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1. Hausarbeit
SACHVERHALT
Teil 1
A ist spanischer Staatsbürger und absolviert als Erasmus-Student ein Auslandssemester an der
Universität Osnabrück. An einem Freitag im Mai fährt er nach Hannover, um dort an einer
Demonstration teilzunehmen. Für die Demonstration haben sich zahlreiche Teilnehmer:innen aus
allen Teilen der Bundesrepublik und auch aus dem Ausland angekündigt; sie soll parallel zur
Hannover-Messe stattfinden.
Die Demonstration soll auf dem Platz der Göttinger Sieben in Hannover stattfinden. Dieser Platz
befindet sich direkt vor dem Leineschloss, in dem der Niedersächsische Landtag seinen Sitz hat.
Nach dem Veranstaltungskonzept ist die Demonstration als Dauerprotest gegen die nach
Wahrnehmung der Organisator:innen weitgehende Tatenlosigkeit der Politik im Hinblick auf den
Klimawandel geplant; sie soll insgesamt acht Tage (von Freitag bis Freitag) dauern. Gerade der
zentrale Ausrichtungsort in der Innenstadt Hannovers im Zusammenhang mit der zeitlichen Dauer
soll die Politik dazu bewegen, die aus Sicht der Teilnehmer:innen dringend notwendigen
Maßnahmen gegen die Erderwärmung zu ergreifen. Auch erhoffen sich die Organisator:innen, dass
die Veranstaltung möglichst viel Aufmerksamkeit in der Bevölkerung erregt. Dafür sind während
der gesamten Woche mehrere Kundgebungen mit verschiedenen Redner:innen geplant. Zudem will
man vorleben, wie verantwortungsbewusster Umgang mit der Umwelt aussieht.
Als A am Platz der Göttinger Sieben ankommt, befinden sich dort ca. 250 Menschen, denen er sich
anschließt. Die Teilnehmer:innen haben verschiedene Schilder und Banner dabei, auf denen sie
ihrem Anliegen Ausdruck verleihen und die sie in die Höhe halten. Nach kurzer Zeit merken sie
allerdings, dass sie aufgrund ihrer Zahl weniger öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als sie
geplant hatten, weshalb fünf von ihnen, darunter auch der A, beschließen, sich auf die vor dem Platz
der Göttinger Sieben befindende Karmarschstraße zu bewegen. Mitten auf dieser am Landtag
vorbeiführenden und vielbefahrenen Straße setzen sich die fünf auf den Asphalt, um auf ihr
Anliegen aufmerksam zu machen. Sie wollen dadurch auch den Verkehr blockieren, um die
umweltschädlichen Fahrzeuge an der Weiterfahrt zu hindern. Ziel der Aktion ist es, auf die
zerstörerische Wirkung einer auf fossilen Brennstoffen aufbauenden Wirtschaft hinzuweisen. Die
Dringlichkeit des Themas soll durch die kurzzeitige Festsetzung der „Klimakiller PKW“ vermittelt
werden.
Wie von A und seinen vier Mitstreiter:innen geplant, kommen nach kurzer Zeit Fahrzeuge auf das
Geschehen zu. Weil deren Autofahrer:innen die auf der Straße Sitzenden nicht verletzen wollen,
bleiben sie vor der Gruppe stehen. Trotz wiederholten Hupens und mehrfacher Aufforderungen
II
seitens der Fahrer:innen bewegt diese sich jedoch nicht von der Straße weg. Durch die bereits
stehenden Fahrzeuge müssen auch alle weiteren, auf das Geschehen zufahrenden Autofahrer:innen
stehenbleiben.
Nach ca. 15 Minuten kommen Landespolizeibeamte:innen hinzu und fordern den A und die anderen
vier Personen auf, die Straße zu verlassen. Diese sind zwar empört, da sie sich doch für einen guten
Zweck einsetzen wollten und der Klimawandel jeden etwas angehe, leisten jedoch keinen
Widerstand, als die Polizist:innen sie von der Straße tragen.
Sechs Monate später wird gegen den A ein Ermittlungsverfahren wegen Nötigung in mittelbarer
Täterschaft gem. § 240 StGB i.V.m. § 25 I StGB eingeleitet. Er wird vor dem zuständigen AG SoSe
2022 Prof. Dr. Johanna Wolff 2 zu einer Geldstrafe verurteilt. A legt gegen das erstinstanzliche
Urteil Berufung beim LG und gegen das darauf ergehende Urteil Revision beim OLG ein. Auch der
zuständige Senat des OLG sieht A jedoch im Unrecht, sodass dieser mit der Revision nicht obsiegen
kann.
A ist enttäuscht und sieht sich in seinen verfassungsrechtlich garantierten Rechten verletzt. Wenn
man sich öffentlich für Themen von großer gesamtgesellschaftlicher Tragweite stark machen und zu
diesen seine Meinung äußern wolle, müssten auch provokative Handlungsformen zulässig sein, um
die Mitbürger:innen aufzurütteln. Wenn ein paar Autofahrer:innen dann einmal ein paar Minuten
warten müssten, sei das im Vergleich zu den Problemen, die der Klimawandel für ihn und
kommende Generationen verursachen werde, doch wirklich ein Luxusproblem. Er wendet sich
daher zwei Wochen nach Zustellung des Urteils des OLG schriftlich an das
Bundesverfassungsgericht.
Beurteilen Sie die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde des A gegen das Urteil des
OLG.
III
Teil 2
Um die Anwesenheit der, insbesondere internationalen, Gäste über die gesamten acht Tage zu
ermöglichen, hat Veranstalterin V in 200 Meter Entfernung vom Platz der Göttinger Sieben in einer
weiträumigen, öffentlichen Parkanlage ein Zeltlager hergerichtet. Dieses besteht, entsprechend dem
Veranstaltungskonzept, aus insgesamt 100 Zelten und kann auf diese Weise ca. 200
Teilnehmer:innen kostenlos beherbergen und ihnen als Übernachtungsmöglichkeit dienen. Das
Lager soll zudem die Versorgung der Gäste sicherstellen. Dazu hat V mehrere mobile Toiletten,
Duschen, Feldküchen und Imbissstände aufstellen lassen. Von diesem Zeltlager aus sollen die
Teilnehmer:innen der Demonstration dann an jedem Tag der Veranstaltung zum Platz der Göttinger
Sieben gehen, um dort an den Kundgebungen teilzunehmen. Am Freitag wird das Zeltlager mit den
Versorgungseinrichtungen in Betrieb genommen.
Der Stadt Hannover ist das Geschehen in der Parkanlage ein Dorn im Auge. In der Parkanlage
selbst würde – was zutrifft – gar nicht demonstriert werden. Man ist außerdem der Ansicht, dass die
anreisenden Gäste doch auf die umliegenden Hotels ausweichen könnten. Zudem sei der
Dauerprotest auf dem Platz der Göttinger Sieben bereits eine erhebliche Belastung für das
innerstädtische Zusammenleben. Wenn man die Demonstrant:innen jetzt noch in der Parkanlage
unterbringe, würde beinahe die gesamte Innenstadt lahmgelegt.
Beurteilen Sie, ob die zuständige Behörde auf Grundlage des NPOG gegen das Zeltlager nebst
Versorgungseinrichtungen vorgehen könnte, oder ob sie sich auf das Versammlungsgesetz
stützen müsste. Spezielle Ermächtigungsgrundlagen sind dabei nicht zu prüfen.
IV
LITERATURVERZEICHNIS
Beispiele
Austermann, Max Das Musterlehrbuch, 12. Aufl. 2016, München
VI
b) Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 I GG...................................................................12
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 8 I GG
................................................................................................................................................13
aa) Einschränkbarkeit des Art. 8 I GG durch das StGB.....................................................13
bb) Prüfung der verfassungsmäßigen Auslegung nach Art. 103 II des Gewaltbegriffs des §
240 StGB im Einzelfall......................................................................................................13
(1) Erste Ansicht.............................................................................................................14
(2) Zweite Ansicht..........................................................................................................14
(3) Stellungnahme..........................................................................................................15
(4) Zwischenergebnis.....................................................................................................16
cc) Prüfung der verfassungsmäßigen Anwendung des § 240 StGB des OLG im Einzelfall
............................................................................................................................................16
(1) Willkürkontrolle.......................................................................................................16
(2) Abwägungskontrolle.................................................................................................17
(3) Zwischenergebnis.....................................................................................................19
dd) Zwischenergebnis.........................................................................................................19
d) Ergebnis.............................................................................................................................19
3. Grundrechtsverletzung des Art. 8 GG des A durch das Entscheidungsverfahren des OLG. .20
4. Grundrechtsverletzung des Art. 5 I 1 Var. 1 GG durch das Entscheidungsergebnis des OLG
....................................................................................................................................................20
III. Gesamtergebnis........................................................................................................................20
B. Zweiter Teil...................................................................................................................................20
I. Taugliche Ermächtigungsgrundlage...........................................................................................20
1. Unmittelbarer Schutz..............................................................................................................21
2. Akzessorischer Schutz............................................................................................................21
VII
GUTACHTEN
A. Teil 1
Der Antrag auf Durchführung einer Urteilsverfassungsbeschwerde hat
Erfolg, soweit er zulässig und begründet ist.
I. Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen das
Gerichtsurteil des OLG
1. Zuständigkeit
Der Rechtsweg zum BVerfG ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG1 i.V.m.
§§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG für die Verfassungsbeschwerde eröffnet.
2. Beschwerdefähigkeit
A musste beschwerdefähig sein.
Beschwerdefähig ist gem. Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I BVerfGG „Jedermann“,
also alle grundrechtsberechtigen, natürlichen Personen. 2
A müsste sich somit auf ein Grundrecht berufen können.
Problematisch ist, dass Art. 8 I ein Deutschengrundrecht3 ist und sich
grds. nur deutsche i.S.d. Art. 116 I ein Recht aus Art. 8 I ableiten können.
A ist als spanischer Bürger Mitglied der Europäischen Union und damit
EU-Ausländer.
Fraglich ist daher, ob und wie sich A auf Deutschengrundrechte berufen
kann.
Erste Ansicht
Einer Ansicht nach können sich EU-Ausländer aufgrund des eindeutigen
Wortlautes der Deutschengrundrechte nur auf Art. 2 I berufen. Der
Grundrechtsschutz muss aufgrund des Diskriminierungsverbots des Art.
18 I AEUV aber dem Schutz eines Deutschengrundrechts entsprechen.4
Zweite Ansicht
Einer anderen Ansicht nach können sich auch EU-Bürger auf
Deutschengrundrechte berufen. Demnach gilt der Anwendungsvorrang
des Art. 18 I AEUV, der jede Diskriminierung von EU-Bürgern aus
1
Alle folgenden Normen sind die des Grundgesetzes, außer sie sind besonders
gekennzeichnet.
2
Detterbeck, Öffentliches Recht, 11. Auflage 2018, Rn. 589, München
3
Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 559, 2010
4
Dreier, in: Dreier I, Vorb. Rn. 116, Bd. 1, 3. Auflage 2013, Tübingen
1
Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet.5 Somit wird der
diskriminierende Deutschenvorbehalt des Deutschengrundrechts bei EU-
Ausländern nicht angewendet.6
Der Schutzgehalt ist zwar nach beiden Ansichten identisch, die jeweilige
Prüfungsform unterscheidet sich aber.
Eine Stellungnahme ist demnach erforderlich.
Für die erstgenannte Ansicht spricht zunächst der eindeutige Wortlaut
des Deutschengrundrechts und der damit einhergehende enge
Auslegungsspielraum. Dem kann aber der Anwendungsvorrang von Art.
18 I AEUV entgegengehalten werden, da der im Wortlaut manifestierte
Deutschenvorrang bei Einschlägigkeit des AEUV nach unionsrechtlicher
Anwendung hinter diesen zurücktritt.
Zudem muss die Prüfung bei Anwendung des Deutschenvorbehaltes für
EU-Bürger über Art. 2 I laufen, während bei Anwendung des
Anwendungsvorrangs des AEUV die Prüfung über das jeweils
einschlägige Grundrecht laufen kann (s.o.).
Die zweite Ansicht ist daher sowohl unionsrechtlich verträglicher, also
auch prüfungstechnisch übersichtlicher.
Es wird daher der zweiten Ansicht gefolgt.
A kann sich demnach direkt auf das Deutschengrundrecht Art. 8 I
berufen.
3. Prozessfähigkeit
A müsste prozessfähig sein.
Prozessfähig ist zumindest, wer selbst prozessuale Handlungen
vornehmen kann, sprich wer nach den §§ 104 ff. BGB geschäftsfähig ist.7
A nimmt am Erasmus-Programm teil. Ihm ist daher zu unterstellen, dass
er geschäftsfähig und somit prozessfähig ist.
4. Beschwerdegegenstand
A müsste einen Beschwerdegegenstand vorbringen.
5
Detterbeck, Öffentliches Recht, 11. Auflage 2018, Rn. 279
6
Detterbeck, Rn. 281
7
Kingreen, Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 36. Auflage 2020, Rn. 1292
2
Gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. § 90 Abs. 1 BVerfGG stellt jeder
Akt der öffentlichen Gewalt einen tauglichen Beschwerdegegenstand dar.
Der Begriff der öffentlichen Gewalt ist bei einer
Urteilsverfassungsbeschwerde weit zu verstehen und umfasst
entsprechend der in Art. 1 Abs. 3 GG festgelegten Grundrechtsbindung
das Handeln oder Unterlassen der Legislative als auch der Exekutive und
der Judikative.8
5. Beschwerdebefugnis
A müsste gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. § 90 Abs. 1 BVerfGG
beschwerdebefugt sein.
Die Beschwerdebefugnis ist gegeben, wenn nicht ausgeschlossen werden
kann, dass zumindest die Möglichkeit der Verletzung von Grundrechten
oder grundrechtsgleichen Rechten besteht und der Beschwerdeführende
durch den Akt der öffentlichen Gewalt selbst, gegenwärtig und
unmittelbar betroffen ist.10
b) Beschwer
Weiterhin müsste eine eigene, unmittelbare und gegenwärtige Beschwer
des A gegeben sein.
Richtet sich der Beschwerdeführende mit der Verfassungsbeschwerde
gegen eine gerichtliche Entscheidung, deren Adressat er ist, so ist er im
Regelfall selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen, womit eine
eigene Beschwer gegeben ist.12
Hier war A der Adressat des letztinstanzlichen, ablehnenden Urteils und
ist deshalb durch das Urteil in eigener Person, gegenwärtig und
unmittelbar betroffen.
c) Zwischenergebnis
Die Beschwerdebefugnis liegt vor.
7. Subsidiarität
Weiterhin müsste der Grundsatz der Subsidiarität der
Urteilsverfassungsbeschwerde gewahrt sein. Dies ist gegeben, wenn der
Beschwerdeführer keinen mittelbaren Gerichtsschutz oder
außergerichtlich Rechtsschutz erhalten.13
Der A hat sowohl gegen das Urteil des AG Berufung, als auch gegen das
darauf ergehende Urteil des LG Revision eingelegt. Zudem steht ihm
12
BVerfGE 53, 30 (48); Grünewald, in: BeckOK BVerfGG, § 90 Rn. 104.
13
Kingreen, Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, s.o., Rn. 1324
4
auch kein außergerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung. Mithin hat er
den Grundsatz der Subsidiarität gewahrt.
9. Zwischenergebnis
Alle Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor. Die
Verfassungsbeschwerde des A ist mithin zulässig.
II. Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit A als
Beschwerdeführer durch das Demonstrationsverbot aus den Urteilen,
speziell dem letztinstanzlichen Urteil, in seinen Grundrechten verletzt
ist.14
Für eine solche Verletzung müsste das Urteil des OLG in den
Schutzbereich eines Grundrechts des A eingreifen und dieser Eingriff
verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt sein. Sodann würde sich die
„kassatorische Wirkung“15 nach § 95 II BVerfGG entfalten.
1. Prüfungsmaßstab
Ein einem Verfassungsbeschwerdeverfahrens nach §§ 95 I, 90 I, 92 iVm
§23 I 2 Hs. 1 BVerfGG iVm Art. 93 I Nr. 4a GG muss sich hinreichend
deutlich ergeben, dass und weshalb der vorliegende Sachverhalt eine
Grundrechtsverletzung durch den angegriffenen Hoheitsakt darstellt16.
14
Michael/ Morlok, Grundrechte, 7. Auflage 2020, Baden-Baden, Rn. 936; vdl.
Detterbeck, Öffentliches Recht, Rn. 636.
15
Michael/ Morlok, Grundrechte, 7. Auflage 2020, Baden-Baden, Rn. 936
16
Klein in Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd. 1, 2009, 83
5
Dabei ist zu beachten, dass das BVerfG wegen der Bindung des Richters
an das Gesetz gemäß Art. 20 III iVm Art. 92 nicht Superrevisionsinstanz
ist, sondern nur spezifische Verfassungsrechtsverletzungen überprüft17.
Zur Abgrenzung spezifischer Verfassungsrechtsverletzungen mit
gewöhnlichen Verletzungen muss nach der Heck´schen Formel gerade in
der Nichtbeachtung von Grundrechten, sog. Anwendungsfehlern, oder in
der falschen Wertung der einschlägigen Grundrechte, sog.
Anwendungsfehlern, die Verletzung liegen.18
17
Goos in Hillgruber/Goos VerfProzR § 3 Rn. 178 ff
18
Lechner/ Zuck, BVerfGG Kommentag, 8. Aufl. 2019 München, § 90 Rn. 98, 99
19
Vgl. BVerfG-K, NJW 14, 2706 Rn.15
6
der Veranstaltung ist ein ist es, die Politik dazu zu bewegen, die aus Sicht
der Teilnehmer dringend notwendigen Maßnahmen gegen die
Erderwärmung zu ergreifen.
Die Demonstration am Platz der Göttinger Sieben hat die notwendige
Teilnehmerzahl, einen gemeinsamen Zweck, ist friedlich und daher
unstreitig eine Versammlung iSd Art. 8 I.
Fraglich ist sodann, ob A und die vier weiteren Demonstranten durch das
Blockieren der Straße vor dem Platz der Göttinger Sieben eine neue
Versammlung gegründet haben, die so von den Veranstaltern nicht
geplant und nicht angemeldet war.
(a)Gemeinsamer Zweck
Ausschlaggebend für die Bildung einer neuen Versammlung ist ein
abweichender gemeinsamer Zweck sein.
Indiz für einen gemeinsamen Zweck ist die gegenseitige Abhängigkeit
der Teilnehmer, um an das gemeinsame Ziel zu kommen.20
Zwar ist nach einer Ansicht der gemeinsame Versammlungszweck für
den grundrechtlichen Schutz irrelevant21, nach zwei weiteren Ansichten
jedoch unentbehrlich. Danach soll zum einen der Art. 8 ausschließlich
auf die Meinungsäußerungsfreiheit bezogen werden22, zum anderen wird
eine Meinungsbildung oder Erörterung in einer öffentlichen
Angelegenheit verlangt.23
Zweck der Demonstration am Platz der Göttinger Sieben ist wie bereits
erläutert der Hinweis auf dringend erforderliche Maßnahmen gegen die
Erderwärmung und den verantwortungsbewussten Umgang mit der
Umwelt und somit sowohl als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf
Kommunikation angelegter Entfaltung eine Meinungsäußerung, als auch
20
(Dürig/Herzog/Scholz/Depenheuer, 96. EL November 2021, GG Art. 8 Rn. 47)
21
Dürig/Herzog/Scholz/Depenheuer, 96. EL November 2021, GG Art. 8 Rn. 49;
Schulze-Fielitz in Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 8,
Rn. 27.; Ipsen, Rn. 565
22
BVerwGE 56, 63 (69); v. Mutius Jura 1988, 36; Hesse VerfassungsR Rn. 405; Kunig
in v. Münch/Kunig GG Art. 8 Rn. 17.
23
Hoffmann-Riem in Merten/Papier Grundrechte-HdB Rn. 39 ff.; ders. NVwZ 2002,
259; vgl. dazu Laubinger/Repkewitz VerwArch 2002, 585; Enders Jura 2003, 35.
7
aufgrund des Standortes und der globalen Bedeutung des Zwecks eine
Meinungsbildung in einer öffentlichen Angelegenheit.
Demgegenüber ist der Zweck des A und der vier weiteren Demonstranten
der Hinweis auf die zerstörerische Wirkung einer auf fossilen
Brennstoffen aufbauenden Wirtschaft. Auch hierbei liegt eine
Meinungsäußerung/ Meinungsbildung in öffentlichen Angelegenheiten
vor.
Fossile Brennstoffe wie Benzin oder Diesel stoßen beim Verbrennen in
Autos Co2 aus und schaden somit der Umwelt. Diese Brennstoffe
wirtschaftlich zu fördern ist daher widersprüchlich mit einem
verantwortungsbewussten Umgang mit der Umwelt. Ohne Regulierung
der fossilen Brennstoffe kann somit auch kein verantwortungsbewusster
Umgang mit der Umwelt gewährleistet werden. Die Demonstranten auf
der Straße und dem Platz sind dementsprechend abhängig voneinander,
um den gemeinsamen Zweck einer nachhaltigeren Zukunft zu erreichen.
A und die anderen verfolgen somit auch noch auf der Straße einen allen
Ansichten entsprechenden gemeinsamen Zweck mit den Demonstranten
auf dem Platz der Göttinger Sieben.
(b)Näheverhältnis
Auch ein Näheverhältnis beider Demonstrationen könnte auf eine
gemeinsame Versammlung deuten.
Bei einer Versammlung eine örtliche Zusammenkunft vorausgesetzt
(s.o.).
Daraus lässt sich auf ein benötigtes örtliches Näheverhältnis schließen.
Die Karmarschstraße, auf die sich A und die anderen setzen, liegt direkt
vor dem Platz der Göttinger Sieben und wird daher noch in einem
örtlichen Näheverhältnis zur Demonstration auf dem Platz stehen.
8
Allerding ist beides zwar ein starkes Indiz für eine Versammlung, jedoch
nicht deren notwendige Voraussetzung. Auch Spontanität kann Indiz
einer Versammlung sein.24
Weder war die Sitzblockade von den Veranstaltern geplant, noch kann
sie mit 15 Minuten in jeglicher Form mit der Dauer der
Hauptdemonstration von acht Tagen gleichzusetzen sein.
Allerdings gehört die Spontanität des A zu einem typischen Verlauf einer
Demonstration dazu und kann als weiteres Indiz einer gemeinsamen
Versammlung angesehen werden.
(d)Zwischenergebnis
Es kann daher aufgrund des gemeinsamen Zwecks, des bestehenden
Näheverhältnisses und der Planung und Dauer beider Demonstrationen
von einer einzigen Versammlung ausgegangen werden, bei der beide
Demonstrationen unter den Versammlungsbegriff des Art. 8 fallen.
24
Michael/Morlok Grundrechte, 7. Aufl. 2020, Baden-Baden, § 9 Rn. 274
25
BVerfGE 128, 226 (251) – Fraport
9
Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 I GG ist auf friedliche und
waffenlose Versammlungen beschränkt.26
Problematisch könnte sein, dass A durch die Sitzblockade laut OLG den
Tatbestand des § 240 StGB der Nötigung verwirklicht hat und somit Teil
einer unfriedlichen Versammlung sein könnte.
Eine Versammlung gilt als unfriedlich, wenn sie einen aufrührerischen
oder gewalttätigen Verlauf nimmt.27
Aufgrund der Wertungen von Art. 5 GG, der grundsätzlich auch die
Äußerung umstürzlerischer Ansichten erlaubt, können als aufrührerisch
nur noch solche Versammlungen gelten, die zu diesem oder anderen
Zwecken auf aktiven Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
zurückgreifen.28
A und die anderen Teilnehmer leisten keinen Widerstand, als die
Polizisten sie von der Straße tragen.
Ein aufrührerischer Verlauf der Versammlung ist somit nicht zu
erkennen.
Zu klären ist des Weiteren, ob die Versammlung einen gewalttätigen und
damit unfriedlichen Verlauf genommen hat.
26
(Lisken/Denninger PolR-HdB, J. Versammlungsrecht (Kniesel/Poscher) Rn. 64,
beck-online
27
(Lisken/Denninger PolR-HdB, J. Versammlungsrecht (Kniesel/Poscher) Rn. 66,
beck-online)
28
Hoffmann-Riem in AK-GG Art. 8 Rn. 23; Kingreen/Poscher StaatsR II Rn. 781.
29
BVerfGE 104, 92 (106) = NJW 2002, 1031 (1032
10
(b) Andere Ansicht
Einer anderen Ansicht nach sind alle Versammlungen, in denen eine
Form der physischen Gewalt ausgeübt wird, als unfriedlich.
Demnach wäre die Sitzblockade des A aufgrund der vom OLG
festgestellten Nötigung unfriedlich und genießt keinen grundrechtlichen
Schutz des Art. 8 GG.
(c) Stellungnahme
Die Ansichten kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, eine
Stellungnahme ist erforderlich.
Der Wortlaut des Art. 8 I spricht von „friedlich“, erlaubt daher keine
Legitimierung physischer Gewalt in jeglicher Form.
Dagegen spricht allerdings die Systematik des Art. 8 I. Aus der
systematischen Gleichstellung von „friedlich“ und „ohne Waffen“ in Art.
8 I geht hervor, dass für die Unfriedlichkeit einer Versammlung ein
gesteigertes Gefahrenpotential für die physische Integrität von Personen
oder Sachen erforderlich sei.30 Dieser Relation folgend kann nicht jeder
Rechtsbruch zur Unfriedlichkeit führen, es ist vielmehr die soziale
Verwerflichkeit einer Waffe mit einer unfriedlichen Versammlung zu
vergleichen. Daher kann eine Versammlung erst dann unfriedlich sein,
wenn „erheblich und aggressiv körperlich auf Personen oder Sachen
eingewirkt“31 werden.
Aus diesen Gründen ist die Rechtfertigung geringfügiger Gewalt gegen
Dritte zum Zwecke der Erlangung öffentlicher Aufmerksamkeit zwar ein
Zeichen der Gewaltbereitschaft und bietet die Gefahr eines
Gewöhnungseffekts für nachfolgende Versammlungen, aber aus
systematischen Gründen verfassungsmäßig.
Zudem spricht für die erste Ansicht, dass die Kriterien der friedlichen
und waffenlosen Versammlung keine Schranken, sondern
Grundrechtstatbestandsausschlüsse sind und eine Abstellung auf
30
BVerfGE 69, 315 (360); 73, 206 (248); Kunig in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG-
Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 8, Rn. 25; Geis, Die Polizei 1993, 293 (295);
ders. in Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 8,
Rn. 44 (Stand: 9/2004); Schulze-Fielitz in Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.
1, 3. Aufl. 2013, Art. 8, Rn. 41 ff.; Gusy in v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.),
Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 8, Rn. 22; Kang, Der
Friedlichkeitsvorbehalt der Versammlungsfreiheit (1993), S. 100 ff., 212.
31
Kohl in Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1 (2002), Art. 8, Rn. 30
11
Friedlichkeit anhand von Verletzungen anhand des StGB einen
allgemeinen Gesetzesvorbehalt begründen würde.
Damit läuft auch das mögliche Argument, der Wortlaut „ohne Waffen“
sei eine Schranke, ins Leere.
Allein die Gewöhnungseffekte aus gewalttätigen Versammlungen für
nachfolgende Versammlungen als Grund einer unfriedlichen
Versammlung zu nennen, ist zu wenig, um einen Gesetzesvorhalt zu
begründen.
(4) Zwischenergebnis
Der Sachliche Schutzbereich des Art. 8 I GG ist somit eröffnet
cc) Zwischenergebnis
Der Schutzbereich des Art. 8 I GG ist mithin eröffnet.
34
Kleine-Cosack, Verfassungsbeschwerden, 2001, Bonn, § 7 Rn. 16
35
Depenheuer in Maunz/Dürig stellt nur auf die geringere Gefahr ab, GG Art. 8 Rn. 151
36
(Lisken/Denninger PolR-HdB, J. Versammlungsrecht (Kniesel/Poscher) Rn. 100,
beck-online)
13
Das OLG hat in den Schutzbereich eingegriffen, wenn die strafrechtliche
Übertragung des § 240 auf einen im Gesetz nicht geregelten anderen Fall
im Wege einer Ausdehnung eines Merkmals oder Rechtsssatzes auf einen
nach dem möglichen Wortsinn des Gesetzes nicht mehr erfassten,
vergleichbaren Fall zu Lasten des Beschwerdeführers ausgelegt wird, und
somit das Analogieverbot (nullum crimen, nulla poena sine lege stricta)
des Art. 103 II greift.37
Die Nötigung setzt voraus, dass durch das Nötigungsmittel das vom Täter
erwünschte Verhalten des Opfers veranlasst wird und dass dies gegen
dessen Willen geschieht.38 Das Nötigungsmittel kann in § 240
ausschließlich Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel
sein.39
Problematisch gestaltet sich die genaue Bestimmung des unbestimmten
Gewaltbegriffs und der Rahmen des Art. 103 II in diesem
Zusammenhang.
(3) Stellungnahme
Die Ansichten kommen zu unterschiedlichen Auslegungen des
Gewaltbegriffs. Eine Stellungnahme ist erforderlich.
Für das Kriterium einer Kraftentfaltung im Gewaltbegriff spricht, dass
die Demonstranten, die den Autos den Weg versperren, ihre
Demonstration aufgrund der physischen Unversehrtheit der Autoinsassen
als gewaltlos ansehen. Es ist daher aus gesellschaftlicher und
strafrechtspädagogischer Sicht schwierig, Tätern, die ihre Strafe nicht
akzeptieren können, diese analog aufzulegen.
Das Bestreben, die Willensfreiheit der Autofahrer in wirksamer Weise
auch gegenüber solchen strafwürdigen Einwirkungen zu schützen, die
zwar sublimer, aber ähnlich wirksam wie körperlicher Kraftaufwand
sind, spricht indes gegen die Annahme des Kriteriums einer
Gewaltentfaltung.
Zudem ist der Wortlaut des Gewaltbegriffs nicht auf Einwirkungen
beschränkt, die die Willensbetätigung unmöglich machen, sondern
umfasst auch körperliche Einwirkungen, die einen psychischen Prozess
in Lauf setzen.
Auch bei einer teleologischen Auslegung wird deutlich, dass dufgrund
der Vorsatzvoraussetzung und der Verwerflichkeitsklausel des § 240
StGB trotz fehlender physischer Komponente kein sozialadäquates
Verhalten bestraft wird.
Nicht zuletzt würde bei Annahme notwendigen physischen
Kraftentfaltung derjenige, der mithilfe moderner Technik ebendiese für
42
vgl. BGHSt 41, 182
43
BGH, NJW 1995, 2643
44
Jus 1992, 202
15
sich arbeiten lässt, demjenigen gegenüber privilegiert werden, der für
eine Nötigung auf physische Kraft zurückgreifen muss.
Auch hat bereits das RG hat in seiner sog. „Sargträger“-Entscheidung die
Errichtung einer Menschenmauer als Gewalt iSd damaligen § 240 StGB
bezeichnet45
Sodann wird bei systematischer Auslegung deutlich, dass innerhalb des §
240 StGB für die Inaussichtstellung eines Empfindlichen Übels weder
bei der Ankündigung des Übels, noch bei dessen Herbeiführung ein
Kraftaufwand gefordert wird. Es würde somit derjenige straflos bleiben,
der ein Übel ohne Kraftaufwand zufügt, während derjenige, der dieses
bloß androht, bestraft werden würde.
(4) Zwischenergebnis
Das OLG hat nach Art. 103 II verfassungsgemäß ausgelegt.
45
RGSt 45, 153
46
Vgl. BGH St 23, 46; BVerfG, Beschluss vom 7. März 2011 – Az.: 1 BvR 388/05
47
Vgl. BVerfGE 87, 273; Beschluss vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 1451/01
16
Auslegung des einfachen Rechts mit den klassischen
Auslegungsmethoden“48 nicht vollkommend abwegig und sachfern.
Es liegt somit kein willkürlich beschlossenes Urteil vor.
(2) Abwägungskontrolle
Fraglich ist, ob das OLG § 240 StGB in verfassungswidriger Weise
angewendet hat und somit das Verfassungsrecht aus Art. 8 I und Art. 2 I
verletzt wurde.
Bei der Abwägungskontrolle wird von dem BVerfG keine
Tatsachenkontrolle durchgeführt, sondern überprüft, ob die Fachgerichte
verkannt haben, dass grundrechtliche Garantien einschlägig sind.49
Diese Garantien sind im vorliegenden Fall das Grundrecht der
Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG und das Gebot schuldangemessenen
Strafens aus Art. 2 I GG.
Das den Grundrechtsträgern durch Art. 8 GG eingeräumte
Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt sowie Art und Inhalt der
Veranstaltung ist durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der
Allgemeinheit begrenzt.50
Begrenzt wird das Selbstbestimmungsrecht in den Beeinträchtigungen,
die die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben.51
Das Blockieren einer vielbefahrenen Straße beeinträchtigt diesfalls die
Fortbewegungsfreiheit der an der Straßenbenutzung gehinderten
Kraftfahrzeugführer und dabei möglicherweise auch deren Berufsfreiheit.
Derartige Behinderungen Dritter sind durch Art. 8 GG gerechtfertigt,
soweit sie als sozial-adäquate Nebenfolgen mit rechtmäßigen
Demonstrationen verbunden sind.52
Laut OLG soll es sich im vorliegenden Fall um eine Beeinträchtigung in
Form einer Nötigung iSd. § 240 StGB handeln und dürfte mithin keine
sozial-adäquate Nebenfolge darstellen.
Dies ist der Fall, wenn neben dem Vorliegen der Tatbestandsmerkmale
des § 240 Abs. 1 StGB das Handeln des A nach der
Verwerflichkeitsklausel des Absatz 2 als verwerflich anzusehen ist.
48
Kleine-Cosack, Verfassungsbeschwerden, 2001, Bonn, § 8 Rn. 51
49
(Manssen StaatsR II, Rn. 141, beck-eBibliothek)
50
NJW 2002, 1031, beck-online
51
NJW 2002, 1031
52
vgl. BVerfGE 73, 206
17
Diesbezüglich ist die wertsetzende Bedeutung des Art. 8 und das in Art.
2 I verankerte Gebot schuldangemessenen Strafens bei der Feststellung
der Verwerflichkeitsklausel als Prüfungsmaßstab zu berücksichtigen.53
Es entspricht verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn dabei alle für
die Mittel-Zweck-Relation wesentlichen Umstände und Beziehungen
erfasst werden und eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechte,
Güter und Interessen nach ihrem Gewicht in der sie betreffenden
Situation erfolgt.54
Daher sind bei einer Gesamtwürdigung insbesondere die Dauer und
Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, ferner
Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten sowie der Sachbezug
zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen
und dem Gegenstand des Protests zu berücksichtigen.55
Die Fernziele der Demonstranten sind dabei in der für den Schuldspruch
relevanten Verwerflichkeitsprüfung von Straßenblockaden nicht zu
berücksichtigen56, sofern es sich nicht um die zwangsweise
selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen handelt.57
Infolge der Straßenblockade sollen die Autofahrer und weiteren
Adressaten einem nachhaltigeren und bewussteren Umgang mit der
Umwelt erinnert werden. A sucht somit keine Durchsetzung eigener
Forderungen, sondern vielmehr die öffentliche Aufmerksamkeit für die
gesellschaftsrelevante Klimakrise.
Das Gericht hätte bei der Beantwortung der Frage, was für die Annahme
einer Nötigung spricht, unter Anderem auf die Dauer der Nötigung
eingehen können. Die Autofahrer wurden 15 Minuten lang an der
Weiterfahrt behindert. Dies kann in manchen beruflichen Kreisen, wie
z.B. bei Rohrbrüchen oder privaten Angelegenheiten wie Hochzeiten
oder Schwangerschaften zu erheblichen Konsequenzen führen.
Es hat keine vorherige Bekanntgabe gegeben. Eine solche wäre
allerdings wegen daraus entstehender Ausweichmöglichkeiten
kontraproduktiv für die gewählte Form der Demonstration.
53
Vgl. NJW 2002, 1031
54
vgl. BVerfGE 73, 206 [255f.] = NJW 1987, 43
55
BVerfGE 73, 206, 256
56
BVerfGE 73, 206, 260f.
57
vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Depenheuer, 97. EL Januar 2022, GG Art. 8 Rn. 63
18
Argumentativ könnte gegen die Annahme einer Nötigung sprechen, dass
die angehaltenen Autofahrer primär in ihrer Rolle als Teilnehmer des
Straßenverkehrs in ihrer Fortbewegung beeinträchtigt wurden und dabei
als Nutzer von Kraftstoffen direkte Adressaten der Demonstration sein
sollten. Gerade durch die provokante Handlungsform einer Sitzblockade
von dieser Nutzung abrücken.
Allerdings kann von den Demonstranten nicht ausgeschlossen werden,
auch elektrische Autos anzuhalten, die bereits das gewünschte Ziel der
Demonstranten umgesetzt haben, keine „Klimakiller Pkw“ zu fahren, und
dementsprechend einzig aufgrund der pauschalisierten Form Blockade
und nicht infolge einer genau geplanten und zielgerichteten Aktion gegen
die Kraftstofffahrer als ungewünschte Kollateralschäden enden.
Es finden sich mithindaher sowohl Argumente für, als auch gegen eine
Nötigung iSd. § 240 StGB aufgrund der Blockade. Eine falsche
Auslegung des Sachverhalts unter den Tatbestand des § 240 Abs. 1 und
Abs. 2 StGB kann daher nicht angenommen werden.
Zudem spricht das Strafmaß in Form einer Geldstrafe gegen einen
Verstoß gegen das Gebot schuldangemessenen Strafens aus Art. 2 I.
(3) Zwischenergebnis
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das OLG das Urteil
verfassungsgemäß beschlossen hat.
dd) Zwischenergebnis
Der Eingriff des OLG in den Schutzbereich des Art. 8 des A ist
gerechtfertigt.
d) Ergebnis
Das Entscheidungsergebnis des OLG stellt demzufolge keine
ungerechtfertigte Grundrechtsverletzung der Versammlungsfreiheit aus
Art. 8 I dar.
19
3. Grundrechtsverletzung des Art. 8 GG des A durch das
Entscheidungsverfahren des OLG
Über Fehler der umfassenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle der
Verfahrensordnung, fehlendes rechtliches Gehör, einen Verstoß gegen
Art. 19 IV und das Grundrecht auf ein faires Verfahren, einen falschen
gesetzlichen Richter oder ähnliche Verfahrensfehler kann aus dem
Sachverhalt keine Information entnommen werden.
Es ist daher von keiner Grundrechtsverletzung des Art. 8 GG durch das
Entscheidungsverfahren des OLG auszugehen.
III. Gesamtergebnis
A wurde weder in seinem Grundrecht aus Art. 8, noch aus Art, 5 I 1 Var.
1 durch das OLG verletzt.
Die Urteilsverfassungsbeschwerde ist mithin unbegründet.
20
B. Zweiter Teil
Die Versammlung als solche am Platz der Göttinger Sieben, zu der auch
die Sitzblockade gehört, fällt wie zuvor in Teil 1 erläutert unter den
Schutzbereich des Art. 8 I und somit auch unter den
Versammlungsbegriff, der die Teilhabe an der öffentlichen
Meinungsbildung beinhaltet.
1. Unmittelbarer Schutz
58
Hartmann/Mann/Mehde, Landesrecht Niedersachsen, 3. Aufl. 2020, Baden-Baden, §
4 Rn. 6
59
BVerwGE 129, 42 = NVwZ 2007, 1431 Rn. 17.
60
Vgl. Kanther NVwZ 2001, 1239 (1240)
21
Bei unmittelbarer Anwendung des Art. 8 müsste „die durch die
Einrichtung verkörperte Meinungskundgabe den Schwerpunkt ihrer
Zwecksetzung darstellt.“61
Isoliert betrachtet handelt es sich um ein Camp, auf dem laut Sachverhalt
nicht demonstriert wird, lediglich der Unterkunft und der Verpflegung
dient und das als solches keine aufmerksamkeitserregende Beeinflussung
der öffentlichen Meinungsbildung oder -kundgabe ermöglicht.
Ein unmittelbarer Schutz durch Art. 8 wäre in dem Fall aufgrund des
fehlenden eigenen Meinungswerts des Camps nicht möglich.
2. Akzessorischer Schutz
Weiterführend ist zu konstatieren, ob das bloße Ermöglichen der
Versammlung durch das Camp in Form einer akzessorisch geschützten
Infrastruktur ausreichend für den Schutz des Art. 8 und § 1 NVersG ist.
Maßgeblich ist ein unmittelbarer Zusammenhang, wobei die
Unmittelbarkeit nach wertenden Kriterien unter Berücksichtigung des
Versammlungszwecks zu bestimmen ist.
Dieser unmittelbare Zusammenhang besteht nur dann, wenn die
Infrastruktur zur Erreichung des Versammlungszwecks objektiv und
funktional notwendig ist.62
Dies ist der Fall, wenn ohne die Infrastruktur die kommunikative
Wirkung der Versammlung mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit vereitelt oder ganz erheblich geschwächt würde.
Dabei ist sowohl das „Ob“ der Infrastruktur als auch die Art und Weise
im Einzelnen zu berücksichtigen.
Den Prüfungsmaßstab ist aus der Sicht eines objektiven Betrachters unter
Berücksichtigung der Ziele des Veranstalters zu bestimmen.63
61
Friedrich in: DÖV 2019, S. 59, Versammlungsinfrastrukturen: An den Grenzen des
Versammlungsrechts
62
Friedrich in: DÖV 2019, S. 61; Kanther, NVwZ 2001, 1241 ff.; Depenheuer, Art. 8
Rn. 72
63
Barczak, § 15 VersG Rn. 325
64
Vgl. VG Hamburg, Beschl. v. 2.7.2017, 57 G 8/17, BeckRS 2017, 121187, Rn. 39;
Hartmann, NVwZ 2018, 202, 204
22
Übernachtungsmöglichkeit im Rahmen der Versammlung, die ermöglicht
werden soll, in den Blick zu nehmen.
Im vorliegenden Fall sollte die Versammlung acht Tage lang fortdauern.
An diesen acht Tagen findet zeitgleich in Hannover die Hannover-Messe
statt. Es ist daher darauf abzustellen, ob es den
Versammlungsteilnehmern möglich ist, alternative
Übernachtungsmöglichkeiten zu finden.65
Davon auszugehen ist, dass über die gesamte Zeit der Demonstration
internationale Gäste die Messe besuchen und Hotels in Hannover belegen
werden. BereitsDa bereits 2019 haben insgesamt 211.338 Gäste die
Messe besucht haben, von denen 74.391 aus dem Ausland angereist sind,
66
ist von einer sehr hohen Hotelauslastung in ganz Hannover
auszugehen.
Da sich die Versammlung aber auch gegen die Messe an sich und der
daraus rührenden Aufmerksamkeit richtet, ist den
Demonstrationsteilnehmern aus Gesichtspunkten der Waffengleichheit
zumindest argumentativ die Möglichkeit eröffnet, bei der Wahl der
Hotels mit den Messegästen in Konkurrenz zu treten, gegeben.
Andererseits werden Messen weit vor Demonstrationen geplant, weshalb
bei einer Belastung von über 74000 Gästen bei lebensnaher Auslegung
davon auszugehen ist, dass zumindest die Hotels in Hannover ausgebucht
sein werden. Entgegenstehendes ist auch nicht dem Sachverhalt zu
entnehmen.
Somit kann das Argument, die Hotels seien aufgrund der Stadt Hannover,
die Demonstranten können auf die umliegenden Hotels ausweichenMesse
bereits zu ausgelastet, keine Wirkung entfalten.
Und um vor allem den internationalen Demonstranten, für die es
unmöglich ist, abends nach Hause und morgens wieder zur
Demonstration zurückzufahren, die Möglichkeit der Teilhabe an der
Demonstration zu gewähren, ist das Camp der einzige Weg dies zu
gewährleisten.
65
Kniesel, I Rn. 178
66
https://www.auma.de/de/ausstellen/messen-finden/messedaten?
tfd=hannover_hannover-messe_163202
23
Die Übernachtungsmöglichkeiten weisen daher einenkeinen zwingend
notwendigen funktionalen Zusammenhang zwischen Camp und
Versammlung auf.
67
Schulze-Fielitz, Art. 8 Rn. 35; Hoffmann-Riem, § 106 Rn. 57
68
Friedrich in: DÖV 2019, S. 63
69
OVG Berlin-Brandenburg 21.8.2020 – 1 S 99/20, BeckRS 2020, 22018 Rn. 9
24
Sport- und Musikveranstaltungen ohne innere Verbindung der
Teilnehmer üblich.70
Würde man annehmen, ein Imbissstand sei eine nicht notwendige
Modalität, wäre eine Räumung aller Imbissstände nach NPOG
gerechtfertigt.
Fragwürdigt bleibt sodann, inwiefern die Stadt mit dieser Räumung ihr
Ziel der Verhinderung einer lahmgelegten Innenstadt erreichen möchte.
Man kann mithin davon ausgehen, dass zwar nicht der Bequemlichkeit
dienende Modalitäten vorliegen, diese gleichwohl nicht ins Gewicht
fallen und somit unbeachtet bleiben können.
3. Ergebnis
Das Camp fällt aus genannten Gründen unter den akzessorischen Schutz
des Art. 8. Die Polizei muss sich dementsprechend auf das NVersG
aufgrund des Grundsatzes der Spezialität71 berufen.
70
Ullrich, Norbert, Nds. Versammlungsgesetz Kommentar, Stuttgart 2011, §1 Rn. 21
71
Hartmann/Mann/Mehde, Landesrecht Niedersachsen, 3. Aufl. 2020, Baden-Baden, §
4 Rn. 6
25
Einzig gegen die Imbissstände könnte die Polizei mithilfe des NPOG
vorgehen.
72
NVwZ 2018, 200, beck-online
73
Friedrich in: DÖV 2019, S. 62, Versammlungsinfrastrukturen: An den Grenzen des
Versammlungsrechts
74
Ullrich/Weiner/Brüggemann, Nds. PoR, Rn. 391
26
SCHLUSSVERSICHERUNG
Hiermit versichere ich, dass ich die Arbeit ohne fremde Hilfe und nur mit
den von mir angegebenen Hilfsmitteln angefertigt habe. Sämtliche
Quellen, einschließlich Internetquellen, die unverändert oder
abgewandelt wiedergegeben werden, sind als solche kenntlichgemacht.
Mir ist bekannt, dass bei Verstößen ein Verfahren wegen
Täuschungsversuchs bzw. Täuschung eingeleitet wird.Hiermit versichere
ich, die vorliegende Hausarbeit selbst, alleine und nur unter Verwendung
der angegebenen Hilfsmittel verfasst zu haben.
_________________________
Mtr.-Nr.
27