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Analysieren Sie den vorliegenden Textauszug.

Untersuchen Sie dabei


insbesondere die Beziehung der beiden Figuren.

Der E-Mail-Roman “Gut gegen Nordwind” von Daniel Glattauer, publiziert im


Jahr 2006, erzählt von einer unkonventionellen Liebesgeschichte zwischen
Emmi Rothner und Leo Leike, die sich durch eine anfangs versehentliche
E-Mail-Korrespondenz kennenlernen und eine Liebesbeziehung aufbauen,
ohne sich jemals persönlich zu treffen. Der Roman beinhaltet hunderte in der
Ich-Form verfasste E-Mails, abwechselnd aus der Perspektive von Emmi und
Leo. Der Autor liefert an keiner Stelle ergänzende Hinweise und die Handlung
entfaltet sich ausschließlich durch die Worte der Hauptfiguren.

Das Werk gehört mit seinem zeitgemäßen Format zur Gegenwartsliteratur.


Der Bestseller “Gut gegen Nordwind” war ein großer Durchbruch für den
Schriftsteller und erlangte überdies einen internationalen Ruf.
Die Beziehung zwischen Emmi und Leo hat wie jede andere ihre Höhen und
Tiefen, die durch die auffallende Unterschiedlichkeit ihrer Charaktere
ausgelöst worden sind. Aufgrund des taktlosen und unaufrichtigen Verhaltens
der Figuren lässt sich ihre Kommunikation jedoch als gestört bezeichnen, was
wiederum einen besonderen Charme der Geschichte verleiht.

Im vorliegenden Textauszug kennen sich Leo und Emma schon seit einer
Weile. Während dieser Zeit hat sich ihre Beziehung von einer rein
geschäftlichen zu einer überaus innigen verwandelt.
Der Romanausschnitt besteht aus einer Sequenz von E-Mails, die die
Protagonisten nach Emmis Verkupplung von Leo mit ihrer besten Freundin
Mia Lechberger austauschen. Vor dem vorliegenden Briefwechsel verschickt
Emmi an Leo scheinbar “aus reiner Herzensgüte” Mias Telefonnummer, da sie
ihn von seinem Liebeskummer befreien wolle. Als Emmi Fragen über das
Treffen der beiden stellt, weichen sowohl Leo als auch Mia aus. Im
vorhandenen Textausschnitt behauptet Leo immer noch nicht zu wissen, was
sich zwischen ihm und Mia entwickele, und dass es noch zu früh sei, um über
ihren Beziehungsstatus zu berichten. Dies wiederum desorientiert und irritiert
Emmi, die über alles informiert werden möchte. Daher auch ihre aufgebrachte
Antwort an Leo.
Insbesondere an dieser Textstelle lässt sich die Dynamik der Beziehung sowie
die Makel der Persönlichkeiten erkennen. Sie widerspiegelt, dass die Figuren
nicht ideal in ihren Charaktereigenschaften sind und ihr Verhalten einander
gegenüber einer offensichtlichen Verbesserung bedarf. Im Folgenden wird der
Textauszug mit einem besonderen Fokus auf solche Aspekte wie
Gesprächsverlauf, Gesprächssituation, Gesprächsart sowie
Gesprächsverhalten untersucht.

Im Textauszug wird das Gespräch von Leo eröffnet, der die bisherige
Kurzfristigkeit seines Kontakts zu Mia betont (“ich kenne Mia seit nicht
einmal einer Woche”, S. 158), um Emmi darauf hinzuweisen, dass es noch zu
früh ist, um endgültige Aussagen über ihre Beziehung zu treffen. Bei dem
Gesprächsabschluss hat Leo wieder die Oberhand: Er fordert Emma auf, sich
zuerst zu beruhigen und erst dann die Verbindung zu ihm wieder
aufzunehmen, dem sie gehorcht. Dabei herrscht eine asymmetrische
Redeverteilung sowie eine komplementäre Kommunikation, da Leo nun
dominiert und Emmi im Dunkeln gelassen ist. Leos Gesprächsstrategie
besteht darin, Emma den Eindruck zu vermitteln, er wolle etwas von ihr
bezüglich seiner Treffen mit Mia verheimlichen. Emmi ist ihrerseits
eifersüchtig auf ihre beste Freundin, da sie zwischen den Zeilen von Leos
geheimnisvollen Nachricht gelesen hat, die Beziehung zwischen Mia und Leo
sei intimer, als die beiden die Webdesignerin wissen lassen. Dies erklärt ihre
panische und verärgerte Antwort ("Ich habe noch nie so eine beschissene
E-Mail gelesen”, S. 159). Somit ist es Leo Leike gelungen, seine
Gesprächspartnerin in Panik zu versetzen.

In Bezug auf die Gesprächssituation lässt sich feststellen, dass Leos Absichten
jedoch nicht so aufrichtig sind, wie sie zu sein scheinen. Seine erste Nachricht
ist voller verschleierter Scheinaufrichtigkeit. Und obwohl sie äußerst
authentisch klingt, verrät Leo im späteren Verlauf, dass diese und einige
andere E-Mails tatsächlich so kalkuliert waren, dass sich Emmi hinters Licht
geführt fühlt. Der Grund für dieses Ziel ist, dass sich Leo und Mia wie
Marionetten von Emma fühlen, weil sie sich ihrer eigennützigen Intentionen
bewusst sind. Eigentlich verfolgt Rothner mit ihrem Matchmaking die Absicht,
Leo mithilfe von Mia näherzukommen und potentiell mehr über ihn zu
erfahren. Folglich möchte der Sprachpsychologe sich selbst und Mia rächen,
indem er die ansonsten stets informierte Emma für den Augenblick im
Ungewissen “zappeln” lässt. Emmi wiederum will sich damit nicht
zufriedengeben und fordert Leo auf, ihr mehr von seiner Beziehung zu Mia zu
erzählen. Ihr Gesprächsziel wird dennoch nicht erfüllt, weswegen sie
unzufrieden mit Leos langer E-Mail wirkt.
Im vorliegenden Überzeugungsgespräch wird eine drastische Senkung der
Vertrautheit zwischen den Protagonisten dargestellt. Leos Nachrichten wirken
auf Emmi intransparenter und sind für sie in der gegebenen Situation nicht
zufriedenstellend, was zur Folge hat, dass die Figuren weniger offen im
Weiteren miteinander umgehen.
Größtenteils besteht Leos Gesprächsverhalten in diesem Textausschnitt aus
Bitten an Emmi: In seiner ersten E-Mail bittet er sie um Geduld, während die
zweite Nachricht des Kommunikationsberaters eine Bitte um eine
E-Mail-Pause beinhaltet. Durch die vielen Appelle wirkt seine Botschaft
plausibel, zugleich aber auch distanziert. Durch formelle Wortwahl (“Ich bitte
Sie daher um Geduld”, S. 158, “Wenn Sie wieder gewillt sind”, S. 159) geht Leo
auf Distanz zu Emma, was den Effekt seiner grausamen Strategie noch
verstärkt. Des Weiteren wirkt seine zweite E-Mail aus dem Romanausschnitt
äußerst nüchtern und vernünftig (“Das tut mir aufrichtig leid für Sie”, S. 159,
“Dann werde ich wohl besser…” S. 159), was seine Worte aus der vorherigen
Nachricht bekräftigt und glaubwürdiger wirken lässt.

Aus der vorstehenden Analyse ergibt sich, dass sowohl Emmi als auch Leo
falsche Entscheidungen getroffen haben. Während Emmi aus Eigennutz
handelt, nutzt Leo als Antwort seine überdurchschnittlichen
Kommunikationsfähigkeiten aus, um Emmi eine Lektion zu erteilen.

Die Analyse lässt schließlich erkennen, dass die Protagonisten trotz ihrer
innigen Beziehung keinen Beschützerinstinkt füreinander entwickelt haben.
Sie zögern nicht, einander seelisch zu verletzen. Anstatt miteinander offen zu
kommunizieren und zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen zu stehen,
planen die Figuren ihre Gegenangriffe am anderen oder versuchen, ihren
Charakter zu verschönern, um besser oder bedeutsamer für den
Kommunikationspartner zu wirken. Wenn sie dies hinter dem Rücken des
anderen tun und einander die eigenen Gefühle verheimlichen, dann spricht
man von einer gestörten Kommunikation.

Mein persönliches Weltanschauungsbild lässt zu, dass die Personen, die eine
innige Liebesbeziehung pflegen wollen, im Angesicht ihrer
Unterschiedlichkeiten der Charaktere hin und wieder einander unabsichtlich
verletzen könnten. Aber wie die Textanalyse gezeigt hat, tun Leo und Emmi
einander weh auf unverschämte Art und Weise, mit einer gut durchdachten
Absicht, wodurch mein komplettes Bild von einer harmonisch wirkenden
Beziehung zugrunde geht. Das wirft dann eine Frage auf: Darf so eine
Beziehung weiter bestehen oder muss sie beendet werden, um die
Persönlichkeiten der Menschen nicht weiter zu zerstören? Somit komme ich
zum Schluss, dass es dem Autor gelungen ist, dem Leser eine äußerst heikle
Lebenssituation vorzuführen, wo der Leser gezwungen wird, seine
Lebensprinzipien in Frage zu stellen und nach Beweisen ihrer Korrektheit in
Bezug auf Liebesbeziehungen im Text zu suchen.

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