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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (2023) 97:175–182

https://doi.org/10.1007/s41245-023-00177-x

BEITRAG

Die Geschichtlichkeit des Geistes, materialistisch


verstanden

Christoph Menke

Angenommen: 2. Februar 2023 / Online publiziert: 28. Februar 2023


© Der/die Autor(en) 2023

Zusammenfassung Die Idee der Geistesgeschichte war ein idealistisches Pro-


gramm. Die Kritik dieses Programms hinterlässt uns aber die Aufgabe, die Ge-
schichtlichkeit des Geistes zu denken: Es gibt keine Geschichte ohne den Geist.
Diese These verlangt eine materialistische Erläuterung.

The Historicity of Spirit, in a Materialistic Understanding

Abstract The idea of Geistesgeschichte was an idealistic program. The critique of


this program, however, leaves us with the task of thinking the historicity of spirit:
There is no history without spirit. This thesis requires a materialist explanation.

I.

Der Ausdruck »Geistesgeschichte« erinnert an ein Verständnis der Geisteswissen-


schaften, das durch deren grundlegende methodische Selbstreflexion seit den 1960er
Jahren kritisiert und verabschiedet worden ist. Dafür gab es gute Gründe. Diese
Gründe liegen in dem idealistischen Erbe des Begriffs des Geistes, auf dem jenes
traditionelle Verständnis beruhte. Die »Austreibung des Geistes aus den Geistes-
wissenschaften« (so Friedrich Kittlers Formel für diesen Prozess) beruhte auf einer
Kritik des idealistischen Geistbegriffs. Genauer: Sie beruhte auf einer Kritik am
Idealismus des Geistbegriffs. Sie beruhte auf der Annahme, dass von Geist zu spre-
chen nichts anderes als Idealismus ist.
Wenn das richtig ist, kann dem Begriff der Geistesgeschichte keine orientieren-
de Kraft mehr zukommen; er müsste zurückgelassen und abgelegt werden. In den

 Christoph Menke
Institut für Philosophie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, 60629 Frankfurt a. M., Deutschland
E-Mail: christoph.menke@normativeorders.net
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Diskussionen der letzten Jahrzehnte, seit jenem kritischen Bruch mit der traditio-
nellen Geistesgeschichte, hat sich jedoch gezeigt, dass der Begriff des Geistes eine
wichtige, ja, unverzichtbare Rolle spielt, um zu verstehen, worum es im Denken der
Philosophie, der Philologien, der Geistes- und Humanwissenschaften geht (näm-
lich: ums Denken). Das zeigen exemplarisch die Auseinandersetzungen mit den
Ideologemen eines reduktiven Naturalismus, dessen hegemonialer Anspruch umso
wirksamer geworden ist, als er in unmittelbarer Verbindung mit den Prozessen der
Ökonomisierung steht, die die Gesellschaften des Westens seit den 1980er Jahren
determinieren; Naturalismus und Ökonomisierung arbeiten Hand in Hand. Auch das
ist eine Austreibung des Geistes. Daher muss – wieder oder weiterhin – von »Geist«
geredet werden. Es braucht einen anderen, neuen Begriff der Geistesgeschichte: da-
mit die »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft«1 enden und es Geschichte
geben kann.

II.

Was heißt im Zusammenhang mit der Kritik an der traditionellen Geistesgeschichte


»Idealismus«? »Idealismus« heißt hier schlechter Idealismus, und schlechter Idealis-
mus ist ein Denken in hierarchisch organisierten Dualismen: endlich und unendlich,
sinnlich oder körperlich und geistig, Interessen und Werte, niedrige Antriebe und
höhere Aspirationen, materielle Praxis und spirituelle Erhebung. Idealistisch verstan-
den, besteht die Funktion der Rede vom Geist darin, vor, hinter oder über unserem
gewöhnlichen Selbstverständnis eine tiefere oder höhere Schicht der Bedeutungen
und Ursprünge zu bezeichnen, die jenem gewöhnlichen Verständnis ebenso zugrunde
liegen wie sie ihm verborgen sind.
Das zeigt sich im traditionellen Vorhaben einer Geistesgeschichte an zwei An-
sprüchen. Das ist zum ersten der geistesgeschichtliche Anspruch, Totalitäten zu
erfassen, also Formationen so zu verstehen, dass sie ein homogenes Ganzes bilden,
mithin in sich einheitlich sind – durch »einen Geist« bestimmt, aus einem Ursprung
oder Prinzip gebildet. Dagegen hat die Kritik an der Geistesgeschichte die Brüche,
Heterogenitäten, Dissonanzen, Entgegensetzungen, Widersprüche geltend gemacht,
die jede geschichtliche Gestalt durchfurchen und unauflöslich sind. Idealistisch ist
zum zweiten der damit einhergehende Anspruch, die Elemente und Verhältnisse,
die eine geschichtliche Formation ausmachen, in transparente Zusammenhänge des
Sinns oder der Bedeutung – also in semantische, hermeneutische oder (im weiten
Sinn des Worts) logische Zusammenhänge – aufheben zu können. Dem widerspricht
der Aufweis, dass alle diese Elemente und Verbindungen eine materielle, körperli-
che, mechanische, mediale, technische, funktionale usw. Dimension haben, die kein
Sinnverstehen zu erreichen vermag. Geistesgeschichte zu betreiben ist im ersten
Sinn idealistisch, weil sie keine Differenzen – das heißt: keine inneren, konstituti-
ven Differenzen – denken kann. Und sie ist im zweiten Sinn idealistisch, weil sie
keine asemantischen Kräfte und alogischen Beziehungen denken kann; sie kann das

1 Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, Berlin
1961, 9.
Die Geschichtlichkeit des Geistes, materialistisch verstanden 177

Asemantische und Alogische nur privativ, als einen Mangel des Geistes (und daher
des Verstehens) begreifen.

III.

Das erlaubt der in (I.) formulierten These eine genauere Kontur zu geben. Die These
lautet, dass der Begriff der Geistesgeschichte, trotz der zutreffenden Kritik an seinem
traditionellen, idealistischen Verständnis, wieder oder erneut orientierend sein kann,
um ein anderes – diesmal kritisches, genauer: dialektisch-materialistisches (siehe
unten, VI.) – Verständnis der Geisteswissenschaften zu gewinnen. Der Grund dafür
kann aber nicht nur ein negativer sein; er kann nicht nur darin liegen, dass die Nach-
folgebegriffe für »Geist« – Diskurs, Episteme, Kultur, Medien usw. – sich früher
oder später vor ähnlichen (oder ähnlichen, weil umgekehrten) Problemen gefun-
den haben. Wenn trotz der überzeugenden Kritik am Idealismus dieses Programms
wieder von Geistesgeschichte zu reden ist, muss dies positiv begründet werden.
Dieser positive Grund liegt in dem Zusammenhang der beiden Teile des Kompo-
situms – »Geistesgeschichte«. Er liegt in der Verbindung von Geist und Geschichte.
Das Kompositum weist die Geschichte als das Grundwort und den Geist als dessen
Beiwort aus. Dann besagt »Geistesgeschichte«, dass die Geschichte als geistige, als
die Geschichte geistiger, sich selbst verstehend transparenter Totalitäten (und da-
mit die Geschichte selbst als eine sich selbst verstehende transparente Totalität) zu
fassen ist; das ist Idealismus. Aber diese Verbindung setzt bereits den umgekehrten
Zusammenhang voraus, nach dem nicht die Geschichte geistig, sondern der Geist
geschichtlich ist. Liest man die Verbindung von Geist und Geschichte, die das Kom-
positum behauptet, in dieser umgekehrten Richtung, dann besteht sie in der These,
dass der Geist nichts anderes als der Inbegriff des Geschichtlichen, das Prinzip oder
die Kraft der Geschichtlichkeit ist. Und das ist nicht idealistisch. Der positive Grund,
nach der Kritik am Idealismus der Geistesgeschichte wieder oder noch über diesen
Begriff nachzudenken, lässt sich also in der Hypothese fassen, dass ohne den Be-
griff des Geistes der Begriff der Geschichte gar nicht gedacht werden kann. Dann
geht es in dem Programm der Geistesgeschichte nicht mehr um die Geschichte des
Geistes – im objektiven Sinn des Genitivs: die Geschichte vom Geist – und damit
um die Geistigkeit der Geschichte. Sondern um die Geschichtlichkeit des Geistes.
Ja, es geht um die Geschichtlichkeit, und nur deshalb um den Geist: weil – und
soweit – es des Begriffs des Geistes bedarf, um den der Geschichte zu verstehen.

IV.

Die Hypothese auszuführen würde zu zeigen verlangen, dass – und wie – die Ver-
suche, die Geschichte ohne den Begriff des Geistes zu denken, scheitern. Das ist
ein zu großes Vorhaben. Hier lautet die Frage stattdessen umgekehrt, wie die we-
sentliche Geschichtlichkeit des Geistes selbst zu begreifen ist. Auf diese Frage liegt
eine Antwort nahe, die aber unzureichend ist; denn sie vermag noch nicht aus dem
Idealismus, dem das traditionelle Programm der Geistesgeschichte verhaftet war,
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herauszuführen. Diese naheliegende Antwort besagt, der Geist sei geschichtlich,


weil er in einer Folge sich umgestaltender Gestalten bestehe. Geist gibt es demnach
erstens nur so, dass er sich in konkreten Gestalten individualisiert, die je besonders
und wirklich, real und materiell sind. Diese Gestalten sind als geistige zweitens
prozessual. Und das in einem doppelten Sinn: Sie sind das Werk ihrer Selbstgestal-
tung und daher zugleich Momente, genauer: die Agenten, ihrer Umgestaltung. Der
Gestaltcharakter des Geistes – dass es ihn nur in Gestalten oder als Gestalt gibt: der
erste Zug der Bestimmung – bedeutet nicht Statik – geistige Gestalten sind nicht in
sich geschlossen –, sondern begründet die spezifische Dynamik des Geistes. »Die
Gestalt ist selbst eine Struktur der Bewegung und Transformation: in ihr geschieht
die Transformation und sie bewirkt und lenkt die Transformation – ja, die Entste-
hung des ›Neuen.‹«2 Der Geist ist demnach geschichtlich, weil er metamorphotisch
ist.
Versteht man die Geschichtlichkeit des Geistes so, verbleibt man jedoch im tradi-
tionellen Programm der Geistesgeschichte. Denn dieses Verständnis ist idealistisch
noch in einem tieferen Sinn als dem der behaupteten Totalität und der Transpa-
renz des Geistes. Es ist idealistisch, weil es die Geschichte als einen Prozess der
Selbstveränderung versteht. »Geist« zu sagen heißt demnach, etwas Wirkliches so zu
verstehen, dass es sich durch und aus sich selbst hervorgebracht hat und sich durch
und aus sich selbst verändert. Es ist wesentlich neu – im doppelten Sinn: Es ist
neu gewesen (weil es sich hervorgebracht hat) und wird neu geworden sein (weil es
sich verändert). Dieser Gedanke der wesentlichen Geschichtlichkeit, des wesentlich
Neuen alles Geistigen, ist nun genau dann idealistisch, wenn er dies so versteht, dass
die geistige Gestalt sich selbst hervorgebracht hat und sich selbst verändert: dass dies
die eigene Tat des Geistes ist; die Tat seiner vernünftigen Selbstbestimmung, also
die Ausübung seines vernünftigen Vermögens oder seines Vermögens der Vernunft
(denn Selbstbestimmung heißt Vernunft).
Die beiden folgenden Schritte sollen andeuten, wie die Geschichtlichkeit des
Geistes anders verstanden werden kann.

V.

Den Geist als geschichtlich zu definieren, weil er sich gestaltet und umgestaltet,
heißt, dass er nicht aus einer Reihe von einzelnen, für sich bestehenden, einander
gegenüber selbstständigen Gestalten besteht: Der Geist ist niemals nur in Gestalten,
das heißt: als Gestalt, da. Sondern er ist das Prinzip der Hervorbringung der Gestalt;
der Geist ist nicht als eine Gestalt da, weil er Gestaltung, und daher Umgestaltung,
ist. Der Geist ist immer schon mehr als seine (oder eine) Gestalt. Deshalb und in

2 Angelica Nuzzo, Approaching Hegel’s Logic, Obliquely. Melville, Molière, Beckett, New York 2018, 84.

Nuzzo reformuliert so Hegels Begriff der geistigen Gestalt, den sie u.a. auf Goethe zurückführt. Indem
Nuzzo (mit Erich Auerbach) an den theologischen Sinn der Figura erinnert (die der Ausdruck »Gestalt«
übersetzt), geht sie jedoch über den metamorphotischen Sinn hinaus. Denn diese Figur ist die paradoxe
Einheit einer unendlichen Differenz; sie ist in sich zerrissen.
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diesem Sinn bedarf es der Geistesgeschichte: weil der Geist geschichtlich ist. So das
skizzierte Verständnis.
Es so zu sehen, bedeutet aber vorauszusetzen, dass es den Geist, als das Prinzip
oder Vermögen der (Um-)Gestaltung, schon gibt. Die Prämisse der skizzierten Kon-
zeption lautet: Es gibt Geist. Der Geist ist (oder hat) das Vermögen, zu gestalten und
umzugestalten. Oder: Es gibt Geschichte – so wie und weil es den Geist gibt. Darin
liegt der Idealismus dieser Konzeption. Denn der Idealismus – so hat Marx an Hegel
beobachtet – ist ein Positivismus.3 Idealismus heißt, den Geist als eine Gegebenheit
anzusehen, mit der man beginnen, die man immer schon voraussetzen kann. Oder es
bedeutet, das Werden des Geistes nur im subjektiven Sinn des Ausdrucks und nicht
auch in seinem objektiven Sinn zu verstehen: das Werden von Geist.
Idealistisch verstanden, ist das Werden des Geistes das Werden – die Bewegung,
Veränderung, Transformation usw. –, das der Geist selbst hervorbringt oder das ihn
ausmacht: dessen Subjekt er ist. Das aber ist ein Werden, das ein Sein voraussetzt:
das Sein des Subjekts des Werdens (und damit das Dasein, die positive Gegebenheit,
des Werdens). Dieses Sein ist aber selbst geworden. Es muss also das Werden des
Seins (des Subjekts) des Werdens – das Werden des Geistes, der das Subjekt seiner
umgestaltenden Gestaltung ist – gedacht werden. Die skizzierte Konzeption der
Geschichtlichkeit des Geistes ist idealistisch (und ihr Idealismus ein Positivismus),
weil sie das Denken des Werdens nicht bis zu diesem Punkt vorantreibt; weil sie
das Werden des Werdens – das Werden desjenigen Werdens, das der Geist ist –
nicht denkt. Oder genauer: weil sie die Differenz nicht denkt, die das Werden des
Geistes im subjektiven und im objektiven Sinn trennt. Idealistisch zu denken heißt,
die Differenz des Werdens zu ignorieren. Es heißt, das Werden des Geistes im
objektiven Sinn auf dieselbe Weise zu verstehen wie das Werden, dessen Subjekt
er ist. (Ein Name für diese Amalgamierung ist »Bildung«.) Umgekehrt heißt, den
Idealismus oder Positivismus dieser Konzeption zu kritisieren, die Differenz des
Werdens geltend zu machen. Aber nicht in einem sequentiellen Sinn, so als müsste
erst der Geist geworden sein, um dann umgestaltend tätig zu werden. Vielmehr muss
die Differenz des Werdens als das innere Prinzip der Geschichte des Geistes begriffen
werden: Die Differenz des Werdens entfaltet sich im Inneren der Geschichte. Diese
Differenz ist nichts anderes als der Geist in der Geschichte oder die Geschichtlichkeit
des Geistes. Die Geschichte, als Geschichte des Geistes begriffen, ist der Prozess,
in dem sich der gestaltend-umgestaltend wirkende Geist selbst immer erst noch und
wieder hervorbringen wird.
Das hat eine unmittelbare Konsequenz für das Programm einer Geistesgeschich-
te. Die soeben skizzierte Kritik richtet sich gegen die Annahme, dass es den Geist
als das Prinzip oder Vermögen der Umgestaltung gibt – dass der Geist da ist (oder
dass seine Negativität eine positive Existenz besitzt). Dann würde die Aufgabe der
Geschichtsschreibung darin bestehen, dieses Dasein festzustellen und sein Wirken
zu verzeichnen. Das kann selbstverständlich nicht durch empirische Beobachtung
und Klassifizierung geschehen, sondern bedürfte anderer Verfahren, wie die »Ein-

3 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Ergän-
zungsband 1, Berlin 1968, 573 u. 581.
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fühlung« oder das »Verstehen«. Sie würden ins Innere der jeweiligen Gestalt führen,
in denen ihr Geist als bildendes Prinzip am Werk ist.
Wenn man diesen geistesgeschichtlichen Verfahren nun ihre Voraussetzung ent-
zieht, dass der Geist, um den es ihnen geht, wenn auch verborgen in der jeweiligen
Gestalt schon da ist, gewinnen sie eine ganz andere Aufgabe und Kraft. Sie werden
zu Verfahren einer radikalen Veränderung ihrer Gegenstände. Diese Veränderung ist
radikal, weil sie ontologisch ist (also nicht material). Genauer gesagt müssen sie
Verfahren sein, die an der ontologischen Selbstveränderung, in der der Geist erst
wird, in der er selbst- und umgestaltend und daher zum Geist wird, mitarbeiten. Um
diese Kraft freizulegen, müssen sie Verfahren sein, die die Fülle und den Reichtum
an Bestimmungen, die jede wirkliche Gestalt ausmachen, durchstoßen, sie beiseite
räumen und von ihr abstrahieren, um jene Kraft freizulegen – das ist die Kraft der
Negativität –, die den Geist ausmacht. Daher gilt immer noch, was Michel Foucault
vor über 50 Jahren in einer Rezension der französischen Übersetzung von Ernst Cas-
sirers Philosophie der Aufklärung geschrieben hat: »Es wäre an der Zeit, sich wieder
einmal daran zu erinnern, dass die Kategorien des ›Konkreten‹, des ›Erlebens‹ und
der ›Totalität‹ dem Reich des Nichtwissens angehören.«4 Alles geschichtliche Wis-
sen beruht daher auf einem (oder alles Wissen ist daher ein) »Bildersturm«, der das
Zuwissende, den Gegenstand des Wissens, also die Wahrheit, aus dem Wirklichen
herauslöst. Denn dieses Wissen gilt dem »Denken einer Epoche« (Foucault): einer
Epoche, soweit sie denkt. Wenn die Geistesgeschichte die Geschichte des Geistes
sein will; und wenn es den Geist nur so gibt, dass er erst wird – dass er sich seinem
Gegenteil entringt –, dann kann die Geistesgeschichte nicht die Werke und Gestalten
beschreibend entfalten, die die Existenz des Geistes bereits voraussetzen. Sie muss
zu dem Punkt vorstoßen, an dem der Geist sich im Kampf gegen sein Gegenteil
erst bildet: an dem er zu denken beginnt und damit erst zum Geist wird. Oder die
Geistesgeschichte muss zur Genealogie des Geistes werden.

VI.

Das Gegenteil des Geistes ist die Natur: Der Geist geht aus der Natur hervor, in-
dem er sich ihr entgegensetzt. Wenn die Geschichte des Geistes nicht mit seiner
Gegebenheit anfangen und daher nicht als die Geschichte seiner sich umgestalten-
den Selbstgestaltung definiert werden kann, sondern zugleich die Geschichte vor der
Geschichte, die Vorgeschichte des Werdens des Geistes sein muss (so das Argument

4 Michel Foucault, »Eine Geschichte, die stumm geblieben ist« [1966], in: Ders., Schriften, Bd. 1, Frank-

furt a. M. 2001, 707. Dieser Gedanke Foucaults entspricht Hegels Bestimmung der philosophischen Ge-
schichtsbetrachtung. Diese »muß die individuelle Darstellung des Wirklichen in der Tat aufgeben und sich
mit Abstraktionen behelfen, epitomieren, abkürzen, nicht bloß in dem Sinn, daß Begebenheiten und Hand-
lungen wegzulassen sind, sondern in dem anderen, daß der Gedanke der mächtigste Epitomator bleibt.«
(Georg W. F. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, in: Theorie-Werkausgabe, Bd. 12, Frank-
furt a. M. 1970, 16) Diesen Gedanken hat Catherine Malabou entschieden herausgearbeitet und unter den
Titel der »Vereinfachung« (simplification) gestellt: »La simplification, d’une importance capitale pour He-
gel d’un point de vue logique et ontologique, est le sens même de la teleologie speculative.« (L’avenir de
Hegel. Plasticité, temporalité, dialectique, Paris 1996, 201).
Die Geschichtlichkeit des Geistes, materialistisch verstanden 181

in Abs. V.); und wenn weiterhin richtig ist, dass die Vorgeschichte das Werden des
Geistes aus der Natur darstellt – dann bildet die geschichtliche Existenz des Geistes
(die die Geistesgeschichte zur Darstellung bringt) keine autonome Sphäre jenseits
der Natur. Sie ist, in jedem Moment noch und wieder, die Geschichte des Her-
vorgehens des Geistes aus der Natur. Sie ist die Geschichte und die Geschichte der
Geschichte: die Geschichte, in der sich der Geist umgestaltet, und die Geschichte, in
der der Geist sich der Natur entgegensetzt und dadurch erst geschichtlich wird. Das
bestimmt nach Theodor W. Adorno die »Faktizität« des Geistes, die seine Geschicht-
lichkeit ausmacht – und die die »Geistesgeschichte«, so wie Wilhelm Dilthey sie
entworfen hat, indem er »epochenweise Konstruktionen geschichtlicher Urbilder zu
gewinnen« versucht hat, immer schon verfehlt. Ihr gerecht zu werden verlangt nach
Adorno dagegen, »die geschichtliche Faktizität in ihrer Geschichtlichkeit selbst als
naturgeschichtlich einzusehen.«5 Es verlangt einzusehen, dass die Geistesgeschichte
zugleich Naturgeschichte ist.
Das heißt zweierlei; es hat zwei Bedeutungen, die in entgegengesetzte Richtun-
gen weisen, die aber zusammenzudenken sind. Nach der ersten Bedeutung bedarf es
der Naturgeschichte, weil der Geist immer schon naturverfallen ist. Er ist verfallen
in eine naturhafte Existenz; er existiert wie Natur. (Das definiert, was Adorno an der
zitierten Stelle seine »material-gefüllte Realität« nennt.) Daher hat die Bewegungs-
weise des Geistes immer auch eine natürliche Form. Er verändert sich so wie sich die
Natur verändert: Es gibt – tatsächlich – eine »Evolution« des Geistes; die Evolution
ist, in Marx’ Sinn des Wortes, »vorgeschichtlich«. Das heißt aber zugleich, dass es
die Geschichte des Geistes noch nicht gibt. Was es von selbst oder von Natur aus
gibt, ist vielmehr die Geschichtlichkeit des Natürlichen – natürliche, naturhafte Ge-
schichtlichkeit. Es gibt die Evolution; die Geschichte – also: die Geistesgeschichte –
muss immer erst noch werden.
Dass die Geschichte und damit der Geist (oder der Geist und damit die Geschich-
te) noch werden müssen, heißt aber, dass ihre naturhafte Existenz vergehen muss.
Das ist die zweite Bedeutung der von Adorno exponierten These, dass die Geschicht-
lichkeit des Geistes »selbst als naturgeschichtlich einzusehen [ist]«. Die Geschichte
der Natur ist erstens ihre Evolution, deren Gesetze auch noch bestimmen, was das
traditionelle Programm der Geistesgeschichte einfühlend oder verstehend als geisti-
ge, sich selbst hervorbringende und verändernde Gestalten zu erfassen versucht. Die
Natur ist aber zweitens und im Gegenzug dazu geschichtlich auch in einem ganz
anderen Sinn: Die Natur ist geschichtlich, weil sie, »als Schöpfung«, selbst ver-
gänglich ist. Die Natur ist geschichtlich, weil sie vergeht – und weil, nur indem sie
vergeht, also im Vergehen des natürlichen Werdens und Vergehens, die Geschichte
(das heißt: die Geschichte des Geistes) beginnt. »Wann immer Geschichtliches auf-
tritt, weist das Geschichtliche zurück auf das Natürliche, das in ihm vergeht.«6 Nur
weil (und wenn) die Natur vergeht, wird der Geist und fängt die Geschichte an. Nur
weil die Natur selbst geschichtlich ist, gibt es die Geschichtlichkeit des Geistes.

5 Theodor W. Adorno, »Die Idee der Naturgeschichte«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt
a. M. 1973, 361.
6 Ebd., 359.
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Also ist die Geistesgeschichte – die Geistesgeschichte, die sich vom Trug des
Idealismus befreit – im doppelten Sinn Naturgeschichte. Sie kann der Idee des
Geistes und seiner Geschichte nur treu sein, wenn sie seine naturhaft verfallene
Wirklichkeit, seine Wirklichkeit als zweite Natur, aufweist (und also zur Kritik
wird, das heißt, die Differenz von Geist und zweiter Natur entfaltet). Und sie kann
das Werden des Geistes nur freilegen, wenn sie begreift, wie er aus dem Vergehen
der Natur hervorgeht: worin also die Kraft besteht, die die naturhaften Kreisläufe
des Werdens und Vergehens durchbricht und das Werden des Geistes ermöglicht –
die Kraft, die die Determination durch die Natur vergehen lässt und den Geist
hervorbringt (und die daher nicht selbst schon geistig sein kann7).
Es sind also zwei aufeinander folgende Schritte zu tun, wenn die Idee einer
»Geistesgeschichte« von den idealistischen Prämissen befreit werden soll, die ihr
von ihrem Ursprung her eingeschrieben sind. Beide Schritte wenden sich dagegen,
die Geschichte als die Selbstbewegung, als die Selbstbestimmung des Geistes zu
verstehen. Der erste Schritt besagt, dass die Geschichte das Werden des Geistes
(Abs. V.), der zweite Schritt, dass sie das Vergehen der Natur ist (Abs. VI.). Wahrhaft
geschichtlich sind daher die Momente, in denen die Naturhaftigkeit des Geistes
vergeht und er seine Freiheit erringt. Von diesen Momenten muss die Geschichte
des Geistes handeln. Das könnte man »Geistesgeschichte« nennen. Sie wäre dies
aber in dem Sinn, dass sie »nur eine Auslegung von gewissen Grundelementen der
materialistischen Dialektik ist.«8
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7 Wie ist diese Kraft zu verstehen? Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste ist religiös – die befreiende

Kraft ist der Messias –, die zweite ästhetisch – die befreiende Kraft ist das sinnlich Unbewusste. Das
diskutiere ich in Theorie der Befreiung, Berlin 2022, Kap. 6.
8 So der Schlusssatz von Adornos Vortrag (»Die Idee der Naturgeschichte« [Anm. 5], 365). Adorno nennt

die »materialistische Dialektik« hier auch die »richterlich[e] Instanz«, der er sich stelle.

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