dasein und dem Sein vor allem
die Zeit in den Vordergrund drängt. So ist es ein Haupt-
merkmal des Daseins, nicht über eine unendliche Lebens-
zeit zu verfügen, sondern sterben zu müssen.
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 49

Als Heidegger im Jahre 1927 sein Werk Sein und Zeit erschei-
nen lässt, hatte er seit elf Jahren nichts mehr publiziert. Das
Buch veränderte die Diskussionslage zunächst der deutschen
und dann der europäischen Philosophie – es gilt heute als eines
der wichtigsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts.
Selbst der Heidegger sehr kritisch begegnende Jürgen Haber-
mas merkt zum Erscheinen von Sein und Zeit an: »Noch von
heute aus gesehen bildet dieser neue Anfang den wohl tiefs-
ten Einschnitt in der deutschen Philosophie seit Hegel.«1 Doch
Sein und Zeit beeinflusste nicht nur die Philosophie des Jahr-
hunderts. Das Buch rief darüber hinaus sowohl eine theologi-
sche als auch eine literaturwissenschaftliche Rezeption hervor.
Künstler und Dichter ließen sich von ihm inspirieren.
Mit Sein und Zeit erscheint der Denker Heidegger auf der
großen Bühne der Philosophie. Um die ungeheure Wirkungsge-
schichte dieses Buches zu verstehen, reicht es nicht aus, allein
die sich in ihm ereignenden theoretischen Revolutionen zur
Kenntnis zu nehmen. Sein Erfolg ist ohne Zweifel auch mit dem
Stil verbunden, in dem dieses Werk zu seinen Lesern spricht. Es
handelt sich um jenen charakteristischen Schreibstil, der seit-
dem Leser ebenso verzaubert wie abschreckt. Der Germanist
Emil Staiger beispielsweise spricht von »der finsteren Gewalt
der Sprache« Heideggers, die ihn bei der ersten Lektüre von
Sein und Zeit »unwiderstehlich« gefesselt habe. Zwar handele
es sich um eine von der Öffentlichkeit »vielgeschmähte Spra-
che«. Doch Staiger bekennt, dass sie ihm »als eine der größ-
ten Leistungen auf dem Gebiet der philosophischen Prosa er-
scheint«.2 Wie auch immer ein Leser Heideggers Schreibstil

1 Jürgen Habermas, »Heidegger – Werk und Weltanschauung«, Vor-


wort zu: Victor Farı́as, Heidegger und der Nationalsozialismus,
Frankfurt/M. 1989, S. 13.
2 Emil Staiger, »Ein Rückblick«, in: Otto Pöggeler (Hg.), Heidegger
heute. Perspektiven zur Deutung seines Werks, Köln u. Berlin 1969,
S.242.
50 Die Frage nach dem Sein

erfährt und beurteilt, wie auch immer wir das Verhältnis von
Stil und Philosophie betrachten, ohne Zweifel stellt Heideggers
Prosa ähnlich wie Hegels oder Nietzsches Texte eine kostbare
Besonderheit der deutschen Sprache dar.
Sein und Zeit ist Fragment geblieben. Die ersten sechs Aufla-
gen trugen den Untertitel »Erste Hälfte«. Gemäß dem im § 8
des Buches vorgestellten »Aufriß der Abhandlung« hat Heideg-
ger von zwei vorgesehenen Teilen nicht einmal den ersten voll-
endet. Die Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester
1927 Die Grundprobleme der Phänomenologie enthält jedoch
den überarbeiteten dritten Abschnitt, den Heidegger als Schluss-
abschnitt des ersten Teils vorgesehen hatte. Die Frage, ob Hei-
degger bereits über Partien der nicht veröffentlichten Teile ver-
fügte und sie vernichtete, weil er sie für unzureichend erachtete,
ist legendär. Nach allen diese Frage betreffenden bekannten
Zeugnissen müssen wir tatsächlich annehmen, dass der Denker
eine Fortsetzung von Sein und Zeit zurückgehalten hat. Das
Schicksal, Fragment geblieben zu sein, teilt Sein und Zeit mit
anderen großen Werken des 20. Jahrhunderts wie den Roma-
nen Kafkas oder Musils Der Mann ohne Eigenschaften.
In Sein und Zeit nimmt Heidegger den Faden, den er in sei-
nem Natorp-Bericht sowie in seiner Vorlesung über Platons
Sophistes zu knüpfen begann, wieder auf. Er stellt die Frage
nach dem »Sinn von Sein«, will sie auf ein »Fundament« brin-
gen, sodass der Philosoph das Denken von Sein und Zeit »Fun-
damentalontologie« nennt. Zum Ausgangspunkt seiner Ant-
wort wählt Heidegger ein »exemplarisches Seiendes« (GA2, 9).
Dieses »Seiende« ist eines, dem es »in seinem Sein um dieses
Sein selbst geht« (ebd., 16), ein »Seiendes«, das sich nicht nur
um sich, sondern auch um das »Sein selbst« zu sorgen vermag,
das sich also von allem anderen »Seienden« dadurch unter-
scheidet, dass es »Seinsverständnis« hat. Dieses »Seiende« ist
der Mensch. Der Mensch »versteht« »Sein«, indem er nach ihm
zu fragen vermag. Doch Heidegger gibt diesem »Seienden«
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 51

einen eigenen Titel oder Namen. Das »Seiende«, das nach dem
»Sein« zu fragen vermag – der Mensch –, ist das »Dasein«.
Mit dieser Bezeichnung hat es eine besondere Bewandtnis.
Die Aussage, der Mensch bzw. das, was den Menschen als einen
solchen ausmache, sein »Wesen«, sei, insofern er eben seins-
verstehend sei, das »Dasein«, schließt nicht aus, dass das Wesen
des Menschen auch anders bezeichnet werden könnte. Bei Pla-
ton z. B. ist der Mensch das Lebewesen, das zu tanzen vermag
(Nomoi, 653 e), nach Aristoteles ist der Mensch das politische
oder das Sprache habende Lebewesen (zôon politikón bzw.
zôon lógon échon, Politeia, 1253 a), im Christentum ist er das
Geschöpf (ens creatum) im Unterschied zum Schöpfer (ens
increatum). Dieser Galerie der Wesensdefinitionen in Bezug auf
den Menschen könnten noch andere hinzugefügt werden.
Daraus entsteht eine Beliebigkeit, die Heidegger mit seiner fun-
damentaleren Wesensbestimmung als »Dasein« zu überwinden
sucht.
Sein und Zeit formuliert nicht die Aussage: der Mensch ist
»Dasein«, sondern es sagt: das »Dasein« ist Mensch. Es ist
nicht der Fall, dass der Mensch als Grund verschiedener Defini-
tionen fungiert, von denen eine »Dasein« heißt. Auch versteht
Heidegger das »Dasein« nicht als eine Eigenschaft des Men-
schen. Vielmehr ist das »Dasein« der Grund, von dem aus der
Mensch der sein kann, der er ist. Indem das »Dasein« dieses
Fundament ist, kann sich der Mensch auch als politisches oder
Sprache habendes Lebewesen bestimmen.
Das »Dasein« ist keine Eigenschaft eines Gegenstandes
»Mensch«. Das »Dasein«, so Heidegger, ist das »Sein des Da«
(ebd., 316). Das »Da« dürfen wir nicht in dem Sinne verstehen,
wie wir sagen können, »da« ist ein Mensch. Das »Da« ist kein
deiktischer Begriff. Das »Da« kennzeichnet vielmehr die »Er-
schlossenheit« oder »Offenheit« für das Verstehen des »Seins«
überhaupt. Dass es ein Verstehen und Begreifen geben kann,
das ermöglicht die »immer schon« aufgebrochene »Offenheit«
52 Die Frage nach dem Sein

des »Da«, die »Existenz« im Sinne der »Ausgesetztheit zum


Seienden« (GA 65, 302). Wenn »Dasein« und Mensch zwar
keine identischen Phänomene sind, so wird doch von jener pri-
mär aufgebrochenen »Offenheit« her deutlich, dass einzig und
allein der Mensch es vermag, das »Dasein« zu sein. Tiere sind
nach Heidegger nicht dazu in der Lage, das »Sein« zu verste-
hen.
Heidegger versucht die Frage nach dem »Sinn von Sein« zu
stellen und sich einer Antwort anzunähern, indem er ein
bestimmtes »Seiendes«, und zwar das »Dasein«, zur Grund-
lage seiner Untersuchung macht. Denn das »Dasein« ist die
Offenheit, die »Seinsverständnis« ermöglicht. Mit dieser Be-
deutung ist es der Grund des Menschen, nicht der Mensch
selbst. Dieser Unterschied zwischen Grund des Menschseins
und Mensch ist wesentlich, denn er schlägt in der Geschichte
der Philosophie ein neues Kapitel auf. Die neuzeitliche Philo-
sophie hatte den Grund des Menschseins insofern mit dem
Menschen identifiziert, als sie vorgab, dass das Verstehen des
»Seins« von den Erkenntnisvermögen des Menschen abhänge.
Die neuzeitliche Philosophie seit Descartes fasste den Men-
schen als den Grund des »Seins«, als das Subjekt, als dasjenige,
was allem anderen zu Grunde liegt (subiectum = das Unterge-
legte) auf. Das »Dasein« ist zwar als Grund des Fragens nach
dem »Sinn von Sein« ein besonderes, oder wie Heidegger sagt,
»ausgezeichnetes Seiendes«. Doch indem es in Hinsicht auf das
»Sein« genau wie z. B. die Tiere und Pflanzen ein »Seiendes«
bleibt, weil wir vom »Dasein« genauso wie vom Tier sagen
müssen, dass es »ist«, ist es nicht der Grund des »Seins«. Das
»Dasein« ist nicht das »Subjekt«, es ist nicht diejenige Instanz,
auf die alles andere »Seiende« wie auf einen universalen Maß-
stab rückbezogen werden kann. Diese Unterscheidung von
»Dasein« und »Subjekt« gilt in Sein und Zeit auch dann, wenn
Heidegger den Begriff des »Subjektes« an einigen Stellen affir-
mativ zu verwenden scheint. Allerdings verweist dies auf die
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 53

hier nicht weiter zu entwickelnde Tatsache, dass – trotz aller


Abgrenzungen des »Daseins« vom »Subjekt« – von einer »Über-
windung« der »Subjektivität« in Sein und Zeit noch nicht ge-
sprochen werden kann.
Um die Frage nach dem »Sinn von Sein« stellen zu können,
beginnt Heidegger seine Untersuchung beim »Dasein«. Am
»Dasein« sollen Merkmale »analysiert« werden, die den »Sinn
von Sein« erhellen können. Heidegger nennt diese Merkmale
»Seinsweisen« bzw. »Seinsmodi«. Die »Seinsweisen« des »Da-
seins« zeigen sich, wenn dieses zum Gegenstand einer »Ana-
lyse« gemacht wird. Das »Dasein« jedoch ist kein »Gegen-
stand«, sodass eine solche Vergegenständlichung immer in der
Gefahr steht, das Untersuchte zu verfehlen. Deshalb schreibt
Heidegger: »Die Zugangs- und Auslegungsart muß vielmehr
dergestalt gewählt sein, daß dieses Seiende sich an ihm selbst
von ihm selbst her zeigen kann. Und zwar soll sie das Seiende in
dem zeigen, wie es zunächst und zumeist ist, in seiner durch-
schnittlichen Alltäglichkeit.« (GA2, 23) Das »Dasein« soll sich
»an ihm selbst von ihm selbst her zeigen«. In diesem gleichsam
natürlichen Zustand befindet sich das »Dasein« im Alltag. Die
»Daseinsanalytik« beginnt folglich mit einer Thematisierung
der alltäglichen Praxis.
Die Untersuchung der alltäglichen Praxis des »Daseins«
bringt allerdings eine Voraussetzung ins Spiel, die äußerst weit-
reichende Folgen hat. Heidegger will von vornherein das
»Dasein« in seiner »Ganzheit« betrachten. Auf den ersten Blick
ist die »Ganzheit« ein eher abstraktes Merkmal des »Daseins«.
Der Alltag erscheint uns diffus, wir finden uns in viele unzu-
sammenhängende Tätigkeiten verstrickt (der an der Universi-
tät unterrichtende Dozent kümmert sich um seine Kinder,
bringt das Auto zur Reparatur, pflegt den Vorgarten etc.). Hei-
degger spricht demnach von einer »phänomenalen Vielfältig-
keit der Verfassung des Strukturganzen und seiner alltäglichen
Seinsart« (ebd., 240). Doch bei aller Zerstreutheit bleibt das
54 Die Frage nach dem Sein

»Dasein« ein einheitliches »Strukturganzes«. Die »Ganzheit«


des »Daseins« besteht in seiner »Zeitlichkeit«. Das »Dasein«
ist »ganz«, wenn es gestorben ist. Insofern das »Dasein« seine
Zeit hat, insofern es endlich ist und sterben muss, weil es das
»Sein zum Tode« (ebd., 314 ff.) ist, bildet es eine einheitliche
»Struktur«. Die Rede von einer »Ganzheit« des »Daseins« ver-
dankt sich demnach keiner theoretischen Erkenntnis. So dis-
kontinuierlich das »Dasein« alltäglich erscheinen mag, es ver-
sammelt sich doch in einer spezifischen Einheitlichkeit, weil es
zu sterben hat. Ich werde diesen für Heidegger enorm wichti-
gen Gedanken vom »Dasein« als einem »Sein zum Tode« im
Folgenden differenziert darstellen. Ohne Zweifel gehört er zu
den Gedanken, die Sein und Zeit über die Grenzen der Philoso-
phie hinaus zu einem Ereignis haben werden lassen, das alle
Bereiche des kulturellen Lebens berührt.
Die alltägliche Praxis ist das zentrale Paradigma, an dem
Heidegger seine »Daseinsanalytik« ausrichtet. Im Hintergrund
dieser Ausrichtung befindet sich der Kerngedanke von Sein und
Zeit. Indem das »Dasein« in seiner Alltäglichkeit untersucht
wird, erweist sich die »Zeitlichkeit« als sein »Sinn« (ebd., 24).
Doch die »Zeitlichkeit« zeigt sich nur insofern als dieser
»Sinn«, als wir durch ihn hindurch auf die Frage nach dem
»Sinn von Sein« schauen können. Sie ist also der »Sinn« des
»Daseins«, indem sie der erste und letzte »Horizont des Seins-
verständnisses« ist. Die sich unmittelbar an der Alltäglichkeit
des »Daseins« abarbeitende Analytik hat daher mittelbar das
Ziel, die Zeit als den »Horizont des Seins« (ebd., 577) zu
betrachten. Dass von der »Zeitlichkeit« des »Daseins« zu sei-
ner Endlichkeit nur ein kleiner Schritt zurückzulegen ist, ist evi-
dent.
Die Orientierung der »Daseinsanalytik« folgt dem Phäno-
men, das Heidegger früher die »Faktizität des Lebens« genannt
hat. In diesem Sinne ist es konsequent, dass jene die ganze Ana-
lyse in Fahrt bringende Frage zuerst nicht nach einem allgemei-
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 55

nen Subjekt der Alltäglichkeit Ausschau hält. Heidegger fragt


nicht, »was« das alltägliche »Dasein« ist, sondern »wer ist es,
der in der Alltäglichkeit das Dasein ist« (ebd., 114). Diese Ver-
schiebung von der »Was«- zur »Wer«-Frage bezüglich des »Da-
seins« hat Heidegger Jahre später wiederholt. Sie ist alles an-
dere als ein Randphänomen. Ohne ausführlicher auf die Trag-
weite dieser Verschiebung eingehen zu können, sei auf folgende
Situation aus dem Alltag hingewiesen:

»Wenn uns in unserem Bereich dergleichen wie ein Mensch als ein
Befremdliches begegnet, wie fragen wir ihm entgegen? Wir fragen
nicht unbestimmt, was, sondern wer er sei. Wir erfragen und erfahren
den Menschen nicht im Bereich des So oder Was, sondern im Bereich
des Der und Der, der Die und Die, des Wir.« (GA 38, 34)

Wenn wir in Erfahrung bringen wollen, mit wem wir es im All-


tag zu tun haben, fragen wir zunächst nicht danach, »was«
jener auf uns zukommende Andere ist, sondern »wer« er ist. Er
erscheint uns nicht als das Exemplar einer Gattung, als der Ein-
zelfall eines Allgemeinen, sondern als etwas Besonderes und
Einzigartiges.
Zu fragen, wer das alltägliche »Dasein« sei, setzt schon et-
was Selbstverständliches voraus. Das »Dasein« ist nicht allein.
All das, was das »Dasein« im Alltag tut, tut es nicht bloß für
sich selbst. Das »Dasein« ist »immer schon« mit Anderen im
Gespräch, in Berührung. Dieses »immer schon« (eine Art Apri-
ori, das empirisch gegeben ist) besagt, dass das »Dasein« von
Anfang an in einer Welt leben muss, die es sich nicht aussuchen
konnte, die schon bestand, ehe es das jeweilige »Dasein« gab.
Das »Dasein« wird also gemäß einer Redensart »ins kalte Was-
ser geworfen«. Heidegger nennt dieses Merkmal des »Daseins«
»Geworfenheit«. Demgegenüber ist es jedoch nicht bloß »ge-
worfen«. Es hat Möglichkeiten, sich an der Gestaltung des
Bestehenden zu beteiligen. Neben der unvermeidlichen Aner-
kennung der »Geworfenheit« hat das »Dasein« die Möglich-
56 Die Frage nach dem Sein

keit zum »Entwurf«. Es kann sich beispielsweise entscheiden,


diesen oder jenen Beruf zu ergreifen.
Ein Moment des »Geworfenseins« besteht darin, dass das
»Dasein« ursprünglich, d. h. »immer schon«, mit Anderen
zusammen ist. Doch diese Ursprünglichkeit ist nicht so zu ver-
stehen, als sei das »Dasein« ein Ursprung, von dem das Mitein-
andersein logisch abgeleitet werden könnte. »Dasein« und Mit-
einandersein sind schon im Ursprung beide zugleich gegeben.
»Dasein« und »anderes Dasein« sind, um einen Begriff ins Spiel
zu bringen, der sich bereits im Denken Schellings finden lässt,
»gleichursprünglich«. In Heideggers Worten: »Die Nachfor-
schung in der Richtung auf das Phänomen, durch das sich die
Frage nach dem Wer beantworten lässt, führt auf Strukturen
des Daseins, die mit dem In-der-Welt-sein gleichursprünglich
sind: das Mitsein und Mitdasein.« (GA 2, 152) »Dasein« ist
»immer schon« »Mitsein« und »Mitdasein«.
Diese Aussage kennzeichnet kein kontingentes Merkmal des
»Daseins«. Es ist ein ontologischer Charakterzug des »Da-
seins«, dass es »Mitsein« und »Mitdasein« ist. Es gehört von
Anfang an zum »Seinsverständnis«, dass das »Dasein« mit An-
deren lebt. Das »Mitsein« ist ein Merkmal »des je eigenen
Daseins«. Das »Mitdasein« kennzeichnet das andere »Da-
sein«. Übrigens ist Heidegger nicht der Ansicht, das andere
»Dasein« könne vom eigenen her interpretiert werden. Nur
beiläufig kann darauf verwiesen werden, dass für Heidegger
der Andere keine »Dublette des Selbst« (ebd., 166) ist. Insofern
das »Dasein« ursprünglich »Mitsein« ist, kann es als »Mitda-
sein« für Andere dasein, indem es für sie »sorgt«. Eine wesentli-
che »Seinsweise« des »Daseins« ist die »Sorge« (ebd., 162).
Das »Dasein« verrichtet in der Alltäglichkeit irgendwelche
Tätigkeiten, die seine Subsistenz ermöglichen. Es kümmert sich
um Dinge, »besorgt« Angelegenheiten. Auch dieser Charakter
muss dem »Dasein« strukturell zugesprochen werden. Das
»Dasein« ist nicht einmal »besorgend«, einmal wieder nicht,
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 57

sondern »Dasein« ist durch und durch ein »Besorgen«. Die


»Sorge« ist »das Sein des Daseins überhaupt«. Heidegger hat
darauf aufmerksam gemacht, dass »Sorge« hier nicht dasjenige
Phänomen bedeutet, was für gewöhnlich als Besorgnis inter-
pretiert wird. Das »Dasein« »macht sich keine Sorgen«, son-
dern »besorgt« seine alltäglichen Sachen oder »sorgt« für die
Anderen.
Das wesentlichste Merkmal der »Sorge« ist, dass sie sich sel-
ten auf vergangene Begebenheiten und Handlungen und nicht
vordringlich auf gegenwärtige Situationen des »Daseins« be-
zieht. Die »Sorge« hat eine Orientierungsfunktion für die Zu-
kunft. In der »Sorge« nämlich reicht das »Dasein« gleichsam
über sich selbst hinaus zu dem, das sich ankündigt oder wo-
möglich droht. Dass sich das »Dasein« im Alltag um seine
Angelegenheiten kümmert, entspringt daher nicht einer jeweils
neu einsetzenden »Sorge«, sondern ist zurückgebunden an
einen Grundcharakter des »Daseins«. Wir sind grundsätzlich
»sorgend« auf das bezogen, was aus der Welt auf uns zu-
kommt. Diese eigentümliche Offenheit zur Zukunft charak-
terisiert Heidegger stiltypisch folgendermaßen: »Das Sein des
Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in- (der-Welt-) als Sein-
bei (innerweltlich begegnendem Seienden). Dieses Sein erfüllt
die Bedeutung des Titels Sorge [. . .].« (ebd., 256) Das »Dasein«
ist sich stets »vorweg«, es ist immer auf solches bezogen, was
sich nicht in seiner puren Anwesenheit erfüllt. Indem es sich
selbst »vorweg« ist, ist es »bei« jenen Dingen, die es zu erledi-
gen haben wird.
Dieses »Besorgen« seiner alltäglichen Angelegenheiten ok-
kupiert das »Dasein« auf eine spezifische Weise. An dieser
Stelle der phänomenologisch-hermeneutischen Bestandsauf-
nahme der Alltäglichkeit führt Heidegger einen Begriff oder
besser eine terminologische Differenzierung ein, die noch heute
Anlass zu Auseinandersetzung und Kritik bietet. Dabei sei
zunächst daran erinnert, dass Heidegger ja fragte, »wer« das
58 Die Frage nach dem Sein

»Dasein« im Alltag sei. Diese Frage findet nun eine Antwort.


Das alltägliche »Besorgen« des »Daseins« findet stets in einer
bestimmten »Seinsweise« statt. Wenn ich Bus fahre oder zum
Arbeitsamt gehen muss, wenn ich einen Kredit aufnehme oder
mir eine Hose kaufe, dann tue ich all das so, wie »man« es eben
tut. Im Alltag bzw. in der alltäglichen Öffentlichkeit »besor-
gen« wir unsere Angelegenheiten so, wie »man« seine Angele-
genheiten »besorgt«. Im Alltag erscheint das »Dasein« in der
»Seinsweise« des »Man« (ebd., 168 ff.). Diese »Seinsweise«
unterscheidet Heidegger von der Möglichkeit, »eigentlich« zu
existieren. Alles, was uns wie die Liebe oder die Freundschaft,
der Tod oder die Geburt »eigentlich« betrifft, wird nicht
»besorgt« wie alltägliche Erledigungen. Das »Man« ist das
»Neutrum« der alltäglichen Öffentlichkeit, das »eigentliche
Selbstsein« (ebd., 172) bietet die Möglichkeit, über die Alltäg-
lichkeit hinaus zu leben.
Heidegger hat in Sein und Zeit der Beschreibung des »Man«
viel Platz eingeräumt. Er hat es als zur »positiven Verfassung
des Daseins« gehörig (ebd., 172) bezeichnet. In der Tat scheint
mir die Analyse des »Man« den »positiven« Versuch darzustel-
len, den Alltag der Menschen in der neuartigen »Massengesell-
schaft« des 20. Jahrhunderts samt ihrer Öffentlichkeit zu
beschreiben. Mit dem »Begriff« des »Man« kommt Heidegger
dem Phänomen von Funktionalisierungen und Neutralisierun-
gen entgegen, die wir im Alltag »faktisch« anzuerkennen ha-
ben. Das »Man« ist eine Deskriptionskategorie für Anonymi-
sierungen, ohne die der Alltag von »Massengesellschaften«
nicht denkbar ist. Im Grunde bietet das »Man« Anknüpfungs-
punkte für eine politische oder soziologische Theorie der Öf-
fentlichkeit. In dieser Hinsicht gehen Heideggers Erörterungen
zum Beispiel sowohl über Rilkes Beschreibungen im Malte
Laurids Brigge als auch über Adornos spätere Äußerungen zur
»Kulturindustrie« hinaus.
Das »Man« ist dasjenige »Dasein«, das seine alltäglichen
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 59

Angelegenheiten besorgt. Insoweit stellt es eine positive Be-


schreibungsmöglichkeit der Alltäglichkeit dar. Das »Dasein«
hat die Tendenz, im Alltag »aufzugehen«. Die Zerstreutheit des
Alltags ist kein negatives Moment, sondern geradezu eine
gesuchte Lebensmöglichkeit. Das »Dasein« ist geneigt, sich im
»Man« zu zerstreuen und zu verlieren. Heidegger schreibt:
»Das Aufgehen im Man und bei der besorgten ›Welt‹ offenbart
so etwas wie eine Flucht des Daseins vor ihm selbst als eigentli-
chem Selbstsein-können.« (ebd., 245) Das »Dasein« sucht
Möglichkeiten, sich selbst aus dem Weg zu gehen. Eine dieser
Möglichkeiten ist das Ausweichen in die Welt der Arbeit und
der Unterhaltung, eine begrüßte Kapitulation vor der »Spaßge-
sellschaft«. Heidegger nennt dieses Ausweichen »Verfallen«.
Das »Dasein« ist »zunächst immer schon abgefallen« von sich
selbst und an die Welt »verfallen«. Diese Tendenz zur Zerstreu-
ung in den Besorgungen seiner Angelegenheiten gleicht einer
natürlichen Verführung von Seiten des Alltäglichen. Obwohl
Heidegger die Analogie nicht verwendet, ließe sie sich als die
»Verfallenheit« an einen Anderen denken. Diese »Verfallen-
heit« ist zweideutig, da sie einerseits als ein zwanghafter
Zustand aufgefasst wird, andererseits aber eine Art von Erfül-
lung darstellt.
Das »Dasein« flieht vor sich selbst. Diese »Flucht« hat einen
Grund. Denn indem sich das »Dasein« mit sich selbst konfron-
tiert, stellt sich eine bestimmte »Befindlichkeit« ein. Diese
»Befindlichkeit« ist die »Angst« (ebd., 247).
Die »Angst« ist eine »Befindlichkeit«, ja, eine »Grundbe-
findlichkeit« des »Daseins«. Diese »Grundbefindlichkeit« un-
terscheidet sich nach Heidegger von der »Furcht«. »Furcht«
kommt auf, wenn uns »innerweltliches Seiendes« – beispiels-
weise ein bissiger Hund – bedroht. Das »Wovor der Angst« sei
dagegen kein »innerweltliches Seiendes«. Um diesen Unter-
schied zwischen »Furcht« und »Angst« zu verstehen, müssen
wir uns eine »Angst«-Situation vergegenwärtigen.
60 Die Frage nach dem Sein

Wenn wir uns vor einem Hund fürchten, dann befindet sich
das Bedrohliche vor uns. Die Bedrohung ist ziemlich genau aus-
zumachen. Wenn dieses Vieh dort mich hier beißt, wird das
unangenehme Folgen nach sich ziehen. In der »Angst« gibt es
ein solches Hier und Dort nicht. Ich nehme ein weiteres Beispiel
zur Hilfe. Wir ängstigen uns vor einer Prüfung. Wir haben diese
»Angst« auch, ohne dass wir unmittelbar vor einer Prüfung ste-
hen. Wir haben sie sogar selbst dann, wenn wir faktisch keine
Prüfung zu absolvieren haben. Es genügt einfach, an die Prü-
fungssituation zu denken. Die »Angst« hängt nicht von der
Anwesenheit eines bestimmten Seienden ab. Dies ist nach Hei-
degger ein wichtiges Charakteristikum der »Angst«: »Daß
das Bedrohende nirgends ist, charakterisiert das Wovor der
Angst.« (Ebd., 248) Wir können nicht sagen, an welchem Ort
sich das befindet, wovor wir uns ängstigen. Dieser Sachverhalt
ist nicht etwa ein Einwand gegen die »Angst«, er macht gerade
den positiven Gehalt des Phänomens aus. Es gehört zur
»Angst«, dass wir ihr Objekt nicht lokalisieren können: »Das
Drohende kann sich deshalb auch nicht aus einer bestimmten
Richtung her innerhalb der Nähe nähern, es ist schon ›da‹ – und
doch nirgends, es ist so nah, daß es beengt und einem dem Atem
verschlägt – und doch nirgends.« (ebd., 248) Wer »Angst« hat,
kann auf das, wovor er sich ängstigt, nicht zeigen. Es »beengt«,
ist unsichtbar, ist überall und nirgends.
Dass jenes, wovor wir uns ängstigen, »nirgends« ist, ver-
weist auf seinen ontologischen Status. Das, wovor wir »Angst«
haben, ist kein Ding, keine Sache. Das kann Heidegger mit
einer Redensart andeuten: »Wenn die Angst sich gelegt hat,
dann pflegt die alltägliche Rede zu sagen: ›es war eigentlich
nichts‹.« (ebd., 248) Das, wovor wir »Angst« haben, ist eigent-
lich »nichts«. Was ist dieses »Nichts«? Zunächst erkennen wir,
dass in der »Angst« kein Gegenstand erscheint. In der »Angst«
gibt es nichts »Seiendes«. Doch dieses »Nichts« ist nicht etwas
ganz und gar nichtiges, es kann, obschon es nichts »Seiendes«
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 61

ist, in der »Grundbefindlichkeit« der »Angst« erfahren wer-


den. In dieser Erfahrung stellt sich das beängstigende »Nichts«
als die »Welt« heraus.
»Im Wovor der Angst wird das ›Nichts ist es und nirgends‹ offenbar.
Die Aufsässigkeit des innerweltlichen Nichts und Nirgends besagt
phänomenal: das Wovor der Angst ist die Welt als solche. Die völlige
Unbedeutsamkeit, die sich im Nichts und Nirgends bekundet, bedeu-
tet nicht Weltabwesenheit, sondern besagt, daß das innerweltlich Sei-
ende an ihm selbst so völlig belanglos ist, daß auf dem Grunde dieser
Unbedeutsamkeit des Innerweltlichen die Welt in ihrer Weltlichkeit
sich einzig noch aufdrängt.« (ebd., 248)

Das »Nichts und Nirgends«, um das es in der »Angst« geht,


ist die »Welt als solche«, die gerade daher so bedrängend er-
scheint, weil sich alles, was uns Halt verschaffen könnte, in
»Nichts« auflöst. Gerade wenn wir den Boden unter den Füßen
zu verlieren glauben, wird offenbar, wie sehr wir uns davor
ängstigen, auf ihm stehen zu müssen.
Die »Angst« reicht also tiefer als die »Furcht«. In der
»Furcht« haben wir es mit bestimmtem »Seienden« zu tun (Hun-
den, Spinnen etc.). In der »Angst« haben wir es eigentlich mit
»Nichts« zu tun. Doch indem wir es mit dem »Nichts« zu tun
haben, indem wir eigentlich vor »Nichts« »Angst« haben, er-
scheint gerade die »Welt als solche« oder, um einen Buchtitel
von Peter Handke zu zitieren, Das Gewicht der Welt3. Doch
diese Welt ist nicht etwas außerhalb unseres Daseins. Heideg-
ger schreibt: »Wenn sich demnach als das Wovor der Angst das
Nichts, das heißt die Welt als solche herausstellt, dann besagt
das: wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-sein
selbst.« (ebd.,249) Das »In-der-Welt-sein« ist das »Dasein«. In
der »Angst« haben wir »Angst«, da sein zu müssen. Dieses
»Dasein« sind wir jeweils selbst, sodass wir sagen müssen, dass

3 Peter Handke, Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975
– März 1977), Salzburg 1997.
62 Die Frage nach dem Sein

wir in der »Angst« uns vor uns selbst ängstigen. Das »Man«
überlässt sich der Zerstreuung in den vielfältigen Unterhaltun-
gen, weil es sich davor ängstigt, das »Gewicht der Welt«, mit-
hin sich selbst tragen und ertragen zu müssen.
Heidegger betont, dass die »Angst« nicht nur ein »Wovor«,
sondern auch ein »Worum« hat. Dasjenige, »wovor« und »wo-
rum« wir uns ängstigen, ist identisch. Wenn das »Man« die
Zerstreuung sucht, weil es »Angst« vor dem »Gewicht der
Welt« hat, dann hat es »Angst«, diese Zerstreuung bietende
Welt zu verlieren: »Die Angst benimmt so dem Dasein die Mög-
lichkeit, verfallend sich aus der ›Welt‹ und der öffentlichen Aus-
gelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück,
worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-
können.« (Ebd., 249) In der »Angst« sind das, »wovor« und
»worum« wir »Angst« haben, dasselbe. Wir haben »Angst«
vor unserem und um unser »In-der-Welt-sein-können«. Wir
können diese Differenz in der erfahrenen »Angst« kaum aus-
einander halten. Es scheint ein Paradox zu sein, dass derjenige,
der aus Kummer und Verzweiflung sich um sein Leben ängstigt,
zugleich vor diesem »Angst« hat. Doch indem ein solches
Leben aus nichts anderem als aus Verzweiflung besteht, wird
deutlich, dass die »Angst«, das Leben zu verlieren, eben aus
diesem Leben selbst hervorgeht. In der »Furcht« übrigens kon-
vergiert das »Wovor« mit dem »Worum« nicht. Wir fürchten
uns nämlich vor dem Hund und um unsere Hosen.
In der »Angst« wird uns deutlich, inwiefern wir uns zugleich
um unsere und vor unseren Lebensmöglichkeiten ängstigen.
Die »Angst« betrifft unser »Dasein«. Sie betrifft es aber nicht
nur von Fall zu Fall. In »Angst« versetzt steht unser ganzes
»Dasein« auf dem Spiel. Die »Ganzheit« des »Daseins«, die
Heidegger in der »Daseinsanalytik« von Sein und Zeit im Blick
hat und zu beschreiben sucht, zeigt sich in der »Angst«. Dass es
so etwas wie eine »Ganzheit« des »Daseins« gibt, erfahren wir
in dieser »Grundbefindlichkeit«. Indem die »Sorge« eine zen-
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 63

trale »Seinsweise« des »Daseins« ist, stets sich selbst voraus zu


sein, stets auf mehr aus zu sein als nur auf die Bestätigung der
Gegenwart, ist klar, dass die »Sorge« den Indikator der »Ganz-
heit« des »Daseins«, die »Angst«, kennt.
Die »Angst« vor unserem und um unser »Dasein« zeigt an,
wie dieses »Dasein« plötzlich als Ganzes auf dem Spiel stehen
kann. Gerade noch schien uns alles möglich zu sein, nun be-
drängt uns die Einsicht, dass einmal alles unmöglich sein wird,
dass es zu unseren Möglichkeiten gehört, auf dasjenige Ereignis
zu blicken, das alles unmöglich machen wird. Das »Nichts«,
wovor sich das »Dasein« ängstigt, erweist sich als die »mögli-
che Unmöglichkeit seiner Existenz« (ebd., 352). Die »Angst«
gibt uns unmissverständlich zu erkennen, dass das »Dasein«
dereinst »ganz« und damit vorbei sein wird. Das »Dasein«
trägt in sich diese Bestimmung, es ist ein »Sein zum Tode«.
Das »Dasein« ist »Sein zum Tode«. Diese Bestimmung müs-
sen wir genauer fassen, denn Heidegger hat sie bis in sein spä-
testes Denken hinein bestätigt. Das »Dasein« ist nicht neben
vielem anderen auch sterblich. Das »Dasein« existiert ganz und
gar als »Sein zum Tode«. Der Mensch ist, wie Heidegger später
sagen wird, »der Sterbliche«. Mit dieser Bestimmung knüpft
Heidegger an einen uralten Gedanken an. So sprechen die grie-
chischen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides vom
Menschen als dem Sterblichen (tò thnetón, hò brotós), das
Menschliche und das Sterbliche sind semantisch identisch.
Diese Bestimmung, dass der Mensch im Unterschied zu den
Unsterblichen, den Göttern, der Sterbliche ist, entstammt aller
Wahrscheinlichkeit nach dem für die griechische Philosophie
überaus einflussreichen Orakel von Delphi. Von dort aus ist der
berühmte Spruch gnothi sautón (»Erkenne dich selbst!«) in die
europäische Geistesgeschichte eingegangen. Niemand anders
als der Gott Apollon habe diesen Spruch zu den Menschen
gesagt. Er ist der vom Gott gegebene Wink, dass der Mensch
sich selbst im Unterschied zu den Unsterblichen erkennen und
64 Die Frage nach dem Sein

sein Handeln darum begrenzen solle. Das »Erkenne dich selbst«


ist ein: »Erkenne, dass du im Unterschied zu mir, Apollon,
begrenzt, verletzbar und sterblich bist.« Es ist unwahrschein-
lich, dass Heideggers in Sein und Zeit eingeführte Bestimmung
des »Daseins« als »Sein zum Tode« schon auf diese Quelle
zurückgeht. Bekannt ist, dass er sich später auf diese tragische
Bestimmung des Menschen ausdrücklich bezogen hat.
Das »Dasein« verhält sich zu seinem »je eigenen« »Sein zum
Tode« unterschiedlich. Das »Man«, jene sich in die Alltäglich-
keit zerstreuende »Seinsweise« des »Daseins«, geht dem »Sein
zum Tode« aus dem Weg. Es flieht die »Angst«, die aufsteigt,
wenn wir uns der »Gewißheit« (ebd.,339f.) aussetzen, dass wir
sterben werden. Das »eigentliche Dasein« hingegen setzt sich
seinem eigenen »Sein zum Tode« aus. Es vollzieht ein »vorlau-
fendes Freiwerden für den Tod« bzw. ein »Vorlaufen zum Tod«
(ebd., 350). Weil dieser Vorgang das »uneigentliche Dasein«
aus einer alltäglichen Selbstverdunkelung zu einem »eigentli-
chen Dasein« befreit, kann Heidegger dieses »Vorlaufen zum
Tode« auch als »vorlaufende Entschlossenheit« (ebd., 404 ff.)
beschreiben. Das »eigentliche Dasein« findet sich »entschlos-
sen« in die absolute Grenze seiner Endlichkeit, seiner Sterblich-
keit ein.
Heidegger lässt in Sein und Zeit keine Möglichkeit aufkom-
men, über diese Grenze hinaus in ein Jenseits vorzudenken. Das
»Sein zum Tode« ist ein »Sein zum Ende«, wobei der Philosoph
sich zu fragen verbietet, ob nach dem Ende noch »etwas« folgt
(ebd.,327ff.). Damit widersetzt sich Heidegger einer ehrwürdi-
gen philosophischen Tradition, welche gegenüber dem Sterben
stets die Unsterblichkeit der Seele behauptet hat. Ob Platon,
der im Sterbedialog des Sokrates, dem Phaidon, eine Aussicht
auf ein anderes Sein der Seele jenseits des Leibes eröffnet, oder
Aristoteles, der die Philosophie geradezu als eine Teilhabe an
der Unsterblichkeit kennzeichnet; ob Kant, der die Unsterblich-
keit der Seele als ein Zentralproblem der Vernunft bestimmt,
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 65

oder Hegel, der im Umkreis seiner Lehre von der Dreieinigkeit


Gottes den »Tod des Todes« betrachtet – immer wieder hat die
metaphysische Philosophie den Tod nicht als eine absolute
Grenze des Menschen verstanden. Die »Eigentlichkeit« des
»Daseins« besteht nach Heidegger jedoch genau darin, sich
weder über diese Grenze Illusionen zu machen, noch sie durch
den Aufwand einer steilen Theorie wegzubeweisen. Das
»eigentliche Dasein« erfährt im »Vorlaufen zum Tod« seine
Grenze und das aus dieser Grenze entspringende Maß seiner
Zeit.
So sehr Heideggers Interpretation des »Daseins« als eines
»Seins zum Tode« die Leser von Sein und Zeit über Generatio-
nen hinweg beeindruckt hat, so sehr wurde diese Deutung auch
kritisiert.
Max Scheler notiert noch im Erscheinungsjahr von Sein und
Zeit in fragmentarischen Aufzeichnungen einfühlsam: »Die
erste Wendung zum Welt-immanenten ist doch Eros, nicht Ab-
stoßung, Angst, Flucht vor sich.« Ein andermal schreibt er:
»Das, was uns die Welt aufschließt, ist ›Liebe‹ nicht Angst.«4
Die Stoßrichtung dieser Kritik wendet sich gegen eine be-
stimmte Tendenz der »Daseinsanalytik«, das »Dasein« zu sehr
zu vereinzeln, es zu stark vom Bezug zum Anderen zu isolieren.
Der »Eros« beziehungsweise die »Liebe«, die leidenschaftliche
Beziehung zum Anderen, sei die »erste Wendung« zur Welt.
Dieser Kritik schließt sich Jahrzehnte später ein ehemaliger
Student Heideggers an. Emmanuel Lévinas hebt hervor, dass
nicht der »je meine« Tod der »erste Tod« ist, der mich betrifft.
Er schreibt:
»Jemand, der sich durch seine Nacktheit – das Antlitz – ausdrückt, ist
jemand, der dadurch an mich appelliert, jemand, der sich in meine Ver-
antwortung begibt: Von nun ab bin ich für ihn verantwortlich. All die

4 Max Scheler, Späte Schriften, hg.v. Manfred S. Frings, Bern u. Mün-


chen 1976, S. 294.
66 Die Frage nach dem Sein

Gesten des Anderen waren an mich gerichtete Zeichen. [. . .] Der Tod


des Anderen, der stirbt, betrifft mich in meiner Identität selbst als ver-
antwortliches Ich – eine Identität, die weder substantiell ist, noch aus
dem einfachen Zusammenhang unterschiedlicher, identifikatorischer
Akte besteht, sondern aus unsagbarer Verantwortung erwächst. Mein
Betroffensein durch den Tod des Anderen macht gerade meine Bezie-
hung zu seinem Tod aus. In meiner Beziehung, meinem Mich-Beugen
vor jemandem, der nicht mehr antwortet, ist diese Affektion bereits
Schuld – Schuld des Überlebenden.«5

Lévinas protestiert geradezu gegen Heideggers Zentrierung des


Todes und des Sterbens auf das »jemeinige Dasein«. Der Tod
bedrängt uns nicht von dem Faktum her, dass wir selbst ster-
ben müssen, sondern dass der Andere sterben wird und wir die-
sem Tod mit all unserer »Verantwortung« ausgesetzt sind. Der
Skandal des Todes besteht nach Lévinas eher darin, dass uns
der oder die Geliebte entrissen wird, als dass wir selbst vom Tod
betroffen werden.
Mit dieser ganz anders gearteten Phänomenologie des Todes
bei Lévinas wird ein neuer und kritischer Blick auf Heideggers
Analyse des »Seins zum Tode« möglich. Wird in Heideggers
»Daseinsanalytik« der Tod des Anderen vernachlässigt? Wir
sahen bereits, inwiefern Heidegger das »Dasein« nicht bloß als
»Sein zum Tode«, sondern zugleich als »Mitsein« charakteri-
siert. Eine Weise der »Sorge« ist dementsprechend die »Für-
sorge«. Sie wird unter anderem als die »vorausspringend-befrei-
ende Fürsorge« (ebd., 163) definiert. Diese »eigentliche Sorge«
nimmt dem »Mitdasein« seinen Kummer nicht ab, sondern »ver-
hilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für
sie frei zu werden«. Dies vermag sie hinsichtlich des Sterbens zu
leisten, indem sie den Anderen nicht beruhigt und falsch trös-
tet, sondern ihm erst in die Härte dieses Geschehens, das jedes
»Dasein« betrifft, hineinhilft. Die »eigentliche Sorge« soll dem

5 Emmanuel Lévinas, Gott, der Tod und die Zeit, hg. v. Peter Engel-
mann, Wien 1996, S. 22.
Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein zum Tode 67

Anderen die Möglichkeit nehmen, vor seinem Tod in Alltäg-


liches auszuweichen und so sich selbst über seinen Tod hin-
wegzutäuschen. Insofern ist Heidegger anders als Lévinas der
Ansicht, dass der »erste Tod« »je meiner« ist: »Keiner kann
dem Anderen sein Sterben abnehmen. [. . .] Das Sterben muß
jedes Dasein jeweilig selbst auf sich nehmen. Der Tod ist, sofern
er ›ist‹, wesensmäßig je der meine.« (ebd., 319) Für Heidegger
ist mein eigener Tod der »erste Tod«, ja, es hat den Anschein,
als ob Heidegger das Wissen von meinem eigenen Tod wie eine
Bedingung der Möglichkeit denkt, vom Tod des Anderen über-
haupt eine Ahnung zu bekommen. Und wirklich wäre es kaum
zu verstehen, dass Andere sterben, wenn wir selbst unsterblich
wären. Ob das »Antlitz des Anderen« oder »je meine« Gewiss-
heit, sterben zu müssen, das erste Phänomen des Todes ist, ist
eine Frage, über die nachzudenken sich weiterhin lohnt.
Niemand anderer übrigens als Heidegger selbst hat in einem
tieferen Sinne die Tragweite von Sein und Zeit eingeschränkt.
Die Hauptfrage des Buches richtet sich auf den »Sinn von
Sein«. Ich wies bereits darauf hin, dass der Denker diesen im
»Horizont der Zeit« vermutet. Den Zugang zu diesem intensiv
im zweiten Abschnitt des Werks interpretierten Phänomen
nimmt Heidegger vom »Dasein« aus. Sein letzter Satz ist eine
Frage: »Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?«
(ebd., 577) Die Frage gibt einen Hinweis, der die »Daseinsana-
lytik« in ihrer Bedeutung begrenzt. Wenn die Zeit der Anfang
einer Antwort auf die Frage nach dem »Sinn von Sein« ist,
müsste sie dann nicht der unmittelbare Zugang zum »Sinn von
Sein« sein? Müsste das Denken nicht bei der Zeit oder bei dem
»Sein selbst« beginnen, um den »Sinn« von Sein und Zeit zu
erfragen? Gewiss wäre es fraglich, das Verhältnis von »Sein«
und »Dasein« auszusetzen, um das »Sein selbst« von seinem
Bezug zum Menschen zu isolieren – ein fragliches Unterneh-
men, das Heidegger in seinem auf Sein und Zeit folgenden Den-
ken hier und dort prüfte. Aber eine Gewichtsverlagerung inner-
68 Die Frage nach dem Sein

halb des Verhältnisses von »Dasein« und »Sein« auf die Seite
des »Seins« kündigt sich in den letzten Sätzen von Sein und Zeit
an. Diese Gewichtsverlagerung hat Heidegger später selbst
»Kehre« genannt. Das nach Sein und Zeit folgende Denken
Heideggers hat das Verhältnis von »Dasein« und »Sein« nie-
mals endgültig verlassen. Aber es hat sich nicht mehr als »Da-
seinsanalytik«, sondern als ein »Denken des Seins« verstanden.
In diesem Zusammenhang hat man dann auch des Öfteren von
einem »Scheitern« des Fragment gebliebenen Buches Sein und
Zeit gesprochen. Doch auch wenn Heidegger in zum Teil noch
unveröffentlichten Texten das Buch selbst destruiert, so ist es
doch stets eine Quelle geblieben, an die der Philosoph gern
zurückgekehrt ist, um seine späteren Antworten auf die Frage
nach dem »Sinn von Sein« zu klären.

2.2 Die Geschichtlichkeit des Daseins

Indem die Menschen sich selbst verstehen und sich in


ihrer Existenz auslegen wollen, kommen sie immer wie-
der auf die Geschichte zurück. Sie ist der große Bedeu-
tungsfundus, von dem das Dasein in all seinem prakti-
schen und theoretischen Verhalten ausgeht. In diesem
Sinne ist zu sagen, dass das Dasein geschichtlich existiert.
Die Frage nach dem Dasein in der Geschichte und nach
der Geschichte des Seins ist das Hauptthema des Heideg-
gerschen Denkens.

Heideggers frühes Philosophieren ist davon mitbestimmt, die


urchristliche Religiosität und die griechische Philosophietradi-
tion in ihrer Bedeutsamkeit für die »Faktizität des Lebens« zu
Die Geschichtlichkeit des Daseins 69

durchleuchten. Als Heidegger in Sein und Zeit darangeht, den


»Sinn« der »Geschichte« im Rahmen seiner »Daseinsanalytik«
auszuloten, steht die Wichtigkeit dieses Phänomens für ihn
außer Frage. Was Sein und Zeit leisten musste, war, den syste-
matischen Zusammenhang zwischen dem »Dasein« und der
Geschichte hinsichtlich der Frage nach dem »Sinn von Sein« zu
erfassen und darzustellen.
Wir sahen, inwiefern die »Seinsweise« der »Sorge« der Indi-
kator für die »Ganzheit« des »Daseins« ist. Das »Dasein« sorgt
sich, indem es seine Angelegenheiten besorgt, um seine Zu-
kunft. So ist es »immer schon« über sich hinaus auf etwas bezo-
gen, was noch nicht ist. Auch die »Fürsorge«, die den Anderen
zu sich selbst befreit, reicht in die Zukunft. Diese Bewegung des
»Daseins«, dass es von dem, was es gewesen ist, zu dem, was es
sein wird, hinausreicht, ist das »Geschehen«, das Heidegger
ontologisch als Geschichte bzw. als die »Geschichtlichkeit« des
»Daseins« interpretiert. Die »Zeitlichkeit« des »Daseins« ist
folglich die »Bedingung der Möglichkeit« dafür, dass der
Mensch »geschichtlich« existiert (GA 2, 27).
Diese Geschichtlichkeit des »Daseins« zeigt sich in zweifa-
cher Hinsicht. Der Mensch kann sich zur Geschichte dadurch
»eigentlich« verhalten, dass er sie reflektiert. Er kann in ihr
aber auch eine »uneigentliche« Lebensart annehmen und sich
zerstreuen, sodass er schließlich seine Geschichtlichkeit aus
dem Blick verliert.
Ein »entschlossenes« Verhältnis zu seiner Geschichte – und
das heißt zu seinen jeweiligen Lebensmöglichkeiten – findet das
»Dasein«, insofern es in der Geschichte ein »Erbe« (ebd., 507)
erkennt. Die Geschichte bietet den Menschen ein Bündel von
Möglichkeiten, sich und ihre Lage besser zu verstehen. Denn
die »Situationen«, in denen das »Dasein« existiert, sind alle-
samt erst geworden, sie haben ihre Anlässe in zurückliegenden
Ereignissen. Wenn sich das »Dasein« dieses Zurückliegende
»überliefert«, beginnt es, sein Handeln zu klären. Diese Über-
70 Die Frage nach dem Sein

lieferung stellt sich als »Wiederholung« (ebd., 509) von Theo-


rie- und Praxismöglichkeiten dar. »Wiederholung« bedeutet
hier aber nicht Repetition, sondern ein Zurückholen von etwas,
was wir als wiederholbar betrachten und uns darum noch ein-
mal vornehmen (die ganze Untersuchung von Sein und Zeit
beginnt mit einer »ausdrücklichen Wiederholung der Frage
nach dem Sein«, ebd., 3). Dazu gehört natürlich nicht alles, was
bereits geschah. Es gibt ein kritisches Verhältnis zur Geschichte
im »Widerruf« (ebd., 510). Das »Dasein« kann sich für sein
»Erbe« als verantwortlich erweisen, indem es bestimmte zu-
rückliegende Geschehnisse »widerruft«. Doch diese Beachtung
des »Erbes« ist nur der Beginn einer »eigentlichen Geschicht-
lichkeit«. Indem das »Dasein« sich darauf besinnt, dass es ster-
ben muss, dass es endlich ist, vertieft es sein Verhältnis zur
Geschichte. Das »Vorlaufen zum Tode« ist der Grund der
»eigentlichen Geschichtlichkeit«. Indem wir wissen, dass uns
nicht alle Zeit der Welt zur Verfügung steht, bekommen wir
jeweils im Bezug auf unsere Herkunft aus einem »Erbe« ein
»Schicksal« (ebd.,507). Alles, was wir sind, sind wir geworden.
Was wir noch tun werden, steht in einem bestimmten Verhält-
nis zu dieser Herkunft. Selbst einen Bruch unserer Lebenslinie
kann es nur geben, wenn wir von dem, was wir geworden sind,
Abschied nehmen. Lebenskontinuitäten und –diskontinuitäten
bilden sich darüber hinaus nur in einem Kollektiv. Ein »Schick-
sal« vermag das »Dasein« niemals nur für sich allein zu haben.
Das »Dasein« lebt innerhalb einer »Gemeinschaft« oder in
einem »Volk«. Dieses selbst hat ein »Geschick«. Das einzelne
»eigentliche Dasein« nimmt an diesem »Geschick« teil. Auf
diesen Punkt der Ausführung werde ich am Ende dieses Ab-
schnittes noch einmal eingehen.
In der »uneigentlichen Geschichtlichkeit« übergeht der
Mensch die eben dargestellten Möglichkeiten, sich mit der
Geschichte auseinanderzusetzen. Er sieht immer nur das
»Heute«, das er gegen ein »Altes« absetzt (ebd., 517). So setze
Die Geschichtlichkeit des Daseins 71

das »Dasein« ständig auf das »Moderne«, ohne sich für die
Genese seiner Praxis zu interessieren. Der Grund dieses Desin-
teresses ist nach Heidegger das Verfehlen seiner Endlichkeit, die
Flucht vor der Erkenntnis, dass jedes »Dasein« ein Ende hat.
Indem das »Dasein« der »Angst« vor seiner Endlichkeit aus
dem Wege geht, vermag es nicht, die Geschichte als denjenigen
Horizont zu erkennen, der seine Praxis »immer schon« mitdis-
poniert.
Diese »fundamentalontologische« Erörterung der Geschich-
te bzw. der Geschichtlichkeit des »Daseins« strahlt weit in die
gesamte Philosophie Heidegger aus. Eine unmittelbare Folge
dieser Theorie ist die tiefgehende Differenzierung zwischen
Geschichte und Historie (ebd., 518 ff.). Die Historie erscheint
als Vergegenständlichung einer fundamentalen »Seinsweise«
des Menschen. Die »Geschichtswissenschaft« verobjektiviert
das, worin das »Dasein« »immer schon« existiert. Insofern
spricht Heidegger ihr eine gewisse Notwendigkeit für die
Selbstverständigung des »Daseins« zu. Doch im weiteren Ver-
lauf seines Denkens nimmt die Tendenz, dem Anspruch der
Historie, wahre Aussagen über die Geschichte machen zu kön-
nen, die Berechtigung zu bestreiten, zu. So schreibt er ungefähr
zehn Jahre nach Sein und Zeit:

»Sie – die politisch-historische Auffassung des neuzeitlichen Men-


schen – hat denn auch zur Folge, daß erst mit ihrer Hilfe der Historis-
mus zur Vollendung gebracht wird. Historismus ist die völlige Herr-
schaft der Historie als Verrechnung des Vergangenen auf ein Gegen-
wärtiges mit dem Anspruch, dadurch das Wesen des Menschen als
eines historischen – nicht geschichtlichen – Wesens endgültig festzu-
machen.« (GA 66, 168)

Wenn in Sein und Zeit noch die Absicht vorherrscht, die Histo-
rie in die »Daseinsanalytik« zurückzubinden, spricht Heideg-
ger ihr später jede Kompetenz, die Geschichte zu einem Gegen-
stand der Erkenntnis machen zu können, ab. Eine der »Ge-
72 Die Frage nach dem Sein

schichtswissenschaft« eigene methodische Neigung, epochale


Unterschiede zu nivellieren (Sind uns Neandertaler und antike
Griechen gleich wichtig?), löst bei Heidegger eine Kritik aus,
die zuweilen zur Idiosynkrasie übergeht. Der Denker nimmt
dabei weniger an solchen Historikern Anstoß, die jene metho-
dischen Schwierigkeiten reflektieren, als an denen, die sie leug-
nen.
Eine weitere Konsequenz der ausführlichen Bezugnahme auf
die Geschichte besteht darin, dass Heidegger nach Sein und
Zeit die Geschichtlichkeit nicht mehr bloß als eine »Seins-
weise« des »Daseins« betrachtet, sondern auf das »Sein selbst«
bezieht. Bereits in Sein und Zeit heißt es, »daß das Fragen nach
dem Sein [. . .] selbst durch die Geschichtlichkeit charakteri-
siert« (GA 2, 28) ist. Wie sich das »Sein selbst« zur Sprache
bringen lässt, wird »geschichtlich« entschieden. Dabei scheint
es zunächst so zu sein, als würde Heidegger das »Sein« zu einer
Instanz machen zu wollen, die sich jeweils in geschichtlichen
Epochen verschieden »zuschickt« und als ein »Grund« der Ge-
schichte betrachtet werden müsste. So heißt es in den Beiträgen
zur Philosophie: »Nur im Wesen des Seyns selbst und das heißt
zugleich in seinem Bezug zum Menschen, der solchem Bezug
gewachsen ist, kann die Geschichte gegründet sein.« (GA 65,
494) Doch ein solches Fundierungsverhältnis schließt sich im
Hinblick auf das »Sein« und die Geschichte darum aus, weil
es nicht jenseits der »Zeitlichkeit«, das heißt jenseits der Ge-
schichte lokalisiert werden kann. Eine solche Vorstellung führ-
te auf die Hegelsche Differenzierung eines ewigen »Geistes«,
der »in die Zeit fällt«, zurück. Bei Heidegger geraten »Sein«
und »Geschichte« vielmehr in ein Verhältnis, in welchem nicht
mehr genau zu sagen ist, ob die »Geschichte« ein Merkmal des
»Seins« oder dieses ein Charakterzug von jener ist. Heideggers
spätere Formulierung von der »Geschichte des Seins« lässt die-
se Zweideutigkeit im Genitiv deutlich werden: Die Geschichte
ist im »Sein selbst« »gegründet« wie dieses in der Geschichte
Die Geschichtlichkeit des Daseins 73

»gegründet« ist. Was sich den Menschen als Geschichte jeweils


verschieden epochal »zuschickt«, ist nichts anderes als eben
das, was ist.
Genauer betrachtet, wird damit das in Sein und Zeit vertre-
tene Fundierungsverhältnis von »Zeitlichkeit« und »Geschicht-
lichkeit« hinfällig. Die »Zeitlichkeit«, d. h. das »Sein«, kann
nicht als die »Bedingung der Möglichkeit« von Geschichte
interpretiert werden, wenn sich unsere Auffassung von »Zeit-
lichkeit« »geschichtlich« wandeln kann. Heidegger verweist
in einer frühen Vorlesung auf das Phänomen, dass das Urchris-
tentum die »Zeit selbst« »lebt«. Fasst das Urchristentum die
»Zeitlichkeit« »eschatologisch«, also von der noch kommen-
den Wiederkehr Gottes her auf, so verfolgen die Griechen eher
kreisläufige Zeitvorstellungen. Selbst eine naturwissenschaftli-
che Vorstellung von der Zeit wäre epochal zu deuten – und
nicht als der einzig wahre Zugang zu ihr. So gesehen wäre also
die Geschichte die »Bedingung der Möglichkeit« für ein jeweils
sich wandelndes Verständnis von »Zeitlichkeit«. Es hat den
Anschein, als habe Heideggers späteres Denken diese Möglich-
keit, unsere Auffassung der »Zeitlichkeit« an einen in sich
selbst zeitlichen Horizont zurückzubeziehen, favorisiert. Die-
ser Gedanke verweist auf das, was Heidegger ungefähr seit
Mitte der dreißiger Jahre »das Ereignis« nennt.
Ich hatte vorhin angekündigt, noch einmal auf Heideggers
Charakterisierung der »Geschichtlichkeit« des »Daseins« als
»Erbe«, »Schicksal« und vor allem als »Geschick« zurückkom-
men zu wollen. Wie bekannt, hat sich Heidegger in einer be-
stimmten Phase seines Denkens dem Nationalsozialismus ver-
pflichtet gefühlt. Am 21. April 1933 wird Heidegger zum Rek-
tor der Freiburger Universität ernannt. Ende Februar 1934
erklärt er seinen Rücktritt. Doch noch im November desselben
Jahres hält er einen mehr oder minder affirmativen Vortrag in
Konstanz am Bodensee. Heidegger hat sich vom revolutionä-
ren Elan Hitlers, »endlich« mit den unklaren Verhältnissen der
74 Die Frage nach dem Sein

»Weimarer Republik« »aufräumen« zu wollen und eine sozial


ausgeglichene, durch das »Führerprinzip« getragene »Volksge-
meinschaft« zu gründen, sowie von seinem entschieden vorge-
tragenen Nationalismus (der sich später als verlogen heraus-
stellen sollte) ohne Zweifel angezogen gefühlt.
Es ist klar, dass dieses Engagement viel Kritik und Empörung
hervorgerufen hat und noch immer hervorruft.6 Selbst Hannah
Arendt bezeichnete Heidegger vor ihrer wiederholten Begeg-
nung im Jahre 1950 Karl Jaspers gegenüber als »potentiellen
Mörder«7. Wollte man diese politische Option des Denkers ver-
stehen, wäre meines Erachtens ein bestimmter Zug von Hei-
deggers Interpretation der Geschichtlichkeit des »Daseins« zu
beachten. In Sein und Zeit schreibt Heidegger:
»Die Entschlossenheit konstituiert die Treue der Existenz zum eigenen
Selbst. Als angstbereite Entschlossenheit ist die Treue zugleich mögli-
che Ehrfurcht vor der einzigen Autorität, die ein freies Existieren
haben kann, vor den wiederholbaren Möglichkeiten der Existenz.«
(GA 2, 516)

Das »Geschick« Deutschlands war für Heidegger eine dieser


»wiederholbaren Möglichkeiten«. Wird dieses in einem Mo-
ment zur »einzigen Autorität«, dann kann verstanden werden,
inwiefern Heidegger in der revolutionären Machtergreifung
Hitlers eine »Entscheidung« vermutet hat, von der sich zurück-
zuhalten bedeutet hätte, das »Geschick« des Volkes zu ignorie-
ren. Wie verblendet diese Affirmation des Nationalsozialismus
gewesen ist, hat später kein anderer als Heidegger selbst vor
allem in seinen Vorlesungen und Aufsätzen über Hölderlins
Dichtung deutlich werden lassen. Den Missbrauch einer deut-

6 Vgl. das vor allem aus dem Geist der Rache geschriebene Buch
von Victor Farı́as, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frank-
furt/M. 1989.
7 Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926 – 1969, hg.v. Lotte
Köhler u. Hans Saner, München u. Zürich 1993, S. 84.
Die Geschichtlichkeit des Daseins 75

schen Identität von Seiten der Nazis hat er hier unmissverständ-


lich vorgeführt.
In diesem Zusammenhang hat Heideggers programmatische
Rede bei Antritt des Rektorats im Mai 1933 mit dem Titel Die
Selbstbehauptung der deutschen Universität eine ambivalente
Bedeutung. Diese Rede enthält das klare Bekenntnis zum »ge-
schichtlichen Auftrag« (GA 16, 117) des deutschen Volkes, den
Heidegger in der Machtübernahme durch Hitler erkennen
wollte. In diesem Sinne ist die Idee der »drei Bindungen«
»durch das Volk an das Geschick des Staates im geistigen Auf-
trag« »Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst« (ebd.,
114) der Versuch, der totalitären nationalsozialistischen Auf-
fassung des Staates entgegenzukommen. Andererseits kann
man nicht verkennen, dass Heideggers Scheitern als Rektor
sich in dieser Rede an vielen Stellen bereits ankündigt. Diese
Stellen nämlich enthalten Gedanken, die nicht nur den Natio-
nalsozialisten, sondern sogar konservativen Universitätspro-
fessoren nicht genehm oder fremd sein mussten. So musste Hei-
deggers Hinweis, dass »alle Wissenschaft« an und für sich Phi-
losophie sei und damit dem griechischen »Anfang der Philoso-
phie verhaftet« (ebd.,109) bleibe, die große Mehrheit der zuhö-
renden Wissenschaftler befremden. Auch der folgende Satz
musste die Anwesenden vor den Kopf stoßen:

»Und wenn gar unser eigenstes Dasein selbst vor einer großen Wand-
lung steht, wenn es wahr ist, was der leidenschaftlich den Gott
suchende letzte deutsche Philosoph, Friedrich Nietzsche, sagte: ›Gott
ist tot‹ –, wenn wir Ernst machen müssen mit dieser Verlassenheit des
heutigen Menschen inmitten des Seienden, wie steht es dann mit der
Wissenschaft?« (ebd., 111)

Dass der Rektor einer berühmten Universität in einer program-


matischen Rede solche Gedanken vorträgt und solche Fragen
stellt, musste nicht nur das Freiburger Publikum im Mai 1933
einigermaßen verwirren. Es würde zu allen Zeiten an allen Uni-
76 Die Frage nach dem Sein

versitäten der Welt Ratlosigkeit hervorrufen. Den Nationalso-


zialisten, die eine den Zeitbedürfnissen dienende Universität
forderten, war die »Verlassenheit des heutigen Menschen«
fremd und gleichgültig.
Aber es ist nicht nur dieses vorübergehende politische Enga-
gement, dieses Einverständnis, sich zum Instrument der Politik
machen zu lassen, das die Öffentlichkeit Heidegger bis heute
verübelt. Es wird dem Denker vielmehr vorgeworfen, sich nie
öffentlich zur Vernichtung des jüdischen Volkes, zur Shoah
geäußert zu haben. Eine der klügsten Äußerungen zu dieser
Tatsache scheint mir Jacques Derridas kurzer Text Heideggers
Schweigen zu sein. Dort schreibt der französische Philosoph:
»Ohne Heideggers furchtbares Schweigen würden wir das Gebot
nicht verspüren, das sich an unser Verantwortungsbewußtsein richtet,
die Notwendigkeit, Heidegger so zu lesen, wie er sich selbst nicht gele-
sen hat. Wenigstens hat er dies nicht beansprucht. Oder vielleicht hat
er es beansprucht und sich deswegen, wie ich vermute, in Schweigen
gehüllt. Vielleicht hat er beansprucht, daß er bereits auf seine Weise
gesagt hat, ohne sich dabei zu bequemen Sätzen verleiten zu lassen,
was sich im Nationalsozialismus korrumpieren mußte.«8

So gesehen wäre Heideggers vermeintliches »Schweigen« ein


Stachel für das Philosophieren der Gegenwart, eine ständige
Herausforderung, sich der Verstrickung des Denkens in die
Geschichte, in der so etwas wie die Shoah geschehen konnte
und wieder geschehen kann, auszusetzen. Heideggers »furcht-
bares Schweigen« wäre der Anlass, sich des deutschen »Ver-
waltungsmassenmordes« (Hannah Arendt) wiederholt zu erin-
nern.

8 Jacques Derrida, »Heideggers Schweigen«, in: Günther Neske und


Emil Kettering (Hg.), Antwort. Martin Heidegger im Gespräch,
Pfullingen 1988, S. 160 f.
Die ontologische Differenz 77

2.3 Die ontologische Differenz

Zwischen dem Dasein als einem besonderen Seienden


und dem Sein besteht eine Differenz. Sie ermöglicht, über
die vorhandenen Dinge, mit denen wir uns alltäglich
beschäftigen, hinauszugehen. So leben wir miteinander
in einer Welt, die kein Ding ist. Sie eröffnet vielmehr zwi-
schen mir und den Anderen sowie zwischen mir und
den Dingen einen nie zu vergegenständlichenden Frei-
raum. In der europäischen Philosophietradition ist zwar
Differenz als ein ernstzunehmdes Phänomen beachtet,
zumeist aber die Herstellung von Identität (A=A) als letz-
tes Ziel des Denkens behauptet worden. Indem Hei-
degger dagegen erklärt, dass nicht die Identität oder
Totalität, sondern dass die Differenz der Anfang der Frei-
heit ist, bringt er sich zu dieser Tradition in einen Ab-
stand und hat vor allem der Ethik neue Impulse ge-
geben.

Die drei wesentlichsten Grundbegriffe in Heideggers Denken


haben wir inzwischen kennen gelernt. Es handelt sich um die
Begriffe des »Seins«, des »Seienden« und – als eines »ausge-
zeichneten Seienden« – des »Daseins«. Offensichtlich gehören
sie zusammen, bilden eine Einheit. Doch zugleich zeigt sich ein
Unterschied. Das »Sein« ist kein »Seiendes«. Diesen Unter-
schied bezeichnet Heidegger als »ontologische Differenz«. Er
bildet die eigentliche Grundstruktur von Heideggers Philoso-
phie. In den folgenden Ausführungen werde ich mich mit dieser
für Heideggers Denken so wichtigen Struktur beschäftigen. Da
es sich dabei scheinbar um eine bloße Denkform handelt, könn-
ten diese Erläuterungen den Leser hier und da ein wenig quälen.
Eine Berücksichtigung dieser ersten und letzten Differenz ist
78 Die Frage nach dem Sein

aber nicht zu umgehen, weil sie nach Heidegger das gesamte


europäische Denken fundiert.
Von Heideggers ersten Auseinandersetzungen mit der »onto-
logischen Differenz«, also mit der Unterscheidung des »Seins«
vom »Seienden«, berichten seine Marburger Vorlesungen Die
Grundprobleme der Phänomenologie, die Einleitung in die
Philosophie sowie sein Aufsatz Vom Wesen des Grundes. In der
Marburger Vorlesung aus dem Jahre 1927 heißt es:
»Das Problem des Unterschiedes von Sein überhaupt und Seiendem
steht nicht ohne Grund an erster Stelle. Denn die Erörterung dieses
Unterschiedes soll erst ermöglichen, eindeutig und methodisch sicher
dergleichen wie Sein im Unterschied von Seiendem thematisch zu
sehen und zur Untersuchung zu stellen. Mit der Möglichkeit eines hin-
reichend klaren Vollzuges dieser Unterscheidung von Sein und Seien-
dem und demnach mit der Möglichkeit des Vollzuges des Überschritts
von der ontischen Betrachtung des Seienden zur ontologischen The-
matisierung des Seins steht und fällt die Möglichkeit der Ontologie,
d. h. der Philosophie als Wissenschaft.« (GA 24, 322)

Die Frage nach dem »Sinn von Sein« nimmt nichts »Seiendes«
in den Blick. Doch in Sein und Zeit hatte Heidegger behauptet,
um die Frage beantworten zu können, müsse man mit der Ana-
lyse eines »exemplarischen Seienden« beginnen. Wie geschieht
dann aber der »Überschritt« von einer Analyse des »Seienden«
zur eigentlich »ontologischen Thematisierung des Seins«? Die
Philosophie als »Ontologie« ist keine »Wissenschaft« allein
des »Seienden«, sondern des »Seienden« in seinem Bezug zum
»Sein«. Mit dieser Unterscheidung scheint Heidegger den aris-
totelischen Gedanken einer »ersten Philosophie« (próte philo-
sophı́a) zu reformulieren. Sie ist für Aristoteles die Wissen-
schaft der Wissenschaften, weil sie, wie er in seinen Vorlesun-
gen zur Metaphysik (1025b, 1) erklärt, nicht bloß das sinnliche
»Seiende«, sondern auch dessen Prinzipien und Ursachen (haı̀
archaı̀ kaı̀ tà aı́tia) untersucht.
Gemäß dem methodischen Ansatz von Sein und Zeit beginnt
Die ontologische Differenz 79

eine solche Ontologie mit der Bezugnahme auf ein bestimmtes


»Seiendes«, und zwar auf das »Dasein«. Dessen »Seinsweise«,
das hatte Sein und Zeit betont, gründe in der »Zeitlichkeit«. So
führen die ersten Schritte der Auseinandersetzung mit der
Frage nach der »ontologischen Differenz« dazu, diese spezi-
fische »Seinsweise« des »Daseins«, die »Zeitlichkeit« bzw.
»Temporalität« (GA 24, 402), zu betrachten.
Im Verlauf der Klärung der »Zeitlichkeit« in ihrem Verhält-
nis zum »Dasein« zeigt sich für Heidegger die Notwendigkeit,
die »Grundbedingung für die Erkenntnis von Seiendem sowohl
wie für das Verstehen von Sein« (ebd.,402) zu erörtern. Bei die-
ser Erörterung beruft er sich auf Platons im 6. Buch seiner Poli-
teia dargestellten Sonnengleichnis. Es deutet sich an, dass der
Ȇberschritt von der ontischen Betrachtung des Seienden zur
ontologischen Thematisierung des Seins« in einem Grundge-
danken der platonischen Philosophie, nämlich dass das Gute
noch über das Sein selbst hinausgeht, also sich »jenseits des
Seins« befindet, anklingt. So kann Heidegger sagen: »Was wir
suchen, ist das epékeina tês ousı́as.« (ebd., 404) Die Wieder-
kehr dieses platonischen Gedankens in der Klärung der »onto-
logischen Differenz« ist sehr wichtig. In seinem einflussreichen
Buch Platons Ideenlehre hatte Paul Natorp den Gedanken
eines Bereiches »jenseits des Seins«, das heißt nach Heidegger
»jenseits des Seienden«, mit dem »Begriff des Transzendenta-
len«9 im Sinne Kants in Verbindung gebracht. Dies hinterließ in
Heideggers Denken der »ontologischen Differenz« Spuren.
Dass Heidegger in Marburg die Grundlegung einer Philosophie
als »Ontologie« in einer Auseinandersetzung mit Platon und
mit Kant bewerkstelligen zu können glaubte, ist, wie ich denke,
kein Zufall, sondern bezeugt eine Wirkung von Natorps Buch.
»Grundbedingung«, die es dem »Dasein« ermöglicht, nicht

9 Paul Natorp, Platons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealis-


mus, Hamburg 1994, S. 463.
80 Die Frage nach dem Sein

nur »Seiendes«, sondern das nichtseiende »Sein selbst« zu ver-


stehen, ist, dass es eine Sphäre gibt, die über das »Seiende«
hinausgeht, die sich »jenseits des Seienden« erst öffnet. Die
Sphäre eines solchen »Seins« »jenseits des Seienden« kann Hei-
degger »Welt« nennen. In jener anderen Marburger Vorlesung,
der »Einleitung in die Philosophie«, erläutert er, inwiefern
die »Seinsfrage« mit der Frage nach der Welt verflochten ist
(GA 27, 394). Wie sich das »Dasein« »immer schon« in einem
»Seinsverständnis« befindet, so charakterisiert es sich durch
ein »vorgängiges Verständnis von Welt, Bedeutsamkeit« (GA
24, 420f.). Dieses Verständnis, dass sich das »Dasein« in einem
Spielraum bewegt, der das vorhandene »Seiende« übersteigt,
ist in sich der »echte ontologische Sinn von Transzendenz«
(ebd., 425). Dieser bedeutet, dass das »Dasein« in seinem »In-
der-Welt-sein« über sich selbst hinaus gehen und das nur Vor-
handene »übersteigen« (GA 9, 137) kann.
Doch noch ein anderes wesentliches Moment der platoni-
schen Philosophie zeigt eine strukturelle Analogie zum Gedan-
ken der »ontologischen Differenz«. Der vor allem im Dialog
Phaidon thematisierte Begriff des chorismós (St. 67d), der die
Trennung, die Unterscheidung der Seele vom Leib anzeigt,
ermöglicht es, die Unsterblichkeit der nichtkörperlichen Seele
im Verhältnis zu einem offensichtlich zerfallenden Leib zu be-
haupten. Der Begriff der »ontologischen Differenz« ist gleich-
sam ein Echo auf diese Grunddifferenz in der platonischen
Ideenontologie. Der chorismós ist, wie auf eine andere Weise das
epékeina tês ousı́as, eine Bedingung der »Transzendenz«. Mit
ihnen öffnet sich ein Raum, in den hinein das »Dasein« das vor-
handene »Seiende« »übersteigen« und hinter sich lassen kann.
Was so als »Transzendenz« gedacht wird, will Heidegger zu-
gleich von Kant her und gegen Kants Bestimmung des »Trans-
zendentalen« verstanden wissen. Kant habe im »Transzenden-
talen« zwar das »Problem der inneren Möglichkeit von Onto-
logie überhaupt erkannt«, doch die von Kant angenommene
Die ontologische Differenz 81

»wesentlich« »kritische« Bedeutung« des »Transzendentalen«


habe ihn davon abgehalten, »mit einer radikaleren und univer-
saleren Fassung des Wesens der Transzendenz« »eine ursprüng-
lichere Ausarbeitung der Ontologie und damit der Metaphy-
sik« (GA 9, 139) begründen zu können. Eine weitergehende Er-
hellung dessen, wie Heidegger Kant gedeutet hat, ist hier nicht
notwendig. Festzuhalten ist bloß, dass in der ersten Ausarbei-
tung der Bedeutung der »ontologischen Differenz« Platon und
Kant die beiden Denker waren, mit denen Heidegger sich ausei-
nandersetzte.
Die erste Bestimmung, der Ausgangspunkt aller weiteren
Veränderungen der »ontologischen Differenz« ist gefunden.
Heidegger schreibt richtungsweisend in seinem Aufsatz »Vom
Wesen des Grundes«: »Diesen Grund der ontologischen Diffe-
renz nennen wir [. . .] die Transzendenz des Daseins.« (Ebd.,
135) Die Unterscheidung des »Seins« vom »Seienden« gibt die
Sphäre des »Jenseits des Seins« frei, die Dimension der Welt
oder der Transzendenz des »Daseins«.
Heideggers Klärung der »ontologischen Differenz« hat zu
dieser Zeit eine epistemologische Funktion. So interessiert er
sich für eine Grundlegung der Philosophie als einer »absoluten
Wissenschaft vom Sein« (GA24, 15) oder als einer »universalen
Ontologie« (ebd., 16). Diese »absolute Wissenschaft« sei die
»transzendentale Wissenschaft« (ebd., 460), weil ihr Gegen-
stand die Welt bzw. das »Sein« als die Offenheit des »Daseins«,
die Transzendenz, ist. Die Methode dieser Wissenschaft soll die
Phänomenologie (ebd., 27 ff.) sein.
Die Bestimmung einer »absoluten Wissenschaft« als Phäno-
menologie und umgekehrt ist der Heideggerschen Philosophie
am Ende der zwanziger Jahre eine Selbstverständlichkeit. In ihr
spricht sich das überlieferte Selbstverständnis der Philosophie
von der theorı́a des Aristoteles bis zur »absoluten Wissen-
schaft« Hegels aus. Bereits in Sein und Zeit wird die »Funda-
mentalontologie« als eine Grundlegung aller Wissenschaften
82 Die Frage nach dem Sein

des »Seienden« betrachtet (GA 2, 14). Doch so deutlich das


Programm einer wissenschaftlichen Philosophie an dieser Stelle
von Heideggers Denken erscheint, so deutlich ist das Problem
zu erkennen, welches das Programm in eine Krisis getrieben
hat. Dieses Problem verbirgt sich im Charakter oder besser: im
Gegenstand der »absoluten Wissenschaft« als Ontologie. Hei-
degger betrachtet nämlich das »Sein« als den Gegenstand die-
ser »absoluten Wissenschaft«. Kann das »Sein« aber zum Ge-
genstand einer solchen Wissenschaft gemacht werden?
Die Begründung einer »absoluten Wissenschaft vom Sein«
ist problematisch, weil die Weise, wie das »Sein« ist, den Cha-
rakter des »Entzugs« oder der »Verbergung« hat. Bereits im
Jahre 1923 notiert Heidegger: »Sollte es sich herausstellen, daß
es zum Seinscharakter des Seins, das Gegenstand der Philoso-
phie ist, gehört: zu sein in der Weise des Sich-verdeckens und
Sich-verschleierns – und zwar nicht akzessorisch, sondern sei-
nem Seinscharakter nach –, dann wird es eigentlich ernst mit
der Kategorie Phänomen.« (GA 63, 76) Heidegger behauptet,
dass das »Kategorie Phänomen«, also das Erscheinen an sich,
erst dort zu einem philosophischen Problem wird, wo ein
»Sich-verdecken«, ein Nichterscheinen, geschieht. Der Ge-
danke ist paradox. Er kehrt wieder in Sein und Zeit, wenn Hei-
degger schreibt, dass das Phänomen etwas ist, »was sich zu-
nächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was
sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist« (GA 2, 47).
Diese »Verbergung« im Erscheinen, dieses »Sich-verschleiern«
als Phänomen zu erblicken sei die grundlegende Aufgabe der
Phänomenologie. Ist die Transzendenz der Gegenstand der
»transzendentalen Wissenschaft« als Phänomenologie, so ist
ihr Gegenstand – ein Nicht-Gegenstand, ein Nicht-Phänomen.
Diese Verdeckung im Phänomen, das »Sich-verschleiern«
des Seins ist das Hauptmerkmal der »ontologischen Diffe-
renz«. Wie sie das vorliegende »Seiende« vom sich verschlei-
ernden »Sein« trennt oder unterscheidet, so integriert sie das
Die ontologische Differenz 83

Vorliegen und die Verdeckung in einer Einheit. Diesen Sachver-


halt, dass sich in der Mitte der »ontologischen Differenz« eine
Spannung von Erscheinung und Verdeckung entfaltet, hat Hei-
degger am Ende der zwanziger Jahre, indem er die Differenz als
Transzendenz dachte, zum Gegenstand einer »universalen On-
tologie« machen wollen. Dabei war es gerade die »ontologische
Differenz«, welche die Begründung einer Phänomenologie als
»absoluter Wissenschaft vom Sein« von innen her zerbrechen
sollte.
Der Schritt zu der Grundlegung einer »transzendentalen
Wissenschaft« durch die Erörterung der »ontologischen Diffe-
renz«, d.h. der Differenzierung eines »ontischen«, auf das »Sei-
ende« bezogenen, von einem »ontologischen«, also erst eigent-
lich philosophischen, weil auf das »Sein selbst« bezogenen
Denkraums, hat sich Heidegger in einem Umbruch seines Phi-
losophierens als ein notwendiger Kurzschluss herausgestellt.
Dieser lässt sich als notwendig nachvollziehen, weil sich von
ihm aus die weiteren Verwandlungen der »ontologischen Diffe-
renz« und der Heideggerschen Philosophie als der »Überwin-
dung der Metaphysik« erläutern lassen. Der Begründungsver-
such einer »absoluten Wissenschaft vom Sein« musste sich als
ein Kurzschluss herausstellen, weil er die Bestimmung des
»Seins selbst«, dass es nämlich kein verobjektivierbares »Seien-
des« ist, nicht zureichend erkannt hat.
Eine gründliche Modifikation des Gedankens der »ontologi-
schen Differenz« von der »Transzendenz des Daseins« wird
von einer Einsicht motiviert, die bereits in den letzten Paragra-
fen von Sein und Zeit anklingt. Dort nämlich spricht Heidegger
vom »ontologischen Rätsel der Bewegtheit des Geschehens«
(ebd.,514), vom »ontologischen Rätsel« der »Geschichte«. Die
Rätselhaftigkeit ihrer »Bewegtheit« hat Heidegger veranlasst,
eine Grundlegung der »Ontologie« auf den Fundamenten eines
platonisch-aristotelischen Philosophieverständnisses wieder-
holt zu überdenken. Dabei kamen ihm Zweifel, ob dieses Philo-
84 Die Frage nach dem Sein

sophieverständnis den eigentlichen Intentionen seines Denkens


entsprechen konnte. Dieser Zweifel brachte ihn dazu, ein Den-
ken vorzutragen, welches das abendländische Philosophievers-
tändis als Wissenschaft von den ersten Ursachen, als »Meta-
physik«, zu »überwinden« trachtet. Die »Überwindung der
Metaphysik« (vgl. Kapitel 3.3) ist derjenige Themenbereich,
von welchem aus die erheblichen Verwandlungen der »ontolo-
gischen Differenz« zu erhellen sind. Dabei liegt es aber im
eigentümlichen Sinn der Sache selbst begründet, dass nicht zu
entscheiden ist, ob die »Überwindung der Metaphysik« die
noch zu erläuternde »Überwindung der ontologischen Diffe-
renz« bestimmt oder ob es sich andersherum verhält.
Die beiden größten und bedeutsamsten Zeugnisse, die den
einzigartigen Versuch einer »Überwindung der Metaphysik«,
nämlich den Versuch, die gesamte Geschichte des abendländi-
schen Denkens in neue, andere Bahnen zu leiten, zur Sprache
bringen, sind die Beiträge zur Philosophie und die sich an diese
anschließenden Erörterungen der Besinnung. In den Beiträgen
zur Philosophie heißt es bezüglich der »Unterscheidung« von
»Sein« und »Seiendem« selbstkritisch: »Diese Unterscheidung
ist seit ›Sein und Zeit‹ als ›ontologische Differenz‹ gefaßt, und
dieses in der Absicht, die Frage nach der Wahrheit des Seyns
gegen alle Vermischung sicherzustellen. Aber sogleich ist diese
Unterscheidung auf die Bahn gedrängt, aus der sie herkommt.
Denn hier macht sich die Seiendheit geltend als die ousı́a, idéa,
und in ihrem Gefolge die Gegenständlichkeit als Bedingung der
Möglichkeit des Gegenstandes.« (GA 65, 250) Die Klärung der
»ontologischen Differenz« als der »Transzendenz des Daseins«
hat den Bereich nicht erreicht, den Heidegger jetzt als »ihren
Ursprung selbst und d. h. [als] ihre echte Einheit« (ebd., 250)
denkt. Festgehalten von der »Seiendheit des Seins«, von der
Vorstellung eines »allem Seienden Gemeinsamen« (ebd., 425),
blieb das »Sein selbst« (das Heidegger jetzt »Seyn« nennt) ver-
stellt. Indem Heidegger sich in seinem ersten Klärungsversuch
Die ontologische Differenz 85

der »ontologischen Differenz« einerseits an dem platonischen


Gedanken des epékeina tês ousı́as und andererseits an der kan-
tischen Theorie des »Transzendentalen« orientierte, hat sich
ihm jenes entzogen, wohin sein Denken unterwegs war: der
»Ursprung« der »ontologischen Differenz«, den Heidegger
nun als die »Wesung des Seyns« (ebd., 465) bezeichnet.
Indem Heidegger jetzt platonische und kantische Gedanken
zurückweist, weil diese den »Ursprung« oder die »echte Ein-
heit« der »ontologischen Differenz« verstellen, setzt er in der
Klärung eigener philosophischer Intentionen früher, vor der
Ära der platonisch-aristotelischen Philosophie an. Er zeigt,
inwiefern bereits diese Initiatoren der europäischen Philoso-
phie einer eigentümlichen »Vergessenheit« unterliegen. Sie ver-
mochten es schon nicht mehr, das »Sein« als es selbst und nicht
etwa als ein besonderes »Seiendes« zu verstehen. Dabei ist es
einer der Hauptgedanken von Heideggers Philosophie, dass
diese »Vergessenheit« nicht von einer Amnesie der Philosophen
verschuldet, sondern von einem sich selbst entziehenden und
verbergenden »Sein« aus möglich wurde.
Durch diese Erläuterung könnte der Eindruck entstehen,
dass Heidegger im Zuge eines ontologischen Fundamentalis-
mus diese »Differenz« nun einfach in einer »reinen« Form re-
habilitieren wollte. Doch indem Heidegger den »Ursprung« der
»ontologischen Differenz« bedenkt, modifiziert er nur ihre
Struktur. Es geht keineswegs darum, die beiden Seiten der Un-
terscheidung, das »Sein« und das »Seiende«, »reiner« zu tren-
nen. Die »Wesung des Seyns« als der »Ursprung« der Differenz
ist jenes, was »zwischen« dem »Sein« und dem »Seienden« ist
(GA 9, 123). Es geht um die Erkenntnis einer dritten Instanz,
die bisher noch gar nicht bemerkt wurde. Bei der Betrachtung
der Unterscheidung zwischen dem »Sein« und dem »Seienden«
geht es weder um das »Sein« noch um das »Seiende«, sondern
um den Bereich, der »zwischen« ihnen liegt.
Mit der Entdeckung dieses »Zwischen« hat Heidegger eine
86 Die Frage nach dem Sein

Dimension erreicht, in der die gängigen ontologischen Erklä-


rungskategorien kaum noch zureichen. Der Philosoph spricht
daher einfach von einer »Differenz als Differenz«10. Sie sei »der
Grundriß im Bau des Wesens der Metaphysik«, ohne doch von
dieser als sie selbst gedacht werden zu können. Mit der Freile-
gung dieses »Grundrisses« hat die »Überwindung der Meta-
physik« ihren leitenden Gedanken gefunden.
Um die Bedeutung, die einem Denken der »Differenz als Dif-
ferenz« zukommt, ganz zu verstehen, müssen wir das Wort
»Grundriss« genauer betrachten. Einerseits will Heidegger ge-
treu seinen Ausführungen über die »ontologische Differenz«,
die er, wie wir sahen, anfangs mit platonischen und kantischen
Gedanken in Verbindung bringen kann, andeuten, dass die
»Differenz« zwischen dem »Sein« und dem »Seienden« in der
europäischen Geschichte der Philosophie den »Grundriss« für
die Unterscheidung des Übersinnlichen vom Sinnlichen lieferte.
Weil es die »ontologische Differenz« gibt, sei es in der Ge-
schichte der Philosophie erst möglich, zum Beispiel »Idealis-
mus« von »Materialismus« zu unterscheiden.
Doch das Wort »Grundriss« hat noch eine andere, sozusagen
»wörtlichere« Bedeutung. Der »Grund« des »Seins«, auf dem
wir als »Dasein« existieren müssen, wird von einem »Riss« cha-
rakterisiert – oder der »Grund« ist ein »Riss«. Mit dem Gedan-
ken von der »Differenz als Differenz« möchte Heidegger darauf
hinweisen, wie wenig selbstverständlich es ist, dass es eine nicht
zu vereinheitlichende »Differenz« überhaupt gibt. Diese »Diffe-
renz« ist der Identität nicht mehr unterzuordnen – was die Tra-
dition der europäischen Philosophie stets versuchte –, sondern
ist, insofern es überhaupt »Seiendes« gibt, bei allem, was der
Mensch tut und denkt, im Spiel. Wollte man den »Riss« im
»Grund« verschwinden lassen, würde man den »Grundriss«
der gesamten Geschichte der Philosophie vernichten müssen.

10 Martin Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 1957, S.37.


Die ontologische Differenz 87

Was scheinbar nur ein Wortspiel ist, enthält eine weitrei-


chende Bedeutung für das zeitgenössische Denken. In dem ver-
meintlich bloß formalen Gedanken der »Differenz als Diffe-
renz« steckt, auch wenn es zunächst nicht einfach zu erkennen
ist, insbesondere ethisches Potenzial. Jacques Derrida hat in
seinem Vortrag Die différance aus dem Jahre 1972 bemerkt,
dass die von Heidegger geforderte schwierige Aufgabe, die
»ontologische Differenz« zu bedenken, bedauerlicherweise
»fast ungehört verblieb«.11 Fünf Jahre früher hatte er in seinem
Aufsatz Gewalt und Metaphysik gegen Emmanuel Lévinas
gezeigt, inwiefern ohne die »ontologische Differenz« bzw. das
»Denken des Seins« »keine Ethik« und erst recht »keine Ethik«
im Sinne von Lévinas gefunden werden kann.12 Kritisch betont
Derrida, dass sie im Vergleich zur »Differenz« zum Anderen
eine »ursprünglichere Differenz«13 sei. Die »Differenz als Diffe-
renz« wird als der »Grundriss« gedacht, der Andere auseinan-
der hält und zusammenbringt.
Wenn wir uns die Philosophie der letzten Jahrzehnte an-
schauen, kann man zu dem Schluss kommen, dass Heideggers
Thematisierung der »ontologischen Differenz«, die zuletzt in
ein Denken der »Differenz als Differenz« einmündete, vor al-
lem in der französischen Phänomenologie (im weitesten Sinne)
sehr einflussreich war. Dabei hat es besonders der Ethik An-
stöße vermitteln können. Die ethische Bedeutung eines solchen
Denkens der »Differenz« besteht darin, dass, anders als in der
Überlieferung der europäischen Philosophie seit Platon, »Dif-
ferenz« im Verhältnis zur »Identität« nicht mehr als defizitär
verstanden werden kann. Immer wieder haben die klassischen
europäischen Philosophien das Phänomen des Anderen und
11 Jacques Derrida, »Die différance«, in: ders., Randgänge der Philo-
sophie, Wien 1988, S. 48.
12 Jacques Derrida, »Gewalt und Metaphysik«, in: ders., Die Schrift
und die Differenz, Frankfurt/M. 1976 (Paris 1967), S. 208.
13 Ebd., S. 138.
88 Die Frage nach dem Sein

Andersartigen als etwas aufgefasst, das in einer ersten und letz-


ten »Identität«, in einer alles vereinigenden »Totalität« über-
wunden werden müsse. Diese Einsicht scheint nicht nur Derri-
das und Lévinas’ Denken beeindruckt zu haben. Ein weiteres
Beispiel für die Rezeption von Heideggers Gedanken zur »Dif-
ferenz« bildet die Ethik der sexuellen Differenz14 der von dem
französischen Freud-Schüler Lacan ausgehenden Luce Irigaray,
die ihre Untersuchungen unter anderem in eine Nähe des Hei-
deggerschen Differenzdenkens bringt. Auch der pluralistische
»Pragmatismus« eines Richard Rorty15 hat sich von ihm beein-
flussen lassen. Dass jedoch ein Denken, das auf universalisti-
sche Geltungsansprüche der Vernunft nicht verzichten will, wie
zum Beispiel dasjenige Jürgen Habermas’, mit Heideggers Ver-
such, die »Differenz« gegenüber dem Universalismus des euro-
päischen Denkens zu emanzipieren, Probleme haben kann,
liegt auf der Hand.

14 Luce Irigaray, Ethik der sexuellen Differenz, Frankfurt/M. 1984.


15 Vgl. Richard Rorty, »Habermas, Derrida und die Aufgaben der
Philosophie«, in: ders., Philosophie und die Zukunft. Essays,
Frankfurt/M. 2000, S. 26 – 53.
3 Die Geschichte des Seins

3.1 Zur Struktur des »Ereignisses«

Ungefähr ein Jahrzehnt nach Sein und Zeit entstehen die


Beiträge zur Philosophie. Sie thematisieren eine Relati-
onsstruktur, die der Philosoph Wahrheit des Seyns nennt.
Die Bedeutung des Seins ist die Wahrheit, die als ein
Geschehen von Verbergung und Erscheinung verstanden
wird. Eine sich totalisierende Technik, die Heidegger
mehr und mehr in der Politik der Nationalsozialisten
erkannte, wird als das Anzeichen wachsender Verstel-
lung, die zugleich auf die sie zulassende Offenheit ver-
weist, interpretiert. Diese Interpretation ist kein theoreti-
scher Akt, sondern eine Entscheidung. Der Mensch kann
sich der wachsenden Verbergung überlassen oder, indem
er zum Da-sein wird, in der aller Verbergung vorgängigen
Offenheit sein Eigenes empfangen. Weil es sich bei der
dem Sein immanenten Wahrheit für den Menschen um
die vom Sein ausgehende Möglichkeit handelt, sein Eige-
nes zu finden oder zu verfehlen, nennt Heidegger das
Ganze dieses Geschehens das Ereignis.
90 Die Geschichte des Seins

Die Phase des Heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit ist
dadurch gekennzeichnet, die über die bloße »Daseinsanalytik«
hinausweisenden Gedanken des Buches aufzunehmen und
voranzutreiben. Vor allem zwei bereits im ersten Hauptwerk
anklingende Leitmotive werden immer wichtiger. Wiederholt
betont Heidegger, dass die Analysen des »Daseins« ihre Bedeu-
tung einzig und allein im Horizont der Frage nach dem »Sinn
von Sein« erhalten. Dieser habe die Aufmerksamkeit des Den-
kens zu gehören. Daneben wird die Erkenntnis wichtig, dass
die im »Sein« gegebene »Zeitlichkeit« sich als Geschichte zur
Erscheinung bringt. Das »Denken des Seins« muss gemeinsam
mit dem Phänomen der Zeit stets die Geschichte im Blick behal-
ten. Über die Geschichte nachzudenken bedeutet aber für Hei-
degger zugleich, sich philosophisch über sich selbst in der fak-
tisch geschehenden Geschichte zu verständigen. Die Philoso-
phie wird zur »Besinnung auf ihre ›Zeit‹« (GA 66, 46), wobei
wir schon hörten, dass eine solche »Besinnung« nicht histo-
risch angelegt ist, sondern das Geschehende aus dem weiteren
Bereich eines geschichtlichen Erbes zu verstehen sucht.
Zudem zeigt sich mit dem fortschreitenden Anwachsen von
Heideggers Texten in der »Gesamtausgabe« immer mehr die
Möglichkeit, sehr viele von Heideggers Schriften aus den Jah-
ren nach 1934 als eine Art philosophischer Selbstkritik seiner
philosophisch-politischen Verstrickung in den nationalsozia-
listischen Totalitarismus zu lesen. So verstanden, wäre diese
Verstrickung als eine Selbstverfehlung der Heideggerschen Phi-
losophie zu deuten. Ich möchte behaupten, dass jeder spätere
Text Heideggers ein Denken gegen den Totalitarismus darstellt;
wobei diese These nur dann sinnvoll verstanden werden kann,
wenn der Totalitarismus nicht als ein historisches Phänomen,
das von 1933 bis 1945 andauerte und dann mehr oder weniger
spurlos verschwand, aufgefasst wird.
Diese Intentionen finden nach Sein und Zeit in den erst im
Jahre 1989 veröffentlichten Beiträgen zur Philosophie (Vom
Zur Struktur des »Ereignisses« 91

Ereignis) ihre vielleicht reifste Gestalt. Dieser Text wird inzwi-


schen von den meisten Forschern als Heideggers »zweites
Hauptwerk« betrachtet. In ihm können wir sehen, wie wesent-
liche Modifikationen der Elemente von Heideggers Denken zur
Sprache und so in eine für sein weiteres Denken gültige Form
gebracht werden.
Die Beiträge zur Philosophie gehen, grob gesagt, die Frage
nach dem »Sinn von Sein« oder, wie es jetzt heißt, nach dem
»Sinn des Seyns« nicht mehr im Durchgang durch eine »Analy-
tik« des »Daseins« an. Sie beanspruchen, »das Seyn selbst in
seiner Wesung zu denken, ohne vom Seienden auszugehen«
(GA65, 429), ohne das »ausgezeichnete Seiende« »Dasein« als
Sprungbrett für das eigentliche Thema zu nehmen. Ein solches
Denken, das Heidegger ein »Er-denken des Seyns« nennt, hat
den Charakter eines »Versuchs« (ebd., 8), der als »Lehre«
(ebd., 7) nur missverstanden werden kann. Aus den Beiträgen
zur Philosophie scholastisch Grundsätze von Heideggers Philo-
sophie extrahieren zu wollen, geht an der ganz und gar außer-
gewöhnlichen Anlage dieses Denkens genauso vorbei, wie zu
meinen, die Beiträge zur Philosophie seien ein bloßes Experi-
mentierfeld.
Die Grundstruktur der »Fundamentalontologie« von Sein
und Zeit ist, wie im letzten Kapitel gezeigt, die »ontologische
Differenz« zwischen »Sein« und »Seiendem«. Sie markiert die
beiden Pole, zwischen denen sich die Frage nach dem »Sinn von
Sein« bewegt. Ihr Ausgangspunkt ist das zirkuläre Begrün-
dungsverhältnis von »Seiendem« und »Sein«. Was Sein und
Zeit leistet, ist, im Durchgang durch die »Daseinsanalytik« auf
das »Sein« zuzufragen. Eine wesentliche Modifikation dieses
Vorgehens könnte darin bestehen, diesen Zugang zur »Seins-
frage« einfach umzudrehen. Doch Heidegger erkennt, dass ein
solches Vorgehen die eigentliche Intention, das »Sein selbst«
zu untersuchen, nicht erfüllt. Eine bloße »Umdrehung« der
»ontologischen Differenz« verbleibe in einem geschichtlichen
92 Die Geschichte des Seins

Denkschema, das – bei aller Berechtigung zu einer solchen


»Umdrehung« – den entscheidenden Schritt zum »Sein selbst«
verstelle. In den Beiträgen zur Philosophie betont Heidegger,
»ins Außerhalb jener Unterscheidung von Seiendem und Sein«
zu gelangen, indem nun ein ganz anderer »Entwurf« des Den-
kens angestrebt werde. Dies sei der Grund dafür, das »auch das
Sein jetzt als ›Seyn‹« geschrieben werde. Das nämlich solle
besagen, »daß das Sein hier nicht mehr metaphysisch gedacht«
(ebd., 436) werde. Die »Metaphysik« wird von Heidegger »un-
bedenklich« als »Name« »zur Kennzeichnung der ganzen bis-
herigen Geschichte der Philosophie gebraucht« (ebd., 423).
Diese habe innerhalb des als solchen unreflektierten Denksche-
mas der »Unterscheidung von Seiendem und Sein« das »Sein
selbst« immer nur als das allgemeine Wesen des »Seienden«, als
»Seiendheit«, oder als »Apriori« denken können. Das »Seyn«
aber soll in den Beiträgen zur Philosophie auf eine andere Art
und Weise zur Sprache kommen.
Eine wesentliche Modifikation von Heideggers Denken in
Sein und Zeit stellt die lapidare, häufig wiederholte Mitteilung
dar: »Die Seinsfrage ist die Frage nach der Wahrheit des Seyns.«
(ebd., 6) Bereits in Sein und Zeit konnte Heidegger demonstrie-
ren, inwiefern die traditionellen Auffassungen der Wahrheit als
logische Adäquation oder Korrespondenz zwischen Denken
und Sache ein ursprünglicheres Wahrheitsverständnis verges-
sen hat. Die Möglichkeit, richtige oder falsche Aussagen über
»Seiendes« zu machen, setzt voraus, dass »Seiendes« über-
haupt erst erscheinen könne. Diese Möglichkeit charakterisiere
das griechische Wort für Wahrheit, alétheia, das Heidegger mit
»Unverborgenheit« übersetzt. Das traditionelle Denken der
»Metaphysik« habe die Wahrheit vom Vorrang der »Logik«
her lediglich als Aussagerichtigkeit aufgefasst, ohne zu sehen,
inwiefern eine solche Auffassung auf der Wahrheit als »Unver-
borgenheit« basiere. Die in den Beiträgen zur Philosophie auf-
geworfene »Frage nach der Wahrheit des Seyns« fasst die
Zur Struktur des »Ereignisses« 93

Wahrheit nun nicht mehr als »Aussagewahrheit«, sondern ur-


sprünglich als das Geschehen von Wahrheit selbst auf. Gleich-
zeitig wird die so verstandene »Wahrheit« mit dem »Seyn«
selbst identifiziert: »Das Wesen der Wahrheit liegt darin, als das
Wahre des Seyns zu wesen und so Ursprung zu werden für die
Bergung des Wahren im Seienden, dadurch dieses erst seiend
wird.« (ebd., 348) Wahrheit wird weder als ein Kriterium rich-
tiger oder falscher Urteile noch als etwas begriffen, das zum
»Sein« hinzukomme, sondern sie »west« bzw. geschieht als ein
»Ursprung« für »Wahres«.
Weil das »Dasein« durch eine »Erschlossenheit« charakteri-
siert ist, in der es sich selbst durchsichtig und anderes »Seien-
des« »im Licht zugänglich« (GA 2, 177) wird, bezeichnete Hei-
degger es in Sein und Zeit als »Lichtung«. Mit dem im Jahre
1930 gehaltenen Vortrag »Vom Wesen der Wahrheit« kommt
der Gedanke auf, dass diese »Lichtung« die Wahrheit bzw. die
»Unverborgenheit« (alétheia) ist. In den Beiträgen zur Philoso-
phie gibt Heidegger zu beachten, dass die »Wahrheit des Seyns«
nicht mehr nur »die Aufhebung des Verborgenen und seine
Freistellung und Umwandlung ins Unverborgene, sondern ge-
rade die Gründung des abgründigen Grundes für die Verber-
gung (die zögernde Versagung)« (GA 65, 352) sei. Der Begriff
der »Wahrheit des Seyns« als »Lichtung der Verbergung« macht
möglich, im »Wesen« oder der »Wesung« der Wahrheit »ge-
rade« Verdeckungen und Verstellungen zu erfassen, die nicht
nur Merkmale des »Seienden«, sondern des »Seyns« selber
sind.
Es ist wichtig, zu verstehen, warum Heidegger in seinem
Wahrheitsverständnis die Dimension der Verbergung so sehr
betont. Alles, was erscheint, zeigt sich niemals völlig. Das lässt
sich unmittelbar an selbstverständlichen Dingen aufweisen.
Von den wahrnehmbaren Dingen etwa sehen wir zunächst im-
mer bloß diejenige Seite, die uns zugewandt ist. Die Rückseite
oder der Innenbereich eines geschlossenen Schranks sind unse-
94 Die Geschichte des Seins

rer Wahrnehmung entzogen. Dieses Phänomen charakterisierte


schon Husserl als »Abschattung«. Doch Heidegger geht bei sei-
ner Erläuterung der Verbergung über dieses Merkmal der
Erscheinung von Dingen hinaus. Es sind nicht nur Momente
der Dinge oder des »Seienden«, die unserer Wahrnehmung ent-
zogen sind, sondern es handelt sich bei der Verbergung um den
Entzug derjenigen Dimension selbst, in welcher das »Seiende«
zur Erscheinung kommt. Die »Lichtung«, welche die Dinge
hervorkommen lässt, sie ist es selbst, die sich »verbirgt«. Mit
anderen Worten: Das Erscheinen, das uns deshalb so selbstver-
ständlich ist, weil Dinge erscheinen, erscheint selbst gerade
nicht. Sowohl bezüglich der erscheinenden Dinge als auch
bezüglich der Dimension, in welcher die Dinge erscheinen, der
»Lichtung«, ist stets Verbergung mit im Spiel. Insofern wir
sozusagen die »ganze Wahrheit« verstehen wollen, dürfen wir
sie nicht nur einseitig als »Lichtung«, sondern als »Lichtung
der Verbergung« begreifen, als eine positive Erkenntnismög-
lichkeit also, für welche die Grenze der Erkenntnis konstitutiv
ist.
Damit hängt der in den Beiträgen zur Philosophie formu-
lierte Gedanke zusammen, dass die »Wahrheit des Seyns« auf
Grund des Zusammenspiels von Erscheinung und Verdeckung
in der »Lichtung der Verbergung« sich selbst entziehen und
darum in der Geschichte Epochen freigeben kann, die vom Ver-
lust des »Seyns« – von der »Seynsverlassenheit« – geprägt sind.
So heißt es: »Diese Wahrheit des Seyns ist gar nichts vom Seyn
Verschiedenes, sondern sein eigenstes Wesen, und deshalb liegt
es an der Geschichte des Seyns, ob es diese Wahrheit und sich
selbst verschenkt oder verweigert und so erst eigentlich in seine
Geschichte das Abgründige bringt.« (ebd., 93) Um die Beiträge
zur Philosophie nicht misszuverstehen, ist es nötig, diese »Ver-
weigerung« von Wahrheit nicht als ein Defizit anzusehen. Die
»zögernde Versagung« von Wahrheit ist ein positives Charak-
teristikum des »Seyns«, das in der Geschichte als das »Abgrün-
Zur Struktur des »Ereignisses« 95

dige« die vielfältigen Missverständnisse und Verfehlungen des


Menschen erst ermöglicht.
Gleichwohl philosophiert Heidegger in den Beiträgen zur
Philosophie im Horizont der »Grunderfahrung«, dass die
»Verweigerung« des »Seyns« einen derartig ausschließlichen
Vorrang des »Seienden«, d. h. des Gegenständlichen und seiner
instrumentellen Bearbeitung, manifestiert hat, in welchem we-
sentliche Momente einer menschenwürdigen Existenz zu ver-
schwinden drohen. Alle Dinge, seien sie natürlich oder herge-
stellt, würden lediglich in der Perspektive der Verfügung und
des Verbrauchs betrachtet. Der Mensch selbst erfasse sich nur
noch als ein »technisiertes Tier« (ebd., 98). Da in dieser »We-
sung des Seyns« alles »Seiende« einzig und allein vom »Ma-
chen« bzw. von der »Machbarkeit« her aufgefasst wird, be-
zeichnet sie der Philosoph als »Machenschaft«. Der Anspruch
des »Er-denkens des Seyns« besteht darin, diesen Umgang,
diese Vernachlässigung des »Seienden« zu erhellen, um ihr zu
widersprechen. Es bleibe »die Aufgabe: Die Wiederbringung
des Seienden aus der Wahrheit des Seyns« (ebd., 11) zu ermögli-
chen, also dem zerstörerischen Umgang des Menschen mit den
Dingen und sich selbst philosophischen Widerstand zu bieten.
Ein solcher Widerstand kann nach Heidegger nicht darauf
hinauslaufen, »utopische« Rezepte zur Verbesserung der Welt
zu verschreiben, sondern die »Verweigerung« des »Seyns« als
solche zunächst einmal zur Sprache kommen und so »erfahr-
bar« werden zu lassen. Ohne einzig darauf festgelegt zu sein,
spielt in diese Geschichtsdiagnose gewiss die Erfahrung des sich
totalisierenden Machtapparates der völlig hemmungslos alle
Mittel der Technik nutzenden Nationalsozialisten hinein.
Diese »Grunderfahrung« der »Geschichte«, dass die Welt
immer mehr aus den Fugen gerät, hat Heidegger als »Not« cha-
rakterisiert. Die »Not« ist ein Zustand, in dem wir etwas brau-
chen, das uns »verweigert« wird. Die »Not« wäre mit den Be-
griffen von Sein und Zeit als eine »Seinsweise« des »Daseins«
96 Die Geschichte des Seins

zu bezeichnen. Das Verhalten der Menschen in der Gegenwart


stellt sich für Heidegger hingegen als »Notlosigkeit« dar. Sie
besteht in »der ungebrochenen Zufuhr des Nutz- und Genieß-
baren, dem schon Vorhandenen, das durch den Fortschritt eine
Vermehrung zuläßt« (ebd., 113). Die »Nötigung«, die von der
»Verweigerung« der »Wahrheit des Seyns« ausgeht, wird von
einer alltäglichen »Notlosigkeit« verstellt. Da eine solche
»Notlosigkeit« jeden Gedanken, der sich nicht an der Verwal-
tung des »schon Vorhandenen« orientiert, meidet, muss dieser
saturierte Zustand selbst als »Not« verstanden werden. Für
den, der über die etablierten Bedingungen der Gegenwart, auch
über die gesellschaftlich-politischen Bedingungen, hinausden-
ken will, geht es darum, die »Not der Notlosigkeit«, ihren
»Anfall« (ebd., 113), zu erfahren. So werde die »Not der Not-
losigkeit« die »Nötigung«, das von der Gegenwart »Verwei-
gerte« zu bedenken. Die »Not« lässt durch den »Schrecken«,
der uns ergreift, wenn wir verstehen, was uns durch die latente
und reale Totalisierung bürokratisch-technischer Tendenzen
»verweigert« wird, ein Nachdenken über ein anderes Mitein-
andersein entstehen. Es wäre möglich, diese »Not« als den
Hauptimpuls des Heideggerschen Denkens zu bezeichnen – als
die »Not«, dasjenige, was wir »brauchen«, nicht empfangen zu
können, weil sich stets etwas mit »Macht« und »Gewalt« vor
das Gebrauchte schiebt und schon geschoben hat.
Daher kann es nicht verwundern, dass dem »Dasein« in der
Gefahr, all das, was Geschichte überhaupt ausmacht, zu verlie-
ren, eine besondere Bestimmung und Aufgabe zuwächst. Es
wurde schon darauf hingewiesen, dass bereits in Sein und Zeit
das »Dasein« nicht einfach mit dem Menschen zu identifizie-
ren, sondern vielmehr als seine ursprünglichste Existenzmög-
lichkeit aufzufassen ist. Diese Differenzierung von »Mensch«
und »Dasein« wird in den Beiträgen zur Philosophie ver-
schärft, indem sie auf die Geschichte projiziert wird. Die her-
kömmliche – und das heißt für Heidegger immer »metaphysi-
Zur Struktur des »Ereignisses« 97

sche« – Bestimmung des Lebewesens »Mensch« lautet »animal


rationale«. Der Mensch wird von den großen Philosophen seit
Platon und Aristoteles als ein Wesen gedeutet, das zwischen
dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen steht. So hat es wie die
Tiere einen Körper mit sinnlichen Bedürfnissen, mit dem es,
anders als die Tiere, sich dem Übersinnlichen wie den »Ideen«,
der »Sprache« oder der »Vernunft« (lógos) zuwendet. Dement-
sprechend bestimmt Aristoteles den Menschen als das Tier, das
Sprache hat (zôon lógon échon). Diese Deutung hat sich in der
Neuzeit seit dem cartesianischen Substanzen-Dualismus von
»Denken« (res cogitans) und »Ausdehnung« (res extensa) noch
verstärkt. Daher setzt Heidegger der Bestimmung des Men-
schen als eines »vernünftigen Tieres« das »Dasein« entgegen.
Aber Heidegger begreift diese Entgegensetzung nicht bloß
als eine subjektive Idee. Er ist vielmehr der Ansicht, dass sich
eine mögliche »Verwandlung« des »vernünftigen Tieres« zum
»Dasein« von der Geschichte aus anbietet. In der »Verweige-
rung« der »Wahrheit des Seyns« zeigt sich die Möglichkeit zu
einer solchen »Verwandlung« von selbst. Mehr noch: Die »Ver-
weigerung« erscheint als eine Art Auftrag, eine »Zuweisung«,
das »Dasein« zu »gründen« (ebd., 240).
Der Gedanke einer »Gründung« des »Daseins« stellt klar,
dass das »Dasein« nun weder als ein vorhandenes Ding noch
als eine »immer schon« vorliegende Existenzmöglichkeit ver-
standen werden darf. Allerdings legt der Begriff der »Grün-
dung« nahe, an eine willentliche Aktion des Menschen zu den-
ken, benutzen wir doch diesen Begriff beispielsweise dann,
wenn ein Staat »gegründet« wird. Diese Interpretation verliert
indes den von Heidegger wiederholt betonten Sachverhalt aus
dem Blick, dass diese »Gründung« von der »Verweigerung«
der »Wahrheit des Seyns«, die sich in der völlig ungehemmten
»Macht« der Technik präsentiert, dem Menschen »zugewiesen«
oder »zugespielt« wird. Wie demnach einerseits der Mensch das
»Dasein« »gründen« kann, so wird ihm diese »Gründung«
98 Die Geschichte des Seins

andererseits angeboten. Die »Gründung« des »Daseins« ist da-


rum keine Aktion, sondern entspringt eher einer Art von »Sich-
fügen« (ebd., 310). An diesem Punkt zeigt sich ein spezifischer
Begriff von Praxis, dem ohne Zweifel eine ethische Bedeutung
zukommt. Das Handelnkönnen wird von Heidegger nicht mehr
als das subjektive Vermögen einer selbstbezogenen »Spontanei-
tät« betrachtet, sondern gleichsam als ein Verhalten zwischen
Eigeninitiative und Hingabe interpretiert. Das »Dasein« lässt
sich handelnd auf etwas ein, das zugleich sein Handeln selbst
ermöglicht, über das es demnach nicht verfügt und das es den-
noch erst handelnd zur Erscheinung verhilft. In einer solchen
Ethik der Antwort und der Entsprechung muss folglich stets
berücksichtigt werden, dass der Handelnde sich keineswegs
einfach aufgibt, sondern von dem, was das »Dasein« »braucht«,
selbst »gebraucht« wird, damit das, was durch das Handeln
hervorkommen soll, erscheinen kann.1
Dieses Geschehen der »Verweigerung« der »Wahrheit des
Seyns« und die daraus entspringende Möglichkeit einer »Ent-
rückung in die Wahrheit des Seyns« nennt Heidegger »Ereig-
nis«. In diesem Wort spielt das Phänomen des »Eigenen« und
das mit diesem zusammenhängende Zeitwort »eignen« zwar
nicht die einzige, aber sicherlich die tragende Rolle. Der Philo-
soph hört in dem Wort »Ereignis«, das auf Grund seiner »Ein-
zigkeit« nur im Singular verwendet wird, den transitiven Vor-
gang des »ins Eigene kommen lassen«: das »Ereignis« »ereig-
net«. Was? Den Menschen zum »Dasein«.
Die »Verwandlung« des Menschen in das »Dasein« wird als
ein »Ins-Eigene-Kommen« aufgefasst. Um dieses Geschehen in
seiner Struktur zu begreifen, ist es nötig, zu sehen, dass das
»Ereignis« und das, was »ereignet« wird, nicht als ein »Ob-
jekt«, das ein »Subjekt« gleichsam anzieht, verstanden wird.

1 Vgl. zur Phänomenologie einer »Responsivität« Bernhard Walden-


fels, Antwortregister, Frankfurt/M. 1994.
Zur Struktur des »Ereignisses« 99

Das »Ereignis« oder, wie Heidegger auch sagt, das »Seyn«, ist
nichts anderes als das »Dasein«, weil es jene Einheit von Iden-
tität und Differenz bildet, die wir bereits hinsichtlich der ent-
wickelteren Erörterung der »ontologischen Differenz« kennen
gelernt haben. Einerseits ist das »Ereignis« mit dem »ereigne-
ten« »Dasein« identisch, andererseits entfaltet es in der ihm
immanenten »Verweigerung« eine Differenz.
Was es ermöglicht, diese beiden Aspekte zusammenzuden-
ken, ist die Grundstruktur des gegenseitigen »Brauchens«. In
der »Grunderfahrung« der »Not«, die Heidegger als »Verwei-
gerung« oder auch »zögernde Versagung« anspricht, gibt es
nämlich einen Appell an den Menschen, einen initialen »Zu-
ruf«, von dem er sich »anrufen« lässt. In der »Not« spricht sich
dem Menschen dasjenige zu, was er braucht, um die »Not« zu
überstehen. Erst indem so das Eine mit dem Anderen in ein Ver-
hältnis tritt, entsteht die Einheit des »Ereignisses«. Die Mitte
oder der Angelpunkt dieser Gegenseitigkeit ist die »Kehre«
(ebd., 407). In der sehr eigentümlichen, zuweilen forcierten
Sprache der Beiträge zur Philosophie lautet das folgenderma-
ßen:

»Was ist diese ursprüngliche Kehre im Ereignis? Nur der Anfall des
Seyns als Ereignung des Da bringt das Da-sein zu ihm selbst und so
zum Vollzug (Bergung) der inständlich gegründeten Wahrheit in das
Seiende, das in der gelichteten Verbergung des Da seine Stätte findet.«
(Ebd.,407)

Die »dialogische« (mit Heideggers Wort »kehrige«) Struktur


besteht darin, dass das Eine – das »Ereignis« oder das »Seyn« –
erst geschieht, wenn sich zwei Elemente aufeinanderzu- bzw.
voneinanderwegbewegen. Das Modell des hin und her gehen-
den Gesprächs, das ja, wenn es ein wirkliches Gespräch sein
soll, eine jeweilige Einheit z. B. in einem Thema finden muss,
kann zum Verständnis des »in sich gegenschwingenden Ereig-
nisses« (ebd., 261) helfen. So gehört auch der Dissens oder die
100 Die Geschichte des Seins

»Aus-einander-setzung«, wie Heidegger häufig schreibt, zum


Gespräch hinzu. Das völlige Scheitern des Gesprächs sind kei-
neswegs die in ihm zu Tage tretenden Unterschiede, sondern
dies, dass die Sprechenden aufhören, sich zu verständigen. Vor
der Möglichkeit eines völligen Auseinanderbrechens der »dia-
logischen« Struktur der Geschichte befindet sich nach Heideg-
ger der Mensch unserer Zeit.
Diese »Kehre« in der (sozusagen »dialogischen«) Struktur
von »Dasein« und »Seyn« wurde häufig zum Angelpunkt von
Heideggers Denken gemacht, wobei von einem Denken »vor«
und »nach« der »Kehre« gesprochen wird. Sicherlich ist ein
Umbruch in Heideggers Denken nach Sein und Zeit festzu-
stellen. Doch die »Kehre« allein mit diesem Strukturumbau zu
identifizieren, geht an der Sache vorbei. Heideggers Philo-
sophie ist kein Denken »vor« und »nach«, sondern »in« der
»Kehre«. Stets ist sie an dem Punkt interessiert, an dem etwas –
die Existenz, die Geschichte, die Wahrheit, die Welt etc. – sich
wendet. Immer sind es die Brüche und Verwandlungen, wohin
sie auch immer führen, die Heideggers Aufmerksamkeit bean-
spruchen.
Die Schwierigkeit und Missverständlichkeit des »Ereignis«-
Denkens liegt in der Frage, ob das »Eigene« eine Art realisier-
bares Ideal ist oder ob Heidegger die »Verweigerung« der
»Wahrheit des Seyns« als eine grundsätzliche Eigenschaft des
»Ereignisses« denkt. Im ersten Fall orientierte sich diese Phi-
losophie an einem eschatologischen Modell der Zeit, wie wir
sie von der christlichen »Heilsgeschichte« her kennen. Der
Mensch fände in seinem »Eigenen« einen ihm angemessenen
Ort, wobei Heidegger durchaus in der Lage ist, dieses »Eigene«
in der jeweiligen Endlichkeit der Einzelnen (unterschiedliche
Völker mit unterschiedlichen Gewohnheiten) aufzufinden. Die-
ses Geschehnis wäre so etwas wie eine Verwandlung der Welt
nicht nur in bestimmten Teilbereichen, sondern auch innerhalb
der die Welt »regierenden« Systeme Wirtschaft und Wissen-
Der Streit von Welt und Erde 101

schaft. Es wäre eine Welt, in welcher der Mensch sich von den
aus der Neuzeit entspringenden und mit den Totalitarismen
anwachsenden Beschädigungen und Vernichtungen als befreit
vorfände. Andererseits legen viele Äußerungen Heideggers
auch den Gedanken nahe, dass das »Ereignis«-Denken viel-
mehr deskriptive als gleichsam theo-normative Züge hat. So
betont er sehr häufig, dass es an der »Geschichte des Seyns«
selbst liege, »ob es diese Wahrheit [des Seyns] und sich selbst
verschenkt oder verweigert und so erst eigentlich in seine
Geschichte das Abgründige bringt« (ebd., 93). Das ermöglicht
uns, diese gegenstrebige Struktur von »Verschenkung« und
»Verweigerung« als den wichtigsten Charakter von Geschichte
aufzufassen. Dabei muss auch hier keineswegs ausgeschlossen
werden, dass dem Menschen in einer Ethik der »Bereitschaft«
für das »Verweigerte« ein bestimmtes Denken und Handeln
offen steht. Ich werde auf dieses Problem zurück kommen,
wenn ich mich Heideggers Äußerungen über die »Götter« und
dem von ihm so apostrophierten »letzten Gott« zuwenden
werde.

3.2 Der Streit von Welt und Erde

Zwei wesentliche Sphären, in denen wir leben, sind die


Welt und die Erde. Die Welt ist das Offene für alle inter-
subjektiven Bezüge, der Raum, in dem unsere Existenz in
Erscheinung tritt. Die Erde ist der Boden, der uns trägt.
Sie ist der Ursprung des Organischen, mithin wird sie mit
der Natur schlechthin identifiziert. Anders als die Welt
verschließt sie sich, bleibt dunkel, selbst wenn die Natur-
wissenschaft sie erforscht. Da sich die Öffnungstendenz
102 Die Geschichte des Seins

der Welt und die Verdunkelungsneigung der Erde über-


kreuzen, spricht Heidegger von einem Streit zwischen
Welt und Erde. Er wird als ein Element des Ereignisses
betrachtet. Nach Heidegger wird die Naturwissenschaft
von dem Willen angetrieben, die Selbstverschließung der
Erde mit Gewalt zu durchbrechen und sie dem Licht völ-
lig zugänglich zu machen, um so letztlich den Streit aus
der Welt zu schaffen.

Eine der wichtigsten »existenzialen Bestimmungen« des »Da-


seins« ist, so Heidegger in Sein und Zeit, das »In-der-Welt-
sein«. Das »Dasein« hat »gemäß einer zu ihm gehörigen Seins-
art die Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verste-
hen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält«
(GA 2, 21). Das ist die »Welt«. Wenn das »Dasein« diese »Ten-
denz« hat, ist es für die »Fundamentalontologie« notwendig,
den »Dasein« mitbegründenden »ontologischen Begriff« der
»Weltlichkeit von Welt überhaupt« (ebd., 86) einzuführen. Zu
diesem »Existenzial« gehört eine spezifische »Vieldeutigkeit«.
Diese »Vieldeutigkeit« gliedert sich in vier verschiedene Be-
griffe der Welt. Der erste entfaltet die »ontische«, das heißt hier
dingliche Bestimmung der Welt als »All des Seienden, das inner-
halb der Welt vorhanden sein kann«. Der zweite gibt die »onto-
logische« Bestimmung der Welt als den »Titel einer Region, die
je eine Mannigfaltigkeit von Seiendem umspannt« an. Der
dritte Welt-Begriff deutet die Welt »als das, ›worin‹ ein fakti-
sches Dasein als dieses ›lebt‹« (ebd., 87). Der vierte schließlich
begreift die Welt als »Weltlichkeit«. Gemäß der Intention von
Sein und Zeit, die »Weltlichkeit der Welt überhaupt« zu analy-
sieren, gelangt zumeist der dritte Begriff der Welt in den Blick.
Wo dieser nicht beansprucht wird, leitet der erste die Untersu-
chung.
Der Streit von Welt und Erde 103

Das Milieu, »›worin‹ ein faktisches Dasein ›lebt‹«, ist seine


»Umwelt« (ebd., 89). In ihr geht es dem »Dasein« um das »um-
weltliche Besorgen« (ebd., 90) des »Zeugs« (ebd., 92). Jedes
»Zeug« wird durch ein jeweiliges »Um-zu« charakterisiert.
Dass ein »Zeug« jeweils verwendet wird, »um zu. . .«, ist eine
»Verweisung«. Diese »Verweisung« erweist sich bei näherer
Betrachtung als die jeweilige »Bewandtnis« (ebd., 112) eines
»Zeugs«. Diese »Bewandtnis« ist »das Wozu der Dienlichkeit,
das Wofür der Verwendbarkeit«. Dieses »Wozu« und »Wofür«
des »Zeugs« bildet den Zusammenhang einer »Bewandtnis-
ganzheit«. Jede »Bewandtnis« ist im vorhinein »je nur ent-
deckt« in dem Horizont einer »Bewandtnisganzheit«. Dass das
»Dasein« sich »immer schon« in einer solchen vorfindet und
orientiert, »birgt einen ontologischen Bezug zur Welt in sich«
(ebd., 114). Nicht nur das »Zeug«, sondern jegliches »Seiende«
scheint von einer solchen im vorhinein eröffneten »Bewandt-
nisganzheit« bestimmt zu sein. So kann Heidegger schreiben:
»Das Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin
des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Be-
wandtnis ist das Phänomen der Welt.« (ebd., 115f.) Wahr-
scheinlich hat Heidegger in Sein und Zeit das »Zeug« und des-
sen Integration in die »Bewandtnisganzheit« als das Paradigma
des »Seienden« schlechthin verstanden. Es hat sich ihm aber
später gezeigt, dass sich die Analyse der »Weltlichkeit von Welt
überhaupt« im Ausgang vom »Zeug« auf eine methodische
Vorentscheidung – nämlich dass sozusagen das in der Welt erste
begegnende »Seiende« das »Zeug« und nicht etwa das Kunst-
werk oder gar der Andere ist – stützt, welche die Entfaltung des
Verständnisses von Welt durchaus beeinflusst hat.
Im Verlauf der phänomenologischen Ausarbeitung und
Konzentration der Frage nach der Welt als eines wichtigen Pro-
blems seines Denkens stellt Heideggers erste Vorlesung über
die Dichtung Friedrich Hölderlins aus dem Wintersemester
1934/35 eine Zäsur dar. Von dieser vertieften Auseinanderset-
104 Die Geschichte des Seins

zung mit dem Dichter haben Heideggers Erörterungen über den


Ursprung des Kunstwerkes auch in Bezug auf die Frage nach
der Welt wesentliche Anregungen erhalten.
Im Horizont der Hymnen Hölderlins kommt die Beobach-
tung auf, dass dem Phänomen der Welt Eigenschaften imma-
nent sind, die einzig mit Hilfe der Dichtung zur Sprache
gebracht werden können. Es sind dies Phänomene wie »Bo-
den«, »Land« oder auch »unter dem Himmel« (GA 39, 93).
Diese örtlichen Bestimmungen beziehen sich allesamt auf die
»Erde«. Der Mensch, der in der Welt lebt, wohnt auf der Erde.
Diese erweist sich als eine besondere »Macht« (ebd., 88). Sie
erst gibt den Menschen in ihrer Welt Orte. Denn der Erde ent-
sprechend ist es nicht gleichgültig, wo sich die Welt als ein
geschichtlich »waltendes« Geschehen entfaltet. Die »Macht
der Erde« besteht also darin, dass die Welt zur »Heimat« wer-
den kann. Diese Möglichkeit der Welt, »Heimat« sein zu kön-
nen oder nicht, begleitet Heideggers Erörterung des Welt-Phä-
nomens bis zuletzt. Noch in seinen späteren Aufzeichnungen
zur »Gelassenheit« aus dem Jahre 1959 wird deutlich, wie das
Welt-Phänomen in Bezug zu der Frage, ob und wie der Mensch
in seiner Welt »heimatlich« wohnen könne, bedacht wird (vgl.
auch Kapitel 5.3).
In der Welt, auf der Erde zu existieren, spezifiziert den Cha-
rakter des »Daseins« weiter. Das Verhältnis von Welt und Erde
bildet kein starres axiales Koordinatensystem, sondern einen
Zusammenhang, der – wie alle von Heidegger erörterten Ele-
mente des »Seyns« – zeitlich-geschichtlich veränderbar ist.
Welt ist, so Heidegger in seinem Aufsatz vom Ursprung des
Kunstwerkes, »die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen
der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick
eines geschichtlichen Volkes« (GA 5, 35). Die Erde ist »das zu
nichts gedrängte Hervorkommen des ständig Sichverschließen-
den und dergestalt Bergenden«. Die Welt ist die »Offenheit«, in
welche hinein sich das »Hervorkommen« der Erde entfalten
Der Streit von Welt und Erde 105

kann. Die Erde ist das »Bergende«, worauf sich die Welt »grün-
den« kann.
Es gibt also in diesem Welt-Erde-Verhältnis eine auffällige
Bewegung. Die Erde drängt ins Offene, indem sie z. B. Pflanzen
wachsen lässt, deren Wurzeln in die Tiefe treiben. Die Welt, die
den Raum für die Praxis und die Poiesis freigibt, »braucht«
einen Grund, auf den sie sich verlassen kann, indem sie »auf ihn
bauen kann«. Die Bewegung, die daraus erwächst, ist eine ge-
genseitige Durchdringung, ein »Gegeneinander«. Dieses »Ge-
geneinander« hat zwei Bedeutungen. Einerseits brauchen beide
einander, um sich in entgegengesetzter Weise ausweiten zu kön-
nen. Andererseits grenzen sie sich voneinander ab und aus. Das
»Sichverschließende« lässt keine »Offenheit« zu, will die »Of-
fenheit« in sich zurücknehmen, die als solche wiederum der
»Verschlossenheit«, die im Wachsen der Pflanzen sich auszu-
dehnen sucht, entgegensteht. Das »Gegeneinander« von Erde
und Welt ist demnach ein »Streit«. Dieser »Streit« wird von
Heidegger als ein Merkmal der »Wahrheit des Seyns« betrach-
tet. Denn den »Streit zwischen Welt und Erde« (ebd., 42) gibt
es nur, »sofern die Wahrheit als der Urstreit von Lichtung und
Verbergung geschieht«. »Urstreit« und »Streit« bilden zwar
keineswegs einen Kausalnexus, so als ob eine ontologische
Bewegung die Bedingung der Möglichkeit einer Bewegung im
»Seienden« erst bereitstellen müsste. Dennoch erhält der »Ur-
streit von Lichtung und Verbergung« als der Horizont der
Geschichte einen Vorrang im »Ereignis« zugesprochen, ohne
schon das Ganze dieser Geschichte zu sein.
Heideggers Begriff der Erde ist zwar von Hölderlins Dich-
tung maßgeblich beeinflusst worden, geht aber zurück auf den
griechischen Begriff der phýsis. Das Wort phýsis verweist auf
das Verbum phýein, »wachsen«. Die lateinische Übersetzung
von phýsis mit natura rekurriert auf das Verb nasci, »Geboren-
werden«. Beide Wörter stehen im Bezug zu einem bestimmten
Phänomen. Sowohl was wächst als auch was geboren wird
106 Die Geschichte des Seins

kommt aus einem Dunkel ans Licht, erscheint aus einer Verber-
gung und entfaltet sich in einer Offenheit. Dementsprechend
übersetzt Heidegger das griechische Wort phýsis mit »das auf-
gehend-verweilende Walten« (GA 40, 16). Bei dieser Überset-
zung wird jedoch sogleich deutlich, dass der Begriff der Erde
mit dem der phýsis nicht gänzlich übereinstimmt.
So sei das »aufgehend-verweilende Walten« nicht nur das,
was wir als Natur, zu der wir die Erde rechnen, charakterisie-
ren. Natur ist für uns ein spezifischer Bereich, mit dem wir auf
verschiedene Weisen zu tun haben. Wir haben einen von Krank-
heit bedrohten Leib, pflanzen uns fort, fahren in ländliche
Gebiete in den Urlaub oder wundern uns über die Erfolge der
Naturwissenschaft. Das »aufgehend-verweilende Walten« der
phýsis geht über diesen Bereich hinaus. Phýsis »meint daher
ursprünglich sowohl den Himmel als auch die Erde, sowohl
den Stein als auch die Pflanze, sowohl das Tier als auch den
Menschen und die Menschengeschichte als Menschen- und
Götterwerk, schließlich und zuerst die Götter selbst unter dem
Geschick« (ebd., 17) – kurz gesagt, die phýsis ist das »Sein
selbst«. Demnach dürfen wir die »Erde« als phýsis-haft, aber
nicht als mit der phýsis ganz und gar identisch betrachten. Dass
die Erde auf diese Weise zur phýsis gehört, prägt allerdings
ihren Charakter auf entscheidende Weise.
Wir sind gewohnt, uns die Erde als einen Gegenstand vorzu-
stellen. Danach ist die Erde Materie und Material, wobei wir
bei dieser Betrachtung das im lateinischen materia mitzuhö-
rende Mütterliche meist vergessen. Bei dieser Auffassung der
Erde geht der ihr von Heidegger zugesprochene phýsis- oder
»seins«-hafte Charakter verloren. Die Erde ist so verstanden
nicht »das zu nichts gedrängte Hervorkommen des ständig
Sichverschließenden und dergestalt Bergenden«. Aus diesem
Bedeutungsschwund der Erde im modernen Bewusstsein lässt
sich Heideggers Skepsis gegenüber der Naturwissenschaft, die
zuweilen in unverhohlene Ablehnung umschlägt, begreifen. In
Der Streit von Welt und Erde 107

der Auffassung der Erde als Materie wird das Phänomenale,


was jeder Mensch von der Natur her kennt, abgedrängt. Dies
geschieht auch und erst recht dann, wenn die Naturwissen-
schaft die atomare und subatomare Dimension der Materie
erreicht. Außerdem erkennt der Philosoph in dem oft auf Nut-
zung und Vernutzung reduziertem Verhalten des Menschen zur
Natur ein weiteres Anzeichen für die Totalisierung der Technik.
Nach Heidegger weist der im Zeitalter der modernen Technik
auftauchende Bedeutungsverlust des Phänomens Erde darauf
hin, dass sich die Welt von ihr zu weit entfernt hat. In den Bei-
trägen zur Philosophie schreibt er: »Warum schweigt die Erde
bei dieser Zerstörung? Weil ihr nicht der Streit mit einer Welt,
weil ihr nicht die Wahrheit des Seyns verstattet ist.« (GA 65,
277f.) Bei dieser Erklärung ist zunächst nicht klar, was Heideg-
ger mit dem »Schweigen« der Erde und der Verhinderung des
»Streites mit einer Welt« meint.
Dieser Gedanke wird einleuchtender, wenn wir zu verstehen
versuchen, was Heidegger unter dem Begriff der »Bergung«
versteht. Das »Bergen« der Erde hängt damit zusammen, dass
sie sich vor der »Offenheit« der Welt »verschließt«. In dem Vor-
trag Der Ursprung des Kunstwerkes aus dem Jahre 1936 er-
wähnt Heidegger das Phänomen, dass wir bei der Zertrümme-
rung eines Steines (GA 5, 33) nur wieder Steine vorfinden. Die
Erde lässt sich nicht »öffnen«, sondern zeigt immer nur ihr
dunkles Inneres. Gleichzeitig lässt sie das, was von ihr stammt,
Felsen, Pflanzen, Tiere und Menschen, sowohl aus sich hervor-
kommen als auch auf ihr einen Platz finden. Dass das, was aus
und auf der Erde erscheint, in ihr dunkles Inneres zurückreicht,
während es aus ihm hervorkommt, bezeichnet Heidegger als
»Bergung«. Nach Heidegger hat die Welt aber die Tendenz, das
Erscheinende lediglich von der Seite des Hellen und des Lichtes
her aufzufassen. In dem Moment, in welchem wir etwa den
menschlichen Körper einseitig als einen bloßen, vollkommen
zu durchleuchtenden Gegenstand (als das »Genom«) auffas-
108 Die Geschichte des Seins

sen, haben wir die Dimension der »Bergung« bzw. die Erde ver-
gessen. Der »Streit von Welt und Erde« findet nicht mehr statt.
Warum soll das aber zu kritisieren sein? Wozu brauchen
wir so etwas wie die »Bergung« der Erde? Ich erklärte bereits,
wie Heideggers Wahrheitsverständnis als »Lichtung der Ver-
bergung« damit zusammenhängt, dass sich sowohl alles, was
sich zeigt, als auch der Bereich selbst, in dem es sich zeigt, ver-
bergen. Die »Verbergung« scheint etwas zu sein, was zur ur-
sprünglichen Weise, wie Wahrheit geschieht, hinzugehört. Wenn
wir im Horizont unseres »In-der-Welt-seins« mit den erschei-
nenden Dingen lediglich von der Möglichkeit ausgehen, sie völ-
lig erklären zu wollen, totalisieren wir ihre »Offenheit« und
vergessen, dass sich der gemäße Charakter dieser »Offenheit«
gerade darin äußert, sich zu verbergen. Wenn wir die Dinge
aber bloß als prinzipiell zu durchschauende Gegenstände auf-
fassen, entreißen wir sie ihrer ursprünglichen Verbundenheit
mit dem Dunklen. Nach Heidegger ist das der Vorgang, in dem
sich die Technik als einziges maßgebliches Verhältnis zu den
Dingen vor allen anderen möglichen Verhältnissen – vor dem
religiösen oder künstlerischen, dem philosophischen oder poe-
tischen – durchsetzt.
Die »Bergung« (GA 65, 389 ff.) steht mit der »Verbergung«
in einer Relation, meint aber nicht das gleiche Phänomen. In
dem, was Heidegger »Bergung« nennt, kommt das »Dasein«
von der Welt, vom »Offenen« her der Verschlossenheit der Erde
entgegen. Die »Bergung« lässt den Dingen den eigenen Charak-
ter der »Verbergung« zum Beispiel in einem Kunstwerk, in ei-
nem Gedicht oder in dem nicht nach Wissen suchenden Gottes-
glauben zukommen. Auch in der Liebe ist die »Bergung« die
Möglichkeit, auf Rationalisierungen zu verzichten, nicht nach
Gründen zu fragen, warum wir den Anderen lieben. Wir über-
lassen eventuelle Gründe der »Verbergung«, weil eine erklär-
bare Liebe keine mehr ist. Diese dem »Dasein« mögliche »Ber-
gung« gibt es nur im »Streit von Erde und Welt«, weil die »Ber-
Die Überwindung der Metaphysik 109

gung« nur dort geschieht, wo Erde und Welt sich gegenseitig


durchdringen.
Die Frage, wozu wir so etwas wie das »Bergen« unseres
Handelns und Herstellens im Verhältnis zur Erde benötigen,
kann also mit Heideggers Frage: »Warum schweigt die Erde bei
dieser Zerstörung?« geklärt werden. Nach ihm ruft ein einseiti-
ger und ins Totale getriebener technischer Zugang zu den Din-
gen und Menschen die Gefahr einer »Zerstörung« sowohl der
Erde als auch der Welt hervor. Mir scheint vor allem vor dem
Hintergrund der immer dringlicher zu bedenkenden Möglich-
keiten der Humangenetik Heideggers Gedanke bemerkens-
wert, dass es unheilvoll sein könnte, alles, was gewusst und
gemacht werden kann, der »Verbergung« zu entziehen, ohne
danach zu fragen, ob in dieser nicht Quellen enthalten sind, die
wir benötigen, um uns selbst und daher auch den Anderen ver-
stehen zu können.

3.3 Die Überwindung der Metaphysik

Die Geschichte der Philosophie ist nicht nur eine Spur the-
oretischer Entscheidungen. Sie eröffnet vielmehr die
Möglichkeit, über Jahrhunderte habitualisierte Praktiken
des Menschen zu verstehen. Die Geschichte des Denkens
– und das heißt auch die Geschichte der Politik – wird
durch wenige Vorentscheidungen in der Philosophie Pla-
tons und Aristoteles’ festgelegt. Sie ist eine Geschichte der
Metaphysik. Die europäische Philosophietradition geht
davon aus, dass sich die Frage nach der Wahrheit auf den
Bereich der Aussage, das heißt der Logik einschränken
lässt. Im Verlauf der abendländischen Vernunftgeschichte
110 Die Geschichte des Seins

stellt sie sich als ein indifferentes Instrument heraus, Men-


schen und Dinge zu beherrschen. Motiviert durch den
immer wichtiger werdenden Willen eines egoistischen
Subjekts wird sie zu einem totalen Medium, mit dem alles
Nicht-Logische marginalisiert wird. Aus diesem Grund
spricht Heidegger von einer notwendigen Überwindung
der Metaphysik. Eine vor allem ethische Intention bringt
ihn dazu, ein anderes Fragen vorzubereiten.

In seinen frühen Vorlesungen sowie in Sein und Zeit spricht


Heidegger von der Aufgabe, eine phänomenologisch-herme-
neutische »Destruktion der Geschichte der Ontologie« (GA 2,
27 ff.) durchzuführen. Diese Destruktion hat die Bedeutung,
durch die lange Kommentar- und Interpretationsgeschichte der
»ontologischen Grundbegriffe« hindurch »auf die ursprüng-
lichen Erfahrungen« (ebd., 30), in welchen sich diese »Grund-
begriffe« konstituierten, zurückzugehen, um ihren anfängli-
chen Sinn freizulegen. Die Destruktion habe nicht den »negati-
ven Sinn einer Abschüttelung der ontologischen Tradition«
(ebd.,31). Das Destruieren gleicht also nicht dem Zertrümmern
eines Steins mit einem Hammer (das übrigens auch Nietzsches
Philosophieren »mit dem Hammer« nicht bedeutet), sondern
eher dem Schütteln eines Goldgräbersiebs, in dem nach und
nach der kostbare Fund zum Vorschein kommt, während die
ihn verdeckenden Stücke entfernt werden. Dennoch bleibt ein
»negativer« Sinn im Spiel. Die Destruktion richtet sich zerstö-
rend gegen die »herrschende Behandlungsart der Geschichte
der Ontologie«. Diese Bedeutung leitet sich von ihrer fragwür-
dig gewordenen Funktion ab. Wenn es philosophisch notwen-
dig wird, auf die anfänglichen Bedeutungen der »ontologischen
Grundbegriffe« zurückzukommen, dann haben sich die aktuel-
len als unzureichend, als sinnverzerrend erwiesen.
Die Überwindung der Metaphysik 111

Die »Destruktion der Geschichte der Ontologie« lässt die


Geschichte der Philosophie nicht verschwinden. Im Gegenteil,
sie hat die entscheidende Bedeutung, die Geschichte der Grund-
texte und ihrer Auslegungen erst zur Erscheinung zu bringen.
Mit ihrer Destruktion eröffnet Heidegger der Philosophie einen
unausschöpfbaren Horizont von hermeneutischen Auseinander-
setzungen. Die hermeneutische Philosophie eines Hans-Georg
Gadamer hat von Heideggers Programm und seiner Ausführung
unübersehbar gezehrt. Auch die Philosophie Jacques Derridas
lässt sich schlechthin als eine destruierende (»dekonstruktive«)
Interpretation von Haupttexten der europäischen Denktradi-
tion charakterisieren.
In seiner Vorlesung vom Sommersemester 1934 Logik als die
Frage nach dem Wesen der Sprache spricht Heidegger von der
»Grundaufgabe«, die »Logik von Grund auf zu erschüttern«.
Zudem gibt er an, dass die »Erschütterung der Logik«, »an der
wir seit zehn Jahren arbeiten«, »auf einer Wandlung unseres
Daseins selbst gründet« (GA 38, 11). In der ein Jahr später
gehaltenen Vorlesung Einführung in die Metaphysik betont
Heidegger, die Logik »von ihrem Grund her aus den Angeln
zu heben« (GA 40, 197). So knüpft Heidegger Mitte der dreißi-
ger Jahre an der »Destruktion der Geschichte der Ontologie«
an. Die Absicht des Projekts hat sich jedoch modifiziert. Die
»Erschütterung der Logik« geschehe im Zuge einer geschichtli-
chen »Wandlung unseres Daseins selbst«. Sie ist das Element
einer geschichtlichen »Verwandlung« des Denkens und Han-
delns schlechthin.
Die Notwendigkeit dieser Verwandlung lässt sich nur durch
spezifische Erfahrungen legitimieren, die Heidegger Anfang
der dreißiger Jahre zur Einsicht führten, dass die Welt bzw. der
in ihr handelnde und denkende Mensch, d. h. die Geschichte
auf Abwege geraten war. Es ist schon darauf verwiesen worden,
dass zu diesen Erfahrungen Heideggers eigene Verirrung in den
Nationalsozialismus gehört.
112 Die Geschichte des Seins

Der Gedanke, dass eine Destruktion oder »Erschütterung«


von »ontologischen Grundbegriffen« eine Bedeutung für das
Handeln und Denken der Menschen habe, setzt voraus, dass
die Geschichte der Philosophie für diese überhaupt relevant ist.
Und in der Tat geht Heidegger von einem solchen Konnex aus.
Die politische Geschichte ist für ihn ein Echo dessen, was in
den Texten der Philosophen geschieht, dessen, was Philoso-
phen denken, sie ist ein Reflex auf das Wirkliche. Philosophi-
sche (und auch poetische) Texte zu interpretieren ist darum für
Heidegger keine Elfenbeinturmbeschäftigung, sondern eine
Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie Menschen han-
deln und denken.
Diese Bedeutung der Destruktion lässt sich hinsichtlich der
»Erschütterung der Logik« wie folgt skizzieren: »Logik« ist die
»Wissenschaft vom lógos«. Der aristotelisch gefasste lógos als
lógos apophantikós zeigt auf und sagt aus, »wie eine Sache ist
und wie eine Sache sich verhält« (GA 38, 1). Der lógos ist eine
»Aussage« über Seiendes. Wir tätigen Aussagen nicht nur im
engeren Sinne des Aussprechens, sondern indem wir denken.
Das Denken kann aber wahr oder falsch sein, je nach der Wahr-
heit oder Falschheit seiner Aussagen. Ob das Denken wahr
oder falsch ist, regeln bestimmte Denkgesetze. Damit wir wis-
sen, wie richtig oder falsch gedacht wird, gibt es die Logik.
Logik als »Wissenschaft vom lógos« ist daher zunächst die
»Herausstellung des Formenbaues des Denkens« und die »Auf-
stellung seiner Regeln« (GA 40, 129).
Die Logik »zerlegt« das Denken als Aussagen in »Grundele-
mente«. Daneben gibt sie an, wie mehrere solcher »Grundele-
mente« richtig »verflochten« oder »zusammengebaut« werden
können. Sie gibt die Bedingungen an, wie richtig zu schließen,
richtig zu urteilen sei. Die drei grundsätzlichen Regeln sind der
Satz der Identität, der Satz des Widerspruchs und der Satz vom
Grund (GA 38, 10).
Die Logik als philosophische Wissenschaft ist jedoch nicht
Die Überwindung der Metaphysik 113

das Ganze der Philosophie. Sie wird von früh an von zwei wei-
teren »Wissenschaften« flankiert. Die Philosophie als ganze
teilt sich in die klassischen Disziplinen Logik, Ethik und Phy-
sik.2 Wenn wir aber bemerken, dass sowohl im Bereich des
Ethischen als auch auf dem Gebiet der Naturforschung not-
wendig gedacht wird, ergibt sich eine bestimmte Vorrangstel-
lung der Logik als eines Nachdenkens über das Denken, das
alle Handlungen des Menschen begleitet, indem es sie zum Bei-
spiel begründet oder kritisiert, reglementiert oder befreit.
Doch damit ist der Sinn dessen, was unter Logik verstanden
wird, noch nicht erschöpft. In der alltäglichen Welt gibt es
»Redensarten«, die nicht zu Unrecht das wissenschaftliche Ver-
ständnis der Logik auf alltäglich Geschehendes übertragen. So
fasst man das als »logisch« auf, was »folgerichtig« ist. Hier ist
nicht die Wissenschaft der Logik gemeint, sondern »wir meinen
vielmehr die innere Folgerichtigkeit einer Sache, einer Lage,
eines Vorgangs« (GA 55, 186 ff.). Diese »Folgerichtigkeit« im
alltäglichen Leben ist ein ins Gewöhnliche abgesunkener Mo-
dus der wissenschaftlichen Logik. Die »indifferente Normal-
form der Aussage«, »a ist b«, ist ein »Grundzug des alltäglichen
Daseins« hinsichtlich seines »unterschiedslosen Verhaltens zum
Seienden als dem eben Vorhandenen« (GA 29/30, 438). An-
dersherum ist die wissenschaftliche Logik eine ausdrückliche
Formalisierung alltäglicher Denkvollzüge. Die Logik formali-
siert die in sich formale »Folgerichtigkeit« des praxisbezoge-
nen Denkens.
Zwischen der »Logik der Sachen und der Logik des Den-
kens« gibt es folglich einen Zusammenhang. Denken und Sa-
chen sind »ineinandergekehrt«, »eines kehrt im anderen wie-
der«, »eines nimmt das andere in den Anspruch« (GA 55, 196).

2 Vgl. z. B. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,


in: ders., Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. IV – Schriften zur
Ethik und Religionsphilosophie, Darmstadt 1956, BA III.
114 Die Geschichte des Seins

Diese »Ineinandergekehrtheit« von Gedanke und Sache ist vor


dem Hintergrund einer sich nach der Vernunft richtenden Welt-
gestaltung des Menschen eine Selbstverständlichkeit. Die Ver-
nunft als ein »Ineinandergekehrtsein« von Gedanke und Sache
ist auch da noch wirklich, wo Leidenschaften die Welt schein-
bar durcheinander bringen. Im weltgeschichtlichen Kontext
leitet nach Hegel eine »List der Vernunft«3 noch die leiden-
schaftlichsten Handlungen. Die »Ineinandergekehrtheit« von
Gedanke und Sache ist die Bedingung dafür, dass solches, »was
vernünftig ist, [. . .] wirklich; und was wirklich ist, [. . .] vernünf-
tig«4 sein kann.
Wenn der Mensch notwendig sowohl im Ethischen als auch
im Bereich der Natur denkt, dann lässt sich zeigen, dass sich die
Logik als ein »Denken über das Denken« zu den zwei anderen
Bereichen der Philosophie anders verhält als diese zu jener.
Weder das Ethische noch das Physische scheinen in der Logik
von Bedeutung zu sein, während die Logik Denkregeln formu-
liert, die sowohl in der Ethik als auch im Bezug zur Natur gel-
ten. Es hat den Anschein, als gebe es bezüglich der Ethik und
der Physik einen Vorrang der Logik. Die Logik scheint eine
Wissenschaft zu sein, die in formaler Hinsicht die Regeln an-
gibt, wie das vernünftige Lebewesen »Mensch« ständig und
überall denkt. Dieser Vorrang der Logik hat sich nach Heideg-
ger in der Neuzeit insofern verschärft, als die Form des Den-
kens in der Wissenschaft mehr und mehr als ein Vorbild für das
alltägliche Handeln zu gelten begonnen hat. Eine solche Vor-
bildfunktion der Wissenschaft hat für die Ethik fatale Folgen.
Setzt diese nämlich stets auf diese oder jene Weise voraus, dass

3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie


der Weltgeschichte. Bd. 1 – Die Vernunft in der Geschichte, hg. v.
Johannes Hoffmeister, Hamburg 6/1994, S. 105.
4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des
Rechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse,
Werke 7, S.24.
Die Überwindung der Metaphysik 115

der andere Mensch als solcher die Intentionen unseres Han-


delns zu bestimmen hat, so ist es in der Wissenschaft eine bloß
formale »Richtigkeit« der Aussage über einen beliebigen Ge-
genstand.
Hannah Arendt hat diesen Sachverhalt folgendermaßen
pointiert: Eines der »psychologischen Symptome« des »radikal
Bösen« sei die »Konsequenz alles rein Logischen, die letzten
Folgerungen aus den einmal angenommenen Prämissen [zu]
ziehen und die Anderen mit dem Argument: Wer A gesagt hat,
muss auch B sagen, bei der Stange [zu] halten«.5 Eine solche
»Konsequenz des Arguments« führe »in der Politik sofort ins
Unmenschliche«.6 Wir dürfen aber – ohne überzuinterpretie-
ren – hinzufügen, dass auch auf der Ebene der Ethik ein Han-
deln, das sich an der rein formalen »Konsequenz des Argu-
ments« orientiert, unmenschlich ist.
Hier zeigt sich also im Heideggerschen Denken eine Ten-
denz, die man oft als »Kritik an der abendländischen Rationali-
tät« bezeichnet hat. Das abendländische Denken mit seiner im
Ideal der »Wissenschaftlichkeit« verkörperten Betonung der
»Folgerichtigkeit« und des »Arguments« führt zu einer Instru-
mentalisierung, der sich zuletzt auch der Mensch selbst ausge-
liefert habe. Wenn Heidegger in seinem späteren Heraklit-Auf-
satz sagt, dass eine »Erschütterung der Logik« eine »Erschütte-
rung des Menschen« (GA 7, 218) sei, dann verweist er darauf,
dass all unser Handeln und unsere ethische Orientierung auf
dem Denken bzw. auf dem, was wir unter »Denken« verstehen,
basiert. »Wandelt« sich dieses Verständnis, so kann sich dem-
entsprechend auch unser Handeln »wandeln«.
Die »Destruktion der Geschichte der Ontologie« bzw. die

5 Hannah Arendt, Denktagebuch 1950 – 1973. Erster Band, hg. v.


Ursula Ludz u. Ingeborg Nordmann, New York u. München 2002,
S.128.
6 Ebd., S. 34.
116 Die Geschichte des Seins

»Erschütterung der Logik« findet ihre endgültige Gestalt in der


so genannten »Überwindung der Metaphysik«. In einem zwi-
schen den Jahren von 1936 bis 1946 entstandenen Text mit die-
sem Titel wird eine kritische Tendenz Heideggers unmittelbar
deutlich. Der Mensch als das »animal rationale« sei »jetzt« das
»arbeitende Tier« geworden, dass die »Wüste der Verwüstung
der Erde durchirren muß«. Es habe sich ein »Untergang«
»ereignet«, dessen »Folgen« »die Begebenheiten der Weltge-
schichte dieses Jahrhunderts« seien. Dieser »Untergang« ent-
springe der »Vollendung der Metaphysik« im Denken Nietz-
sches. Diese »Vollendung« gebe »das Gerüst für eine vermut-
lich noch lange dauernde Ordnung der Erde« (ebd.,81) ab. Eine
»Folge« des Geschichtsganges der »Metaphysik« sei die Pro-
klamierung eines »Übermenschentums«, dem das »Untermen-
schentum – metaphysisch verstanden – zugehört«. Hier sei der
Mensch zum »wichtigsten Rohstoff« seiner eigenen »Herstel-
lung« geworden. Heidegger stellt inzwischen weniger prophe-
tisch in Aussicht, »daß auf Grund der heutigen chemischen For-
schung eines Tages Fabriken zur künstlichen Zeugung von
Menschenmaterial errichtet werden« (ebd., 93).
»Metaphysik« ist Heideggers Bezeichnung für die Epoche
und die Globalisierung des europäischen Denkens von Platon
bis Nietzsche. Dieses Denken basiere auf der grundsätzlichen
Indifferenz gegenüber der »Unterscheidung des Seins vom Sei-
enden«. Heidegger schreibt:
»Die Unterscheidung des Seienden und des Seins wird in die Harmlo-
sigkeit eines nur vorgestellten Unterschiedes (eines ›logischen‹) abge-
schoben, wenn überhaupt innerhalb der Metaphysik dieser Unter-
schied selbst als ein solcher ins Wissen kommt, was strenggenommen
ausbleibt und ausbleiben muß, da ja das metaphysische Denken nur
im Unterschied sich hält, aber so, daß in gewisser Weise das Sein selbst
eine Art des Seienden ist.« (GA 65, 423)

Wenn die »Metaphysik« Platons und in seinem Gefolge die


europäische Philosophie das Sinnliche vom Übersinnlichen,
Die Überwindung der Metaphysik 117

den Materialismus vom Idealismus unterscheidet, so »hält sie


sich im Unterschied« des Seins vom Seienden, ist aber nicht in
der Lage, den »Unterschied« selbst zu interpretieren. Anstatt
das »Sein selbst« und das »Seiende« in ihrem »Unterschied« zu
verstehen, kann das metaphysische Denken stets nur Derivate
dieser drei eine Einheit konstituierenden Elemente hervorbrin-
gen (vgl. Kapitel 2.2).
Wenn die »Metaphysik« das »Gerüst für eine vermutlich
noch lange dauernde Ordnung der Erde« abgibt, ist der Titel
»Überwindung der Metaphysik« problematisch. Heidegger
hat diese Schwierigkeit gesehen. Die »Metaphysik« lasse sich
»nicht wie eine Ansicht abtun«, man könne sie nicht wie »eine
nicht mehr geglaubte und vertretene Lehre hinter sich bringen«
(GA 7, 69). Wenn der Begriff der »Überwindung« suggeriert,
man könne wie über eine imaginäre Grenze von einer Ge-
schichte in eine andere überwechseln, dann betont Heidegger
die »Dauer« des Vorgangs, der in einer ständigen Auseinander-
setzung mit der »Metaphysik« bestehe. Danach ergibt sich das
Paradox, dass die »Überwindung der Metaphysik« gerade da-
rauf hinausläuft, die »Metaphysik« bzw. ihre »Grundbegriffe«
immer wieder zu thematisieren; allerdings nicht auf beliebige
Weise, sondern hinsichtlich der nicht mehr einfach nur philoso-
phischen, sondern »geschichtlichen Notwendigkeit«, durch sie
hindurch zu einem »anderen Fragen« oder einem »anderen
Denken« zu gelangen. Insofern lässt sich nach Heidegger die
»Überwindung der Metaphysik« besser als eine »Verwindung«
(ebd., 77) begreifen. Der Begriff der »Verwindung« deutet an,
dass etwas nur durch eine länger andauernde Auseinanderset-
zung zum Verschwinden gebracht werden kann. So besteht die
»Verwindung« einer Verletzung in einer länger andauernden
Heilung, während der sich der Verletzte nicht gleichgültig zu
sich selbst verhält, sondern sich mit sich selbst befasst, weil er
auf seine Verletzung Rücksicht nehmen muss. Die »Verwin-
dung« wäre so gesehen eine fortgesetzte Thematisierung der
118 Die Geschichte des Seins

»Metaphysik«, in welcher und durch welche diese eventuell


»vergeht«.
Gewiss ist bezüglich der »Überwindung der Metaphysik«
die Frage zu stellen, ob es überhaupt möglich ist, denkend einen
Bereich zu verlassen, der fundamentale Bestimmungen dieses
Denkens erst zur Verfügung stellt. Kann es ein Denken jenseits
der Differenz von Sinnlichem und Übersinnlichem, jenseits der
Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem, von Gan-
zem und Teil oder von Identität und Differenz geben? In Kennt-
nis dieser Fragwürdigkeit hat Heidegger mit Bedacht niemals
von einem »nachmetaphysischen«, sondern stets von einem
»übergänglichen Denken« für die »Vorbereitung des anderen
Fragens« (GA 65, 430) gesprochen. So betrachtet wäre die
»Überwindung der Metaphysik« ein Bedenken ihrer Grenze an
dieser Grenze, doch niemals einfach ein Denken in ihrem Jen-
seits.
4 Denken und Dichten

4.1 Die Frage nach der Sprache

Die Philosophie wird insofern von der Logik beherrscht,


als diese indifferent-formale Gesetze liefert, die in allen
Bereichen des Denkens und Lebens Geltung beanspru-
chen. Vor allem die Sprache wird von der Logik aus unter-
sucht und nach ihrem Modell vorgestellt. Andererseits
verweist Heidegger darauf, dass die Logik ein ontologi-
sches Fundament in einer spezifischen Auffassung des
Seins hat. Indem Heidegger das Sein anders zu denken
versucht als die anderen überlieferten Denker wird die
logisch-kybernetische Definition der Sprache destruiert
und zur Bestimmung, sie sei das Haus des Seins, modifi-
ziert.

Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass Heidegger seine


akademische Laufbahn als »Logiker« begann. Sowohl seine
Dissertation als auch seine Habilitationsschrift widmen sich
Fragen der Logik. In dieser Disziplin erwartet sein Lehrer
Rickert noch »große Verdienste« von ihm. So setzt sich Heideg-
ger in den Vorlesungen der zwanziger Jahre immer wieder mit
120 Denken und Dichten

der Frage auseinander, wie wir das Urphänomen der Logik, den
lógos selbst, adäquat zu verstehen haben. Dabei orientiert sich
Heidegger zunächst an den Texten Platons und Aristoteles’,
später, in den dreißiger Jahren, tritt der lógos-Begriff Heraklits
in den Vordergrund.
In Sein und Zeit verdichtet sich eine Auseinandersetzung mit
dieser Frage, die bereits über eine Dekade anhält. Der lógos
wird hier als das »Existenzial« der »Rede« vorgestellt. Diese
Übersetzung bezieht ihr Recht aus dem Sachverhalt, dass der
lógos bei Aristoteles als ein deloûn, als ein Offenbarmachen
von dem, »wovon in der Rede ›die Rede‹ ist«, gedacht wird.
Davon ausgehend hat Heidegger das Phänomen der »Sprache«
in den Blick genommen. Ihr »existenzial-ontologisches Funda-
ment« sei die »Rede« (GA2, 213). »Sprache« sei bloß die »Hin-
ausgesprochenheit der Rede« (ebd., 214). »Bedeutungen« kä-
men in der Sprache »zu Wort«: »Den Bedeutungen wachsen
Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen
versehen.«, schreibt Heidegger, ohne zu erklären, wie es eigent-
lich zu dieser Differenz zwischen »Wort« und »Bedeutung«
kommen kann.
Die »Rede« sei »das ›bedeutende‹ Gliedern der Verständlich-
keit des In-der-Welt-seins, dem das Mitsein zugehört«. Insofern
ist die »Rede« all das, was in der Begegnung mit dem Anderen
sprachlich geschieht. Auch und sogar auf besondere Weise ge-
hört das »Hören und Schweigen« zu dieser Begegnung. Sicher-
lich bringt Heideggers phänomenologische Analyse der »Rede«
eine ganze Menge von Resultaten hervor. Doch es wird nicht
deutlich, inwiefern diese Analyse das »Fundament« für eine
»vollzureichende Definition der Sprache« liefern kann.
Wenn wir in Sein und Zeit kein wirkliches Ergebnis aus der
Fundierung der Sprache in der »Rede« finden können, wird
eine Intention dieser Verhältnisbestimmung, die erst später ihre
ganze philosophische Bedeutsamkeit entfaltet hat, erkennbar.
Heidegger erklärt, dass die »Grammatik« der (indo-europäi-
Die Frage nach der Sprache 121

schen) Sprachen ihr »Fundament« in der griechischen Logik


habe. Diese Logik wiederum fuße in einer »Ontologie des Vor-
handenen« (ebd., 220). Damit zeichnet sich eines der Probleme
ab, die Heidegger immer wieder dazu gebracht haben, das
»Wesen der Sprache« zu bedenken. Die »Ontologie des Vor-
handenen« als »Fundament« der Grammatik basiere auf der
Unterscheidung einer zu Grunde liegenden vorhandenen
Sache, der verschiedene Eigenschaften zugesprochen werden.
Was Aristoteles hypokeı́menon (wörtlich: das Zugrundelie-
gende) nennt, dem symbebekóta (Eigenschaften) zugeschrie-
ben werden, kehrt in der Grammatik unserer Sprache als die
Unterscheidung von Subjekt und Prädikat wieder. Das Verbal-
substantiv »Sein« wird grammatisch als Kopula bezeichnet, als
das »Bändchen«, das Subjekt und Prädikat (S est P) verbindet.
Nach Heidegger ist das »Sein« jedoch weder eine »Sache«, dem
»Eigenschaften« zugeschrieben werden können – dann wäre es
ein »Seiendes« –, noch ist es reduzierbar auf die Kopula-Funk-
tion. Wie aber kann eine Sprache, für die das Subjekt-Kopula-
Prädikat-Verhältnis grundlegend ist, mit einem »Sein« umge-
hen, das sich diesen Bestimmungen entzieht? Wie können wir
über etwas sprechen, für das in der Grammatik der Sprache gar
kein Platz vorgesehen ist?
In den Beiträgen zur Philosophie hat Heidegger dieses Pro-
blem markant ausgesprochen:

»Mit der gewöhnlichen Sprache [. . .] läßt sich die Wahrheit des Seyns
nicht sagen. Kann diese überhaupt unmittelbar gesagt werden, wenn
alle Sprache doch Sprache des Seienden ist? Oder kann eine neue Spra-
che für das Seyn erfunden werden? Nein.« (GA 65, 78)

Die »Sprache des Seienden« basiert auf derjenigen Grammatik,


die auf eine »Ontologie des Vorhandenen« zurückgeht. Dieses
Problem hat Heidegger bis in sein spätestes Denken umgetrie-
ben. Noch im Jahre 1962 beschließt Heidegger einen seiner
letzten Vorträge mit dem Hinweis, dass das »Sagen vom Ereig-
122 Denken und Dichten

nis in der Weise eines Vortrags« ein »Hindernis« sei, weil er


»nur in Aussagesätzen gesprochen«1 habe. Wie hat Heidegger
aber dieses grundsätzliche Problem einer dem »Sein« nur
schwer korrespondierenden Sprache wenn nicht gelöst, so
doch zu lösen versucht?
Heideggers schon angesprochene Ausführungen in den Bei-
trägen zur Philosophie setzen sich mit folgenden Gedanken
fort: Eine »Sprache des Seyns« müsse eine »sagende« sein. Eine
rätselhafte Auskunft, die auch durch Heideggers weitere Erklä-
rungen nicht deutlicher wird: »Alles Sagen muß das Hörenkön-
nen mitentspringen lassen. Beide müssen des selben Ursprungs
sein.« Diese »Verwandlung der Sprache« führe zu einem »ge-
wandelten Sagen«. Der Hinweis auf das »Hörenkönnen«
ermöglicht uns den Einstieg in das Verständnis dieser skizzen-
haften Auskünfte. »Können« bedeutet hier zweierlei. Erstens,
und das scheint mir die natürliche Bedeutung zu sein, verstehen
wir unter »Können« eine Befähigung. Jemand »kann« ein gu-
tes Steak zubereiten, vielleicht hat er es in einer Ausbildung
gelernt. Doch auch die zweite Bedeutung von »Können« ist uns
nicht unvertraut. Jemand »kann« eine besonders expressive
Komposition aus dem Bereich der Neuen Musik verstehen, er
»hat dafür ein Ohr«. Dieses »Können« ist keine Befähigung,
selbst wenn man Vieles über die Neue Musik lernen kann, muss
man noch keineswegs Verständnis für sie entwickeln. Das so
gedachte »Können« ist eine Art von nicht erlernbarer Disposi-
tion zu etwas: Jemand »kann« das – oder eben nicht. Das
»Hörenkönnen«, an das Heidegger denkt, entspricht der zwei-
ten Bedeutung. Es charakterisiert die Disposition, die »Sprache
des Seyns« verstehen zu können.
Offenkundig wäre dieser Gedanke kaum diskutierbar, wenn
Heidegger diese Disposition als eine bloß subjektive Möglich-
keit von auserwählten Einzelnen fassen würde. Im Denken zäh-

1 Heidegger 1969, S. 25.


Die Frage nach der Sprache 123

len bloß subjektive Dispositionen nicht, die Philosophie erhebt


den Anspruch und muss ihn erheben, Aussagen zu machen, die
potentiell jeder nachvollziehen kann. Also muss Heidegger an
eine andere Art von Disposition denken. Das »Sagen« und das
»Hörenkönnen« müssen sich in einem bestimmten Verhältnis
befinden. Sie »müssen des selben Ursprungs sein«, d.h. sie müs-
sen sich insofern »entsprechen«, als sie sich auf einem gemein-
samen Grund befinden. Solange die Sprache nur von der logi-
schen Funktionalität ihrer Grammatik her verstanden wird,
kann es in Bezug auf das »Sein« kein »Sagen« geben, dem eine
Disposition zu einem »Hören« entspricht. Nach Heidegger
kann es eine Annäherung an eine »Sprache des Seyns« nur dann
geben, wenn wir die Sprache überhaupt anders auffassen bzw.
unser Verhältnis zur Sprache grundlegend modifizieren.
In dem Buch Unterwegs zur Sprache aus dem Jahre 1954 hat
Heidegger wichtige Vorträge und andere Texte, die sich mit den
oben erläuterten Problemen hinsichtlich der Sprache auseinan-
dersetzen, gesammelt. Es ist vielleicht sein schönstes, vom Duk-
tus und Ton des Denkens her gesehen reifstes Buch. In ihm fin-
den sich die folgenden, häufig zitierten und kritisierten Sätze:
»Die Sprache spricht. / Der Mensch spricht, insofern er der
Sprache entspricht. Das Entsprechen ist Hören.« (GA 12, 30)
Der Gedanke, dass »die Sprache spricht«, ist die Radikalisie-
rung einer selbstverständlichen Erfahrung, nämlich derjenigen,
dass die Sprache ein lebendiges System von Bedeutungen ist,
das es dem jeweils in einer Sprache aufwachsenden und existie-
renden Menschen ermöglicht, sich auf die eine oder andere Art
und Weise auszudrücken, ohne dass der jeweilige Einzelne die
Sprache »gemacht« hat. Wenn wir von der französischen Spra-
che reden, gehen wir selbstverständlich davon aus, dass die
jetzt lebenden Franzosen sie ebenso wenig »hergestellt« haben
wie derjenige, der französisch sprechen will, sie »machen«
kann. Vielmehr muss er beginnen, eine schon bestehende Spra-
che zu erlernen. Insofern geht die Sprache den jeweilig spre-
124 Denken und Dichten

chenden Menschen voraus. Andererseits gibt es keine Sprache


ohne die sie sprechenden Menschen. Deshalb betont Heidegger
an anderer Stelle: »Der Satz ›die Sprache spricht‹ [. . .] ist nur
halb gedacht, solange der folgende Sachverhalt übersehen
wird: Um auf ihre Weise zu sprechen, braucht die Sprache das
menschliche Sprechen, das seinerseits gebraucht, d. h. verwen-
det ist für die Sprache in der Weise des Entsprechens [. . .].«
(GA 75, 201) Wie in der schon ausgeführten »dialogischen«
Struktur des »Ereignisses« (vgl. Kapitel 3.1) geht Heidegger
von einem solchen Verhältnis eines gegenseitigen »Brauchens«
in Bezug auf die Sprache aus. Das Sprechen ist kein bloßes Ver-
mögen des Menschen, sondern ein »Entsprechen«. Wenn der
Mensch das sprechende Lebewesen ist, dann hat er diese ihn
vor allen anderen Lebewesen auszeichnende Eigenschaft nicht
sich selbst gegeben, sondern von der Sprache her empfangen.
Mit dieser Erläuterung ist allerdings noch nicht geklärt,
inwiefern eine solche Auffassung der Sprache dem »Sein« eher
»entspricht« als eine, die sich von der Logik her begründet.
Wenn Heidegger darauf verweist, dass das »Entsprechen« ein
»Hören« sei, dann müssen wir danach fragen, was in einem sol-
chen »Entsprechen« gehört wird. Das Seltsame ist, dass wir im
»Hören« auf die Sprache keine gesprochenen Laute verneh-
men, sondern gleichsam durch alle Worte hindurch an eine
Stelle gelangen, von der her sich uns die Worte erst zusprechen.
Wenn wir beispielsweise einen Text schreiben, sei es ein Brief,
ein Gedicht oder auch eine akademische Arbeit, wird uns das,
was wir aufschreiben, nicht von einer empirisch aufweisbaren
Stimme diktiert. Vielmehr suchen wir nach Formulierungen
und kommen dadurch an einen Ort, an dem sie sich uns zeigen.
Gäbe es diese Stelle nicht, könnte wohl niemand »um Worte
ringen«. Dieser Horizont, von dem her uns die Worte und Sätze
»zufliegen«, von dem her uns die Worte »einfallen«, ist keine
angebbare Sache. Er bleibt vielmehr stets im Hintergrund, ohne
dass wir wirklich sagen könnten, wie er aussieht beziehungs-
Die Frage nach der Sprache 125

weise was für ein »Gegenstand« er ist. Heidegger nennt diese


Quelle, die keine Quelle ist, das »Geläut der Stille« (GA12, 29).
Der »Ursprung« des »Sagens« und des ihm entsprechenden
»Hörenkönnens« ist also die Sprache als »Geläut der Stille«.
Mit dieser Charakterisierung glaubt Heidegger, das Verständ-
nis der Sprache, das sie von der Logik her zu fassen versucht,
hinter sich gelassen zu haben.
Mit der Zurückweisung der Auffassung der Sprache von der
Logik her läuft allerdings noch eine weitere Intention Heideg-
gers zusammen. In dieser Auffassung wird die Sprache als ein
formales Gebilde betrachtet, das gegen den in ihm auftauchen-
den »Inhalt« indifferent ist. Das Modell »S est P« sagt nichts
darüber aus, was hier »S« und was »P« ist. Es soll lediglich eine
Form angegeben werden, mit der alles, was es nur gibt, ausge-
sagt werden kann. Versetzt man diese Formalisierung in die uns
alltäglich geläufige Zweck-Mittel-Verbindung, so könnte man
behaupten, dass die Sprache dazu da sei, uns »Inhalte« zu ver-
mitteln. In dieser Auffassung wird die Sprache als ein »Instru-
ment« interpretiert, mit dem wir uns »Informationen« zukom-
men lassen. Diese Ende der vierziger Jahre von Norbert Wie-
ner2 konzipierte mathematisch-kybernetische Auffassung der
Sprache hält Heidegger für grundsätzlich verfehlt. Mit ihr wer-
den wesentliche Elemente der Sprache, die wir nicht zuletzt in
der Dichtung erkennen, technologisch aus dem Weg geräumt.
In der Dichtung begegnet uns ein Sprechen, das nicht auf
mathematisch formalisierbare »Informationen« reduziert wer-
den kann. Gegen dieses Verständnis von Sprache wendet sich
Heidegger, wenn er die berühmten Sätze schreibt:
»Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Men-
schen. Es macht und bewirkt diesen Bezug nicht. Das Denken bringt
ihn nur als das, was ihm selbst vom Sein übergeben ist, dem Sein dar.

2 Norbert Wiener, Cybernetics, or control and communication in the


animal and the machine, Paris 1958.
126 Denken und Dichten

Dieses Darbringen besteht darin, daß im Denken das Sein zur Sprache
kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt
der Mensch.« (GA 9, 313)

Die Sprache ist kein »Instrument«, über das der Mensch ver-
fügt, mit dem er die Dinge und sich selbst beherrschen kann,
indem er sich »informiert«. Das Denken kommt zu anderen
Ergebnissen. Die Philosophie Heideggers fasst die Sprache als
eine »Behausung« auf, in welcher der Mensch »wohnt«. Der
Denker behauptet, dass zwischen unserer Art und Weise, in der
Welt zu leben, und unserer Auffassung der Sprache ein Verhält-
nis besteht. So gesehen zeigt sich eine Differenz zwischen der
Auffassung der Sprache als »Information« und derjenigen vom
»Haus des Seins« – eine Differenz, die für das »Wohnen« des
Menschen entscheidend ist. Auch an dieser Stelle unserer Ein-
führung in die Philosophie Martin Heideggers zeigt sich also
eine ethische Tendenz seines Denkens.

4.2 Hölderlin

Die Logik stellt sich als ein verkürztes, weil verkürzendes


Verständnis der Sprache dar. Sie kann nicht erfassen,
inwiefern Sprache die Kraft hat, eine Welt zu stiften. Die-
ses Vermögen hat die Dichtung. Die weltstiftende Kraft
der Dichtung gilt zwar universal, zeigt sich aber notwen-
dig an jeweils bestimmten Orten und zu bestimmten Zei-
ten, das heißt je hinsichtlich eines spezifischen Volkes.
Wie Homer den Griechen die Habitualitäten ihrer Identi-
tät stiftete, so ist es für Heidegger Hölderlin, der für die
Deutschen eine analoge Bedeutung haben könnte. Heideg-
gers Hölderlin-Auslegung ist der Versuch, sich von der na-
Hölderlin 127

tionalsozialistischen Instrumentalisierung des »Deutsch-


tums« abzusetzen und dagegen ein anderes Verständnis
von Deutschland zur Sprache zu bringen.

Es gibt zwei Gründe, die Heidegger dazu veranlassen, im Win-


ter 1934/35 seine erste Vorlesung über die Dichtung Friedrich
Hölderlins zu halten. Der erste besteht in dem für Heidegger
immer labiler werdenden Verhältnis von Philosophie und der
klassischen, auf Aristoteles zurückgehenden Logik. Der zweite
ist politisch-ethischer Natur.
Im Sommersemester 1934 hält Heidegger eine Vorlesung
über Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache. In ihr
führt er aus, inwiefern das von Aristoteles her kommende Ver-
ständnis der Logik dem »Wesen der Sprache« nicht gerecht
wird, obwohl ganz offenkundig der lógos und die auf ihm auf-
gebaute Logik für die Sprache eine fundamentale Bedeutung
haben. So hatte Heidegger bereits in Sein und Zeit darauf hin-
gewiesen, dass sich die Grammatik der indo-europäischen
Sprachfamilie aus der griechischen Logik herleite. Die Inadä-
quatheit von Logik und Sprache verweist Heidegger darauf,
das »Wesen der Sprache« neu, d. h. nun nicht mehr von der
Logik her zu bestimmen. Dies leistet für ihn die »Dichtung«. In
ihr erkennt Heidegger die Möglichkeit, die Auffassung der
Sprache aus ihrer Reduktion auf formale logische Denkgesetze,
etwa den Satz vom Widerspruch, zu befreien. Das wiederum
wird nur dann verständlich, wenn wir das durch Hölderlin
motivierte Verständnis der Dichtung bei Heidegger betrachten.
Unmittelbar wird die Dichtung als eine kreative Tätigkeit
aufgefasst, die »ihre Werke im Bereich und aus dem ›Stoff‹ der
Sprache« »schafft« (GA 4, 35). Gedichte werden als Kunst-
werke rezipiert, die subjektive Erfahrungen des Dichters mittei-
len. Zugleich zeigt uns die europäische Kulturtradition, dass
128 Denken und Dichten

die Dichtung über eine solche Definition hinausgehen kann.


Seit den homerischen Epen wird die Dichtung nicht nur als eine
Kunstgattung im Material der Sprache, sondern als ein identi-
tätsstiftender Zusammenhang von Bedeutungen aufgefasst.
Von ihm her erhielten die Griechen eine Orientierung in der
Welt. Insbesondere die homerischen Geschichten über die Göt-
ter galten ihnen als verbindlich. Noch Platon muss die Philoso-
phie als eine authentische Art und Weise, sich im Kosmos zu
orientieren, in einer Auseinandersetzung mit Homer erst eman-
zipieren. Auch der christliche Orbis muss sich in seiner Selbst-
verständigung auf die Dichtung verlassen, sind doch seine für
den Christen konstitutiven Texte allesamt große Dichtungen.
In diesem Sinne ist die Dichtung mehr oder etwas anderes als
die schöpferische Tätigkeit eines sich ausdrückenden Subjekts.
Sie bietet einer Gemeinschaft die Möglichkeit, sich über sich
selbst zu verständigen. Diese Bedeutung hat Heidegger in seiner
Vorlesung aus dem Sommer 1934 gerade der Sprache zukom-
men lassen: »Kraft der Sprache und nur kraft ihrer waltet die
Welt – ist Seiendes.« (GA 38, 168) Diese allgemeine Bestim-
mung des »Wesens der Sprache« lässt sich in der Bedeutung,
die zum Beispiel die homerischen Epen für die griechische Kul-
tur hatten, wiederfinden. So legt sich der Gedanke nahe, dass
sich in dem sprachlichen Sonderphänomen der Dichtung die-
selbe Bestimmung wiederfinden lässt. Indem Dichtung eine
besonders verdichtete Erscheinung der Sprache ist, kann sie die
Rolle einer kollektiven Weltorientierung übernehmen. Deshalb
schreibt Heidegger: »Dichtung ist die worthafte Stiftung des
Seins.« (GA 4, 41) Die Dichtung »stiftet« den Horizont, in des-
sen Bedeutungen sich die Menschen »immer schon« handelnd
bewegen.
Bei dieser Erläuterung der Dichtung gehen wir davon aus,
dass das Dichten, weil es ein sprachliches Phänomen ist, in der
Sprache fundiert ist. So interpretierten wir die Dichtung als die
besondere Erscheinungsform eines Allgemeinen. Doch Heideg-
Hölderlin 129

ger lehnt diese Verhältnisdefinition ab. Wenn die Dichtung


»worthafte Stiftung des Seins« ist, dann ist sie »jenes, wodurch
erst all das ins Offene tritt, was wir dann in der Alltagssprache
bereden und verhandeln« (ebd., 43). Die Dichtung geht der
Sprache voraus, sie ist »Ursprache«. Folglich können wir nicht
aus dem »Wesen der Sprache« erfahren, was die Dichtung ist,
sondern wir müssen, wenn wir wissen wollen, was die Sprache
ist, auf das ursprünglichere Phänomen der Dichtung eingehen.
Nun lässt sich für diese Umdrehung der Relation von Spra-
che und Dichtung eigentlich kein echtes Argument finden. Dass
die Dichtung eine besondere Erscheinungsform der Sprache ist
und nicht umgekehrt, lässt sich auch dann nicht bezweifeln,
wenn bestimmte Verse großer Dichtungen zu alltäglichen Re-
densarten geworden sind. Heideggers Umkehrung dieser Rela-
tion muss darum einen anderen Grund haben. Worauf Heideg-
ger hinaus will, ist, dass wir anhand der Dichtung deutlicher
verstehen, was die Sprache für den Menschen wenn nicht ist, so
doch sein kann. In der Dichtung hat der Mensch die Möglich-
keit, unabhängig von logischen Denkgesetzen, d.h. unabhängig
von der Frage, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, eine »wort-
hafte« Weltorientierung zu finden. Um diesen Gedanken besser
darzustellen, beziehen wir uns auf ein paar Verse von Hölder-
lin. In der zweiten Strophe der erst im Jahre 1954 veröffentlich-
ten großen Hymne Friedensfeier heißt es:

»Ein Weiser mag mir manches erhellen; wo aber


Ein Gott noch auch erscheint,
Da ist doch andere Klarheit.«

Diese auf eine Paulus-Sentenz verweisenden Verse sind zwar


grammatisch richtig gebaut und widersprechen auch keiner
logischen Regel, doch die Frage, ob sie dies tun oder nicht, ist
für ihr Verständnis irrelevant, ja, würde jemand diese Frage bei
der Interpretation von Gedichten stellen, würde er sie verfeh-
len. Eine Interpretation von Gedichten hat ausschließlich das
130 Denken und Dichten

Mitgeteilte selbst im Blick. Der Wahrheitsanspruch der Dich-


tung hat mit der Frage, ob die jeweiligen Aussagen formal rich-
tig sind, nichts zu tun. Selbst wenn ein Gedicht offensichtliche
Widersprüche enthielte, würde der Leser das Problem, inwie-
fern dem Gedicht Wahrheit zukomme, anders als formal auf-
fassen. Es lässt sich mithin »logisch« nicht klären, ob ein Leser
dieser Verse das in ihnen Gesagte wirklich für verbindlich hält
oder es als unannehmbar zurückweist. Ob wir der Ansicht sein
können, dass die Philosophie »manches erhellen« kann, die
Epiphanie eines Gottes »aber« über dieses philosophische Ver-
mögen hinausgeht, indem sie sich in der Dichtung mitteilen
lässt und daher die Dichtung vor der Philosophie auszeichnet,
lässt sich urteilend und schließend nicht erfassen. Die Wahrheit
dieser Ansicht erweist sich nicht formal-theoretisch, sondern
dadurch, dass wir ihr gemäß leben.
Mit der Charakterisierung der Dichtung als einer »Urspra-
che« verfolgt Heidegger nicht so sehr die Intention, die Sprache
als eine abgeleitete Spielart der Dichtung darzustellen. Die Be-
zeichnung der Dichtung als »Ursprache« zielt auf eine weiter-
gehende Absicht. Ich habe an vielen Stellen dieser Einführung
bereits darauf hingewiesen, dass Heidegger die auf der plato-
nisch-aristotelischen Logik begründete und als Metaphysik
bestimmte Denkform der europäischen Philosophie für mo-
difikationsbedürftig erachtet. Das »Seyn« sei mit einer »Spra-
che des Seienden« nicht zu denken. Aus dieser Schwierigkeit
entsteht bei Heidegger der Versuch, eine andere Art von Den-
ken zu finden. Diese Absicht lässt sich aus einer Äußerung in
den Beiträgen zur Philosophie gut erfassen: »Wer sagt denn
und wer hat je bewiesen, daß das logisch gemeinte Denken das
›strenge‹ sei? Das gilt ja, wenn es überhaupt gilt, nur unter der
Voraussetzung, daß die logische Auslegung des Seins die einzig
mögliche sein könne; was aber erst recht ein Vorurteil ist.«
(GA 65, 461) Gegen dieses »Vorurteil« wendet sich Heidegger,
indem er das Denken in eine »Zwiesprache« mit dem Dichten
Hölderlin 131

versetzt. »Denken und Dichten« wird für den Philosophen das


Schibboleth für eine Revision der formalen Grundlagen des
europäischen Denkens. Von der »Ursprache« der Dichtung aus
versucht Heidegger, dem Denken eine »andere« Sprache zu ge-
ben. Diese Intention ist der Fluchtpunkt der wiederholten Aus-
einandersetzung mit dem Verhältnis von »Denken und Dich-
ten«.
Der zweite Grund, der Heidegger nach 1933 dazu veran-
lasst, sich öffentlich mit Hölderlins Dichtung zu beschäftigen,
weist in eine andere Richtung. Der ganze Satz, in welchem Hei-
degger in seinem Vortrag Hölderlin und das Wesen der Dich-
tung die Dichtung als »Ursprache« kennzeichnet, lautet: »Dich-
tung ist die Ursprache eines geschichtlichen Volkes.« (GA 4, 43)
Damit erhält die Bezugnahme auf Hölderlins Dichtung eine
andere Richtung.
Als Heidegger Ende Februar 1934 vom Rektorat der Frei-
burger Universität zurücktritt, befindet sich Deutschland in
einem tiefgreifenden Umbruch. Die Nationalsozialisten sind
nicht nur auf dem Weg, den Staat in all seinen Funktionen zu
okkupieren, sie reklamieren auch zu wissen, welches »Schick-
sal« das deutsche Volk bestimme bzw. bestimmen solle. Es ist
ganz eindeutig zu erkennen, dass Heidegger mit seiner ersten
Hölderlin-Vorlesung im Wintersemester 1934/35 die Diskus-
sion, was eigentlich als »deutsch« zu verstehen sei, aufnimmt.
In einem Vortrag vom November 1934, in der Zeit also, in
welcher Heidegger seine erste Vorlesung über Hölderlins Hym-
nen Germanien und Der Rhein hält, wird Hölderlin knapp als
der »Deutscheste der Deutschen« (GA 16, 333) charakterisiert.
Der Superlativ lässt sich dadurch rechtfertigen, dass für Hei-
degger Hölderlins Dichtung die einzige Quelle ist, aus der zu er-
fahren sein soll, was das »Deutsche« ist und »wer« die »Deut-
schen« sind. Hölderlin ist derjenige Dichter, der die »Geschich-
te« der »Deutschen« »stiftet«, er ist »der Stifter des deutschen
Seyns« (GA 39, 220).
132 Denken und Dichten

Bei diesen Bezeichnungen für Hölderlin und seine Dichtung


ist entscheidend, dass Heideggers Versuch, in der allgemeinen
deutschen Umbruchsituation ein Wort mitzureden, nicht als
konformistisch einzuschätzen ist. Bereits der Beginn der ersten
Hölderlin-Vorlesung lässt kritische Töne anklingen. Heidegger
zitiert dort folgendes Hymnen-Bruchstück:
»Einst hab ich die Muse gefragt, und sie
Antwortete mir
Am Ende wirst du es finden.
Vom Höchsten will ich schweigen.
Verbotene Frucht, wie der Lorbeer, aber ist
Am meisten das Vaterland. Die aber kost’
Ein jeder zulezt.«

Diese Verse kommentiert der Philosoph mit folgenden Worten:


»Das Vaterland, unser Vaterland Germanien – am meisten ver-
boten, entzogen der Eile des Alltags und dem Lärmen des Be-
triebs. Das Höchste und daher Schwerste, das Letzte, weil im
Grunde das Erste – der verschwiegene Ursprung.« (GA 39, 4)
In einem Brief an Elisabeth Blochmann hat Heidegger davon
gesprochen, »jede falsche Zeitgemäßheit« in der Auslegung der
Hymne »Germanien« »abzuwehren«3. Doch es handelt sich bei
dieser Feststellung nicht bloß um die Rettung der Hölderlin-
schen Dichtung vor politischem Missbrauch. Das »Höchste«,
das »Vaterland« ist der »verschwiegene Ursprung«. Es sei »am
meisten verboten«. Mit dieser rätselhaften Mitteilung provo-
ziert Heidegger diejenigen, die unmittelbar erfahren und wis-
sen wollen, was das »Vaterland Germanien« sei. Das »Vater-
land« oder der »verschwiegene Ursprung« sind nicht zu ver-
wechseln mit dem damals real existierenden »Deutschland«.
Heidegger will den Missbrauch der Hölderlinschen Dichtung
für chauvinistische Zwecke verhindern.

3 Martin Heidegger/Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918 – 1969,


hg. v. Joachim W. Storck. Marbach am Neckar 1990, S. 83.
Hölderlin 133

Heidegger hat in all seinen folgenden Vorlesungen und Vor-


trägen zu Hölderlin, durch dessen Dichtung angeregt, die Frage
gestellt, wie sich das »Deutsche« fassen lasse, und ist nicht da-
von abgegangen, zu betonen, dass das »Vaterland« oder das
»Vaterländische« nichts Vorhandenes sei. Mit dieser Betonung
befindet sich Heidegger auf einer Interpretationslinie von Höl-
derlins Dichtung, die wir bei Norbert von Hellingrath,4 dem
Herausgeber der ersten historisch-kritischen Gesamtausgabe
Hölderlins, und vor allem bei Stefan George5 finden, der als
Inaugurator dieser Interpretation betrachtet werden muss. Ge-
mäß dieser Auslegung ist Hölderlin der Dichter eines »Gehei-
men Deutschlands«, einer Überlieferung, der sich auch der spä-
tere Hitler-Attentäter Claus von Stauffenberg6 verbunden fühlte.
Doch die vor dem Hintergrund der Hölderlinschen Dich-
tung beantwortete Deutschland-Frage hat für Heideggers Den-
ken noch eine andere Bedeutung. Es lässt sich zeigen, dass im
Durchgang durch die Deutung von Hölderlins Dichtung sich
Heideggers Philosophie »europäisiert«. Dazu verhilft ihm die
Auseinandersetzung mit dem Gedanken der so genannten »va-
terländischen Umkehr«. Unter dieser Bezeichnung fasst man
den Hölderlinschen Gedanken einer wechselseitigen Verwie-
senheit von Griechenland und Deutschland. Gleichsam im Ver-
lauf der Auslegungen dieser »vaterländischen Umkehr« durch-
quert Heideggers Denken Europa, trifft auf das Phänomen,
dass von »Eigenem« nur dort zu sprechen ist, wo es sich mit
dem »Fremden« berührt, und erreicht selbst die Grenze Euro-
pas, an der dem Denker die Wichtigkeit einer Begegnung mit
der asiatischen Weisheit aufgeht.

4 Norbert von Hellingrath, Hölderlin und die Deutschen, in: ders.,


Hölderlin-Vermächtnis, München 2/1944, S. 119-150.
5 Stefan George, Das Neue Reich, Sämtliche Werke, Bd.IX, Stuttgart
2001, S. 45 ff.
6 Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brü-
der, Stuttgart 1992, S. 61 ff.
134 Denken und Dichten

Die politisch-ethische Bedeutung der Hölderlin-Interpreta-


tionen erschöpft sich nicht in der wiederholten Frage, wer
die Deutschen sind. Heidegger hat versucht, sowohl von Höl-
derlins Dichtung aus als auch im Rekurs auf die Tragödien
des Sophokles Kriterien eines spezifischen Politik-Verständnis-
ses zu erarbeiten. In seiner Vorlesung aus dem Wintersemester
1934/35 deutet er diesen Zusammenhang an, wenn er hinsicht-
lich des »Dichters der Deutschen« bemerkt, dass dieser »noch
nicht die Macht in der Geschichte unseres Volkes geworden«
sei. Anschließend betont er: »Weil er das noch nicht ist, muß er
es werden. Hierbei mitzuhalten ist ›Politik‹ im höchsten und
eigentlichen Sinne, so sehr, daß, wer hier etwas erwirkt, nicht
nötig hat, über das ›Politische‹ zu reden.« (GA 39, 214) So ist
die Hölderlin-Interpretation der Ort und der Rahmen, in dem
sich Heideggers Politik-Verständnis darstellt. Dabei ist die Dif-
ferenz zwischen der »›Politik‹ im höchsten und eigentlichen
Sinne« und dem »Politischen« ohne Zweifel nicht selbstver-
ständlich.
Mit dieser Unterscheidung weist Heidegger die faktische Po-
litik der Nationalsozialisten zurück. In ihr identifiziert er die
sich totalisierende Gewalt der technischen Organisation, die
auf Eroberung und Vernichtung von Völkern ausgehende
»Machenschaft«. Die Tendenz zur gewalthaften Totalisierung
bestimmter ideologischer Zwecke und Mittel lässt sich aller-
dings nicht auf das Phänomen des Nationalsozialismus begren-
zen. Für Heidegger ist das 20. Jahrhundert insgesamt von einer
Totalisierung betroffen, die sich darin zum Vorschein bringt,
dass bloß funktional-ökonomische bzw. technische Konzepte
lebensweltlich bedeutsam sind. Diese Totalisierung, die sich in
einer faktischen Ordnung der Welt manifestiert, ist immer dazu
unterwegs, gänzlich total zu werden. Das aber kann sie darum
nicht, weil sie eine Erkenntnis der Totalität des Technischen
verhindern würde. Diese Totalität hätte jede Möglichkeit, sich
über sich selbst zu verständigen, absorbiert. Um folglich jene in
Hölderlin 135

der Geschichte faktisch geschehenden Totalisierungen über-


haupt thematisieren zu können, muss es einen Riss in der
Geschichte geben, der es ermöglicht, von einem anderen Stand-
punkt aus die Totalisierungen zu beobachten. Dieser Riss oder
diese Differenz in der Ordnung der Geschichte ist für Heideg-
ger die Dichtung Hölderlins. Diese setzt Heidegger der Totali-
sierung von Ökonomie und Technik entgegen: »Voll Verdienst,
doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde.«
Zwar »wohnen« die Menschen »voll Verdienst«, indem sie
ihre täglichen Geschäfte erledigen, »doch« das »Wohnen« ist
»dichterisch«. Das »Dichterische« ist nach Heidegger die Fä-
higkeit, einem »Maß« entsprechend »auf dieser Erde« zu
leben. Die Dichtung weiß um die Endlichkeit des Menschen
und seiner Leistungen, sie kennt die Möglichkeit, die Welt und
sich selbst in der Hybris zu verfehlen. In diesem Zusammen-
hang verweist Heidegger auf das bei Sophokles im zweiten
Chorlied der Antigone vorgetragene Wissen von der pólis
(GA 53, 63 ff.). Dort hatte der Tragiker den Menschen als das
alle andere Lebewesen übersteigende »Ungeheure« beschrie-
ben, dem es nicht gelinge, das »Maß« treffend in der pólis zu
»wohnen«.
Heideggers Hölderlin-Interpretation ist von wichtigen Ver-
tretern der Hölderlin-Philologie sehr reserviert aufgenommen
worden.7 Bei der Beurteilung der literaturwissenschaftlichen
Rezeption der Heideggerschen Hölderlin-Auslegung ist zu be-
achten, dass eine philosophische Interpretation von Dichtung
mit Prämissen operiert, die sich eine literaturwissenschaftliche
Perspektive auf denselben Gegenstand nicht aneignen kann.
Dies bedeutet aber, dass das literaturwissenschaftliche Urteil

7 Jochen Schmidt, »Hölderlin im 20. Jahrhundert. Rezeption und


Edition«, in: Gerhard Kurz, Valérie Lawitschka u. Jürgen Werthei-
mer (Hg.), Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme,
Tübingen 1995, S. 105 – 125.
136 Denken und Dichten

über eine philosophische Hölderlin-Auslegung nur dann an-


gemessen ist, wenn sie die im hermeneutischen Charakter der
Philosophie selbst liegende Voraussetzungshaftigkeit der Aus-
legungen nicht von vornherein für unangebracht hält.

4.3 Die Götter und der Gott

Nach Heidegger ist Friedrich Nietzsches Bemerkung Gott


ist tot ein verbindliches Kriterium für den religiösen Sta-
tus des 20. Jahrhunderts. Aus dem Tode Gottes wächst
der Nihilismus, die Lebenseinstellung, nach der es nichts
mehr gibt, was den Willen zur Arbeit und zum Konsum
an Orientierungskraft überragt. Auch in Hölderlins Dich-
tung hat sich die Spur einer Flucht der Götter eingeschrie-
ben. Anders als Nietzsche hat der Dichter die Ankunft
eines anderen Gottes für möglich gehalten. Das Zeitalter
des Nihilismus kann nach Heidegger der Mensch nicht
aus eigener Kraft hinter sich lassen. Nur ein aus der Ferne
erscheinender letzter Gott kann die internen Bestimmun-
gen der nihilistischen Lebensweise fraglich werden lassen.

Die von Heidegger häufig interpretierte Hölderlinsche Elegie


Brod und Wein enthält die Verse:
»Aber Freund! Wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter,
Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.
Endlos wirken sie da und scheinens wenig zu achten,
Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns.«

Heideggers Auseinandersetzung mit Hölderlins Dichtung wird


davon begleitet, dass der Denker nicht nur in den Hölderlin-
Die Götter und der Gott 137

Interpretationen selbst, sondern auch in seinen sonstigen Tex-


ten immer wieder auf die »Götter« zu sprechen kommt. Nicht
nur das: In seinen Beiträgen zur Philosophie erscheint sogar ein
besonderer »Gott«, der von Heidegger so genannte »letzte
Gott« (GA65, 405ff.). Da der Philosoph diese Bezugnahme auf
die »Götter« und den »letzten Gott« nicht als eine bloße Remi-
niszenz an eine bildungsbürgerliche Mythenkenntnis verstan-
den wissen will, sondern sie als ein veritables Element seiner
Philosophie betrachtet, müssen wir, bevor wir versuchen wol-
len, diesen zunächst völlig unverständlichen Bezugnahmen ei-
nen Sinn abzugewinnen, auf ihre Voraussetzung eingehen.
In dem berühmten Aphorismus 125 der Schrift Die fröhliche
Wissenschaft lässt Nietzsche den »tollen Menschen« sagen:
»Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!
Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?«8 Diese Mittei-
lung steckt nach Heidegger den Rahmen ab, in welchem über
Gott zu sprechen erst sinnvoll sein kann. Ein Sprechen über
Gott, das Nietzsches Denken aus dem Weg geht, ist für Heideg-
ger Hypokrisie.
Es ist wichtig zu sehen, wie Heidegger diese bittere Einsicht
des »tollen Menschen« versteht. Nietzsche meint zunächst un-
bezweifelbar den christlichen Gott. Ihn haben wir, indem wir
seine Frohe Botschaft nicht mehr zur verbindlichen Ordnung
unseres Lebens machen, »getödtet«. Doch mit dem christlichen
Gott ist noch anderes gemeint. Für Nietzsche ist Gott »der
Name für den Bereich der Ideen und der Ideale« (GA 5, 216),
für die seit Platon in der europäischen Philosophie nicht be-
zweifelte Sphäre des »Übersinnlichen« schlechthin. Mit dem
Absterben des christlichen Gottes und dieser Sphäre des Über-
sinnlichen sind alle das Leben ordnenden moralisch-ethischen

8 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Sämtliche Werke,


hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Kritische Studienaus-
gabe (KSA) 3, München, Berlin u. New York 1980, S. 480.
138 Denken und Dichten

Kriterien unglaubwürdig geworden. Der höchste Maßstab, an


dem sich alle anderen Maßstäbe orientieren konnten, ist ver-
schwunden: »Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren
wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?«, fragt der »tolle
Mensch«. Dieses Irren »durch ein unendliches Nichts« ist der
»Nihilismus«. Mit dem Tode Gottes bricht der »Nihilismus«
auf, in dem nichts mehr verbindlich und alles »jenseits von Gut
und Böse« möglich ist.
Doch ist es nicht nur Nietzsche, der das Absterben des Gött-
lichen in der europäischen Welt zur Sprache bringt. Auch Höl-
derlin hat, wie in den zuvor zitierten Versen, die »Flucht der
Götter«, wozu Hölderlin auch Jesus Christus zählt, konsta-
tiert. Anders als Nietzsche hat Hölderlin aber die Möglichkeit
einer Rückkehr des Göttlichen in die Welt nicht aus den Augen
verloren. In den zitierten Sätzen aus der Elegie Brod und Wein
wird ja ausdrücklich festgestellt, dass die »Götter« jenseits der
Menschen noch »leben«.
Einerseits hält Heidegger die Mitteilung des »tollen Men-
schen« für unbezweifelbar. Wir können nicht mehr davon aus-
gehen, dass der christliche Gott den Lauf der Dinge noch mit
Trost und dem Versprechen auf ein rettendes Heil begleitet.
Andererseits lässt er von dem Gedanken nicht ab, dass nach
dem Verschwinden Gottes Göttliches in der Welt »noch ein-
mal« erscheinen kann. Insofern ist Hölderlins Charakterisie-
rung unserer Epoche als einer »Nacht« (GA 75, 51), in welcher
sich die »Götter« uns entzogen haben, um an einem anderen
»Morgen« wieder zu erscheinen, für Heidegger wegweisend.
Dennoch bedarf die Rede von den »Göttern« einer Erläute-
rung. Hölderlin bezieht sich in seinen Gedichten auf die Götter-
gestalten, die uns aus der europäischen Geschichte vertraut
sind. Vor allem die griechischen Halbgötter und Götter wie
Herakles, Apollon, Dionysos oder Jesus Christus werden in sei-
nen Hymnen besungen. Sie sind für Hölderlin keine toten Bil-
dungsgegenstände, sondern lebendige Gestalten, in deren Nähe
Die Götter und der Gott 139

der Dichter sich befindet. Doch es gibt in Hölderlins Dichtung


nicht nur diese aus der europäischen Geschichte bekannten
Namen. So spricht Hölderlin manchmal einfach vom »Vater«
oder von einer besonders geheimnisvollen Gestalt, vom »Gott
der Götter« oder dem »Fürsten des Festes«. Sie lassen sich nicht
in den Kanon der uns bekannten Götternamen einordnen.
Heidegger nimmt zunächst Hölderlins Charakterisierungen
nicht auf. Er versucht, seine Bezugnahme auf die »Götter«
anders zu rechtfertigen. In den Beiträgen zur Philosophie stellt
er dar, was seine Gedanken über die »Götter« bedeuten sollen.
Der Gebrauch des Plurals »Götter« solle nicht das »Vorhan-
densein einer Vielzahl gegenüber einem Einzigen« behaupten.
Vielmehr soll damit eine »Unentschiedenheit« (GA 65, 437)
zum Ausdruck gebracht werden. »Unentschieden« soll sein, ob
wir »noch einmal« eine Anwesenheit von »Göttern« oder von
»einem Gott« erfahren werden. Offen soll auch bleiben, wie
diese »Götter« sein werden, wie »der Gott« sein wird. Diese
»Unentschiedenheit« soll allerdings keine »leere Möglichkeit«
sein. Aus ihr soll die »Entscheidung« kommen, ob eine Epipha-
nie geschieht oder nicht.
Heidegger denkt durch die Betonung dieser »Unentschie-
denheit« mit Nietzsche gegen Nietzsche an. Ja, die alten »Göt-
ter« sind »tot«, doch wir dürfen diesen Verlust nicht als endgül-
tig begreifen. Wenn der »Nihilismus« dadurch in die Welt
gekommen ist, dass »wir Gott getödtet haben«, dann können
wir möglicherweise eine Situation evozieren bzw. uns auf eine
Zeit vorbereiten, die den »Nihilismus« hinter sich gebracht ha-
ben wird.
Bemerkenswerterweise ist Heidegger dabei nicht stehen ge-
blieben. Er selbst hat sozusagen einen Schritt zur »Entschei-
dung« getan. Wenn Hölderlin immer wieder in seinen Gedich-
ten auf das Erscheinen eines noch »kommenden Gottes« (Brod
und Wein, 10. Strophe) verweist, dann hat Heidegger diese
Eigenart der Hölderlinschen Dichtung in sein Denken über-
140 Denken und Dichten

nommen. Am Schluss der Einleitung zur Besinnung, dieser grö-


ßeren Abhandlung, die mit anderen die Nachbarschaft zu den
Beiträgen zur Philosophie bildet, deutet Heidegger an, dass
zum Geschehnis der Wahrheit, der »Lichtung des Sichverber-
gens«, die der Mensch als »Dasein« zu »gründen« habe, not-
wendig der »einmalige Dienst des noch nicht erschienenen aber
verkündeten Gottes« (GA 66, 12) gehört. Dieser Gott ist, wie
Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie, aber nicht nur
dort, ausführt, der »letzte Gott«. »Verkündet« wurde dieser
noch unbekannte oder vielleicht immer unbekannt bleibende
Gott in der Dichtung Hölderlins, in der an mehreren Stellen
von einer Göttergestalt die Rede ist, die noch »kommt« und die
wir noch nicht kennen. Heidegger knüpft mit seinem Gedan-
ken des »letzten Gottes« daran an.
Der Zustand des »Nihilismus« hat sich totalisiert. In diesem
Zustand gibt es nichts mehr, was den Willen zur Arbeit und
zum Konsum an orientierender Kraft überragt. Aus dieser Situ-
ation kann die »Eröffnung eines ganz anderen Zeit-Raumes«
(GA 65, 405) nicht mehr entspringen, da alles, was den wesent-
lichen Orientierungen im »Nihilismus« widerspricht, für
ungültig erklärt wird. Darum bleibt die einzige Möglichkeit,
dass ein Gott, dass der »ganz Andere« (ebd., 402) einen Wandel
der Geschichte bringen muss.
Ich hatte bereits in meinen Ausführungen zum »Ereignis«
(Kapitel 3.1) auf das Problem hingewiesen, dass es im Denken
Heideggers eine eigentümliche Spannung gibt, die der Phi-
losoph möglicherweise absichtlich nie geklärt hat. Tendiert
Heideggers Philosophie dazu, eine »Endzeit« in Aussicht zu
stellen, in welcher die Menschen und Dinge zerstörenden Tota-
lisierungen des 20. Jahrhunderts in einer »völlig anderen Ort-
schaft« (GA 7, 133) verschwunden sein werden? Oder pocht
der Philosoph »nur« auf die philosophische Notwendigkeit,
den Gedanken an eine andere Möglichkeit des Menschseins
immer wieder zu prüfen, sodass wir Heideggers Ausführungen
Die Götter und der Gott 141

über den »letzten Gott« als eine solche Möglichkeit verste-


hen müssen? Ernst Jünger hat diesen zweideutigen Zug an
Heideggers späterem Denken auf den Punkt gebracht: »Es
besteht ein Gemeinsames zwischen den Entwürfen populärer
Utopisten und Heideggers Hoffnung auf eine neue Theopha-
nie [. . .].«9 Dieses »Gemeinsame« dürfte darin liegen, dass die
einen wie die anderen Entwürfe nicht mehr an die Möglichkeit
glauben, der Mensch könne aus eigener Kraft seine Lage ver-
ändern.
Zumindest Folgendes möchte ich behaupten: Heidegger hat
die »Flucht der Götter« oder den »Tod Gottes« nicht als die
Legende einer romantisierenden Nostalgie aufgefasst. Er hat
die Geschichte seines Jahrhunderts mit dem Erscheinen einer
allgemeinen Gottlosigkeit in Verbindung gebracht. Das zeigt
ein spätes Zeugnis. Im so genannten Spiegel-Gespräch aus dem
Jahre 1966 fallen die berühmt gewordenen Worte: »Die Philo-
sophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Welt-
zustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philo-
sophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen und
Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten.« (GA 16, 671)
Dieser Aussage liegt die Voraussetzung zu Grunde, dass der
»Weltzustand«, in dem wir leben, einer »Veränderung« bedürf-
tig sei. Und wirklich besteht von Anfang an (vgl. z. B. seine
Interpretation des »Urchristentums«) eine Grundströmung des
Heideggerschen Denkens darin, immer wieder die Möglichkeit
einer tiefgreifenden Umdeutung unseres Lebens zu reflektieren.
Insofern ist die Äußerung im Spiegel-Interview nicht neu. Den-
noch hat sich der Ton verschärft. Es geht nicht mehr um eine
bloße »Veränderung«, sondern um eine »Rettung«. Heidegger
hat die ihm vor allem in Hölderlins Dichtung begegnenden
Lebensmöglichkeiten im Sinne eines von Totalitarismen freien

9 Ernst Jünger, Fassungen III, Sämtliche Werke, Bd. 19, Stuttgart


1999, S. 307 (Autor und Autorschaft).
142 Denken und Dichten

Daseins niemals verloren gegeben. Er hat jedoch zugleich in


den Verbrechen des 20. Jahrhunderts die Möglichkeit eines völ-
ligen Verlustes positiver Existenzalternativen erkannt. Eine
daraus entspringende Angst könnte die Bitterkeit bestimmter
Äußerungen des späten Heidegger erklären.
5 Welt und Technik

5.1 Friedrich Nietzsche und Ernst Jünger

Das Hauptthema des späten Heideggerschen Denkens ist


die Frage, wie der Mensch in einer total technisierten Welt
leben kann. Die Initiation für die Wichtigkeit dieser Frage
liegt in der Erfahrung der nationalsozialistischen Herr-
schaft, die sich in einer bis dahin unvorstellbaren Art und
Weise der Technik zur Durchsetzung kriegerischer und
massenmörderischer Ziele bediente. Wenn Heidegger im
Jahre 1933 Ernst Jüngers Essay Der Arbeiter. Herrschaft
und Gestalt (1932) in einer Rede den deutschen Studenten
als ihr Erziehungsbuch anpreist, so betrachtet er es in den
folgenden Jahren als das Grundbuch für seine Analysen
der technischen Praktiken in Krieg und Verbrechen. Jün-
gers Buch wird von Heidegger als eine der Zeit gemäße
Fortsetzung von Friedrich Nietzsches Lehre vom Willen
zur Macht interpretiert.
144 Welt und Technik

Als Anfang der fünfziger Jahre, wie Rüdiger Safranski schreibt,


»Heideggers Ausdruck Gestell als Bezeichnung für die techni-
sche Welt in Deutschland die Runde machte«1, hatte Heidegger
sich bereits seit ungefähr zwanzig Jahren mit dem Phänomen
der Technik auseinandergesetzt.
In seinem Bericht Das Rektorat 1933/34 aus dem Jahre 1945
weist Heidegger darauf hin, dass er bereits um das Jahr 1932
Ernst Jüngers Schriften Die totale Mobilmachung (1930) und
Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932) studiert und
»durchgesprochen« (GA 16, 375) habe. Zudem gibt er zu ver-
stehen, dass sich in diesen Texten »ein wesentliches Verständnis
der Metaphysik Nietzsches ausspricht, insofern im Horizont
dieser Metaphysik die Geschichte und Gegenwart des Abend-
landes gesehen und vorausgesehen wird«. Wir müssen in die-
sem Studium, in der Lektüre der Jüngerschen Essays vor dem
Hintergrund der Philosophie Nietzsches die Grundlagen sehen,
welche die spätere Interpretation der Technik als »Gestell« vor-
bereiten.
Jüngers Essays versuchen zu durchschauen, wie in Folge der
Materialschlachten des Ersten Weltkriegs ein neuer »Typus«
des Menschen erscheint. Dieser »Typus« hat die Zeichen der
Zeit insofern erkannt, als er die immer durchdringendere Tech-
nisierung des alltäglichen Lebens ganz und gar bejaht und
betreibt. Diese Technisierung hat die Tendenz zur Totalität und
wird deshalb in Anspielung auf militärisches Vokabular »totale
Mobilmachung« genannt. In einer Welt der »totalen Mobilma-
chung« bleibt nichts von der Dynamisierung und Technisie-
rung unberührt, selbst die »Materie« wird in der Naturwissen-
schaft als ein Modus von Energie und Bewegung aufgefasst.
Der Soldat der Materialschlachten ist nach Jünger ein neuer
»Typus« des Menschen, weil dieser den Krieg als ein Gescheh-

1 Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und


seine Zeit, München und Wien 1994, S. 453.
Friedrich Nietzsche und Ernst Jünger 145

nis erfuhr, in welchem es nur darauf ankam, seine »Arbeit«


möglichst perfekt auszuführen. Zugleich wusste der Soldat,
dass es nicht auf ihn als Individuum ankam, wenn die Schlacht
gewonnen oder verloren wurde. Worum es ging, war einzig und
allein der optimale Einsatz des Materials, wozu der Soldat
selbst gerechnet werden musste.
Für Jünger ist es keine Frage, dass sich eine solche Einstel-
lung nach dem Ersten Weltkrieg als »typische« Lebensweise
etabliert hat. Der »Typus« dieser Lebensart ist aber nicht mehr
der Soldat, sondern der »Arbeiter«. Er fasst das Leben nicht
mehr als eine persönliche Möglichkeit zur Glückseligkeit auf,
sondern als die Aufgabe, uneingeschränkt dem »Willen zur
Macht« zu dienen und durch diesen ungebrochenen Dienst zur
Herrschaft zu gelangen, um die Welt im Sinne der »totalen
Mobilmachung« einzurichten. Der »Typus« des »Arbeiters« ist
keine ökonomische oder soziologische Erscheinung, sondern
die Phänomenalisierung einer metapyhysischen »Gestalt«. Mit
diesem Begriff steht Jünger in der Tradition des platonischen
Denkens.
In diesem Zusammenhang sagt Jünger im Arbeiter: »Die
Technik ist die Art und Weise, in der die Gestalt des Arbeiters
die Welt mobilisiert.«2 Die Phänomene, die Jünger dabei im
Blick hat, liegen auf der Hand. Es handelt sich dabei vor allem
um die Erfahrung einer allgegenwärtigen Beschleunigung von
Mensch, Maschine und Information. Jünger durchkämmt bei
seiner Zeit-Diagnose systematisch alle Weltbereiche (selbst der
Sport und die Freizeitgestaltung werden als »Arbeit« gedeutet),
um überall den Zuwachs von Geschwindigkeit und erhöhtem
Energieverbrauch festzuhalten.
Sicherlich erweist sich Jünger in dieser Interpretation der ers-
ten Nachkriegszeit als ein Schüler und Erbe Friedrich Nietz-

2 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Sämtliche


Werke, Bd. 8, Stuttgart 1981, S. 160.
146 Welt und Technik

sches, auf den er an vielen Stellen verweist. Nietzsche ist für


Jünger der Philosoph des »Willens zur Macht« bzw. des »Über-
menschen«. Diese Hauptgedanken des späteren Nietzsche,
dass das Leben im »Willen zur Macht« bestehe, infolgedessen
derjenige Mensch an die »Macht« komme und dadurch über
den bestehenden Menschen hinausgehe, der den »Willen zur
Macht« am uneingeschränktesten bejaht, eben der »Über-
mensch«, haben den Essay über den Arbeiter wesentlich beein-
flusst. So ist es Nietzsche, der in einem Nachlassfragment im
Willen zur Macht die Verbindung zwischen dem »Soldaten«
und dem »Arbeiter« herstellt: »Arbeiter sollten wie Soldaten
empfinden lernen.« Es gehe darum, »das Individuum, je nach
seiner Art, so [zu] stellen, daß es das Höchste leisten kann«3. In
diese Richtung zeigt auch Nietzsches frühere Apotheose der
»Maschine« in Menschliches, Allzumenschliches:
»Die Maschine als Lehrerin. – Die Maschine lehrt durch sich selber
das Ineinandergreifen von Menschenhaufen, bei Actionen, wo Jeder
nur Eins zu thun hat: sie giebt das Muster der Partei-Organisation und
der Kriegsführung. Sie lehrt dagegen nicht die individuelle Selbstherr-
lichkeit: sie macht aus Vielen eine Maschine, und aus jedem einzelnen
ein Werkzeug zu einem Zwecke. Ihre allgemeinste Wirkung ist, den
Nutzen der Centralisation zu lehren.«4

Von solchen Gedanken ausgehend konnte Jünger seine meta-


physische Weltdeutung der »totalen Mobilmachung« und des
»Arbeiters« in einer sehr originellen und suggestiven Art und
Weise entwerfen.
Und lag Jünger mit seinen Thesen im Jahre 1932 wirklich so
falsch? Kündigte sich nicht in der Tat ein neuer »Typus« von
Menschen an, welche die Möglichkeiten der Technik in den

3 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885 – 1889, KSA 12,


S.350.
4 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. II, KSA 2,
S.653.
Friedrich Nietzsche und Ernst Jünger 147

nächsten 13 Jahren für ihre Organisation von Krieg und »Ver-


waltungsmassenmord« (Hannah Arendt) hemmungslos nut-
zen sollten? Jünger hat das Kommende im Arbeiter offenkun-
dig nicht ohne Sympathie vorausgesehen. Es heißt dort: »Und
dies ist unser Glaube: daß der Aufgang des Arbeiters mit einem
neuen Aufgange Deutschlands gleichbedeutend ist.«5 Auf-
grund von solchen und auch anderen Äußerungen ist darauf
hinzuweisen, dass Jüngers ungewöhnlich hellsichtiger und
gedankenreicher Essay nicht nur Zeit-Diagnostik betreibt. Er
ist zudem eine Kampfschrift, die das Erscheinen des »Arbei-
ters« als zwar unausweichlich, aber nicht als etwas, das man
ablehnen könnte, feiert. Ernst Jünger hat im weiteren Gang sei-
nes Werkes diese Affirmation der »Gestalt des Arbeiters« im
»heroischen Realismus« zurückgenommen, um zugleich den
»Typus« des »Arbeiters« weiterhin als die bestimmende Größe
in der Technisierung der Welt aufzufassen. Dem Nationalsozia-
lismus ist Jünger niemals verfallen.
Als Heidegger im Wintersemester 1936/37 seine erste Vorle-
sung über Friedrich Nietzsche mit dem Titel Der Wille zur
Macht als Kunst hält, ist er zu den Gedanken aus Jüngers Arbei-
ter sowie zu Nietzsches Lehre vom »Willen zur Macht« auf Dis-
tanz gegangen. Im Winter 1934/35 hielt er die Vorlesung über
Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein, die diese Dis-
tanz öffentlich zum Ausdruck brachte. Doch diese Distanzie-
rung betrifft nicht nur Nietzsches und Jüngers Texte, sie betrifft
auch Heidegger selbst.
Im November 1933 hält Heidegger eine Rede zur Immatri-
kulation der Freiburger Studenten. Heidegger bezieht sich
emphatisch auf Ernst Jüngers Der Arbeiter. Zu den Studenten
gewandt erklärt er: »Dieser Schlag von Studenten ›studiert‹
nicht mehr, d. h. er bleibt nicht irgendwo geborgen sitzen, um
von dort aus im Sitzen irgendwohin nur zu ›streben‹. Dieser

5 Jünger 1981, S. 31.


148 Welt und Technik

neue Schlag der Wissenwollenden ist jederzeit unterwegs. Die-


ser Student aber wird zum Arbeiter.« (GA16, 204) Im Zuge der
revolutionären Umbildungen in Deutschland kann sich Hei-
degger positiv auf den Arbeiter beziehen. »Arbeit« ist das Sein
des Volkes, der nationalsozialistische Staat ist der »Arbeits-
staat« (ebd., 206).
Anfang des Jahres 1940 hat Heidegger noch einmal öffent-
lich in einem »kleinen Kreis von Kollegen« Jüngers Arbeiter
ausgelegt. Nun äußert sich Heidegger kritisch und polemisch.
Doch indem diese Kritik Jünger trifft, zielt sie zugleich auf die
Position, die der Denker um das Jahr 1933 selber einnahm.
Heideggers Auseinandersetzung mit der »totalen Mobilma-
chung« ist in sich eine mit seinem eigenen Votum für den Natio-
nalsozialismus. Heideggers Hölderlin-Interpretation auf der
einen, seine Nietzsche- und Jünger-Auslegungen auf der ande-
ren Seite stehen ganz im Dienst dieser kritischen Absetzung.
Diese Auseinandersetzung lässt keinen Zweifel aufkommen,
dass Nietzsches und Jüngers Gedanken die Zeichen der Zeit
am besten erfassen. Wenn Heidegger in jenem Vortrag vom
November 1933 pointiert, dass Jünger »auf Grund der Erfah-
rung der Materialschlacht im Weltkrieg die heraufkommende
Seinsart des Menschen des nächsten Zeitalters durch die
Gestalt des Arbeiters schlechthin gedeutet« (ebd., 205) habe,
dann sieht er auch später keinen Grund, diese Ansicht zu revi-
dieren. Vielmehr fühlt er sich durch die Geschehnisse des Zwei-
ten Weltkriegs bestätigt. Der »Mechanismus der Rüstung« sei
»bestimmt durch die Leere der Seinsverlassenheit, innerhalb
deren der Verbrauch des Seienden für das Machen der Technik,
zu der auch die Kultur gehört, der einzige Ausweg ist, auf dem
der auf sich selbst erpichte Mensch noch die Subjektivität in das
Übermenschentum retten kann« (GA 7, 90), schreibt Heideg-
ger zur Jahreswende 1939/40. Hier versammeln sich die Ge-
danken Nietzsches und Jüngers, um als die Ideen der allerletz-
ten Phase eines sich im »Willen zur Macht« stabilisierenden
Zur Zweideutigkeit des »Gestells« 149

Zeitalters interpretiert zu werden. Der Mensch ist das »arbei-


tende Tier« (ebd., 71) geworden, das sich selbst den »Krieg«
erklärt hat.
Wenn Jürgen Habermas in seinem Aufsatz Heidegger – Werk
und Weltanschauung sicher nicht unvoreingenommen Heideg-
gers politisches Engagement bedenkt, hat er dennoch Recht,
Heideggers »Einstellungswechsel«6 als einen Ablösungspro-
zess im Zeitraum von 1934 bis 1936 zu beschreiben. Wenn er
jedoch Heidegger jede Fähigkeit zu einer »Revision seines
Selbstverständnisses als eines Denkers mit priviligiertem Zu-
gang zur Wahrheit«7 abspricht, hat er den Sachverhalt vernach-
lässigt, dass Heideggers Auseinandersetzung mit Ernst Jünger
und durch diesen mit Nietzsche eine Selbstkritik darstellt, wel-
che die Sache selbst, die Totalisierung der Technik im »Dritten
Reich«, nicht aus dem Blick lässt.

5.2 Zur Zweideutigkeit des »Gestells«

Getreu der aristotelischen Bestimmung deutet Heidegger


die Technik zunächst als ein spezifisches Wissen. Die
Totalisierung der Technik aber, die er zunächst als Ma-
chenschaft, dann als Gestell charakterisiert, zeigt ihm,
dass die Technik kein bloßes Vermögen des Menschen
sein kann. Der Mensch ist nicht mehr der Beherrscher der
Technik, sondern der von ihr Beherrschte. Er stellt nicht
nur bestimmte Produkte her, um diese zu verbrauchen.
Vielmehr behandelt er inzwischen auch sich selbst wie
einen total verfügbaren Bestand. Doch so gefährlich die

6 Habermas 1989, S. 27.


7 Ebd., S. 33.
150 Welt und Technik

Technik für das Sein überhaupt ist, so erlaubt sie doch


zugleich eine kreative Gestaltung der Welt. Diese Zwei-
deutigkeit ist ein Merkmal dafür, dass die Technik dem
sich eröffnenden und entziehenden Sein verwandt ist.

Als Heidegger in einem Fernsehinterview im Jahre 1969 an-


deutet, dass er nicht die Atombombe, sondern die Menschen
»machende« »Biophysik« (GA 16, 706) für das gefährlichste
Phänomen der Technik hält, bezeugt er einen bemerkenswerten
Weitblick für die naturwissenschaftlichen Entwicklungen der
kommenden Jahrzehnte. Zu diesem Zeitpunkt hat er sich über
dreißig Jahre lang mit der Frage nach dem »Wesen der Tech-
nik« beschäftigt. Heideggers Gedanken über die Technik haben
in einer mehr oder weniger oberflächlichen Rezeption zu dem
Missverständnis geführt, der Philosoph würde die moderne
Technik ganz und gar ablehnen und ein provinzielles Landleben
gegenüber einer jede neue Technologie integrierenden Groß-
stadtexistenz favorisieren. Wenn Heideggers schwäbische Bio-
graphie zwar Züge von Heimatverbundenheit und Bodenstän-
digkeit zeigt, so ist die Meinung, der Denker würde die Technik
negieren, falsch.
Von Anfang an geht es Heidegger darum, zu bedenken, was
es bedeutet, dass in der Neuzeit gemäß einer Wendung in Des-
cartes’ Discours de la méthode von 1637 der Mensch der »maı̂-
tres et possesseur de la nature«8 geworden ist. Bevor es zu
einem Urteil über die technische Selbstauslegung des Menschen
kommt, geht es darum, zu fragen, wie sich das Verhältnis des
Menschen zur Technik verstehen lässt. Erst nach einer solchen

8 René Descartes, Discours de la méthode pour bien conduire sa rai-


son, et chercher la verité dans les sciences, in: ders., Philosophische
Schriften in einem Band, Hamburg 1996, S. 100.
Zur Zweideutigkeit des »Gestells« 151

grundsätzlichen Klärung können praktische Folgen erwogen


werden. Dass aber diese niemals in einem »Ausstieg« aus der
Technik bestehen können, liegt schon deshalb auf der Hand,
weil dieser einen völlig unvorstellbaren Abbruch aller sich über
Jahrtausende etablierten Lebensformen bedeutete.
Heidegger hat sich einer eigenen Aussage zufolge schon im
Jahre 1932 mit Ernst Jüngers Essay Der Arbeiter auseinander-
gesetzt. In ihm beschreibt der Schriftsteller eine technisierte
Welt, die er im »heroischen Realismus« zuweilen zynisch affir-
miert. Nach einer ersten positiven Bezugnahme auf diesen Text
geht Heidegger zu ihm auf Distanz, um sich der Frage nach dem
»Wesen der Technik«, d. h. nach der Art und Weise, wie die
Technik das Leben durchdringt und gestaltet, fundamentaler
als Jünger zuzuwenden. In einer Vorlesung aus dem Sommerse-
mester 1935 kommt Heidegger auf eine Quelle zu sprechen, die
sein gesamtes Denken über die Technik prägen sollte. Es han-
delt sich dabei um das erste so genannte Standlied des Chores in
Sophokles’ Antigone. Dieses beginnt in Heideggers Überset-
zung mit den Worten:
»Vielfältig das Unheimliche, nichts doch über den Menschen hinaus
Unheimlicheres ragend sich regt.« (GA 40, 155)

Die Charakterisierung des Menschen als des »Unheimlichsten«


schlechthin bezieht Sophokles auf die technischen Fähigkeiten
des Menschen, sich die Natur nutzbar zu machen. Der Dich-
ter spricht ihm eine unerwartete Technik (téchne) zu, sowohl
Schlechtes als auch Edles hervorbringen zu können. Sophokles
verwendet zur weiteren Beschreibung dieser Fähigkeit das grie-
chische Wort tò machanóen, was mit dem Adjektiv mechanikós
zusammenhängt. Gemäß diesem Wort, welches »erfinderisch«,
»geschickt« und »listig« bedeutet, spricht Heidegger von der
»Machenschaft« (ebd., 168). Dieser Begriff, den der Philosoph
nicht abschätzig verstehen will, wird in den weiteren Jahren zur
Kennzeichnung des »Wesens der Technik« verwendet.
152 Welt und Technik

Zum näheren Verständnis der Technik aber bezieht sich Hei-


degger offenkundig auf einen anderen antiken Text. Indem er
das Wort téchne einfach mit »Wissen« (GA 5, 46) übersetzt,
bringt er in Erinnerung, dass Aristoteles im sechsten Buch der
Nikomachischen Ethik die téchne als eine dianoetische (d. h.
den Verstand betreffende) Tugend darstellt. Sie sei ein mit wah-
rer Vernunft (lógos) verbundenes hervorbringendes Verhalten
(héxis) (1140 a 10), also ein »Wissen« darüber, wie etwas herzu-
stellen ist.
Wenn Sophokles den Menschen als das »Unheimlichste«
überhaupt bezeichnet, weil er über dieses Wissen verfügt, wird
das Wissen zweideutig aufgefasst. »Unheimlich« ist etwas Be-
drohendes, das wir nicht recht fassen können. In einem un-
heimlichen Wald kann uns etwas Schlimmes zustoßen, wir kön-
nen aber auch heil davonkommen. Zudem scheinen wir dem
Unheimlichen nicht einfach gleichgültig ausweichen zu kön-
nen, es hält uns wie gebannt fest, lässt uns nicht los. Wenn diese
Attribute auf den Menschen angewendet werden, wird deut-
lich, dass Sophokles ihn als das tragische Wesen par excellence
begreift. Der Mensch kann auf Grund der téchne Großes leis-
ten, er kann aber auch hybrid das »Maß« verfehlen und schei-
tern. Es ist diese Ambivalenz der Technik, die Heidegger bis in
seine spätesten Texte hinein erörtern wird.
Im unmittelbaren Anschluss an diese erste öffentliche Aus-
einandersetzung mit der Frage nach dem »Wesen der Technik«
hat Heidegger den Begriff der »Machenschaft« beziehungs-
weise der téchne modifiziert. Diese Modifikation bezieht sich
auf die phänomenale Konsistenz der Auffassung, die téchne sei
ein verfügendes Wissen des Menschen. Aristoteles hat bei sei-
ner Bestimmung des Begriffs als einer dianoetischen Tugend die
Tätigkeit des Künstlers im Blick. Dieser besitzt, jedenfalls im
griechischen Verständnis, ein Know-how, auf dessen Basis er
Dinge wie Vasen oder Statuen herstellen kann. Offenbar be-
steht das moderne Leben, das von allen Seiten mit technischen
Zur Zweideutigkeit des »Gestells« 153

Geräten umgeben ist, jedoch keineswegs in einem solchen Wis-


sen. Der Mensch der Massengesellschaft lebt technisch, ohne
dass er jeweils selber alle technischen Geräte hergestellt hat
und, was entscheidender ist, ohne dass er sie herstellen könnte.
Der moderne Mensch weiß nur in den allerwenigsten Fällen,
wie das jeweilige technische Gerät, das er gerade benutzt, funk-
tioniert. Der Mensch lebt technisch, ohne über die Technik, die
ihn umgibt, zu verfügen. Selbst wenn wir meinen, durch ein
mehr oder weniger entwickeltes Bedienungswissen die uns so
lebenswichtig gewordenen Computer zu beherrschen, sind wir
bei seinen geringsten Defekten machtlos. Darum kann die mo-
derne technische Lebensweise des Menschen nicht mehr als ein
Wissen betrachtet werden. Im Horizont dieses Sachverhalts hat
Heidegger die Verhältnisbestimmung, der Mensch verfüge über
die Technik, umgedreht. Nicht wir beherrschen die Technik,
diese beherrscht vielmehr uns.
In seinen Abhandlungen aus der zweiten Hälfte der dreißiger
Jahre hat Heidegger diese Einsicht in seiner Erläuterung des
Begriffs der »Machenschaft« entfaltet. In der »Machenschaft«
betrachtet der Mensch alles Seiende unter dem Aspekt des
»Machens« (GA 65, 126). Alles, was ist, ist »machbar«. Damit
scheint die »Machenschaft« zunächst wiederum als ein Verhal-
ten des Menschen charakterisiert zu werden. Doch Heidegger
geht es nun darum, darauf hinzuweisen, dass dieser Einstellung
eine Voraussetzung zu Grunde liegt. Um zu meinen, Sachen
seien »machbar«, müssen sie sich im Vorhinein in ihrem Sein
so zeigen. Dass sie sich im Vorhinein so zeigen und gleichsam
zum »Machen« und »Herstellen« anbieten, darüber kann der
Mensch nach Heidegger nicht verfügen. Vielmehr gerät er mehr
und mehr in die Situation, dass er dieser Seinsweise der Dinge
nicht mehr ausweichen kann, um schließlich immer mehr dem
»Machen« als einziger Umgangsmöglichkeit mit den Gegen-
ständen zu verfallen. Ein wesentliches Element dieses Gesche-
hens besteht in dem Phänomen, dass der Mensch bei diesem
154 Welt und Technik

Vorgang weiterhin glaubt, Herr der Lage zu sein. Heideg-


ger vermutet sogar eine Wechselwirkung: Je technischer der
Mensch sich und die Welt versteht, je mehr er sich zum Herrn
über die Welt erhebt, desto mehr verfällt er einer Abhängigkeit,
die ihm kaum noch Raum übrig lässt, Dinge und Menschen
anders als in der Perspektive der »Machbarkeit« zu betrach-
ten. Jetzt ist die Technik kein »Wissen« mehr, sondern, als
»Machenschaft« gedacht, ein epochales Schicksal der Mensch-
heit. Damit ist zugleich die Vorstellung unmöglich geworden,
die Technik sei eine Art von Instrument, mit dem der Mensch
Gutes oder Böses »machen« könne.
Diese Totalisierung eines technischen Seinsverständnisses
hat Heidegger Ende der vierziger Jahre in den so genannten vier
Bremer Vorträgen eindringlich dargestellt. Indem er ihnen die
Überschrift »Einblick in das was ist« voranstellt, macht der
Philosoph unmissverständlich klar, wie er die Umstände, in
denen sich der Mensch seiner Ansicht nach befindet, sieht.
Inzwischen hat sich eine Begriffsverschiebung vom semanti-
schen Feld des »Machens« zum »Stellen« ereignet. Das »Wesen
der Technik« wird nun als »Ge-Stell« (GA 79, 24 ff.) erläutert.
Mit diesem Neologismus glaubt Heidegger, den verschiede-
nen Bedeutungsmomenten der Technik genauer entsprechen zu
können.
Diese Bedeutungsmomente lassen sich anhand des Produkti-
onsvorgangs eines beliebigen Gegenstands erläutern. Um bei-
spielsweise ein Flugzeug »herzustellen«, muss man es sich zu-
nächst »vorstellen«. Indem man es sich »vorstellt«, vermag man
es »darzustellen«. Weil es von einer Luftfahrtgesellschaft benö-
tigt wird, wird es »bestellt«. Die Voraussetzung, dass das Seiende
als »herstellbares« erst erscheinen muss, um einen Produktions-
prozess zu veranlassen, »stellt« den Menschen (im Sinne des
Herausforderns), so wie dieser mitunter den Gegenständen in
einer bestimmten »Einstellung« »nachstellt«. Den gesamten
Zusammenhang dieser Bezüge nennt Heidegger »Ge-Stell«.
Zur Zweideutigkeit des »Gestells« 155

Für Heidegger ist die so gedachte Technik nicht mehr mit


der griechischen téchne, von der sie abstammt, zu identifizie-
ren. Der Unterschied, der am Beginn der Neuzeit aufbricht, um
erst im 20. Jahrhundert voll zur Geltung zu kommen, liegt
darin, dass sich die moderne Technik zu einem »planetari-
schen« Phänomen totalisiert. Die Technik ist zur »totalen Mo-
bilmachung« (E. Jünger) geworden, in welcher nichts mehr
ihrem Zugriff zu entrinnen scheint. Nun, so Heidegger, wird
ausnahmslos alles zu einem auswechsel- und lieferbaren »Be-
stand« (ebd., 26). Diese Totalisierung hat er in dem Vortrag
»Das Ge-Stell« mit folgenden, auch heute noch provozierenden
Worten erläutert:

»Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das


Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernich-
tungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Län-
dern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.«
(Ebd.,27)

Heidegger fasst die entsetzlichen Geschehnisse des Krieges


und des »Verwaltungsmassenmordes« am jüdischen Volk,
die Ausbeutung von machtlosen Ländern sowie die indus-
trielle Produktion von Lebensmitteln hinsichtlich des »Ge-
Stells« als »das Selbe« auf. Dieser Gedanke musste die Zu-
hörer nur knapp fünf Jahre nach dem Ende der nationalsozia-
listischen Herrschaft brüskieren. Noch heute liest man den
scheinbar mitleidlosen Satz mit gemischten Gefühlen. Wollte
der Philosoph mit der rhetorisch-monotonen dreifachen Wie-
derholung, dies alles sei »das Selbe«, einen Skandal inszenie-
ren?
Heidegger möchte darauf aufmerksam machen, dass die
Totalisierung des »Wesens der Technik« im 20. Jahrhundert zu
einem Punkt fortgeschritten ist, an dem die Auffassung, alle
Dinge seien ein verbrauchbarer »Bestand«, auch die Vernich-
tung von Menschen impliziert. Bei dieser Beobachtung ist nicht
156 Welt und Technik

das moralische Urteil entscheidend, gemäß dem, wie Heidegger


im selben Vortrag betont, ein solches Tun »unmenschlich« sei,
sondern der Hinweis darauf, dass zum ersten Mal in der
Geschichte Menschen zu Gegenständen eines ökonomischen
Vorgangs gemacht worden sind, dessen Zweck es war, sie aus-
zulöschen, und dass sich dieser Vorgang in seiner formalen und
ökonomischen Durchführung, d. h. in seiner Methode, von
anderen zweckrationalen Prozessen nicht unterscheiden lässt.
Hinsichtlich der Planung und bürokratischen Organisation des
»Verwaltungsmassenmords« in Auschwitz leistet er formal in
der Tat »das Selbe« wie die Herstellung eines Produktes in
einem Industriekomplex. Gerade diese Tatsache verstärkt den
eigentlichen Schrecken der Vernichtungslager ins Unerträgli-
che.
Mit dieser Beobachtung befindet sich Heidegger in der Ge-
folgschaft zum Beispiel von Theodor W. Adorno oder Hannah
Arendt, die das Einzigartige der Shoah nicht darin erblicken,
dass sie überhaupt, sondern wie sie stattgefunden hat. Mit
ihnen teilt Heidegger die Auffassung von einer in der Ge-
schichte Europas lang angebahnten Totalisierung eines be-
stimmten Weltverständnisses, in dessen Konsequenz der »Ver-
waltungsmassenmord« erst möglich wurde. Und mit ihnen teilt
er auch die Ansicht, dass das Phänomen der Totalisierung des
»Wesens der Technik« nur dann angemessen betrachtet werden
kann, wenn es in seinem Grauen erkannt wird. Deshalb hat
Heidegger in seinem zweiten Bremer Vortrag mit dem Titel
»Die Gefahr« darauf verwiesen, dass der Mensch vor dem
Hintergrund dieses Grauens die Totalisierung des »Ge-Stells«
nicht durch eine theoretische Anstrengung in den Griff bekom-
men könne, sondern vielmehr erst durch ein Pathos, durch
einen »Schmerz« (ebd., 57) erleiden müsse. Denn nur was mit
»Schmerz« »erfahren« wird, erlangt zwischen Menschen eine
Bedeutung.
Die Beobachtung eines sich als »Ge-Stell« stetig totalisieren-
Zur Zweideutigkeit des »Gestells« 157

den »Wesens der Technik« führt notwendig zu der Frage, ob


und in welcher Weise der Mensch in dieser Katastrophe über-
haupt noch vorkomme. Muss man nicht doch zugeben, dass
Heideggers Denken an den zeitgenössischen Problemen einer
nicht mehr totalitär beherrschten Massendemokratie vorbei-
geht? Dies würde der Fall sein, wäre Heidegger dazu überge-
gangen, die moderne Technik als eine Inkorporation des Bösen
aufzufassen (wie es neuerdings der französische Philosoph
Michel Henry in seinem Buch Ich bin die Wahrheit. Für eine
Philosophie des Christentums, Freiburg und München 1999,
S. 361 ff. tat). Im vierten seiner Bremer Vorträge mit dem Titel
»Die Kehre« zitiert Heidegger folgenden berühmten Vers Höl-
derlins aus seiner Hymne Patmos:
»Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.«

Die »Gefahr« und das »Rettende« werden von Heidegger


nicht als zwei verschiedene Phänomene aufgefasst. Das »We-
sen der Technik« selbst ist die »Gefahr« und als solche das
»Rettende«. Der Denker geht von der »Gefahr« aus, dass im
»Ge-Stell« die Möglichkeit einer völligen Vereinseitigung von
Theorie und Praxis drohe. Im »Ge-Stell« herrsche, wie er ein
paar Jahre später in seinem Vortrag Die Frage nach der Tech-
nik ausführt, das »Rasende des Bestellens« (ebd.,34), von dem
der Mensch z. B. in Bezug auf sich ankündigende Konsequen-
zen der »Biophysik« (vgl. Beginn des Kapitels) nicht mehr aus-
genommen bleiben kann. Doch zugleich spricht er nun von
einem »zweideutigen Wesen der Technik«. Das »Ge-Stell« sei
nicht nur das »Unaufhaltsame des Bestellens«, sondern auch
ein »Gewährendes, das den Menschen darin währen läßt,
unerfahren bislang, aber erfahrener vielleicht künftig, der
Gebrauchte zu sein zur Wahrnis des Wesens der Wahrheit«.
Dieses »Gewährende«, das in nichts anderem zu finden sei als
im »Rasen des Bestellens« selbst, sei das »Rettende«, das uns
158 Welt und Technik

vor der vollkommenen Technisierung von Welt und Mensch


bewahren könne. Das »Ge-Stell« erweist sich nicht nur als eine
verstellende Produktion und Destruktion, sondern zugleich als
eine sinnvoll-befreiende Umgangsmöglichkeit mit Dingen und
Menschen.
Diese scheinbar kryptischen Mitteilungen führen zunächst
zu dem Problem, dass mit der Ambivalenz im »Wesen der Tech-
nik« noch kein Hinweis gegeben wird, wie der Mensch in sei-
nem Handeln der »Gefahr« des »Ge-Stells« begegnen kann.
Die Ambivalenz der Technik ist nicht die zum Nutzen oder zum
Schaden verwendete Eigenschaft eines Instruments. Bei dieser
Zweideutigkeit handelt es sich vielmehr um die Ambivalenz
eines epochalen Geschicks. Schlägt aber Heidegger damit dem
Menschen nicht alle Handlungsmöglichkeiten aus der Hand,
indem er ihn zu einem rein passiven Zuschauer seiner eigenen
Geschichte macht?
Dass dem nicht so ist, lässt sich am besten verstehen, wenn
wir auf das anfangs erwähnte zweite Chorlied der Antigone des
Sophokles zurückkommen. Denn Heideggers späte Äußerun-
gen über das »zweideutige Wesen der Technik« lässt sich am
ehesten verstehen, wenn wir die Dichtung und besonders die
griechische Tragödie berücksichtigen.
Wenn Sophokles den Menschen als das »Unheimlichste«
oder gemäß der Übersetzung Hölderlins als das »Ungeheu-
erste« betrachtet, dann hat er freilich nicht Heideggers Inter-
pretation des »Wesens der Technik« als »Machenschaft« und
»Ge-Stell« vorweggenommen. Doch Sophokles weiß anschei-
nend, dass das dem Menschen durch die téchne zugefallene Ver-
mögen, sich über die Natur zu erheben, »zweideutig« ist. Mit
den Mitteln, die er hat, kann er sich in der Welt (bzw. in der
pólis) maßvoll einrichten, er kann jedoch im Verfehlen des
Maßes auch scheitern. Für die Tragödie besteht dieses »Maß«
(métron) in der Grenze zwischen den sterblichen Menschen
und den unsterblichen Göttern. Sein Verfehlen ist der Frevel
Zur Zweideutigkeit des »Gestells« 159

(hýbris), die Erhebung über das dem Menschen von den Göt-
tern zugeteilte »Maß« hinaus.
Diese entgrenzende, über jedes Maß hinausgehende Macht
ist das sich totalisierende »Ge-Stell«. In seiner Totalisierungs-
tendenz ist es unendlich, entdeckt den subatomaren Elementar-
teilchenbereich und dringt immer tiefer in das Weltall vor. Die-
ser prinzipiell jede Grenze nur als überwindbar erscheinenden
Tendenz entspricht nach Heidegger ein ökonomisch kalkulie-
rendes und forschendes Denken des »Willens zur Macht«, das
sich vor allem in den Naturwissenschaften präsentiert. Dage-
gen gebe es etwas in der Dichtung, und das heißt immer primär
in der Dichtung Hölderlins, den er einmal als den »Bruder des
Sophokles« bezeichnet, das »Grenze« und »Maß«, kurz, das
»Endliche« kenne und beachte. Dies nennt Heidegger das
»Dichterische«. In seinem Hölderlin-Aufsatz »Andenken«
bestimmt er es auf folgende Weise:

»[. . .] das Dichterische ist das Endliche, was sich in die Grenzen des
Schicklichen fügt. Das Dichterische ist das Bündige, das Unangebun-
denes bindet. Das Dichterische ist das in Band und Maß Gehaltene,
das Maßvolle. Überallhin geht das Dichterische auf das Nicht-Verlas-
sen der Grenze, der Ruhe, des Bandes, des Maßes.« (GA 4, 127)

Anders als in der Philosophie oder in den Naturwissenschaften


hat sich seit Sophokles in der Dichtung die Erinnerung an die
Endlichkeit des Menschen und seines Handelns erhalten.
Indem die Dichtung dieses Erinnern selbst ist, kennt sie nicht
nur die vereinseitigende Tendenz des »Ge-Stells«, alles als
»machbar« zu betrachten. Sie ist sich auch bewusst, wie wenig
»machbar« die existenziellen Nöte und Quellen unseres Lebens
sind. Indem sie um das »Maß« weiß, weiß sie um das »zweideu-
tige Wesen der Technik«, dass es die »Gefahr« und das »Ret-
tende« zugleich ist.
Heideggers Interpretation der Technik als »Machenschaft«
und »Ge-Stell« spricht Probleme an, die im 20. Jahrhundert in
160 Welt und Technik

den Konzentrationslagern und der Atombombe unübersehbar


zum Vorschein kamen.9 Das 21. Jahrhundert sieht sich vor das
von Heidegger bereits erkannte Problem gestellt, wie es mit der
Möglichkeit umgehen wird, den Menschen gentechnisch »de-
signen« zu können. Heidegger hat keinen Hehl daraus ge-
macht, dass er die Chancen, mit diesen Problemen fertig zu
werden, nicht besonders hoch eingeschätzt hat. Noch im Spie-
gel-Interview bemerkt er: »Die Technik in ihrem Wesen ist
etwas, was der Mensch von sich aus nicht bewältigt.« (GA 16,
669) Worauf Heidegger hinzuweisen versucht, ist, dass es noch
eine freie Lebendigkeit gibt, die sich den technisch totalisieren-
den Bewegungen in Politik und Wissenschaft verweigern kann.
Dazu brauchte er Hölderlins Dichtung. Sie war für ihn so etwas
wie ein Riss in einer sich totalisierenden Technikwelt, ein Spalt
als Durchblick in ein anderes freies Dasein. An einer einzigarti-
gen Stelle ihres Totalitarismus-Buches hat auch Hannah Arendt
betont, »daß nur die Dichter, die unbeirrt von allen Theorien
für die ›Kinder der Welt‹ sprechen, dem wirklichen Lauf der
Welt unfehlbar verhaftet sind«.10 Für diese im Totalitarismus-
Buch nicht häufig zu findenden feierlichen Worte, spricht auch
ein Vers der Dichtung Hölderlins. In der Hymne Wie wenn am
Feiertage . . . heißt es: »Denn sind nur reinen Herzens, /Wie Kin-
der, wir, sind schuldlos unsere Hände«. Wer Heideggers Aus-
führungen über das »Wesen der Technik« beurteilen will, muss
sich bewusst sein, dass diese Ausführungen von einem Ort jen-
seits der Lager und Kriege ausgehen, vom Ort der Dichtung.

9 Diese Technik-Interpretation hat Heideggers Schüler Günther


Anders durch eine Medienkritik erweitert in Die Antiquiertheit
des Menschen, Bd. I, München 1956, Bd. II, München 1980.
10 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München 1998,
S.325.
Ankunft im »Geviert«? 161

5.3 Ankunft im »Geviert«?

Das Sein und sein Sinn kann als die Offenheit der Welt
charakterisiert werden. Die Welt ist jedoch kein abstrak-
ter Raum, in dem Menschen und Dinge vorkommen. Sie
wird vielmehr von bestimmten Elementen strukturiert,
wobei der Aufbau dieser Struktur auf die vollständige
Konstellation der Elemente angewiesen ist. Fehlt eines,
gibt es auch die Struktur nicht. Die vier Elemente der Welt
sind Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterbli-
chen. Da die Welt die einheitliche Konstellation dieser
vier Elemente ist, nennt sie der Philosoph Geviert. Diese
Struktur dient nicht zu einer kosmologischen überkultu-
rell-invarianten Weltvorstellung, sondern geschieht oder
entzieht sich in der Geschichte. Nach Heidegger ist es die
sich totalisierende Technik, die den Menschen davon
abhält, ein Element des Gevierts zu werden.

Von Anfang an hat sich Heidegger mit der Frage nach dem ein-
heitlichen Zusammenhang, in welchem alles Seiende und
darunter als das hervorragende das »Dasein« zueinander in ein
Verhältnis kommen, auseinandergesetzt. Diese einheitliche,
alles differenzierende Struktur ist für ihn die »Welt«, die er früh
als »Umwelt«, »Mitwelt« und »Selbstwelt« unter verschiede-
nen Hinsichten betrachten kann (vgl. Kap. 1). In Sein und Zeit
ist das »Dasein« als »In-der-Welt-sein« charakterisiert. Die
»Welt« ist das, »worin« das »Dasein« lebt.
Diese Andeutung über die spezifische Räumlichkeit der Welt
lässt sofort erkennen, dass die Welt, die Alles in sich enthält,
kein Seiendes sein kann. Würde sie so gedacht, müsste sie als
eine Art von begrenztem und seinen Inhalt begrenzenden
Behälter vorgestellt werden. Einen solchen Super-Gegenstand
162 Welt und Technik

jedoch gibt es nicht. Mit dieser Einsicht von der Ungegenständ-


lichkeit oder, um es mit einem Wort Heideggers zu sagen,
»Nichtseiendheit« der Welt ist eine Verbindung zwischen der
»Seinsfrage« und dem Weltproblem evident. So offenbar es hier
eine Verbindung gibt, so wenig ist aber Heidegger bereit, Welt
und »Sein« als dasselbe zu bezeichnen. Zuletzt schien ihm das
»Sein« ein ursprünglicheres Phänomen darzustellen, was sich
insofern verstehen lässt, als die platonische und aristotelische
Philosophie die Bedeutung des Welt-Begriffs, wie er erst in der
Neuzeit zum Beispiel bei Kant auftaucht, nicht kennt. Trotz-
dem muss uns auf Grund des ontologischen Status’ von Welt,
dass sie nichts »Seiendes« ist, Heideggers Interesse am Weltpro-
blem deutlich werden.
Der Umstand, dass die Welt kein »Seiendes« ist, zugleich
aber auch nicht mit dem »Sein« identifiziert werden darf,
bringt uns in eine missliche Lage. Was können wir dann eigent-
lich über die »Welt« noch sagen, wenn der Begriff weder etwas
Besonderes im Verhältnis zu etwas Allgemeinem, noch etwas
Allgemeines für ein Besonderes darstellt (der Plural »Welten«
löst dieses Problem nicht, sondern wiederholt es auf einer ande-
ren Ebene)? Aus dieser scheinbaren Aporie befreit sich Heideg-
ger mit einer Tautologie: »Welt weltet« (GA 5, 30). Das »Sein«
der Welt ist, dass sie »weltet«.
Mit dieser Tautologie möchte Heidegger die ganz eigene
»Seinsweise« der Welt zur Sprache bringen. Ohne Zweifel ist
sie ungewöhnlich, in der Alltagssprache gibt es kaum Vergleich-
bares, auch wenn es ein gewöhnliches Phänomen ist, dass Sub-
stantiven gleichlautende Verbformen entsprechen: Das »Grün«
»grünt«, der »Tag« »tagt«, der »Schuster« »schustert« etc. Wir
benutzen diese Verben mit dem impersonalen »Es«, um die
unschönen Wiederholungen zu vermeiden. In der Sache spre-
chen wir jeweils eine Tautologie aus. Worauf es Heidegger an-
kommt, ist, die ganz eigentümliche Weise ausdrücken zu kön-
nen, in welcher die Welt »seinsmäßig« geschieht, ohne doch das
Ankunft im »Geviert«? 163

»Sein selbst« zu sein. Dass Welt und »Sein« sich in dieser Nähe
befinden, bezeugt nämlich Heideggers Äußerung aus dem
Kunstwerk-Vortrag: »Welt weltet und ist seiender als das Greif-
bare und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben.« Das
»Welten« ist ein intensiveres »Sein« als das »Sein«, das dem
bloß »Seienden« zukommt, ohne doch wie dieses gegenständ-
lich zu sein. Doch was ist ein intensiveres »Sein«?
Dieser Gedanke erinnert an die platonische Ontologie, nach
der es möglich ist, einen intensiveren Seinszustand des óntos
ón, des seienden Seienden, von einem nicht seienden Seienden,
dem mè ón zu differenzieren. Aber Heidegger denkt in eine
andere Richtung, wenn er erläuternd schreibt: »Wo die wesen-
haften Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von uns
übernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt wer-
den, da weltet die Welt.« (ebd., 31) Das intensivere »Sein« im
»Welten« besteht in einer Verdichtung von Sinn, die sich im-
mer dann zeigt, wenn »wesenhafte Entscheidungen unserer
Geschichte« anstehen. Eine solche Sinndichte konnte man am
11. September 2001 – ein Datum, das inzwischen nicht mehr
kommentiert werden muss – erfahren. Es geschah etwas, das
»Entscheidungen« evozierte. Die Welt als der einheitliche Zu-
sammenhang von Verschiedenem wurde »seiender«.
Eine solche Intensivierung von Sinn spricht auch aus den
folgenden Bestimmungen der »weltenden Welt«: »Im Welten
ist jene Geräumigkeit versammelt, aus der sich die bewahren-
de Huld der Götter verschenkt oder versagt. Auch das Ver-
hängnis des Ausbleibens des Gottes ist eine Weise, wie Welt
weltet.« Im »Welten« sind die »Götter« anwesend, indem sie
den Menschen Wohlwollen entgegenbringen oder sie, wie die
vor Troja von Hektor sich abwendende Athene, ins Unglück
gehen lassen. Davon unterscheidet Heidegger den Fall, dass
»der Gott« »ausbleibt«, indem dieses als ein »Verhängnis«
erscheint. Die Intensität des Sinnes liegt in diesem Fall darin,
dass die Abwesenheit »des Gottes« als ein »Verhängnis« erfah-
164 Welt und Technik

ren wird und nicht in einer alltäglichen Gleichgültigkeit ver-


schwindet.
Eine solche Auffassung von Welt enthält offenbar folgende
Momente. Wenn das »Welten der Welt« von einer spezifischen
Verdichtung von Sinn abhängig ist, dann ist ein bloßer raum-
zeitlicher Zusammenhang von verschiedenen Dingen nicht
schon als Welt zu bezeichnen. Das »Welten der Welt« scheint
von der gewöhnlichen Auffassung der Welt insofern abzuwei-
chen, als Heidegger nicht allem, was zwischen Menschen vor-
kommt, den Status zuspricht, in einer Welt zu erscheinen. Die
»weltende Welt« scheint ein endliches Geschehnis zu markie-
ren, sie ist nicht mit dem ewigen Kosmos der Griechen zu ver-
wechseln. Mit anderen Worten: Heideggers Welt wird nicht
von kosmologischen, sondern von geschichtlichen Bedeutun-
gen bestimmt.
Dieser Gedanke scheint unhaltbar zu werden, wenn wir uns
der letzten wichtigen Auslegung des Weltproblems im Denken
des späten Heidegger zuwenden. Nun tritt im Kontext der »Ge-
Stell«-Analysen ein weiterer Neologismus auf, der Aufsehen
erregte. Heidegger erklärt, die »weltende Welt« sei das »Ge-
viert«. So eigenartig auch dieses Wort zunächst erscheint, so ist
doch aus seiner Erläuterung zu erkennen, wie genau es den
Sachverhalt trifft, den es bedeuten soll.
Das »Geviert« nennt vier Elemente, die in einer einheitlichen
Struktur zusammenfinden: Es handelt sich um die zwei Paare
»Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen« (GA
79, 17). Das Präfix »Ge-« charakterisiert im Deutschen die Ver-
sammlung von Verschiedenem, das zusammengehört. So ist ein
Gebirge die Versammlung von verschiedenen miteinander
zusammenhängenden Bergen in einer Gesamtstruktur. Die vier
Elemente »Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterbli-
chen« bezeichnet Heidegger dementsprechend als die »einigen
Vier«, die »sich in der Einfalt ihres aus sich her einigen Ge-
vierts« versammeln.
Ankunft im »Geviert«? 165

Eine so gedachte Struktur der Welt basiert auf einer Vielfalt


von Verhältnissen. Heidegger nimmt den Gedanken sehr ernst,
dass das »Geviert« »weder durch Anderes erklärbar noch aus
Anderem ergründbar« sei: Die Gesamtheit der Beziehungen
und Verhältnisse kann nur in ihrer Vielfalt gemeinsam gegeben
sein oder eben nicht. Die Welt als »Geviert« hat keinen Grund
in Gott oder im Subjekt, es gibt sie nur aus sich selbst heraus
oder nicht.
Doch die Strukturiertheit des »Gevierts« ist komplexer. Hei-
degger betont wiederholt, dass jedes Element zwar einzeln
betrachtet, nicht aber isoliert »gedacht« werden könne. Bezüg-
lich der Erde lautet dieser Gedanke folgendermaßen: »Sagen
wir Erde, dann denken wir schon, falls wir denken, die anderen
Drei mit aus der Einfalt des Gevierts.« Die Erde ist nur sie
selbst, wenn sie sich mit dem »Himmel, den Göttlichen und den
Sterblichen« in einem Verhältnis befindet. Dies ist ein phäno-
menologischer Hinweis, der an der Erde selbst sichtbar ge-
macht werden kann. Die Erde kann nur, wie der Philosoph sagt,
die »Fruchtende« sein, wenn sie vom Himmel den Regen emp-
fängt. Mit der Fruchtbarkeit der Erde verbinden sich Geschich-
ten von den »Göttlichen«. In der zuweilen auch heute noch
gängigen Redensart von der »Mutter Erde« hat sich ein mythi-
scher Rest von ihnen erhalten. Die »Sterblichen« werden
(jedenfalls im christlichen Kulturkreis) in der Erde bestattet.
Diese Beziehung, dass sich in jeweils einem »der Vier« »die
anderen Drei« zur Erscheinung bringen, gilt für alle Struktur-
elemente. Da sich im »Geviert« auf diese Weise immer vier in
vier zugleich zeigen, sich vielfach gegenseitig spiegeln, nennt
Heidegger die Gesamtheit dieser Beziehungen »Spiegel-Spiel«
(ebd.,18).
Es wurde schon gesagt, dass sich das »Geviert« nicht als ein
kosmologischer Weltbegriff interpretieren lässt. Kosmologisch
ist ein Weltbegriff, der eine invariante und überkulturelle
Struktur der Welt behauptet. So könnte man behaupten, dass
166 Welt und Technik

sich »die Vier« »Erde und Himmel, die Göttlichen und die
Sterblichen« in jeder nur möglichen Welt, unabhängig von aller
kulturellen Eigenart finden lassen. Wenn sich zwar empirisch
eine allgemeine Invarianz dieser Strukturelemente in allen Kul-
turen ausmachen lässt, so trifft eine solche Anwendung des
»Gevierts« doch nicht Heideggers Intention.
Warum das »Geviert« keine invariante, überkulturelle Welt-
struktur ist, lässt sich am besten hinsichtlich des Paares »der
Göttlichen und der Sterblichen« zeigen. Heidegger charakte-
risiert »die Göttlichen« näher als »die winkenden Boten der
Gottheit« (ebd., 17). In dieser Bestimmung orientiert sich der
Philosoph einerseits an der Gestalt des Engels. Die Engel
(angelloı́) sind die »Boten«, die sich nach christlicher Auffas-
sung im Raum zwischen Gott und Mensch befinden und Got-
tes Ratschluss verkünden (z. B. die Empfängnis und Geburt
Christi). Heidegger aber bezeichnet sie als »winkende Boten«.
Ein »Wink« ist ein Hinweis auf etwas, das verborgen ist und
möglicherweise noch kommt. Dies ist nach Heidegger die
»Gottheit«. Sie jedoch ist nicht schon »der Gott« selbst, son-
dern so etwas wie eine Dimension, in welche sich »der Gott«
erst einfinden kann. So schreibt er: »Aus dem verborgenen Wal-
ten dieser [der Gottheit, P. T.] erscheint der Gott in sein Wesen,
das ihn jedem Vergleich mit dem Anwesenden entzieht.« Die
»Göttlichen« sind noch nicht »der Gott«. Sie bereiten erst sein
Kommen vor. Damit bezieht sich Heidegger auf seinen früher
ausgeführten (vgl. Kapitel 4.3), in der zweiten Hälfte der drei-
ßiger Jahre von Hölderlin angeregten Gedanken von einem
»letzten Gott«, vom »Gott der Götter«.
Eine ähnliche philosophische Spezifikation finden wir im
Begriff der »Sterblichen«. Ohne Zweifel bezieht sich Heidegger
auf die bereits in der Ethik des Delphischen Orakels aufgekom-
mene Bestimmung des Menschen als des »Sterblichen« (thne-
tón). Diese ist dann in der griechischen Tragödie wichtig
geworden. Der Mensch ist der »Sterbliche« im Unterschied zu
Ankunft im »Geviert«? 167

den unsterblichen Göttern. Vergisst er in der Hybris dieses Kri-


terium, wird er von den Göttern streng daran erinnert. In der
Philosophie Platons und Aristoteles’, also am Anfang der
abendländischen Metaphysik, wird dieser Gedanke abgewie-
sen. Die Unsterblichkeit der Seele gilt bis in die neuzeitliche Phi-
losophie hinein als ein Hauptproblem. Indem Heidegger sich
auf diese vormetaphysische Auffassung des Menschseins zu-
rückbezieht, versteht er dieses grundsätzlich im Kontext einer
Meditation über die Geschichte.
Dass der Mensch der »Sterbliche« ist, bedeutet für Heideg-
ger nämlich nicht, dass der Mensch so oder so sterben muss.
Vielmehr seien sie die »Sterblichen«, »weil sie den Tod als Tod
vermögen«. Mit diesem Gedanken wird der Tod wie schon
in Sein und Zeit als eine positive existenzielle Möglichkeit
betrachtet. Anders als die Tiere »können« wir sterben, indem
wir den Tod als den Maßstab unseres Daseins übernehmen.
Für Heidegger ist entscheidend, dass der Mensch dieses
»Vermögen« in den geschichtlichen Katastrophen des 20. Jahr-
hunderts immer wieder verraten hat. An diesem Punkt berührt
sich Heideggers Erläuterung des »Gevierts« mit derjenigen des
»Ge-Stells«. Vor dem Hintergrund totalitärer Phänomene der
Gewalt, die zu Millionen Toten führte und führt, lässt sich nicht
sagen, dass der Mensch der »Sterbliche« sei:

»Hunderttausende sterben in Massen. Sterben sie? Sie kommen um.


Sie werden umgelegt. Sterben sie? Sie werden Bestandstücke eines
Bestandes der Fabrikation von Leichen. Sterben sie? Sie werden in Ver-
nichtungslagern unauffällig liquidiert. Und auch ohne Solches – Mil-
lionen verelenden jetzt in China durch den Hunger in ein Verenden.«
(Ebd.,56)

Der (»unauffällige«?) »Verwaltungsmassenmord« ist das Para-


digma einer Auffassung vom Menschen, die Heideggers Be-
stimmung, dass die Menschen die »Sterblichen« sind, wider-
spricht und sie als eine mögliche Selbstauffassung des Men-
168 Welt und Technik

schen verhindert. Für den Philosophen ist dieser Tod »in Mas-
sen« ein »grausig ungestorbener Tod«, ein Verbrechen, das
darin besteht, nicht nur das Leben, sondern darüber hinaus
auch den Tod der Menschen zu vernichten. Wie schon an ande-
ren Stellen von Heideggers Bezugnahmen auf den Tod in den
»Vernichtungslagern«, können wir auch hier eine verblüffende
Ähnlichkeit zu Hannah Arendts Totalitarismus-Analyse be-
merken, schreibt sie doch:
»Indem die Konzentrationslager den Tod selbst anonym machten [. . .],
nahmen sie dem Sterben den Sinn, den es immer hatte haben kön-
nen. Sie schlugen gewissermaßen dem einzelnen seinen Tod aus der
Hand, zum Beweise, daß ihm nichts mehr und er niemandem mehr
gehörte.«11

So gesehen hat Heidegger die »irrsinnige Massenfabrikation


von Leichen«12 in den Konzentrationslagern als denjenigen
Sachverhalt betrachtet, der es unmöglich macht, den Menschen
als den »Sterblichen« zu charakterisieren. Dass er auch Hun-
gerkatastrophen in Dritte-Welt-Ländern dabei berücksichtigte,
ist möglicherweise ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Kritik
an Heideggers ethisch-politischem Denken häufig zu weit geht.
Im Rahmen solcher Phänomene ist für Heidegger der Mensch
»noch nicht der Sterbliche« (ebd., 56). Dies hat gewichtige
Konsequenzen für das »Geviert«. Seine Struktur ist, indem es
den »Sterblichen« »noch nicht« gibt, unvollständig und das
heißt gar nicht gegeben. Eine spezifische Totalisierung des »Ge-
Stells« »verstellt« das »Geviert«, hält es zurück, lässt es nicht
zur Erscheinung kommen. Die »Welt weltet« nicht. Doch das
ist nicht das letzte Wort. Es gehört zu den Grundgedanken von
Heideggers Philosophie, dass Absenz als solche dem gerade
betrachteten Phänomen nicht widersprechen muss. Gemäß der
vollen Struktur der »Wahrheit des Seyns« gehört dasjenige, was

11 Ebd., S. 930.
12 Ebd., S. 921.
Ankunft im »Geviert«? 169

sich verbirgt, dieser Wahrheit selbst an. Wenn das »Geviert«


nicht faktisch gegeben ist, bedeutet das nicht, dass dasjenige,
was als seine Struktur ausgeführt wird, das Zusammengehören
von »Erde und Himmel, den Göttlichen und den Sterblichen«,
Unsinn ist. Was verweigert wird, ist nicht unmöglich. Insofern
kann es nicht verwundern, dass Heidegger darauf hinweist,
»jäh vermutlich« könne doch einmal die »Welt welten«
(ebd.,21).
Diese Aussage am Schluss des Vortrags Das Ding lässt frei-
lich wieder das Problem aufkommen, inwiefern ein solches
Erscheinen des »Gevierts« bloß prophetisch in Aussicht gestellt
oder ob dem Menschen eine Möglichkeit gezeigt wird, wie er
sich in seiner Praxis zu diesem möglichen Erscheinen des
»Gevierts« oder seiner Verhinderung verhalten kann. Bleibt
uns nur ein »Warten auf Godot«? Mir scheint Heideggers Hin-
weis auf die entsetzlichen Geschehnisse in den »Vernichtungs-
lagern« eine mögliche Antwort zu enthalten. Nach dieser muss
jeder normativ-moralischen Kriteriologie eine aufmerksame
Analyse der Totalisierungen, die sich in den totalitären Herr-
schaftsgebilden des 20. Jahrhunderts offen gezeigt haben, die
aber keineswegs auf diese zu beschränken sind, vorangehen.
Eine zeitgemäße Ethik müsste aus dieser Analyse unkorrum-
pierbare Schlüsse ziehen. In dieser Hinsicht scheint mir weniger
die formalistisch bleibende »Diskursethik« von Jürgen Haber-
mas aus dieser Analyse gelernt zu haben als die nicht-normative
Ethik des Emmanuel Lévinas, die auch dann einer inneren
Motivation von Heideggers Denken treu bleibt, wenn sie dieses
zuweilen erbittert bekämpft.
6 Rezeption und Wirkung

Die Auswirkungen von Heideggers Philosophie auf das


geistige Klima Europas und darüber hinaus der ganzen
Welt sind unübersehbar. Die aktuelle französische Philo-
sophie ist ohne sie nicht zu verstehen. Keine Geisteswis-
senschaft konnte sich ihrem Einfluss entziehen, wenn sich
auch die eine, wie die Literaturwissenschaft, mehr, die
andere, wie die Soziologie, weniger beeindruckt zeigte.
Allerdings liegt der Höhepunkt dieser Wirkung ungefähr
ein halbes Jahrhundert zurück. Es kann festgestellt wer-
den, dass Heidegger einer der am meisten übersetzten
deutschen Philosophen ist. Sowohl in Asien als auch
Amerika hat sein Denken unübersehbare Spuren hinter-
lassen. Dagegen lässt sich in der gegenwärtigen akademi-
schen Philosophie Deutschlands seine Verdrängung kon-
statieren.

Für die europäische Philosophie ist Heideggers Denken in viel-


fältiger Weise wichtig geworden. Ihr größter Einfluss ist herme-
neutischer Natur. Sie hat das Lesen revolutioniert. Hans-Georg
Gadamers »Hermeneutik« und Jacques Derridas »Dekonstruk-
tivismus« haben von Heideggers »destruktiver« Interpretation
Rezeption und Wirkung 171

der metaphysischen Philosophietradition sichtlich gelernt. Da-


neben hat Heideggers Denken mit seiner Betonung eines dialo-
gischen Verhältnisses von »Sein« und »Seiendem« Philosophen
inspiriert, welche die »Ethik« in die Mitte ihrer Überlegungen
setzen, wobei Peter Sloterdijk und vor allem Emmanuel Lévi-
nas zu nennen wären. Eine weitere wichtige transformierende
Fortsetzung von Heideggers Philosophie stellt die »politische
Ethik« Hannah Arendts dar.
Heideggers Philosophieren hat immer wieder auch kritische
oder polemische Auseinandersetzungen hervorgerufen. Ich wer-
de hier paradigmatisch lediglich auf die Kritiken von Rudolf
Carnap, Theodor W. Adorno und Günther Anders verweisen.
Zum Abschluss soll ein anderer Rezeptionstyp des Heideg-
gerschen Denkens berücksichtigt werden. Heideggers Philoso-
phie ist nicht nur von Geisteswissenschaftlern und Philoso-
phen, sondern auch von Schriftstellern und Dichtern entdeckt
worden. So ist bekannt, dass Ingeborg Bachmann über ein
Thema aus Heideggers Sein und Zeit promovierte und Paul
Celan schon in den fünfziger Jahren aufmerksam die ihm von
Heidegger nach Paris zugesandten Texte las. Ich will mit knap-
pen Hinweisen auf die Anwesenheit Heideggerscher Denkat-
mosphäre in den Werken von Botho Strauß und Peter Handke
meine Einführung in das Denken Martin Heideggers beschlie-
ßen.
Hans-Georg Gadamer ist ein Schüler Heideggers aus der
Marburger Zeit. Sein Hauptwerk Wahrheit und Methode.
Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik von 1960 ist
eine Fortsetzung der »phänomenologischen Hermeneutik«, die
Heidegger noch in Sein und Zeit als den Kern seiner Methode
darstellt. Dieses Werk beeinflusste in den sechziger Jahren die
Geisteswissenschaften insgesamt. In Gadamers »Hermeneu-
tik« wird das Auslegen von Texten jedoch nicht mehr bloß
als Methode verstanden. Für Gadamer ist das Philosophieren
selbst ein Sprechen-lassen der »Überlieferung«. »Überliefe-
172 Rezeption und Wirkung

rung« bringt sich nicht als ein reiner Textcorpus zur Erschei-
nung, sie muss vielmehr – und auch hier folgt er einem Heideg-
gerschen Gedanken – »hermeneutisch erfahren«1 werden. In
dem Gedanken einer »eigentlichen Erfahrung« als »Erfahrung
der eigenen Geschichtlichkeit« kehrt Heideggers Auslegung
einer in der »Eigentlichkeit« durchsichtig gewordenen »Fakti-
zität des Lebens« wieder.
Derridas Rezeption der Heideggerschen Philosophie ist in
seinen Texten allgegenwärtig, ohne als solche immer eindeutig
erkennbar zu sein. Im Spannungsfeld von »Schrift«, »Text«
und »Sprache« erhellt Derrida einen von der Vorherrschaft des
metaphysischen Denkens hervorgetriebenen »Logozentrismus«
und »Phonozentrismus«, der die ursprünglichere Bedeutung
der »Schrift« und des »Textes« verstellt.2 Diese ursprünglichere
Bedeutung der »Schrift« kann nicht als Grund oder Prinzip
verstanden werden. Sie bleibt vielmehr von der »différance«,
einem Differieren im doppelten Sinne als »aufschieben« und
»verschieden sein«, das heißt von einem Grund verweigernden
Grund bestimmt. Obwohl Heideggers Denken einerseits in der
Geschichte des »Logozentrismus« verbleibt, beschreibt seine
Philosophie den »Abschluss (clôture)« einer Epoche, aus der
das Denken nicht herauszutreten vermag, indem es sie gleich-
zeitig verlassen hat. Die Auseinandersetzung mit dieser Epoche
ist für Derrida ein Projekt der »Dekonstruktion«, eines Abbaus
von Bedeutungen, die die »différance« verstellen, der zugleich
einen anderen Sinn oder, was im Werke Derridas immer deut-
licher wird, eine andere Ethik entfaltet.
Heideggers Philosophie bildet einen nicht zu unterschätzen-
den Einfluss auf die Texte Peter Sloterdijks. Dies zeigt sich
natürlich vor allem in seiner letzten veröffentlichten Aufsatz-

1 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer


philosophischen Hermeneutik, Tübingen 6/1990, S. 363.
2 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1974, S. 16 f.
Rezeption und Wirkung 173

sammlung Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger. In einer


Vorbemerkung schreibt er:
»Die Leistung Heideggers – und ihretwegen die Unentbehrlichkeit sei-
ner Stimme im Gespräch der gegenwärtigen mit den künftigen Zeiten
– besteht nach meinem Dafürhalten darin, daß er unter dem Titel der
Frage nach dem Sein zeitlebens an einer Logik der Verbindlichkeit
gearbeitet hat, die, noch vor der Trennung zwischen Ontologie und
Ethik, dem Widerspiel von losreißenden und verpflichtenden Tenden-
zen im Dasein der Sterblichen und Geburtlichen auf der Spur blieb.«3

Möglich, dass der Titel »Logik der Verbindlichkeit« Heideg-


gers Intentionen nicht klar erfasst. Trotzdem verweist er auf ein
Element von Heideggers Denken, das in der Tat von epochaler
Bedeutung zu sein scheint. Heidegger ist von Anfang an daran
interessiert, die Möglichkeit eines Verhältnisses zwischen zwei-
en als die eigentliche Sache des Denkens zu erörtern. Diese
Möglichkeit lässt sich wohl als potentielle »Verbindlichkeit«
charakterisieren, nicht aber in einer »Logik« lokalisieren. Viel-
mehr ist ihr Heidegger auf verschiedenen Wegen und Abwegen
zur »Sprache« auf der Spur.
Emmanuel Lévinas hat einmal in einem Interview seine
»Bewunderung und Enttäuschung«4 gegenüber Heideggers
Denken ausgedrückt. So betont er, dass mit Heidegger »die
›Verbalität‹ des Wortes Sein wiedererweckt worden« sei. Diese
Geschehnishaftigkeit des »Seins« habe Heidegger als »Ereig-
nis« gedacht. Die spezifische Verbindung zwischen der »Bedeu-
tung von Sein als Verb« und dem Denken von Lévinas liegt
darin, dass mit Heideggers Denken die Phänomenologie aus
dem »transzendentalen Programm« Husserls ausschwenkte,
um mit der Zeitlichkeit des »Seins« den Boden zu entdecken,
3 Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frank-
furt/M. 2001, S. 8 f.
4 Emmanuel Lévinas, »Bewunderung und Enttäuschung«, in: Gün-
ther Neske u. Emil Kettering (Hg.), Antwort. Martin Heidegger im
Gespräch, a.a.O., S. 163 ff.
174 Rezeption und Wirkung

auf dem praktische Fragen und Erfahrungen bedeutsam wer-


den konnten. Der hervorragende Gedanke von Lévinas, dass
sich das »Selbst« des Subjekts durch den Anspruch des »Ande-
ren« erst konstituiert, scheint mit Heideggers ständigen Denk-
versuchen, das »Ereignis« aus dem Entgegenkommen zweier
Relata zu erklären, zusammenzuhängen. Darüber hinaus teilt
Lévinas mit Heidegger die Ansicht, dass nach der Shoah das
Denken sich grundlegend ändern müsse, auch dann, wenn bei-
de diese Ansicht auf verschiedenen Wegen verwirklicht haben.
Dieser Anstoß treibt auch das Denken Hannah Arendts. Die
Marburger Schülerin und Geliebte Heideggers denkt in all
ihren Arbeiten in dessen Nähe, auch wenn sie die »Seinsfrage«
nicht thematisiert. So wird in ihrem überaus wichtigen Werk
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft5 von 1951 bzw.
1955 bereits der Einfluss eines gründlichen Studiums von Sein
und Zeit deutlich. Auch Arendts bedeutsame Studie Vita activa
oder Vom tätigen Leben aus dem Jahre 1960 ist vor allem in den
letzten Paragraphen unübersehbar von Heideggers Technik-
Analyse inspiriert.6 Wenn Hannah Arendts »politische Ethik«
von Heideggers Denken mitbestimmt wird, ließe sich auch von
Arendt aus eine »politischere« Heidegger-Interpretation ins
Leben rufen.
Ein besonderes Kapitel der aktuellen Diskussion um Heideg-
gers Denken stellt das Verhältnis der sprachanalytischen Phi-
losophie zu diesem Denktypus und seinen Nachfolgern dar.
Ein Beispiel für die auf beiden Seiten bestehenden immensen
Schwierigkeiten einer Annäherung ist Rudolf Carnaps 1932 er-
schienener Aufsatz The Overcoming of Metaphysics through
Logical Analysis of Language (Überwindung der Metaphysik
5 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
Imperialismus, Antisemitismus, totale Herrschaft, München 1998,
S.913.
6 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart
1960, S. 244 ff.
Rezeption und Wirkung 175

durch Logische Analyse der Sprache). In diesem Text zeigt


Carnap anhand einiger Sätze von Heidegger und Hegel, in-
wiefern diese Art und Weise des Denkens »meaningless«7 (»be-
deutungslos«) ist. Die Sätze dieser Denker verfangen sich im-
mer wieder in eigentümlichen Fallen der Sprache, denen keine
von den »empirical sciences« (»Erfahrungswissenschaften«)
erforschbaren »empirical facts« (»Erfahrungstatsachen«) ent-
sprechen. Darum bezeichnet Carnap einen solchen Denktypus
noch nicht einmal als »mere speculation« (»pure Spekulation«)
oder »fairy tales« (»Märchen«), sondern als »phraseology«
und »pseudostatement«. Sie dürfen lediglich als »expression of
the general attitude of a person toward life«, also als der Aus-
druck eines »Lebensgefühls« gelten. In diesem Sinne charakte-
risiert er Denker wie Heidegger, Hegel oder auch Nietzsche als
»musicians without musical ability« (»Musiker ohne musikali-
sches Talent«). Der philosophische Graben, der zwischen einer
solchen Kritik und dem Heideggerschen Denken besteht, ist
deutlich.
Im Jahre 1964 erscheint Theodor W. Adornos kritischer Text
Jargon der Eigentlichkeit. Der Titel erinnert an Heideggers
Erörterung der »Eigentlichkeit« in Sein und Zeit. Mahnend
schreibt Adorno: »In Deutschland wird ein Jargon der Eigent-
lichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, Kennmarke ver-
gesellschafteten Erwähltseins, edel und anheimelnd in eins;
Untersprache als Obersprache.« Was Adorno Heidegger vor-
wirft, ist der »Provinzialismus« seines Denkens und ein ihm
unterstellter Glaube an das »Unmittelbare«, eine »Ideologie als
Sprache, unter Absehung von allem besonderen Inhalt«.8 Der

7 Rudolf Carnap, »The Overcoming of Metaphysics through Logical


Analysis of Language«, in: Michael Murray (Hg.), Heidegger and
Modern Philosophy, Yale University Press: New Haven and Lon-
don 1978, S. 26 f., 27 f., 32, 33.
8 Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/M.
1964, S. 9, 44 ff., 65, 132.
176 Rezeption und Wirkung

in typisch Adornoscher Manier stilisierte Text stellte zweifels-


ohne eine Kampfansage dar. Heidegger selbst reagiert nicht,
schreibt kein Wort über Adorno. Das Urteil, ob Adorno mit sei-
nen kritischen Invektiven das Zentrum der Heideggerschen
Philosophie trifft, die Frage, ob sich von diesen Angriffen etwas
über Heideggers oder Adornos Theorien lernen lässt, möchte
ich der individuellen Lektüre zur Klärung überlassen.
Günther Anders war zwischen 1921 und 1924 ein Schüler
Heideggers. Erst im Jahre 2001 erschienen kritische scharfsin-
nige Aufzeichnungen, die belegen, dass Anders sich über Jahr-
zehnte intensiv mit dem Denken seines Lehrers auseinander-
setzte. Ähnlich wie Lévinas moniert er, dass Heidegger zwar
einerseits die Philosophie des 20. Jahrhunderts entscheidend
vitalisiert, andererseits aber ethisch-politische Merkmale der
menschlichen Existenz stark vernachlässigt habe. So habe Hei-
degger durch ein starres Festhalten an »dem Dasein« die Plura-
lität des freien Menschseins nicht berücksichtigt.9 Zudem mar-
kiert der Kritiker an Heideggers Philosophie eine Blindheit für
die basal-menschliche Bedürftigkeit des Leibes. Warum spreche
Heidegger in Sein und Zeit abstrakt von der »Geworfenheit«,
wenn alles »Dasein« zum Beispiel von »Hunger« geleitet wer-
de? Heideggers Spätwerk wird als »Sprach-Esoterik« und
»Frömmigkeitsphilosophie« dekuvriert.
Als im Jahre 1993 Botho Strauß’ Essay Anschwellender
Bocksgesang erschien, schlug in den Feuilletons genauso schnell
Empörung hoch, wie sie wieder abflaute. Mit diesem Text stellt
Strauß eine Verbindung zu Heideggers und Ernst Jüngers Den-
ken her, indem er schreibt: »Sie haben Heidegger verpönt und
Jünger verketzert – sie müssen jetzt dulden, daß neben dem gro-
ßen Schritt dieser Autoren, Dichter-Philosophen, ihr braver
Insurgenteneifer wie eine trockene Distel übrigbleibt am

9 Günther Anders, Über Heidegger, hg. v. G. Oberschlick, München


2001, S. 61 ff., 278 ff.
Rezeption und Wirkung 177

Wegesrand.«10 Strauß’ Annäherung an Heidegger in seinen


Theaterstücken und Romanen bezieht sich vor allem auf die
vom Denker wach gehaltene Frage, wie der Mensch in einer
sich technisch vergegenständlichenden Welt mit den Anderen
und sich selbst jenseits dieser Verhärtungen existieren kann.
In einem Interview von 1986 bekennt Peter Handke, dass es
ihm darum gehe, »das Wort ›Welt‹ wieder an einer Stelle einfü-
gen oder anfügen. . . eine Stelle für es finden« zu können, »wo es
aus dem Schatten wieder heraustritt ans Licht«. Diese Intention
fühle er auch bei Heidegger, der es »ja [. . .] ungeheuer versucht«
habe.11 Zugleich jedoch distanziert er sich von der zu »dichten
Fügung« der Worte in Heideggers Sätzen. Doch ist nicht nur ein
inhaltlicher Anklang an Heideggers Denken zu hören, wenn
Handke bis hin zu identischem Wortlaut an den Philosophen
erinnernd schreibt:
»Ein Flußübergang ließ sich spüren als Brücke; eine Wasserfläche
wurde zum See; der Gehende fühlte sich immer wieder von einem
Hügelzug, einer Häuserreihe, einem Obstgarten begleitet, der Innehal-
tende dann von etwas Leibhaftigem umgeben, wobei das Gemeinsame
all dieser Dinge die gewisse herzhafte Unscheinbarkeit gewesen ist,
eine Allerwelthaftigkeit: eben das Wirkliche, welches wie wohl nichts
sonst jenes Zuhause-Gefühl des ›Das ist es, jetzt bin ich endlich hier!‹
ermöglicht.«12

10 Botho Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemer-


kungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München u. Wien
1999, S. 66.
11 Peter Handke, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein
Gespräch geführt von Herbert Gamper, Zürich 1987, S. 206.
12 Peter Handke, Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine
Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerungen an Slowenien,
Frankfurt/M. 1991, S. 13 f.
Literatur

Ausgewählte Schriften von Martin Heidegger

Sein und Zeit. Erste Hälfte, Halle an der Saale 1927


Unbestritten Heideggers bisher einflussreichster Text. Das Studium
der Ausführungen über die Frage nach dem »Sinn von Sein«, der
»Daseinsanalytik« und des Verhältnisses von »Zeitlichkeit« und
»Geschichtlichkeit« ist die Voraussetzung für jedes Verständnis der
Heideggerschen Philosophie.
Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M. 1929
Heideggers Kant-Interpretation rühmt sich einer gewissen »Ge-
waltsamkeit« (Heidegger), führt damit jedoch in die Problematik
der »Interpretation« erst ein.
Holzwege, Frankfurt/M. 1950
Heidegger stellt zum ersten Mal eine Anzahl von Aufsätzen und
Vorträgen zusammen, die zwischen 1935 und 1946 entstanden
sind. Zu ihnen gehört der Text über den »Ursprung des Kunstwer-
kes« (1935/36) oder »Hegels Begriff der Erfahrung«. Sie geben
einen Einblick in das spätere Denken des Philosophen.
Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953
Formal leicht veränderte Freiburger Vorlesung aus dem Sommer
1935. Enthält eine wichtige Betrachtung über die »Beschränkung
des Seins« in den alltäglichen Wendungen »Sein und Werden; Sein
und Schein; Sein und Denken; Sein und Sollen«.
Aus der Erfahrung des Denkens, Pfullingen 1954
Komponierte Sammlung einiger sehr verdichteter Sprüche. Anders
als in Heideggers Gedichten gelingt die vieldeutige Besinnung.
Literatur 179

Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954


Enthält Texte aus den vierziger und fünfziger Jahren. Lediglich die
»Überwindung der Metaphysik« geht auf Aufzeichnungen aus den
dreißiger Jahren zurück. Eine der wichtigsten Intentionen des Den-
kers findet in diesen Aufzeichnungen eine für den gesamten Heideg-
gerschen Textcorpus gültige Gestalt.
Was heißt Denken?, Tübingen 1954
In den Jahren 1951 und 1952 gehaltene Vorlesung des Philosophen.
Sie dokumentiert Heideggers einzigartige, nachgerade dramaturgi-
sche Begabung, eine Vorlesung zu entwickeln.
Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957
Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1956/57. Heidegger
hat seinen Alterston gefunden. Im Vergleich zu früheren Texten
macht sich eine gelassene Könnerschaft vor polarisierender Kraft
geltend.
Identität und Differenz, Pfullingen 1957
Besteht aus den Vorträgen »Der Satz der Identität« und »Die onto-
theo-logische Verfassung der Metaphysik«. Diese sind wesentlich,
um Heideggers gegenüber der großen Philosophietradition (hier
besonders Hegel) modifiziertes Verhältnis von »Differenz« und
»Identität« zu verstehen.
Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959
Enthält unter anderem die Interpretationen von Gedichten Georg
Trakls und Stefan Georges aus den fünfziger Jahren. Für mich das
schönste Buch des Philosophen.
Nietzsche I/II, Pfullingen 1961
Bringt die Texte von zwischen 1936 und 1940 gehaltenen Nietzsche-
Vorlesungen mit anderen kleineren Zusätzen. Sie bilden den Kern der
»Nihilismus«-Analysen, die den Rahmen für Heideggers Technik-
Deutung abgeben. Heideggers Nietzsche-Interpretation wird unter
anderem von Derrida als einseitig gekennzeichnet, doch klüger als
andere Kritiker dieser Interpretation ist er sich der Notwendigkeit
der Einseitigkeit einer philosophischen Auslegung von Texten be-
wusst. So bin ich der Ansicht, dass jede Beschäftigung mit Nietzsche
nach wie vor an Heideggers Interpretationen nicht vorbeikommt.
Wegmarken, Frankfurt/M. 1967
Heideggers vierte und letzte größere Sammlung von Vorträgen und
Aufsätzen, die Texte aus dem Zeitraum 1919 bis 1961 enthält.
180 Literatur

Unter ihnen befindet sich zum Beispiel »Vom Wesen des Grundes«
(1929), »Vom Wesen der Wahrheit« (1930) und ein offener Brief an
Ernst Jünger mit dem Titel »Zur Seinsfrage« (1955).
Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969
Enthält die überaus wichtigen späten Vorträge »Zeit und Sein«
sowie »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«.
In ihnen befinden sich die spätesten Modifikationen der Heidegger-
schen Philosophie von Belang.
Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit
»1809«, hg. v. Hildegard Feick, Tübingen 1971
Bringt die Freiburger Vorlesung über Schelling aus dem Sommerse-
mester 1936. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass Heidegger in
Schellings Text einführt, ohne den eigenen philosophischen Stand-
punkt gegen ihn auszuspielen.
Frühe Schriften, Frankfurt/M. 1972
Enthält unter anderem die Dissertation und die Habilitationsschrift
Heideggers sowie den Aufsatz »Der Zeitbegriff in der Geschichts-
wissenschaft«.
Vier Seminare, Frankfurt/M. 1977
Versammelt die Protokolle aus den Seminaren, die Heidegger zwi-
schen 1966 und 1973 in Le Thor und Zähringen abgehalten hat. Sie
sind für die französische Rezeption von Heideggers Denken von
größter Bedeutung.
Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt/M. 5/1981
Enthält Aufsätze und Vorträge über Hölderlins Dichtung aus den
Jahren zwischen 1936 und 1968. Heideggers Philosophie ist ohne
ein Studium dieser Texte nicht zu verstehen.
Heraklit, GA 55, hg. v. Manfred S. Frings, Frankfurt/M. 2/1987
Der Band der Gesamtausgabe bringt zwei Vorlesungen aus den
Sommern 1943 und 1944. Sie belegen Heideggers inspirierten Um-
gang mit den Sprüchen des vorsokratischen Philosophen. Heraklit
wird zu einem Zeitgenossen.
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, hg. v. Friedrich-Wil-
helm von Herrmann, Frankfurt/M. 1989
Wohl zwischen 1936 und 1938 entstandene kurze und längere sehr
dichte Aufzeichnungen, die in einen systemähnlichen Zusammen-
hang gebracht werden. Sie sind in ihrer Bedeutung mit Sein und
Zeit zu vergleichen.
Literatur 181

Bremer und Freiburger Vorträge, GA79, hg.v. Petra Jaeger, Frankfurt/


M. 1994
Vorträge, die Heidegger 1949 und 1957 gehalten hat. Vor allem die
»Bremer Vorträge« sind für die Beschäftigung mit Heideggers
Technik-Analyse einschlägig.
Feldweg-Gespräche, GA77, hg.v. Ingrid Schüßler, Frankfurt/M. 1995
Enthält drei Texte – unter anderem das Gespräch über die »Gelas-
senheit« – in Dialogform aus der Nachkriegszeit. Vielleicht findet
Heideggers Denken hier seine ihm angemessenste Form. Die Texte
gehören zum Schönsten, was Heidegger geschrieben hat.
Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, hg. v. Matthias Jung,
Thomas Regehly und Claudius Strube, Frankfurt/M. 1995
Die Vorlesungs-Texte stammen aus der frühen Zeit von 1918 bis
1921. Sie sind wichtig, weil sie die Bedeutung des Christentums für
das Heideggersche Denken belegen.
Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, GA 16, hg. v. Her-
mann Heidegger, Frankfurt/M. 2000
Der voluminöse Band (842 S.) versammelt Texte aus dem Zeitraum
zwischen 1910 und 1976. Er enthält unter anderem alle Texte, die
im Zusammenhang von Heideggers politischem Engagement für
die Nationalsozialisten von Bedeutung sind. Wer sich mit diesem
Problem auseinandersetzt, muss auf diesen Band zurückgreifen.

Ausgewählte Schriften zu Martin Heidegger

Beaufret, Jean, Wege zu Heidegger, Frankfurt/M. 1976 (frz. Dialogue


avec Heidegger. I. Philosophie Grecque, Paris 1973)
Bernasconi, Robert, The question of language in Heidegger’s history
of being, Humanities Press Inc.: New Jersey 1985
Bourdieu, Pierre, Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frank-
furt/M. 1976 (frz. L’ontologie politique de Martin Heidegger,
1975)
Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972
(frz. L’écriture et la différance, Paris 1967)
Figal, Günter, Martin Heidegger zur Einführung, Hamburg 4/2003
182 Literatur

Gadamer, Hans-Georg, Heideggers Wege. Studien zum Spätwerk,


Tübingen 1983
Löwith, Karl, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, Frankfurt/M.
1953
Ott, Hugo, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frank-
furt/New York 1988
Pöggeler, Otto, Heidegger in seiner Zeit, München 1999
Habermas, Jürgen, »Martin Heidegger – Werk und Weltanschauung«,
in: ders.: Texte und Kontexte, Frankfurt/M. 1991, S. 49 – 83
Heidegger und die praktische Philosophie, hg. v. Annemarie Geth-
mann-Siefert und Otto Pöggeler, Frankfurt/M. 1988
von Herrmann, Friedrich-Wilhelm, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers
Beiträgen zur Philosophie, Frankfurt/M. 1994
Janicaud, Dominique, Heidegger en France, 2 Bände, Paris 2001
Mörchen, Hermann, Adorno und Heidegger. Untersuchungen einer
philosophischen Kommunikationsverweigerung, Stuttgart 1981
Safranski, Rüdiger, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine
Zeit, München und Wien 1994
Schriftenreihe der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Frankfurt/M.
1991 ff.
Schürmann, Rainer, Le Principe d’Anarchie. Heidegger et la Question
de l’Agir, Paris 1982
Sloterdijk, Peter, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frank-
furt/M. 2001
Thomä, Dieter, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der
Textgedichte Martin Heideggers 1910 – 1976, Frankfurt/M. 1990
Trawny, Peter, Heidegger und Hölderlin oder Der Europäische Mor-
gen, Würzburg 2003
Glossar

Dasein Der Mensch ist ein »Seiendes«, das »terminologisch als


Dasein« (GA 2, 16) gefasst wird. Dabei ist es insofern ein besonderes
»Seiendes«, als »es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein
selbst geht«. Das »Dasein« vermag die Frage nach dem »Sinn von
Sein« zu stellen, wozu Pflanzen und Tiere nicht in der Lage sind. In der
Aussage, der Mensch ist »Dasein«, wird nicht einfach das zweite als
eine Eigenschaft des ersten betrachtet. Das »Dasein« ist die »Erschlos-
senheit« des »Seins«, eine »Offenheit«, von der aus das »Dasein« das
andere »Seiende« und das »Sein selbst« erfahren und bedenken kann.
Deshalb kann Heidegger einfach sagen, das »Dasein« sei das »Sein des
Da«.

Differenz Zwischen dem »Sein« und dem »Seienden« gibt es eine


»Differenz«. Diese besteht darin, dass das »Seiende« im weitesteten
Sinne gegenständlich gegeben ist, das »Sein« jedoch nicht. Diese
»ontologische Differenz« (GA 24, 322 ff.) ist ein vielfach bedachtes
und modifiziertes Grundphänomen im Denken Heideggers. Es steht
mit der Frage nach der »Welt« und der »Transzendenz« in einer engen
Beziehung. Diese »Differenz« ist für die Geschichte der gegenwärtigen
Philosophie besonders wichtig geworden, weil es eine »Differenz« ist,
die nicht in einer übergeordneten »Identität« aufgehoben und darum
auch nicht angeeignet werden kann.

Ereignis Das »Ereignis« ist ungefähr seit dem Jahre 1936 (GA65) das
»Grundwort« im Denken Heideggers. Das »Ereignis« ist eine einheit-
liche, in sich differenzierte zeitlich-geschichtliche Struktur, in der ver-
184 Glossar

schiedene Elemente (»Da-sein«, »Götter«, »Welt«, »Erde«) in eine


jeweils bestimmte Konstellation gelangen (ebd., 470 ff.). Dabei ist ent-
scheidend, dass es nicht ein gegenständlich zu fassendes historisches
Geschehnis ist. Es kennzeichnet vielmehr die Weise, wie Geschichte im
Zusammenspiel ihrer wichtigsten Strukturelemente (z. B. handelnde
Menschen und Götter) geschieht.

Faktizität des Lebens Die »Faktizität des Lebens« (GA 58, 102 ff.) ist
das Hauptphänomen für Heideggers Denken am Beginn der zwanzi-
ger Jahre. »Leben« wird hier als eine Selbstbezüglichkeit der Existenz
verstanden. Im »Leben« geht es bei allem, was wir tun und denken, um
uns. Seine »Faktizität« besteht in dieser unmittelbaren Bedeutung und
Beziehung der Erscheinungen auf unsere jeweilige Existenz. Insofern
ist die Wendung »Faktizität des Lebens« eigentlich ein Pleonasmus.

Fundamentalontologie Als »Ontologie« wird seit dem frühen


17. Jahrhundert eine auf Platon und Aristoteles zurückgehende Theo-
rie des »Seins« bezeichnet. In ihr werden verschiedene »Regionalonto-
logien«, das sind verschiedene Bereiche des »Seins« (z. B. Natur,
Kunst) unterschieden. Heidegger verweist in Sein und Zeit darauf,
dass die »Ontologie« auf der »fundamentaleren« Frage nach dem
»Sinn von Sein« begründet werden muss. So kann sich eine »Funda-
mentalontologie« bilden, die als »Fundament« für alle mit den Gegen-
ständen der »Regionalontologien« beschäftigten Wissenschaften die-
nen kann (GA 2, 12 ff.).

Geschichte Die Gesamtheit der Existenzmöglichkeiten des Men-


schen befinden sich in einem spezifischen Milieu der »Geschichte«.
Die alltägliche Praxis und auch die wissenschaftliche Theorie hat
gewisse Bedingungen, über die sie nicht verfügen kann. Darum kann
Heidegger sagen, dass der Mensch »geschichtlich« existiert (GA 2,
492 ff.). Die »Geschichte« ist nicht zu verwechseln mit der »Ge-
schichtswissenschaft«. Immer wieder macht Heidegger darauf auf-
merksam, dass selbst noch die theoretisch-methodischen Überein-
künfte dieser Wissenschaft »geschichtlich« sind, sich aus der »Ge-
schichte« ergeben. Heideggers späteres Denken versucht zu zeigen,
inwiefern die Bedingungen von Theorie und Praxis aus dem »Sein
selbst« »geschichtlich« entspringen. Hier wird die »Geschichte« als
»Seinsgeschichte« gedacht (GA 65, 494).
Glossar 185

Gestell Der Begriff des »Gestells« oder »Ge-Stells« dient ungefähr


seit dem Ende der vierziger Jahre dazu, das »Wesen der Technik« zu
charakterisieren (vgl. GA 79). Die Technik wird als ein in vielen Hin-
sichten differenziertes »Stellen« (herstellen, bestellen, hinstellen, ein-
stellen, darstellen, vorstellen, aufstellen, ausstellen etc.) betrachtet.

Geviert »Geviert« ist die Bezeichnung für eine in spezifischer Weise


interpretierte Struktur der »Welt« (vgl. GA 79). Es besteht aus der
»Konstellation« der vier Elemente »Erde und Himmel, die Göttlichen
und die Sterblichen«. Es ist wichtig, zu berücksichtigen, dass das
»Geviert« keine interkulturell invariante Weltstruktur ist, sondern
selbst vom »Ereignis« aus gesehen »geschichtlich« geschieht oder
nicht geschieht.

Grundstimmung Im Rahmen seiner »Daseinsanalytik« von Sein und


Zeit machte Heidegger darauf aufmerksam, dass jedes Handeln und
»Verstehen« von bestimmten »Stimmungen« begleitet wird (GA 2,
178 ff.). Diese »Stimmungen« sind keine nebensächlichen Merkmale
des »Daseins«, sondern sie eröffnen oder verstellen bestimmte Ver-
stehensvollzüge, die wiederum das Handeln leiten. Dieses Eröffnen
und Verstellen betrifft auch theoretische Erkenntnisakte. Indem die
»Stimmungen« eine tiefere »geschichtliche« Bedeutung bekommen,
bezeichnet Heidegger sie als »Grundstimmungen«. Die »Grundstim-
mungen« stammen auf nicht kausale Weise aus der »Geschichte« und
der sie strukturierenden Instanz, dem »Ereignis« (GA 65, 256). Mit
dieser Phänomenologie der »Grundstimmungen« ist Heidegger (wo-
möglich neben Max Scheler) der einzige Philosoph des 20. Jahrhun-
derts, der das in der griechischen Philosophie sehr wichtige Phänomen
des Pathos wirklich ernstgenommen hat.

Metaphysik »Metaphysik« ist die Bezeichnung für die Geschichte der


Philosophie seit Platon und Aristoteles. Sie wird nach Heidegger durch
wenige verschiedene fundamentale Merkmale wie dem Unterschied
zwischen dem Sinnlichen und Übersinnlichen oder der durchgängigen
Vergegenständlichung aller Phänomene (z. B. selbst des Göttlichen)
bestimmt. Die Unmöglichkeit der »Metaphysik«, ihre eigenen durch
diese Merkmale abgesteckten Grenzen zu reflektieren und zu über-
schreiten, sowie eine ihr entspringende Prägung der »Geschichte« in
Krieg und technischer Ausbeutung hat Heidegger Mitte der dreißiger
186 Glossar

Jahre dazu gebracht, an eine »Überwindung der Metaphysik« (GA 7,


67 ff.) zu denken.
Nihilismus Der »Nihilismus« ist eine Geschichtsepoche, die in dem
von Nietzsche zur Sprache gebrachten »Tod Gottes« kulminiert, ihn
aber in den Augen Heideggers nicht voraussetzt. Vielmehr »bedeutet
das nihil des Nihilismus, daß es mit dem Sein nichts ist« (GA 5, 264).
Dieser Entzug des »Sinns von Sein« geschieht dort, wo bei Platon und
Aristoteles die »Metaphysik« ihren Anfang nimmt. In diesem Sinne
kann die Geschichte der »Metaphysik« überhaupt als »Nihilismus«
bezeichnet werden.
Seiendes Das im Deutschen ungewöhnliche Wort »Seiendes« ist die
Übersetzung des griechischen, in der Philosophie Platons und Aristo-
teles’ gängigen Begriffs tò ón. Es kennzeichnet alle Dinge, die sind.
Heidegger unterscheidet es vom »Sein selbst« und zeigt, dass Platon
und Aristoteles diesen Unterschied nicht kennen.
Sein/Seyn Grammatisch betrachtet handelt es sich bei dem Wort
»Sein« um eine in den indo-europäischen Sprachen mögliche Substan-
tivierung des Verbums »sein« (französisch être, englisch be bzw.
being). Das »Sein« wurde namentlich zu einem philosophischen
Gegenstand bei Platon und Aristoteles. Heidegger nimmt für sich in
Anspruch, die Frage nach dem »Sinn von Sein« (GA2, 1) im Rückgang
auf die platonische und aristotelische Philosophie wieder geweckt zu
haben. Dieser »Sinn« ist in der Richtung des Phänomens der »Zeit« zu
suchen (ebd.,577). Ungefähr seit der Mitte der dreißiger Jahre schreibt
Heidegger modifiziert »Seyn«, um später wieder zu der gewöhnlichen
Schreibweise zurückzufinden. Diese Veränderung der Schreibweise
hängt mit einer Modifikation in der Auffassung der Frage nach dem
»Sinn von Sein« zur Frage nach der »Wahrheit des Seyns« (GA 65, 10)
zusammen.
Seinsverlassenheit/Seinsvergessenheit Die »Seinsverlassenheit«
besteht darin, dass das »Seiende« vom »Sein« »verlassen« ist. Das
»Sein« hat sich aus dem ursprünglichen Konnex mit dem »Seienden«
zurückgezogen, sodass es keine Möglichkeit mehr gibt, über das rein
gegenständliche »Seiende« hinaus noch etwas anderes für relevant zu
erachten. Alles, was ist, wird als zu bearbeitender Gegenstand einer
sich totalisierenden Technik betrachtet. Das sich in die »Seinsverlas-
Glossar 187

senheit« entziehende »Sein« eröffnet zugleich die Möglichkeit einer


hyperbolischen »Seinsvergessenheit«, die in einer »Vergessenheit der
Vergessenheit« besteht (GA 65, 115 ff.). Somit ist die »Seinsvergessen-
heit« kein defizitäres Vermögen des Menschen, sondern ein vom »Sein
selbst« ausgehendes Merkmal der Epoche der »Metaphysik«.

Wahrheit Anders als die von Platon und Aristoteles ausgehende Tra-
dition der europäischen Philosophie versucht Heidegger, die »Wahr-
heit« nicht als eine Eigenschaft der Aussage oder des Urteils, sondern
als eine Voraussetzung des Aussagens zu bestimmen. Die Vorausset-
zung, dass über Erscheinendes Urteile gefällt werden können, besteht
darin, dass überhaupt ein Erscheinen stattfindet. Diese Offenheit des
Erscheinens nennt der Philosoph seit Sein und Zeit »Lichtung« (GA 2,
177). Da aber diese »Lichtung« kein reines Licht ist, sondern stets an
ihre Herkunft aus der Dunkelheit gebunden bleibt, gehört zu ihr die
Dimension der »Verbergung«. Das Erscheinen von Gegenständen
erscheint nicht wie diese selbst, sondern entzieht sich simultan, indem
es erscheint. Der volle Begriff der »Wahrheit« ist darum als »Lichtung
für das Sichverbergen« (GA 65, 341) zu verstehen. Bereits in Sein und
Zeit macht Heidegger darauf aufmerksam, dass im griechischen Wort
für »Wahrheit« (alétheia) diese gegenzügige Bewegung enthalten ist:
»Wahrheit« ist »Unverborgenheit« (GA 2, 294).
Biographische Daten

26.9.1889 Martin Heidegger wird in der badischen Kleinstadt Meß-


kirch geboren. Zu dieser Stadt am südöstlichen Rand der
Schwäbischen Alb und oberhalb des Bodensees wird Hei-
degger zeit seines Lebens eine innige Beziehung aufrecht-
erhalten.
1909 – 1911 Studium der Theologie und Philosophie an der Universi-
tät Freiburg.
1911 – 1913 Studium der Philosophie, der Geistes- und Naturwissen-
schaften an der Universität Freiburg.
1913 Promotion bei Arthur Schneider in Freiburg.
1914 Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Heideggers Dissertation
Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-
positiver Beitrag zur Logik erscheint. Militärdienst, da-
von von Ende 1915 bis Anfang 1918 bei der militärischen
Postüberwachungsstelle in Freiburg, von Ende August
bis Anfang November bei der Frontwetterwarte 414 (3.
Armee). Im November 1918 zum Gefreiten befördert.
1915 Habilitation bei Heinrich Rickert über Die Kategorien-
und Bedeutungslehre des Duns Scotus (erscheint 1916).
1916 Heidegger veröffentlicht den Aufsatz Der Zeitbegriff in
der Geschichtswissenschaft.
1917 Heirat mit Elfride Petri.
1919 Privatassistent bei Edmund Husserl an der Universität
Freiburg.
1922 Bezug der von Elfride Heidegger geplanten Hütte in Todt-
nauberg/Südschwarzwald.
Biographische Daten 189

1923 Ordentlicher Professor ad personam auf einem außeror-


dentlichen Lehrstuhl in Marburg.
1924 Hannah Arendt nimmt ihr Studium bei Heidegger in
Marburg auf.
1927 Sein und Zeit erscheint im Rahmen des »Jahrbuchs für
Philosophie und phänomenologische Forschung« in
Halle. Umsetzung auf den ordentlichen Lehrstuhl für Phi-
losophie in Marburg.
1928 Nachfolger Husserls auf dem Lehrstuhl für Philosophie I
in Freiburg. Einzug in das von Elfride Heidegger gebaute
Haus auf dem Rötebuck in Freiburg-Zähringen.
1929 Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik?, die im selben
Jahr veröffentlicht wird. Zugleich erscheint Kant und das
Problem der Metaphysik und der Aufsatz Vom Wesen des
Grundes in der Festschrift für Edmund Husserl zum 70.
Geburtstag.
1930 Heidegger lehnt zum ersten Mal einen Ruf nach Berlin ab.
1933 Hitler zum Reichskanzler ernannt. Heidegger wird fast
einstimmig zum Rektor der Freiburger Universität be-
stellt. Eintritt in die NSDAP. Am 27. Mai des Jahres hält
Heidegger seine Rektoratsrede mit dem Titel Die Selbst-
behauptung der deutschen Universität. Seine Vorlesung
im Sommer 1933 behandelt Die Grundfrage der Philoso-
phie, in ihr geht es vorzüglich um die »Theo-Logik«
Hegels. Ablehnung des zweiten Rufs nach Berlin sowie
eines Rufs nach München.
1934 Rücktritt vom Rektorat. Vorlesung im Winter 1934/35
Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«
1936 Veröffentlichung von Hölderlin und das Wesen der Dich-
tung. Erste Vorlesung über Nietzsche: Der Wille zur
Macht als Kunst im Winter 1936/37. Heidegger arbeitet
an den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis). Sie
erscheinen erst im Jahre 1989.
1939 Der Zweite Weltkrieg beginnt.
1940 Heidegger hält in einem kleinen Kollegenkreis an der
Freiburger Universität Vorträge über Ernst Jüngers Der
Arbeiter. Herrschaft und Gestalt.
1941 Hölderlins Hymne Wie wenn am Feiertage. . ..
190 Biographische Daten

1942 Platons Lehre von der Wahrheit.


1943 Der Vortrag und Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit er-
scheint.
1944 Heidegger wird im November zum Volkssturm eingezo-
gen, im Dezember wieder entlassen. Der größte Teil der
Freiburger Altstadt wird durch Luftangriffe vernichtet.
Es erscheinen die Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung.
1945 Hitlers Tod. Unbedingte Kapitulation Deutschlands. Der
politische Bereinigungsausschuss empfiehlt, Heidegger
mit der »Möglichkeit beschränkter Lehrtätigkeit« zu
emeritieren. Die Wohnung der Familie Heidegger wird
beschlagnahmt. Die Söhne Hermann und Jörg befinden
sich in russischer Gefangenschaft.
1946 Der Senat der Universität Freiburg schlägt eine Emeritie-
rung Heideggers vor und erteilt keine Lehrerlaubnis.
Auch die französische Besatzungsmacht verbietet Hei-
degger die Lehre. Heidegger begegnet zum ersten Mal
Jean Beaufret.
1947 Es erscheint der so genannte Brief über den Humanismus
gemeinsam mit dem schon älteren Aufsatz Platons Lehre
von der Wahrheit. Der jüngere Sohn Hermann kehrt aus
russischer Gefangenschaft zurück.
1949 Das französische Lehrverbot wird aufgehoben. Heideg-
ger hält seine Bremer Vorträge. Der Sohn Jörg kehrt eben-
falls aus russischer Gefangenschaft zurück.
1950 Pensionierung. Wiederbegegnung mit Hannah Arendt.
Die Holzwege werden veröffentlicht.
1951 Emeritierung. Im Wintersemester 1951/52 und im darauf
folgenden Sommer hält er seine letzte große Vorlesung
mit dem Titel Was heißt Denken?, die im Jahre 1954 pub-
liziert wird.
1954 Vorträge und Aufsätze.
1955 Heidegger hält einen Vortrag Qu’est-ce que la Philoso-
phie? in Cerisy-la-Salle in der Normandie, der ein Jahr
darauf veröffentlicht wird.
1959 Unterwegs zur Sprache und Gelassenheit erscheint. Hei-
degger hält seinen letzten großen Hölderlin-Vortrag Höl-
derlins Erde und Himmel in München.
Biographische Daten 191

1961 Nietzsche I/II.


1962 Heidegger hält in Freiburg seinen Vortrag Zeit und Sein,
der im Jahre 1969 in Zur Sache des Denkens veröffent-
licht wird. Das Ehepaar Heidegger macht seine erste
Griechenlandreise. Die erste englische Übersetzung von
Sein und Zeit in der Übersetzung von John Macquarrie
und Edward Robinson erscheint in New York.
1966 Heidegger hält das für die französische Rezeption seines
Denkens enorm wichtige erste Seminar in Le Thor ab.
1967 Heidegger spricht über Die Herkunft der Kunst und die
Bestimmung des Denkens in Athen. Er begegnet Paul
Celan in Freiburg und Todtnauberg.
1975 Die »Gesamtausgabe« beginnt zu erscheinen.
26. 5. 1976 Heidegger stirbt in Freiburg-Zähringen im eigenen Haus.

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