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Roland Barthes

Am Nullpunkt der Literatur


Literatur oder Geschichte
Kritik und Wahrheit
Aus dem Französischen von
Helmut Scheffel

Dieser Band versammelt die lange vergriffenen Einzelwerke Am Nullpunkt


der Literatur, Literatur oder Geschichte und Kritik und Wahrheit aus der
frühen Periode des Barthesschen Werkes und macht sie wieder zugänglich.
Hier wird der zentrale Begriff der »écriture«, der »Schreibweise«, entfaltet,
wird die klassisch gewordene Unterscheidung zwischen Ȏcrivaint< und
»écrivant«, zwischen »Schriftsteller« und »Schreiber«, getroffen; hier wird
ein Umgang mit Literatur erprobt, der Begriffe und Möglichkeiten einer
Kritik literarischer Texte aus dem Geist des Strukturalismus entfaltet. In
ihrer stilistischen Brillanz, gedanklichen Tiefe und wissenschaftlichen Fun-
Am Nullpunkt der Literatur: Titel der französischen Originalausgabe Le
Inhalt
degré zéro de l'écriture ® Editions du Seuil, Paris 1953. Die erste Ausgabe
dieses Essays erschien 1959 im Claassen Verlag, Hamburg, in überarbeite-
ier Ubersetzúng dann 1982 in der Bibliothek Suhrkamp als Band 762.
Am Nullpunkt der Literatur
Literatur oder Geschichte: m ι963 und 1964 Editions du Seuil. Die erste Aus-
gabe dieser Zusammenstellung aus Sur Racine (Paris 1963) und Essais cri- Einleitung 9
tiques I (Paris 1964) erschien 1969 als Band 303 in der edition suhrkamp.
I.
Kritik und Wahrheit: Titel der französischen Originalausgabe Critique et Was versteht man unter Schreibweise? ~5
vérité m Editions du Seuil 1966. Die deutsche Übersetzung erschien erst- Politische Schreibweisen 22
mals 1967 als Band zt8 in der edition suhrkamp. Schreibweise des Romans 29
Gibt es eine Schreibweise der Lyrik? 37

I I.
Triumph und Bruch der bürgerlichen Schreibweise 47
Das Stilhandwerk 52
Schreibweise und Revolution S5
Schreibweise und Schweigen 60
Die Schreibweise und das Wort 64
Utopie der Sprache 67

Literatur oder Geschichte

Literatur oder Geschichte 73


edition suhrkamp 2471 Die Imagination des Zeichens
Erste Auflage zooó 94
® der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Schriftsteller und Schreiber ιoτ
Frankfurt am Main 1982, 1969, 1967 Die beiden Kritiken sic
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags Was ist Kritik? 117
sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
Literatur heute 124
auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form Literatur und Diskontinuität. Über »Mobile«
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) von Michel Butor 137
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert Literatur und Bedeutung τ5τ
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,
vervielfältigt oder verbreitet werden.
Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn Kritik und Wahrheit
Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim
Umschlag gestaltet nach einem Konzept Vorwort von Helmut Scheffel 175
von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
Der Geschmack 192 Am Nullpunkt der Literatur
Die Klarheit Ι9S
Der Asymbolismus Zoo

Zweiter Teil
Die Krise des Kommentars 209
Die plurale Sprache 211
Die Wissenschaft von der Literatur 216
Die Kritik 221
Die Lektüre 229
Einleitung

Hébert' verfaßte nie eine Nummer seines >père Duchêne<, ohne


den Text mit einer Reihe von Kraftausdrücken zu würzen. Diese
Grobheiten bedeuteten an sich nichts, aber sie waren Signale. Wo-
für? Für eine insgesamt revolutionäre Situation. Wir haben hier
das Musterbeispiel einer Schreibweise, die nicht mehr nur etwas
mitteilen oder ausdrücken, sondern darüber hinaus ein außerhalb
des Mitgeteilten Liegendes bedeuten will, das zugleich das ge-
schichtliche Geschehen ist und der Anteil, den man daran nimmt.
Es gibt keine geschriebene Sprache, die nicht auch gleichzeitig
etwas zur Schau stellt. Und was für den >Père Duchêne< zutrifft,
gilt auch für die Literatur. Sie signalisiert ebenfalls etwas, das von
ihrem Gehalt und ihrer individuellen Form verschieden ist, das
ihre Abgeschlossenheit ausmacht, etwas, wodurch sie gerade zur
Literatur wird und sich als solche zu erkennen gibt. Daher stammt
eine Gesamtheit von Zeichen, die ohne Beziehung zur Idee, zur
Sprache oder zum Stil nur als solche gegeben werden und als sol-
che bestimmt sind, in der Dichte all der möglichen Ausdruckswei-
sen die Einsamkeit einer ritualen Sprache zu definieren. Diese sa-
krale Ordnung der Zeichen setzt die Literatur als Institution und
strebt danach, sie von der Geschichte zu lösen, denn kein geschlos-
sener Bereich wird gestiftet ohne die Vorstellung einer langen ge-
festigten Dauer. Aber gerade da, wo die Geschichte zurückgewie-
sen werden soll, wird sie am eindeutigsten wirksam. Es ist also
möglich, eine Geschichte der literarischen Ausdrucksweise an sich
zu entwerfen, eine Geschichte, die weder die der Sprache noch
die der Stile ist, sondern nur die der Literaturzeichen. Man kann
im voraus annehmen, daß diese Geschichte der Form auf ihre be-
sondere, durchaus klare Weise ihre Verbindung mit der Gesamtge-
schichte erkennen lassen wird.
Es handelt sich natürlich um eine Verbindung, deren Form mit
der Geschichte selbst variieren kann; es ist keineswegs erforder-
lich, Zuflucht zu einem direkten Determinismus zu nehmen, um
'-1iP AnwPSPnί υ t &r sc}ńc}it, ím Schicksal der Schreιhwei.cen
zu spüren. Die Art funktionaler Front, die die Ereignisse, die Jahren ist somit jede Schreibweise eine Übung der Zähmung oder
Situationen und die Ideen durch die historische Zeit dahinträgt, der Abstoßung gegenüber diesem Objekt, das da >Form' heißt und
unterbreitet hier weniger die Wirkungen als die Grenzen einer ge- dem der Schriftsteller zwangsläufig auf seinem Wege begegnet, das
troffenen Wahl. Die Geschichte liegt dann vor dem Schriftsteller er betrachten, dem er entgegentreten, das er auf sich nehmen muß,
wie das Herannahen einer notwendigen Entscheidung zwischen das er aber niemals zerstören kann, ohne sich selbst als Schrift-
mehreren Ethiken sprachlicher Ausdrucksformen; sie zwingt ihn, steller zu zerstören. Die Form schwebt vor seinem Blick als Ob-
Literatur innerhalb von Mdglichkeiten zu signalisieren, über die jekt, und was er auch unternimmt, sie bleibt ein Argernis: ist sie
er an sich nichts vermag. Wir werden zum Beispiel sehen, daß die glänzend, erscheint sie veraltet; ist sie anarchisch, so ist sie auch
Einheit der bürgerlichen Ideologie eine einheitliche Schreibweise asozial; und ist sie besonders im Vergleich zur Zeit und zu den
hervorgebracht hat und zur Blütezeit des Bürgertums (in der Zeit Menschen, gleich auf welche Art, ist sie immer Einsamkeit.
der Klassik und Romantik) die Form nicht zerrissen sein konnte, Das ganze 19. Jahrhundert hat dieses dramatische Phänomen
weil es auch das Bewußtsein nicht war, daß aber von dem Augen- der Verhärtung sich immer weiter entwickeln sehen. Bei Chateau-
blick an, als der Schriftsteller aufhörte, Zeuge des Universellen briand ist es erst eine schwache Ablagerung, das leichte Gewicht
zu sein und zu einem unglücklichen Gewissen wurde (etwa um einer Euphorie des sprachlichen Ausdrucks, eine Art Narzißmus,
1850), seine allererste Bewegung die war, sich durch seine Form bei dem die Schreibweise sich kaum erst von ihrer instrumentel-
zu engagieren, sei es durch die Übernahme der Schreibweise der len Funktion trennt und sich nur selbst betrachtet. Flaubert — um
Vergangenheit, sei es durch deren Ablehnung. Die einheitliche klas- hier nur die typischen Augenblicke dieser Entwicklung zu benen-
sische Schreibweise ist also zersplittert, und die gesamte Litera- nen — hat die Literatur endgültig als Objekt gesetzt, dadurch daß
tur von Flaubert bis heute ist damit zu einer Problematik der Spra- er ihr einen Arbeitswert gab: die Form wurde Endergebnis einer
che geworden. 'Fabrikation' wie eine Keramik oder ein Geschmeide (man muß
Gerade zu jenem Zeitpunkt ist die Literatur als solche (das Wort dabei verstehen, daß die Fabrikation kenntlich gemacht wurde,
selbst ist kurze Zeit vorher erst aufgekommen) endgültig als ein das heißt zum ersten Mal als Schaustellung geliefert und aufge-
Objekt bestätigt worden. Die klassische Kunst konnte sich nicht zwungen wurde). Mallarmé schließlich hat diese Konstruktion
als eine sprachliche Ausdrucksform fühlen, sie war Sprache, das der Literatur als Objekt durch den höchsten Akt aller Objekti-
heißt Transparenz, Kreislauf ohne Ablagerung, ideales Zusammen- vation gekrönt: durch den Mord. Es ist bekannt, daß die gesamte
spiel eines universalen Geistes und eines dekorativen Zeichens Anstrengung Mallarmés auf eine Zerstörung der Sprache ausging,
ohne eigene Dichte und Verantwortlichkeit. Die Geschlossenheit von der die Literatur dann gewissermaßen nur noch der Kadaver
dieser Sprache war von sozialer, nicht naturgegebener Art. Es ist wäre.
bekannt, daß diese Transparenz gegen Ende des ι8. Jahrhunderts Ausgehend von einem Nichtsein, in dem das Denken sich glück-
getrübt wurde. Die literarische Form entwickelt eine zweite Macht, selig aus dem Dekorum der Worte zu erheben schien, hat die
unabhängig von ihrer Ökonomie und ihrer Euphemie; sie faszi- Schreibweise so alle Stadien einer fortschreitenden Verfestigung
niert, sie bezaubert, sie entführt, sie hat ein Gewicht; man empfin- durchlaufen: zunächst Objekt eines Blickes, dann eines Tuns und
det die Literatur nicht mehr als eine gesellschaftlich privilegierte dann eines Mordes, erreicht sie heute eine allerletzte Umwand-
Kommunikationsweise, sondern als eine konsistente und tiefe lung: die Abwesenheit. In den neutralen Schreibweisen, die hier
Sprache voller Geheimnisse, die sich darbietet als Traum und Dro- >Schreibweise im Nullzustand< genannt werden, kann man ohne
hung zugleich. Schwierigkeit die Bewegung eines Negieren erkennen sowie die
Das hat Fnί ςη η Dia Íítrraríc'όe Fω rm Í<ann vnn mm an í na πι
lichung des orpheischen Traumes bietend: Schriftsteller ohne Li- Ι
teratur zu sein. Die neutrale Schreibweise, die Camus', die Blan-
chots, Cayrols oder Robbe-Gríllets zum Beispiel oder die gespro-
chene Schreibweise Queneaus, bilden die letzte Episode einer
Passion der Schreibweise, die Schritt für Schritt der Zerreißung
des bürgerlichen Bewußtseins folgt.
Meine Absicht ist hier, diese Verbindung zu skizzieren, zu zei-
gen, daß es eine formale Wirklichkeit gibt, die unabhängig von Spra-
che und Stil ist, zu zeigen, daß diese dritte Dimension der Form
ebenfalls — und zwar nicht ohne eine zusätzliche Tragik — den
Schriftsteller an seine Gesellschaft bindet, und schließlich spüren
zu lassen, daß es keine Literatur gibt ohne eine bestimmte Moral
der sprachlichen Ausdrucksweise. Die äußeren Grenzer dieses
Essays (von dem Teile 1947 und 1950 in der Zeitung Combat er-
schienen sind) zeigen schon deutlich, daß es sich nur um eine Ein-
leitung zu einer möglichen Geschichte der Schreibweise handeln
kann.
Was versteht man unter Schreibweise?

Es ist bekannt, daß die Sprache ein allen Schriftstellern einer Epo-
che gemeinsamer Corpus aus Vorschriften und Gewohnheiten ist.
Das bedeutet, daß sie so etwas wie eine Naturgegebenheit dar-
stellt, die durch die Rede des Schriftstellers hindurchgeht, ohne
dieser eine Form zu geben, ja, ohne diese auch nur zu nähren: sie
ist wie ein abstrakter Kreis von Wahrheiten, außerhalb dessen erst
sich die Dichte eines einsamen Wortes abzulagern beginnt. Sie
schließt die gesamte literarische Schöpfung etwa so ein, wie Him-
mel und Erde und deren Berührungslinie für den Menschen eine
vertraute Heimstatt zeichnen. Sie ist weniger ein Materialvorrat
als vielmehr ein Horizont, das heißt gleichzeitig Grenze und Sta-
tion, mit einem Wort: der beruhigende Bereich einer Struktur.
Im eigentlichen Sinn des Wortes >schöpft< der Schriftsteller nichts
aus ihr, die Sprache als solche ist für ihn vielmehr wie eine Li-
nie, deren Überschreitung vielleicht eine Über-Natur seiner Rede
erkennbar macht; sie Ist der Raum für eine Aktion, die Definition
und das Erwarten eines Möglichen. Sie ist nicht der Ort eines
sozialen Engagements, sondern nur Reflex ohne Wahl, das un-
geteilte Eigentum aller Menschen, nicht das der Schriftsteller;
sie bleibt außerhalb des Rituals der Literatur; sie ist nicht durch
Wahl, sondern ihrer Definition nach ein soziales Objekt. Nie-
mand kann ohne Zurüstung seine Dichterfreiheit in die Dichtig-
keit der Sprache schreiben, denn die Totalität der Geschichte erhält
sich durch sie vollständig und geschlossen wie ein Naturgebilde.
Daher ist die Sprache für den Schriftsteller lediglich ein mensch-
licher Horizont, der in der Ferne eine gewisse — im übrigen völ-
lig negative — Vertrautheit schafft: die Feststellung treffen, daß
Camus und Queneau die gleiche Sprache sprechen, heißt nur,
durch eine Art Differentialoperation alle archaischen oder zukünf-
tigen Sprachen präsumieren, die sie nicht sprechen. Die Sprache
des Schriftstellers, zwischen zerstörten und noch unbekannten
Formen schwebend, ist weniger ein Fundus als vielmehr eine äu-
(1rpr',o. ε,p ,εr λ A,-n-r."mpt,-icr.l1p (‚rt fiír o11P ε n.-,c Pr n rλ r
Die Sprache als solche ist also diesseits der Literatur. Der Stil fleischlicher Struktur des Autors (es sei daran erinnert, daß Struk-
ist fast jenseits. Bilder, Vortragsweise, Wortschatz werden aus der tur Ablagerung einer Dauer ist). Daher ist auch der Stil immer ein
Konstitution und der Vergangenheit des Schriftstellers geboren Geheimnis; doch die stumme Seite seiner Verknüpfung erklärt
und werden allmählich zu den Automatismen seiner Kunst. Unter sich nicht aus der beweglichen und stets vorläufigen Natur der
dem Namen Stil formt sich auf diese Weise eine autarke sprach- Sprache, sein Geheimnis besteht in einer im Körper des Schrift-
liche Ausdrucksweise, die nur in die eigene, geheime Mytholo- stellers eingeschlossenen Erinnerung; die Assoziationskraft des
gie des Autors hinabreicht, in jene Hypophysis der Rede, wo Stils ist kein Phänomen der Geschwindigkeit wie beim Sprechen,
sich das erste Wort- und Dingpaar bildet, wo sich ein für allemal wo das, was nicht gesagt wird, immerhin ein Interim sprachlichen
die großen Wortthemen seiner Existenz niederlassen. Mag ein Stil Ausdrucks bleibt, sondern ein Phänomen der Dichte, denn ge-
noch so raffiniert sein, es haftet ihm doch immer etwas Elemen- radewegs unter dem Stil, hart oder zärtlich in seinen Figuren zu-
tares an. Er ist eine Form ohne Bestimmung, er ist das Ergebnis sammengefaßt, befinden sich Bruchstücke einer Wirklichkeit, die
eines Wachstumsstoßes, nicht das eines Wollens, er ist wie eine dem sprachlichen Ausdruck völlig fremd ist. Das Wunder dieser
vertikale, einsame Dimension des Denkens. Sein Bezugssystem Transmutation macht aus dem Stil eine Art metaliterarischer Ope-
liegt auf der Ebene einer Biologie oder einer Vergangenheit, nicht ration, die den Menschen an die Schwelle von Macht und Magie
aber auf der der Geschichte: er ist die ureigene Sache des Schrift- führt.
stellers, sein Glanz, sein Gefängnis und seine Einsamkeit. Trans- Durch seinen biologischen Ursprung liegt Stil außerhalb der
parent und indifferent gegenüber der Gesellschaft, in sich ruhen- Kunst, das heißt außerhalb des Paktes, der den Schriftsteller an
de Bewegung der Person, ist der Stil durchaus nicht Ergebnis die Gesellschaft bindet. Man kann sich also Autoren denken, die
einer Wahl oder einer Reflexion über Literatur, er ist der priva- die Sicherheit der Kunst der Einsamkeit des Stils vorziehen. Der
te Teil des Rituals, er steigt auf aus der mythischen Tiefe des Typus des Schriftstellers ohne Stil ist André Gide, der mit sei-
Schriftstellers und entfaltet sich außerhalb seiner Verantwortlich- ner handwerklichen Manier die moderne Lust an einem gewissen
keit. Er ist die schmuckvolle Stimme eines geheimen, unbekannten klassischen Ethos ausbeutet, ganz so wie Saint-Saëns Bach nach-
Fleisches und besitzt den Charakter des Notwendigen, als ob er geschaffen hat oder Poulenc Franz Schubert. Im Gegensatz dazu
in dieser Art pflanzlichen Wachstumsstoßes nur das Ende einer ist die moderne Poesie — die Víctor Hugos, Rimbauds oder die Re-
blinden und zähen Metamorphose wäre, Teil einer Infrasprache, ns Chars — mit Stil gesättigt und ist 'Kunst' nur durch das Sich-
die sich bildet an der Grenze zwischen Fleisch und Welt. Der Stil beziehen auf eine poetische Absicht. Die Autorität des Stils, das
ist eine Erscheinung keimartiger Natur, er ist die Transmutation heißt das absolut freie Band des sprachlichen Ausdrucks und sei-
eines >humors<, eines Lebensgefühls. Deshalb sind die Anspielun- nes Doppels im Fleisch, setzt den Schriftsteller als eine unver-
gen des Stils in Tiefenschichten untereinander gelagert, während mittelte Frische über die Geschichte.
das Sprechen eine horizontale Struktur besitzt und seine Geheim-
nisse auf der gleichen Linie liegen wie seine Wörter; was es ver- Der Horizont der Sprache und die Vertikalität des Stils bezeich-
birgt, wird enthüllt durch seinen eigenen Fortgang. Im Sprechen nen also für den Schriftsteller etwas Gegebenes, denn er wählt we-
wird alles offen dargeboten und ist alles zum unmittelbaren Ver- der das eine noch das andere. Die Sprache wirkt als Negativität,
brauch bestimmt, das Verbum, das Schweigen und deren Bewe- als die erste Grenze des Möglichen; der Stil ist ein Erfordernis,
gung werden der Zerstörung des Sinns entgegengestürzt, ein das die sprachliche Ausdrucksweise an das Lebensgefühl des Au-
Transfer ohne Verzögerung und ohne Spur. Der Stil dagegen be- tors bindet. In jener findet er die Vertrautheit der Geschichte, in
sitzt nur eine vertikale D i meri Rί nn Pr tri'-hr ln '-li oacrñlnc~ana l;acam ii;a canar a;αanan V r~,n~anl,aít Tn κa;' ι an F ί llan lv,nrla t
zur Umwandlung verwendet wird, niemals aber, um zu urteilen voneinander unterscheiden. Alles trennt sie: der Ton, der Vortrag,
oder um eine Wahl zu bedeuten. der Zweck, die Moral, das Naturell ihres Sprechens, so daß die Ge-
Jede Form ist aber auch Wert; deshalb besteht zwischen Spra- meinsamkeit der Epoche und der Sprache sehr wenig bedeutet ge-
che und Stil noch Raum für eine andere formale Realität: für die genüber den so verschiedenen Schreibweisen, die sich wiederum
>Schreibweiseς In jeder beliebigen literarischen Form findet sich gerade durch ihre Gegensätzlichkeit so klar definieren.
die allgemeine Wahl eines Tones, oder wenn man so will: eines Diese Schreibweisen sind in der Tat voneinander verschieden
Ethos, und hier individualisiert sich ein Schriftsteller eindeutig, und doch vergleichbar, well sie durch eine gleichartige Bewegung
denn hier engagiert er sich. Sprache und Stil liegen vor aller Proble- hervorgerufen werden: durch die Reflexion des Schriftstellers
matik der persönlichen Ausdruckswelse. Sprache und Stil sind das über den sozialen Gebrauch seiner Form und die Wahl, die er auf
natürliche Produkt der Zeit und der biologischen Person. Die for- sich nimmt. Da sie im Kern der literarischen Problematik liegt —
male Identität des Schriftstellers entfaltet sich wirklich erst außer- díe mit ihr überhaupt erst beginnt —, ist die Schreibweise also
halb der installierten grammatischen Normen und der Konstanten wesentlich die Moral der Form; sie bedeutet die Wahl des sozialen
des Stils, dort, wo das geschriebene Ganze, das zunächst in einer Bereichs, innerhalb dessen der Schriftsteller die Natur seiner Spra-
sprachlich völlig unschuldigen Form zusammengefaßt ist, endlich che zu situieren gewillt ist. Doch dieser soziale Bereich ist kei-
zu einem totalen Zeichen wird, zu der Wahl einer menschlichen neswegs der des tatsächlichen Konsums. Es handelt sich für den
Verhaltensweise, zur Affirmation eines bestimmten Gutes, den Schriftsteller nicht darum, die Gruppe der Gesellschaft zu wäh-
Schriftsteller engagierend, ein Glück oder ein Unbehagen evident len, für die er schreibt; er weiß wohl, daß er — es sei denn, man
zu machen oder mitzuteilen und gleichzeitig die sowohl normale rechne mit einer Revolution — immer nur für die gleiche Gesell-
als auch einmalige Form seines Sprechens an die weite Geschichte schaft schreiben kann. Seine Wahl ist eine Gewissensentschei-
der anderen bindend. Sprache und Stil sind blinde Kräfte, die dung und nicht eine nach der Wirksamkeit. Seine Schreibweise
Schreibweise ist ein Akt historischer Solidarität; Sprache und Stil bedeutet eine Art und Weise, Literatur zu konzipieren, nicht, sie
sind Objekte, die Schreibweise ist eine Funktion: sie bedeutet die zu verbreiten. Oder besser: Weil der Schriftsteller nichts an den
Beziehung zwischen dem Geschaffenen und der Gesellschaft, sie objektiven Gegebenheiten des Literaturkonsums ändern kann
ist die durch ihre soziale Bestimmung umgewandelte literarische (diese rein geschichtlichen Gegebenheiten unterliegen nicht seiner
Ausdrucksweise, sie ist die in ihrer menschlichen Intentioπ ergrif- Macht, selbst wenn er sich ihrer bewußt ist), überträgt er freiwillig
fene Form, die somit an die großen Krisen der Geschichte ge- die Forderungen nach einer freien sprachlichen Ausdrucksweise
bunden ist. So sind zum Beispiel Mérimée und Fénélon durch Er- auf deren Quellen, nicht aber auf deren Konsum. Die Schreibweise
scheinungen der Sprache und Akzidentien des Stils voneinander besitzt deshalb eine doppelte Realität: einerseits entsteht sie zwei-
getrennt, und doch ist ihnen eine sprachliche Ausdrucksweise fellos aus einer Konfrontierung des Schriftstellers mit seiner Ge-
eigen von gleicher Intentionalität, sie akzeptieren die gleiche Ord- sellschaft, andererseits weist sie ihn von dieser gesellschaftlichen
nung der Konventionen, sie haben die gleichen handwerklichen Zweckhaftígkeit in tragischer Weise zurück auf die instrumentel-
Reflexe, sie gebrauchen mit den gleichen Gesten, trotz eines Ab- len Ursprünge seines Schaffens. Mangels einer frei konsumierba-
standes von eineinhalb Jahrhunderten, das gleiche Instrumenta- ren sprachlichen Ausdrucksform, die ihm zur Verfügung gestellt
rium, das, wenn auch in seinem Aspekt ein wenig verändert, so werden könnte, bietet die Geschichte dem Schriftsteller die For-
doch weder in seiner Situation noch in seinem Gebrauch modi- derung einer solchen, die frei produziert werden kann.
fiziert ist, kurz: sie haben die gleiche Schreibweise. Im Gegen- So bezeichnen die Wahl und schließlich die Verantwortlichkeit
sat7, d1711 verwen'Pτ' ι ;r} Fait;o IPκP.',iP A„ ι einer 4rhreihweise eine Freiheit: doch diese Freiheft hat. je nach
möglichen Schreibweisen eines bestimmten Autors entstehen un- der sich im gleichen Augenblick vollzieht, in dem zwei Wirtschafts-
ter dem Druck der Geschichte und der Tradition. Es gibt eine strukturen einander ablösen, die entscheidende Anderungen in
Geschichte der Schreibweisen, doch diese Geschichte hat eine der Mentalität und im Bewußtsein der Menschen nach sich zie-
doppelte Natur: im gleichen Augenblick, in dem die allgemeine hen.
Geschichte eine neue Problematik der literarischen Ausdrucks-
weise vorschlägt — oder aufzwingt —, bleibt die Schreibweise noch
erfüllt von der Erinnerung an früheren Gebrauch, denn die Spra-
che ist niemals unschuldig, die Worte besitzen ein zweites Ge-
dächtnis und Erinnerungen, die sich inmitten neuer Bedeutungen
geheimnisvoll erhalten. Die Schreibweise bezeichnet genau den
Kompromiß zwischen Freiheit und Erinnerung, sie ist die sich er-
innernde Freiheft, die nur Freiheit ist in der Geste der Wahl, aber
schon nicht mehr in ihrer Dauer. Ich kann heute zweifellos diese
oder jene Schreibweise wählen und durch diese Geste meine Frei-
heft bestätigen und auf eine unvermittelte Frische oder auf eine
Überlieferung zielen, aber ich kann sie schon nicht mehr in einer
Dauer entwickeln, ohne allmählich Gefangener der Worte anderer
und meiner eigenen zu werden. Ein hartnäckiger Nachklang, der
von allen frühereπ Schreibweisen und aus der Vergangenheit mei-
ner eigenen Schreibweise stammt, übertönt meine gegenwärtigen
Wörter. Alles Geschriebene bildet eine Ausfällung wie eine chemi-
sche Flüssigkeit, die zunächst klar, unschuldig und neutral war, aus
der aber, nur durch die einfache Tatsache der Dauer, eine ganze
darin gelöste Vergangenheit ausgefällt wird wie eine dichter und
dichter werdende Geheimschrift.
Als Freiheit besteht die Schreibwelse also nur einen Augenblick.
Doch dieser Augenblick ist einer der explizitesten der Geschichte,
denn Geschichte bedeutet immer und vor allem Wahl und Gren-
zen dieser Wahl. Weil nun die Schreibweise von einer bedeutsamen
Geste des Schriftstellers stammt, berührt sie sich spürbarer mit
der Geschichte als irgendein anderer Schnitt durch die Literatur.
Die Einheit der klassischen Schreibweise, die sich Jahrhunderte
hindurch homogen erhielt, die Vielfalt moderner Schreibweisen,
die sich seit hundert Jahren bis an die Grenze des Faktums Litera-
tur vervielfältigt haben, dieses Zerspringen der >écriture française<
entspricht vollkommen einer großen Krise der Gesamtgeschich-
te. die, nur in viel konfuserer Form. in der eíuennΙ icl,en T.ítera-
Politische Schreibweisen Schreibwelse, in der die Entfernung, die sonst das Faktum von sei-
ner Bewertung trennt, im Raume des Wortes selbst aufgehoben
und das Wort als Beschreibung und Urteil zugleich gegeben wird.
Das Wort wird zum Alibi (das heißt ein >anderswo< und eine
Allen Schreibweisen ist eine Geschlossenheit eigen, die die ge- Rechtfertigung). Wenn das bereits für die Schreibweise der Lite-
sprochene Sprache nicht kennt. Eine Schreibweise ist kein Kom- ratur zutrifft, bei der die Einheit der Zeichen unaufhörlich faszi-
munikationsinstrument, sie ist kein offener Weg, der von einer niert wird durch Bereiche der Infra- oder Metasprache, so gilt es
Redeintention nur benutzt wird. Durch das Sprechen strömt Un- noch mehr für politische Schreibweisen, bei denen das Alibi des
geordnetheit und gibt ihm die verzehrende Bewegung, die es im sprachlichen Ausdrucks Einschüchterung und Glorifizierung zu-
Zustand eines ewigen Aufschubs erhält. Eine Schreibweise dage- gleich bedeutet; Macht oder Kampf bringen tatsächlich die rein-
gen ist eine verhärtete Sprachform, die aus sich selbst lebt und sten Formen der Schreibweisen hervor.
keineswegs die Last trägt, ihrer eigenen Dauer ständig eine be-
wegte Folge von Annäherungen anvertrauen zu müssen. Ihre Last Wir werden etwas später sehen, daß die klassische Schreibweise in
besteht vielmehr darin, durch die Einheit und den Schatten ih- zeremonieller Form von dem Verwachsensein des Schriftstellers
rer Zeichen das Bild eines Sprechens aufzuzwingen, das lange mit einer besonderen politischen Gesellschaft kündete und daß
vor seinem Gebrauch bereits erfunden worden ist. Der Gegen- der Umstand, so zu sprechen wie Vaugelas, als allererstes bedeute-
satz von Schreibweise und Sprechen besteht darin, daß die erste te, es mit den Mächtigen zu halten. Wenn die Revolution die Nor-
immer symbolisch und introvertiert, immer ostentativ einer gehei- men dieser Schreibweise nicht modifiziert hat, weil die Denken-
men Seite des sprachlichen Ausdrucks zugekehrt erscheint, wäh- den im wesentlichen die gleichen blieben und nur von der geistigen
rend das zweite nur eine Folge leerer Zeichen ist, deren Ablauf Macht zur politischen übergingen, so haben die außergewöhn-
allein Bedeutung zukommt. Alles Sprechen hält sich in diesem Ver- lichen Bedingungen des Kampfes doch im Schoße der >großen
brauch der Wörter, in diesem immer weiter dahingetragenen Wel- klassischen Form< eine eigentlich revolutionäre Schreibweise her-
lenschaum, und nur dort gibt es Sprechen, wo Sprache ganz offen- vorgebracht, revolutionär nicht in ihrer Struktur, die akademischer
kundig als ein Verschlingen funktioniert, das nur die beweglichen war als je zuvor, doch durch ihre Geschlossenheit und ihr Dop-
Spitzen der Wörter ergreift. Die Schreibweise dagegen ist immer pel, da der Gebrauch der Sprache zu dieser Zeit, wie noch nie zu-
in einem Jenseits sprachlichen Ausdrucks verwurzelt, sie entwik- vor in der Geschichte, an vergossenes Blut gebunden war. Die Re-
kelt sich wie ein Keim, nicht wie eine Linie, sie zeugt von einer volutionäre hatten keinerlei Grund, die klassische Schreibweise
Essenz und droht mit einem Geheimnis, sie ist eine Anti-Kommu- modifizieren zu wollen, denn sie dachten nicht daran, die Natur
rjikation und schüchtert ein. Man wird deshalb in jeder Schreib- des Menschen in Frage zu stellen, und noch weniger wäre es ihnen
weise die Doppeldeutigkeit eines Objektes finden, das Sprache in den Sinn gekommen, seine Sprache in Zweifel zu ziehen. Ein In-
und Zwang zugleich ist: es gibt im Kern der Schreibwelse einen strument, das sie von Voltaire, von Rousseau oder Vauvenargues
der Sprache fremden >Umstand<, es gibt dort etwas wie den Zu- geerbt hatten, konnte ihnen nicht als kompromittiert erscheinen.
gang zu einer Absicht, die schon nicht mehr die des Sprachaus- Die Einzigartigkeit der historischen Situation hat die Einheitlich-
drucks ist. Dieser Zugang kann sehr wohl eine Leidenschaft zum keit der revolutionären Schreibweise geformt. Baudelaire spricht
sprachlichen Ausdruck sein, wie in der Schreibweise der Litera- an einer Stelle von >der emphatischen Wahrheit der Geste in den
tur, er kann aber auch die Drohung mit einer Strafe sein, wie in po- großen Augenblicken des Lebens<. Die Revolution war par excel-
1._.__L_~ Tl'_ e_7_.._'L—__'__ J_ _ _ ,_ _ r. . Ι rP aí --r Γ;acar ηrnήλρn A„can},lírha ín '-Ianan - ía Ύ JoΙ,rhvrr λ„rrh
war die emphatische Geste, mit der allein sich das alltäglich ge- net; es spielt immer auf einen bestimmten historischen Prozeß an,
wordene Schafott fortführen ließ. Was heute als Geschwollenheit es ist wie ein algebraisches Zeichen, das eine ganze Einschiebung
erscheint, entsprach damals genau dem Zuschnitt der Wirklich- früherer Postulate ersetzt.
keit. Diese alle Zeichen der Inflation tragende Schreibweise war Da die marxistische Schreibweise mit Aktion verbunden ist, hat
äußerst exakt. Niemals war eine Sprache unwahrscheinlicher und sie in der Praxis bald eine Bewertungssprache ergeben. Dieser Zug,
doch weniger verlogen. Die Emphase war nicht nur die dem Dra- der bereits bei Marx erkennbar wird, dessen Schreibweise im all-
ma angepaßte Form, sie war auch dessen Bewußtsein. Ohne diese gemeinen jedoch noch explikativ bleibt, ist in der Schreibweise
allen großen Revolutionären gemeinsame, extravagante Drapie- des triumphierenden Stalinismus zum Hauptwesensmerkmal ge-
rung, die es zum Beispiel dem in Saint-Emilion verhafteten Gi- worden. Gewisse Begriffe, die formal identisch sind und die ein
rondiner Guadet möglich machte, zu erklären, ohne lächerlich zu neutrales Vokabular nicht doppelt benennen würde, sind durch
werden, weil es um sein Leben ging: >Ja, ich bin Guadet. Walte dei- eine Wertung gespalten, und jeder Teil hat sich mit einem anderen
nes Amtes, Henker. Bring den Tyrannen des Vaterlandes meinen Namen vereinigt: so ist <Kosmopolitismus> die negative Bezeich-
Kopf. Er hat sie schon immer erbleichen lassen. Abgetrennt, wird nung für <Internationalismus< (schon bei Marx). In der stalinisti-
er sie nur noch blasser machen!<, ohne diese Drapierung hätte die schen Welt, in der die Definition, d. h. die Trennung von Gut und
Revolution nicht zu diesem mythischen Ereignis werden können, Böse, die gesamte Sprache beherrscht, gibt es keine Wörter mehr
das die gesamte Geschichte und jede Vorstellung von einer zukünf- ohne Wert, und es ist schließlich einfach Aufgabe der Schreibweise,
tigen Revolution befruchtet hat. Die Schreibweise der Revolution einen Prozeß zu ersetzen. Es gibt keinen Aufschub mehr zwi-
war wie die Entelechie der Revolutionslegende: sie schüchterte ein schen Benennung und Urteil, die Geschlossenheit der Sprache ist
und hat eine staatsbürgerliche Weihe des Blutes erzwungen. vollkommen, da als Erklärung für einen Wert nur noch ein ande-
rer Wert gegeben wird. So sagt man schließlich, daß der und der
Die marxistische Schreibweise ist ganz anderer Natur. Bei ihr Verbrecher eine staatsfeindliche Tätigkeit entfaltet hat, was darauf
stammt die Geschlossenheit der Form nicht aus einer rhetorischen hinausläuft, festzustellen, daß derjenige ein Verbrecher ist, der ein
Steigerung oder einer Emphase des Vortrags, sondern aus einem Verbrechen begeht. Es handelt sich also um eine einfache Tautolo-
besonderen Wortschatz, der ebenso funktional ist wie ein techni- gie, und das ist ein Verfahren, das in der stalinistischen Schreib-
sches Vokabular; selbst die Metaphern sind darin streng kodifi- weise ständig angewandt wird. Diese hat es tatsächlich nicht mehr
ziert. Die Schreibweise der Französischen Revolution begründete darauf abgesehen, eine marxistische Erklärung der Tatsachen zu
immer ein blutiges Recht oder eine moralische Rechtfertigung; geben oder eine revolutionäre Rationalität der Handlungen zu
die marxistische Schreibweise wird am Anfang wie eine Sprache begründen, sondern darauf, die Wirklichkeit ín beurteilter Form
der Erkenntnis gegeben; hier ist die Schreibweise eindeutig, denn zu liefern und damit eine sofortige Lektüre der Verurteilung zu
sie ist bestimmt, den Zusammenhalt einer >Natur< aufrechtzuer- erzwingen: der objektive Gehalt des Wortes >Abweichler< ist in
halten. Durch diese lexikalische Einheit ist es ihr möglich, eine dieser Sprache eine Sache des Strafrechts. Wenn zwei Abweichler
Stabilität der Erklärungen und eine Permanenz der Methode auf- sich vereinigen, werden sie zu >Fraktionisten<, was zwar objektiv
zuzwingen; erst ganz zum Schluß seiner Sprache gelangt der Mar- kein anderes Vergehen darstellt, aber die Strafbarkeit vergrößert.
xismus zum rein politischen Verhalten. Sosehr die Sprache der Man kann zwischen einer eigentlich marxistischen Schreibweise
Französischen Revolution emphatisch ist, sosehr wird die marxi- (die Marxens und Lenins) und einer des triumphierenden Stali-
stische aus Litotes gebildet, denn jedes Wort ist nichts anderes nismus unterscheiden (die der Volksdemokratien). Es gibt au-
mehr als ein minimales Sirhhe7iehen anf eine Geς,mr}heir vim Prín- «errlem eewíl auch eine trnr7kistische Schreibweise und eine tak-
liche Mehrdeutigkeit der Begriffe >Demokratie<, >Freiheit<, >Frie- nes2 gibt. Diesen intellektuellen Schreibweisen ist gemeinsam, daß
den< etc.). hier die Ausdrucksform als privilegierter Ort dahin tendiert, aus-
Es gibt keinen Zweifel, daß jedes Regime seine eigene Schreib- reichendes Zeichen für ein Engagement zu werden. Sich einer ge-
weise besitzt, deren Geschichte noch geschrieben werden müßte. schlossenen Sprache anzuschließen, infolge des Druckes all derer,
Als die sichtbar engagierte Form des Sprechens enthält die Schreib- die sie nicht sprechen, heißt, die Bewegung des Gewählthabens
weise durch eine wertvolle Doppeldeutigkeit sowohl das Sein als zur Schau tragen, wenn nicht überhaupt, diese Wahl stützen. Die
auch das Scheinen der Macht, sowohl das, was sie ist, als das, wo- Schreibweise erscheint hier wie eine Unterschrift, die man unter
für sie gehalten werden möchte. Eine Geschichte der politischen eine gemeinsame Proklamation setzt (die man im übrigen gar nicht
Schreibweisen wäre also die beste Sozialphänomenologie. So hat selbst verfaßt hat). Auf diese Weise eine Schreibweise annehmen —
die Restauration zum Beispiel eine Klassenschreibweise entwík- man könnte noch besser sagen: sie zu seiner eigenen machen — be-
Ι
kelt, dank deren Unterdrückung unmittelbar als eine Verurteilung deutet einfach, sich alle Voraussetzungen dieser Wahl zu ersparen,
dargeboten wurde, die spontan der klassischen >Natur< entsprang. bedeutet, die Gründe zu dieser Wahl als erworbene zu manifestie-
Forderungen stellende Arbeiter waren immer >arbeitsscheue Ele- ren. Jede intellektuelle Schreibweise ist also der erste >Sprung des
mente<, Streikbrecher immer >friedfertige Arbeiter<, und die Ser- Intellekts<. Während eine ideal freie Ausdrucksform niemals meine
vilität der Richter wurde immer zu >väterlicher Wachsamkeit< (in Person, meine eigene Vergangenheit und meine Freiheit erkennen
unseren Tagen nennt der Gaullismus durch ein analoges Verfahren ließe, ist die Schreibweise, der ich mich anvertraue, bereits ganz In-
die Kommunisten >Separatisten<). Man sieht, daß hier die Schreib- stitution, sie entblößt meine Vergangenheit und meine Wahl, sie
weise die Funktion eines guten Gewissens erfüllt und daß sie die gibt mir eine Geschichte, sie stellt meine Situation zur Schau, sie
Aufgabe hat, auf betrügerische Weise den Ursprung eines Faktums engagiert mich, ohne daß ich es zu sagen brauche. Die Form wird
mit dessen entferntester Umwandlung dadurch zusammenfallen damit mehr als je zu einem autonomen Objekt, das dazu bestimmt
zu lassen, daß sie mit der Rechtfertigung des Aktes die Bürgschaft ist, ein kollektives verteidigtes Eigentum zu bedeuten. Dieses Ob-
seiner Realität gibt. Dieser Zug ist im übrigen den Schreibwei- jekt hat einen Ersparnischarakter, es hat die gleiche Funktion wie
sen aller autoritären Regime eigen. Man könnte das die Polizei- ein Abkürzungszeichen, dank dessen der Schreiber unaufhörlich
sprache nennen. Ein Musterbeispiel daraus ist der stets zur Un- seine Konversion bekennt, ohne jemals deren Geschichte nach-
terdrückung verwendete Gehalt des Wortes >Ordnung<. zeichnen zu müssen.
Dieser Doppelcharakter der heutigen intellektuellen Schreib-
Das Vordringen politischer und sozialer Fakten in den Bewußt- weisen wird dadurch verstärkt, daß trotz der Anstrengungen der
seinsbereich der Literatur hat den neuen Typ des Publizisten her- Epoche die Literatur nicht endgültig hat liquidiert werden kön-
vorgebracht, der in der Mitte zwischen dem politisch Aktiven nen. Sie bildet einen immer noch verzaubernden Worthorizont.
und dem Schriftsteller anzusiedeln ist und von dem ersteren das Einstweilen ist der Intellektuelle noch nichts anderes als ein un-
ideale Bild eines engagierten Mannes herleitet und vom zweiten vollkommen verwandelter Schriftsteller — es sei denn, er zerstöre
die Vorstellung, daß ein geschriebenes Werk einen Akt darstellt. sich selbst, werde politischer Kämpfer und gebe das Schreiben
Zur gleichen Zeit, in der an die Stelle des Schriftstellers der In- auf (manche haben es getan und sind vergessen worden, wie es in
tellektuelle tritt, entsteht in Zeitschriften und Essays eine mili- der Natur der Sache liegt) — und kann nur immer wieder zur Fas-
tante Schreibweise, die sich vom Stil befreit und die wie eine zination durch frühere Schreibweisen zurückkehren, die von der
Berufssprache der >Präsenz< erscheint. Diese Schreibweise wim- Literatur als intaktes, aber altmodisches Instrument überliefert
melt vnn Νιian"en_ Νiρm,n ιΙ wό4 aόΙ P1,σn' n "mllar, '-Ι,Ζ . -λ «' llal*r„AllAr, QrhrnίΚπιαί εαη -«-1 fnlσlirh „ncta}vÍ
sind politisch nur durch ihre Besessenheit, sich engagieren zu wol- Schreibweise des Romans
len. Kurz, es handelt sich abermals um ethische Schreibweisen, in
denen der Schreiber (man wagt nicht mehr, der >Schriftsteller< zu
sagen) das beruhigende Bild eines kollektiven Heils findet.
Aber wie bei dem augenblicklichen Stand der Geschichte jede Roman und Geschichtsschreibung standen in dem Jahrhundert
politische Schreibweise nur eine Welt der Polizeiherrschaft bestä- ihrer höchsten Blüte in enger Beziehung zueinander. Ihre tiefste
tigen kann, kann auch jede intellektuelle Schreibweise nur eine Gemeinsamkeit, auf Grund deren man sowohl Balzac als auch Mí-
Para-Literatur stiften, die nicht wagt, ihren Namen zu bekennen. chelet begreifen konnte, war das Konstruieren einer eigenen autar-
Die Sackgasse, in der sich diese Schreibweisen befinden, ist abso- ken Welt, die sich selbst ihre Dimensionen und Grenzen setzte
lut ohne Ausweg; sie können nur auf Mitwisserschaft rechnen und innerhalb deren ihre eigene Zeit, ihren Raum, ihre Bevblke-
oder auf Ohnmächtigkeit verweisen, das heißt in jedem Fall nur rung, ihre Sammlung von Objekten und Mythen.
auf eine Entfremdung. Diese kugelförmige Gestalt der großen Werke des 19. Jahrhun-
derts drückt sich in den langen Rezitativen des Romans und der
Geschichte aus, flächige Projektionen einer gekrümmten und ver-
bundenen Welt, deren entartetes Abbild sich noch in den Schnbr-
keln des damals entstehenden Feuilletonromans findet. Und doch
ist das Erzählen nicht unbedingt ein Gesetz dieser Literaturgat-
tung. Eine ganze Epoche hat zum Beispiel Romane in Briefen
konzipieren können, eine andere kann Geschichtsschreibung als
Analyse praktizieren. Das Berichten als Form, die Roman und
Geschichtsschreibung umgreift, bleibt also im allgemeinen durch-
aus Wahl oder Ausdruck eines geschichtlichen Augenblicks.

Das aus der gesprochenen Sprache verschwundene historische Per-


fekt', die Erzählvergangenheit, Eckstein des Berichtes, deutet im-
mer auf ein Bemühen um Kunst hin. Es gehört zum Ritual der
Literatur. Es ist nicht mehr beauftragt, eine Zeit auszudrücken.
Seine Aufgabe ist, die Wirklichkeit auf einen Punkt zurückzu-
führen und aus der Vielfalt der gelebten und übereínandergelager-
ten Zeiten einen puren verbalen Akt zu abstrahieren, der von den
existentiellen Wurzeln der Erfahrung befreit und auf die logische
Verbindung mit anderen Akten, anderen Prozessen, mit einer all-
gemeinen Bewegung der Welt hin orientiert ist. Die Erzählver-
gangenheit zielt darauf ab, eine Hierarchie im Universum der Ge-
schehnisse zu errichten. Durch sein historisches Perfekt gehört
das Verb implizite zu einer Kausalreihe und nimmt an der Ge-
samrhe;r 7.usammenvehδrΙ Qur und geleiteter Aktionen teil. es hat
durch, daß es eine Mehrdeutigkeit zwischen Zeitlichkeit und Kau- losen formalen Übereinkünfte dar, die zwischen Schriftsteller und
salität aufrechterhält, evoziert es einen Ablauf, das heißt eine Ver- Gesellschaft zur Rechtfertigung des einen und zur Beruhigung
ständlichkeit des Berichts. Es ist deshalb das ideale Instrument der anderen getroffen worden sind. Die Erzählvergangenheit gibt
für alle Konstruktionen geschlossener Welten. Es ist die künstliche eine Schöpfung zu verstehen, das heißt sie signalisiert sie und
Zeit der Kosmogonien, der Mythen, der Weltgeschichten der Ro- zwingt sie gleichzeitig auf. Selbst wenn sie im Dienste des schwär-
mane. Es setzt eine konstruierte, durchgearbeitete, losgelöste, auf zesten Realismus steht, beruhigt sie, weil dank ihrer das Verb einen
bedeutungsvolle Linien reduzierte Welt voraus, nicht aber eine geschlossenen, definierten, substantivierten Akt bezeichnet, weil
geworfene, ausgebreitete, dargebotene Welt. Hinter dem histori- dank ihrer der Bericht einen Namen hat und dem Schrecken eines
schen Perfekt verbirgt sich immer ein Demiurg, Gott oder Rezi- unbegrenzten Sprechens entflieht; die Wirklichkeit wird magerer
tator. Die Welt bleibt nicht unerklärt, wenn man sie rezitiert, jedes und vertrauter, sie tritt in einen Stil und flutet nicht über die Gren-
ihrer Geschehnisse ist nur umstandsbedingt, und das historische zen der Sprache; die Literatur bleibt Gebrauchswert einer Gesell-
Perfekt ist genau das Operationszeichen, mit Hilfe dessen der Er- schaft, die durch die Form der Wörter selbst über den Sinn dessen
zähler das Zerspringen des Wirklichen zurückführt auf ein win- aufgeklärt wird, was sie verbraucht. Wenn aber im Gegenteil der
ziges reines Wort ohne Dichte, ohne Volumen und ohne Entfal- Bericht zugunsten anderer Literaturgattungen verworfen wird oder
tung, ein Wort, dessen einzige Aufgabe ist, so rasch wie möglich wenn im Innern der Erzählung die Erzählvergangenheit durch
eine Ursache und einen Zweck miteinander zu verbinden. Wenn weniger ornamentale, frischere, dichtere, dem gesprochenen Wort
ein Historiker versichert: >Der Duc de Guise starb am 23. Sep- nähere Formen (das Präsens, das Perfekt) ersetzt wird, wird Lite-
tember ι588<, oder wenn der Romancier berichtet: >Die Marquise ratur zum Bewahrer der Dichte der Existenz und nicht zum Ver-
verließ um fünf Uhr das Haus, so tauchen diese Geschehnisse künder ihrer Bedeutung. Zwar mögen dann die Akte von der
aus einem Einstmals ohne alle Dichte auf. Vom Beben der Existenz Geschichte abgetrennt sein, sie sind es aber nicht mehr von den
befreit, besitzen sie die Stabilität und das Muster einer Algebra, sie Personen.
sind ein Erinnern, doch ein nützliches Erinnern, dessen Interesse Man kann sich nun erklären, was die Erzählvergangenheit im
viel mehr zählt als seine Dauer. Roman an Nützlichem und Unerträglichem enthält: sie ist eine
Die Erzählvergangeπ heit ist also letztlich Ausdruck einer Ord- sichtbar werdende Lüge, sie steckt das Feld für eine Wahrschein-
nung und infolgedessen einer Euphorie. Dank ihrer ist die Reali- lichkeit ab, die das Mögliche zu der gleichen Zeit, in der sie es
tät weder geheimnisvoll noch absurd; sie ist klar, fast vertraut, in enthüllt, als falsch bezeichnet. Der dem Roman und der erzählten
jedem Augenblick zusammengefaßt in der Hand eines Schöpfers; Historie gemeinsame Zweck ist, die Fakten zu entfremden. Das
sie unterliegt dem erfinderischen Druck seiner Freiheit. Für alle historische Perfekt ist der Akt, durch den die Gesellschaft von
großen Erzähler des 59. Jahrhunderts kann die Welt pathetisch ihrer Vergangenheit und ihrer Möglichkeit Besitz ergreift. Es setzt
sein, aber sie ist nicht sich selbst überlassen, weil sie eine Gesamt- ein glaubhaftes Kontinuum, dessen Illusionscharakter gleichzei-
heft kohärenter Beziehungen darstellt, weil es keine Überlagerung tig zur Schau gestellt wird; es ist der Endpunkt einer formalen Dia-
der geschriebenen Fakten gibt, weil der Erzählende die Macht lektik, die das irreale Faktum sukzessiv mit der Kleidung der
hat, die Undurchsichtigkeit und Einsamkeit der sie bevölkernden Wahrheit behängt und schließlich mit der als solcher bezeichne-
Wesen zurückzuweisen, weil er mit jedem Satz von einer Kommu- ten Lüge. Das Gesagte muß mit einer bestimmten Mythologie des
nikation kündet und einer Hierarchie der Akte, weil diese Akte, Universalen in Verbindung gebracht werden, die der bürgerlichen
um nun endlich alles zu sagen, selbst auf Zeichen zurückgeführt Gesellschaft eigen ist, einer Gesellschaft, für die der Roman ein
werden können. charakterisiertes Produkt ist: dem Imarinären die formale BürQ-
aller Kunst des Okzidents, für die das Falsche dem Wahren gleich- >Er< manifestiert sich formal der Mythos. Nun haben wir gesehen,
kommt; und das nicht auf Grund eines Agnostizismus oder einer daß es, zumindest im Okzident, keine Kunst gibt, die nicht gleich-
poetischen Duplizität, sondern weil man glaubt, daß das Wahre zeitig mit dem Finger auf ihre Maske zeigt. Die dritte Person, eben-
einen Keim des Universalen enthält, oder anders gesagt, weil es so wie die Erzählvergangenheit, leistet der Romankunst diesen
eine Essenz enthält, die fähig ist, andere, durch Entfernung und Dienst und liefert ihren Verbrauchern die Sicherheit einer glaub-
Fiktion verschiedene Gattungen durch einfache Reproduktion würdigen Fabulation, die sich zugleich aber unaufhörlich als falsch
zu befruchten. Auf Grund eines derartigen Verfahrens hat die bekennt. Das >Ich< ist weniger zweideutig und gerade dadurch we-
zur Macht gelangte Bourgeoisie im letzten Jahrhundert ihre eige- niger romanhaft. Es ist daher sowohl die unmittelbarste Lösung,
nen Werte für universell halten und auf die absolut heterogenen wenn der Bericht innerhalb der Konvention bleibt (das Werk
Teile der menschlichen Gesellschaft alle Normen ihrer Moral über- Prousts zum Beispiel will nichts anderes sein als eine Einführung
tragen können. Das entspricht genau dem Mechanismus eines My- in die Literatur), als auch die kunstvollste, wenn das >Ich< sich jen-
thos, und der Roman — sowie β j nerhalb des Romans die Erzählver- seits der Konvention seinen Platz sucht und versucht, diese zu zer-
gangenheit— ist ein mythologisches Objekt, das seine unmittelbare stören, indem es den Bericht in das falsche Naturell einer vertrau-
Absicht durch Berufung auf eine Dogmatik überlagert oder noch lichen Mitteilung bringt (darin besteht der verschrobene Aspekt
besser auf eine Pädagogik, da es sich darum handelt, eine Essenz mancher Erzählungen André Gides). Der Gebrauch des >Er< im
in der Form eines Artifiziellen zu liefern. Um die Bedeutung der Roman engagiert zwei einander entgegengesetzte Ethiken: da die
Erzählvergangenheit zu erfassen, genügt es, die Romankunst des dritte Person des Romans eine nicht bestrittene Konvention dar-
Okzidents zum Beispiel mit jener chinesischen Tradition zu ver- stellt, verführt sie die Akademischsten und am wenigsten Gequäl-
gleichen, Mr die Kunst nichts anderes ist als die Vollkommenheit ten ebenso wie die anderen, die letztlich diese Konvention doch
der Imitation des Wirklichen; darin darf nicht das geringste Zei- für die Frische ihres Werkes für erforderlich halten. In jedem Falle
chen das natürliche Objekt vom künstlichen unterscheiden: Eine ist sie das Zeichen Mr einen erkennbaren Pakt zwischen Gesell-
Nuß aus Holz darf mir nicht mit der Nachbildung einer Nuß auch schaft und Autor, für diesen letzteren ist sie aber auch das erste
zugleich die Absicht liefern, die Kunst anzudeuten, durch die sie Mittel, um die Welt so zu halten, wie er möchte. Sie ist also mehr
hervorgebracht worden ist. Die Schreibweise des Romans bezweckt als ein literarischer Versuch, sie ist ein menschlicher Akt, der das
genau das Gegenteil. Ihre Aufgabe ist, Maske zu sein und gleich- Geschaffene an die Geschichte oder an die Existenz bindet.
zeitig mit dem Finger auf diese Maske zu zeigen. Die Vielfalt der >Er< bei Balzac, dieses riesige Geflecht von Per-
sonen, deren persönliches Volumen gering ist, die jedoch durch
Diese Doppeldeutigkeit der Rolle der Erzählvergangenheit fin- die Dauer ihrer Handlungen wirken, enthüllt das Bestehen einet
det sich in einem anderen Phänomen der Schreibweise wieder: in Welt, deren erste Gegebenheit ihre Geschichte ist. Das >Er< Balzacs
der dritten Person des Romans. Es gibt einen Roman von Agatha ist nicht der Endpunkt eines Keimprozesses, der von einem >Ich<
Christie, in dem die ganze Erfindung darin besteht, den Mörder ausgegangen wäre und es verwandelt und verallgemeinert hätte;
hinter der ersten Person der Erzählung zu verstecken. Der Leser es ist das originale unbearbeitete Element des Romans selbst, das
sucht den Täter hinter jedem >Er< der Handlung; er verbirgt sich Material, nicht die Frucht der Schöpfung. Es gibt keine Balzac-
in dem >Ich<. Agatha Christie wußte sehr wohl, daß im Roman sche Geschichte, die vor der Geschichte einer der dritten Perso-
gewöhnlich das >Ich< Zeuge ist und das >Er< der Handelnde. War- nen des Balzacschen Romans läge. Das >Er< Balzacs ist dem >Er<
um? — Das >Er< ist eine typische Konvention des Romans. Wie Cäsars gleich: die dritte Person verwirklicht hier eine Art alge-
durch die Erzählver~an~enheit wird durch die dritte Person ιas lhraísnhen 7nstanιΙc der Aktinn_ an dem_ 2n47msten einer Uerhin-
Funktion haben, eine existentielle Erfahrung auszudrücken. Bei schaft getrennt fand, die sie verbraucht. Zwischen der dritten Per-
vielen modernen Romanciers fällt die Geschichte des Menschen son Balzacs und der Flauberts liegt eine ganze Welt (die von 1848):
mit dem Weg der Konjugation zusammen: von einem > Ich< ausge- dort eine Geschichte, die bitter und hart, aber kohärent und ihrer
bend, das noch die getreueste Form des Anonymats ist, erobert selbst sicher ist und den Triumph einer Ordnung zeigt; hier eine
der Mensch-Autor langsam das Recht auf die dritte Person, in Kunst, die, um ihrem schlechten Gewissen zu entfliehen, ihre eige-
dem Maße, in dem die Existenz Schicksal wird und das Selbst- nen Konventionen angreift und sie wütend zu zerstören sucht. Die
gespräch zum Roman. Das Erscheinen des >Er< ist hier nicht Aus- Modernität beginnt mit der Suche nach einer unmöglichen Lite-
gangspunkt der Geschichte, es ist der Endpunkt einer Bemühung, ratur.
durch die aus einer persönlichen Welt der Stimmungen und Bewe-
gungen eine reine bedeutungsvolle Form freigelegt worden ist. So findet sich im Roman dieser zugleich zerstörerische wie zur
Eine Form, die, dank des absolut konventionellen, leeren Dekors Auferstehung treibende Apparat, der aller modernen Kunst eigen
der dritten Person, sogleich wieder verlöscht. Darin liegt gewiß ist. Es gilt, die Dauer zu zerstören, das heißt die nicht sagbare
der beispielhaft innere Weg der ersten Romane von Jean Cayrol. Bindung der Existenz: die Ordnung, sei es die des dichterischen
Aber währénd bei den Klassikern — und für die Schreibweise reicht Kontinuums oder die der Zeichen des Romans, die Ordnung des
die Klassik bekanntlich bis zu Flaubert — der Rückzug der biolo- Schreckens oder die der Wahrscheinlichkeit, die Ordnung ist ein
gischen Person vom Einsetzen des essentiellen Menschen zeugt, vorbedachter Mord. Doch was den Schriftsteller wieder zurück-
ist bei Romanciers wie Cayrol das Eindringen des >Er< eine all- erobert, ist abermals die Dauer, denn es ist nicht möglich, eine
mählich fortschreitende Eroberung, die gegen den dichten Schat- Negation in der Zeit zu entwickeln, ohne gleichzeitig eine posi-
ten des existentiellen >Ich< geführt wird; so sehr ist der Roman, tive Kunst zu erarbeiten, eine Ordnung, die abermals zerstört wer-
identifiziert durch seine formalsten Zeichen, ein Akt der Soziabi- den muß. Daher halten die größten Werke der Moderne so lange
lität; er stiftet die Literatur. wie möglich in einer ans Wunderbare grenzenden Stellung an der
Maurice Blanchot hat bei seiner Betrachtung Kafkas davon ge- Schwelle der Literatur inne, in diesem Vorstadium, in dem die
sprochen, daß die Ausarbeitung des unpersönlichen Berichts (es Dichte des Lebens gegeben und ausgebreitet ist, ohne bereits in-
ist bei diesem Ausdruck zu bemerken, daß die >dritte Person< im- folge der Krönung durch eine Ordnung der Zeichen zerstört wor-
mer als ein Negativgrad der Person gegeben wird) ein Akt der den zu sein. Man denke zum Beispiel an die erste Person Prousts,
Treue zur Essenz der Sprache war, da diese ganz natürlich auf ihre dessen gesamtes Werk getragen wird von der anhaltenden und wie-
eigene Zerstörung abzielt. Man begreift also, daß das > Er< einen der verzögerten Bemühung um Literatur. Man denke an Jean Cay-
Sieg über das >Ich < darstellt, insofern als es einen zugleich litera- rol, der absichtlich erst in einem so weit wie möglich hinausgezb-
rischeren als auch abwesenderen Zustand verwirklicht. Der Sieg gerten Augenblick des Selbstgespräches zum Roman gelangt, als
wird jedoch unaufhörlich in Frage gestellt. Die literarische Kon- ob der im höchsten Sinne doppeldeutige literarische Akt erst dann
vention des > Er< ist zur Verdünnung der Person erforderlich, läuft ein von der Gesellschaft gerechtfertigtes Werk gebäre, wenn es
aber jeden Augenblick Gefahr, sie mit einer unerwarteten Dichte ihm gelungen ist, die existentielle Dichte einer Dauer, die bis da-
zu belasten. Die Literatur gleicht dem Phosphor: sie leuchtet dann hin ohne Bedeutung war, zu zerstören.
am stärksten, wenn sie dem Sterben nahe ist. Da sie aber ande- Der Roman ist ein Tod; er macht aus dem Leben ein Schicksal,
rerseits ein Akt ist, der notwendigerweise Dauer einschließt — ins- aus der Erinnerung einen nützlichen Akt und aus der Dauer eine
besondere im Roman —, gibt es schließlich niemals das Faktum gelenkte bedeutungsvolle Zeit. Aber diese Umwandlung kann sich
Roman ohne > schπne I.iteratιι r<. Deshalb ist die dritte Person Ιeς mir vnr'ien Anixen 'ler (esellsrlhaft vnll7iehen_ Die (esell.~chafr
Zeichen des Romans erfaßt wird, den Pakt, der mit aller Feier- Gibt es eine Schreibweise der Lyrik?
lichkeit der Kunst den Schriftsteller an die Gesellschaft bindet.
Die Erzählvergangenheit und die dritte Person des Romans sind
nichts anderes als die unvermeidliche Geste, durch die der Schrift-
steller mit dem Finger auf die Maske weist, die er trägt. Die ganze Zur Zeit der Klassik sind Prosa und Poesie Größen, deren Unter-
Literatur kann sagen: >Larvatus prodeo<, auf meine Maske zei- schied meßbar ist, sie sind nicht weniger und nicht weiter von-
gend schreite ich voran. Ob es sich um die unmenschliche Erfah- einander entfernt als zwei verschiedene Ziffern, liegen wie diese
rung des Lyrikers handelt, der den schwersten aller Brüche, das auf gleicher Ebene, sind aber verschieden durch die Differenz ihrer
Zerreißen der sozialen Sprache, auf sich nimmt, oder um die glaub- Quantität. Wenn ich mit Prosa einen minimalen Diskurs bezeichne,
würdige Lüge des Romanciers, die Aufrichtigkeit braucht hier fal- rationalstes Vehikel des Gedankens, und wenn ich mit a, b, c be-
sche und ganz offenkundig falsche Zeichen, um zu dauern und ver- sondere, nutzlose, aber schmückende Attribute des sprachlichen
braucht zu werden. Das Produkt und schließlich auch die Quelle Ausdrucks meine, wie Metrum, Reim oder das Ritual der Bilder,
dieser Doppeldeutigkeit ist die Schreibweise. Diese Spezialspra- dann findet die ganze Oberfläche der Wörter in der doppelten
che, deren Gebrauch dem Schriftsteller eine ruhmreiche, aber Gleichung Monsieur Jourdains Platz:
überwachte Funktion zuweist, kündet von einer bei den ersten Poesie = Prosa + a + b + c
Schritten unsichtbaren Knechtschaft, wie sie jeder Verantwortlich- Prosa=Poesie — a — b — c
keit eigen ist. Die in ihren Anfängen freie Schreibweise ist schließ- Woraus natürlich hervorgeht, daß Poesie sich immer von Prosa
lich das Band, das den Schriftsteller an eine Geschichte kettet, die unterscheidet. Dieser Unterschied ist jedoch nicht einer des We-
selbst gefesselt ist: die Gesellschaft zeichnet ihn mit den klar er- sens, sondern einfach einer der Quantität. Er bedeutet also keinen
kennbaren Malen der Kunst, um ihn um so sicherer mit in ihre Frevel an der zum klassischen Dogma gehörenden Einheit der
eigene Entfremdung zu ziehen. sprachlichen Ausdrucksweise. Die verschiedenen Arten zu spre-
chen werden nur entsprechend der gesellschaftlichen Situation do-
siert, hier Prosa oder Eloquenz, dort Poesie oder Preziosität, ein
ganz mondänes Ritual des Sichausdrückens, überall jedoch eine
einzige Sprache, die die ewigen Kategorien des Geistes widerspie-
gelt. Die klassische Poesie wurde lediglich als eine ornamentale Va-
riation der Prosa aufgefaßt, als die Frucht einer Kunst (das heißt
einer Technik), niemals als andere Sprache oder als Produkt einer
besonderen Sensibilität. Alle Poesie ist dann nichts anderes als de-
korative, anspielende oder befrachtete Gleichung für eine jederzeit
mögliche Prosa, die dem Wesen nach und potentiell in jeder Art
sich auszudrücken enthalten ist. Das Attribut >poetisch< bezeich-
net zur Zeit der Klassik keine besondere Ausdehnung, keine be-
sondere Dichte des Gefühls, keine Kohärenz, keine abgetrennte
Welt, es bezeichnet nur eine Modifikation in der Worttechnik, die
Tatsache, sich nach schöneren Regeln >auszudrücken<, das heißt
alcn fl Υ41 n(rñ >ςrv7ialerPf< als λ enPn ~Pr Knn ν rς,rinn_ wac he Ί en-
Es ist bekannt, daß von dieser Struktur in der modernen Lyrik — Kein Wort erhält darin durch sich selbst seine Dichte, es ist gerade
nicht in der von Baudelaire abstammenden, aber in der, die auf eben noch Zeichen für ein Ding, in der Hauptsache aber Weg einer
Rimbaud zurückgeht — nichts übriggeblieben ist, außer daß die Verbindung. Weit davon entfernt, in ein inneres, seiner Morpho-
formalen Imperative der klassischen Poesie in einer umgewandel- logie ko-substantielles Muster einzutauchen, streckt es sich, so-
ten, angepaßten Form wiederaufgenommen werden: die Dichter bald es nur hervorgebracht wurde, anderen Wörtern entgegen, so
setzen von nun an ihr Wort als eine in sich abgeschlossene We- daß es mit ihnen eine auf der Oberfläche verlaufende Kette von
senheit, die Funktion und Struktur der Sprache zugleich umgrei- Absichten bildet. Ein Blick auf die Sprache der Mathematik wird
fen soll. Die Lyrik ist von nun an keine mit Dekorationen ver- es vielleicht leichter machen, den Relationscharakter der klassi-
sehene und bestimmter Freiheiten beraubte Prosa mehr. Sie ist schen Poesie und Prosa zu verstehen: es ist bekannt, daß in der
eine nicht reduzierbare Qualität ohne Erbe, sie ist nicht mehr At- mathematischen Schreibweise nicht nur jede Quantität mit einem
tribut, sondern Substanz, und kann infolgedessen auf Zeichen ver- Zeichen versehen ist, sondern daß auch die Beziehungen, in de-
zichten, denn sie trägt ihr eigenes Wesen in sich und braucht dem nen sie zueinander stehen, durch ein Operationszeichen, etwa
Außen ihre Identität nicht zu signalisieren: die Sprache der Lyrik der Gleichheit oder Differenz, angezeigt werden; man kann sagen,
und die Sprache der Prosa sind hinreichend voneinander getrennt, daß die gesamte Bewegung des mathematischen Kontinuums aus
um auf die Zeichen für ihre Andersartigkeit verzichten zu kbn- einem expliziten Lesen dieser Bindungen stammt. Die klassische
nef. Sprache wird durch eine analoge Bewegung belebt, wenngleich
Darüber hinaus sind die angeblichen Beziehungen zwischen diese natürlich weniger streng ist: ihre neutralisierten >Wörter<,
Denken und Sprache ins Gegenteil verkehrt. In der klassischen die durch ein strenges Sichbeziehen auf eine Tradition, das ihre Un-
Kunst gebiert ein völlig ausgebildeter Gedanke ein Wort, durch mittelbarkeit, ihre Frische absorbiert und auslöscht, verfremdet
das er sich >ausdriickt< oder sich >übersetzt<. Das klassische Den- werden, fliehen das sonore oder semantische Ereignis, das die Wür-
ken ist ohne eigene Dauer, und die klassische Poesie verfügt nur ze der Sprache in einem einzigen Punkt vereinigen und die Bewe-
über jene, die zu ihrem formalen Herausputzen nbtig ist. In der gung des Verstehens zugunsten einer schlecht verteilten Wollust
modernen Lyrik dagegen bringen die Wörter ein formales, zusam- anhalten würde. Das klassische Kontinuum ist eine Folge von Tei-
menhängendes Kontinuum hervor, aus dem allmählich eine intel- len mit gleicher Dichte, die alle dem gleichen emotionalen Druck
lektuelle oder sentimentale Dichte hervorgeht, die ohne sie nicht unterworfen sind, der ihnen jede Tendenz zu einer individuellen
möglich wäre. Das Sprechen ist hier die dichte Zeit einer geisti- und wie nur erfundenen Bedeutung entzieht. Der lyrische Wort-
geren Reifung, während der das >Denken< vorbereitet und langsam schatz selber ist ein Gebrauchswortschatz, nicht ein neugeschaf-
durch den Zufall der Wörter installiert wird. Dieses verbale Glück, fener; die Bilder darin sind besonders nur als ganze Gruppe, nicht
aus dem die reife Frucht einer Bedeutung fallen wird, setzt also aber einzeln, und sie sind es dem Brauche nach, aber nicht durch
eine dichterische Zeit voraus, die nicht mehr die einer >Fabrizie- Schöpfung. Die Rolle des klassischen Dichters besteht also nicht
rung< ist, sondern die eines möglichen Abenteuers, die Begegnung darin, neue Wörter zu finden, dichtere oder leuchtendere, son-
mit einem Zeichen und einer Intention. Die moderne Lyrik setzt dern darin, ein altes Protokoll neu zu ordnen, die Symmetrie oder
sich der klassischen durch einen Unterschied entgegen, der die ge- die Genauigkeit eines Berichtes zu vervollkommnen, einen Ge-
samte Struktur sprachlichen Ausdrucks erfaßt, ohne zwischen danken bis an die genaue Grenze eines Metrums zu führen oder
diesen beiden Arten der Lyrik einen anderen gemeinsamen Punkt ihn darauf zu reduzieren. Die Einfälle der Klassik betreffen die
bestehen zu lassen, als eine gleiche gesellschaftliche Intention. Beziehungen, nicht die Wörter; die Klassik ist eine Kunst der Aus-
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Ökonomie an der Oberfläche gruppiert. Man ist entzückt von der berung erheben muß, wie ein Geräusch und wie ein Zeichen ohne
Formel, zu der sie vereinigt werden, nicht aber von ihrer eigenen Boden, wie ein >Zorn und ein Geheimnis<.
Macht und Schönheit. In der klassischen Sprache sind es die Beziehungen, die das Wort
Gewiß erreicht die klassische Rede nicht die funktionale Per- leiten und es alsbald einem immer weiter hinausprojizierten Sinn
fektion des mathematischen Netzes; die Beziehungen werden dar- zutragen; in der modernen Lyrik sind die Beziehungen nur eine
in nicht durch besondere Zeichen bedeutet, sondern nur durch Ausdehnung des Wortes, das Wort selbst ist >die Heimstatt<, es
Akzidentien der Form oder der Anordnung. Durch das Sichzu- ist wie ein Anfang in die Prosodie der mitgehörten, aber abwesen-
riickzíehen der Wörter selbst, durch ihre Aneinanderreihung ver- den Funktionen eingelassen. Hier faszinieren die Beziehungen,
wirklicht sich der Relationscharakter des klassischen Diskurses. und das Wort nährt und füllt wie die plötzliche Entschleierung
Die klassischen Wörter, die sich in einer kleinen, immer gleichen einer Wahrheit; zu sagen, daß diese Wahrheit einer poetischen
Zahl von Beziehungen abnutzen, sind auf dem Weg zu einer Alge- Ordnung angehört, heißt lediglich sagen, daß das lyrische Wort
bra. Die rhetorische Figur, das Klischee sind die Mittel, die ihnen niemals falsch sein kann, weil es total ist; es leuchtet von einer un-
für eine Bindung zur Verfügung stehen; zugunsten eines größe- endlichen Freiheit und bereitet sich, tausend ungewissen und mög-
ren Zusammenhangs des Diskurses haben sie ihre Dichte verlo- lichen Beziehungen entgegenzustrahlen. Nach der Zerstörung der
ren; sie wirken in der Art chemischer Wertigkeiten und zeichnen festen Beziehungen hat das Wort nur noch eine vertikale Flucht-
eine Wortfläche voll symmetrischer Verbindungen, voller Sterne linie, es ist wie ein Block, ein Pfeiler, der in eine Ganzheit von Be-
und Knoten, aus denen, ohne daß die Pause zu einem Erstaunen deutungen, von Reflexen und Rückständen hinabreicht: es ist ein
gelassen würde, neue Bedeutungsintentionen auftauchen. Kaum aufrecht stehendes Zeichen. Das lyrische Wort ist hier ein Akt
daß sie ihren Sinn ausgeliefert haben, werden die Parzellen des klas- ohne unmittelbare Vergangenheit, ohne Umgebung, ein Akt, der
sischen Diskurses zu Vehikeln oder Ankündigungen und tragen nur den dichten Schatten der Widerspiegelungen aller möglichen
einen Sinn immer weiter hinaus, der sich nicht auf dem Grunde mit ihm verbundenen Ursprünge anbietet. Unter jedem Wort der
eines Wortes ablagern, sondern sich zu einer totalen Geste des Ver- modernen Lyrik ruht so eine Art existentieller Geologie, in der
stehens und damit der Kommunikation ausdehnen will. der Gesamtgehalt des Nomens und nicht mehr nur, wie in der
Die Verzerrung, der Víctor Hugo den Alexandriner, das von Prosa oder klassischen Poesie, ein ausgewählter Gehalt verborgen
allen am stärksten relationale Versmaß, hat unterwerfen wollen, ist. Das Wort wird nicht mehr im voraus durch die allgemeine
enthält bereits die ganze Zukunft der modernen Lyrik, denn es Absicht einer gesellschaftlichen Rede gelenkt; der Verbraucher der
geht darum, eine Intention der Beziehungen zu zerstören, um an Lyrik, der Führung durch die ausgewählten Beziehungen beraubt,
deren Stelle eine Wortexplosion zu setzen. Die moderne Lyrik, stößt frontal auf das Wort, das ihm entgegentritt wie eine absolute
die man der klassischen Poesie und jeder Prosa gegenüberzustellen Quantität, die all ihre Möglichkeiten enthält. Das Wort ist hier
hat, zerstört in der Tat die spontan funktionale Natur des sprach- enzyklopädisch, es umfaßt gleichzeitig alle Bedeutungen, unter
lichen Ausdrucks und läßt davon nur die lexikalischen Grund- denen auszuwählen es durch einen beziehungsreichen Diskurs ge-
mauern bestehen. Von den Beziehungen bewahrt sie nur deren Be- zwungen worden wäre. Es verwirklicht also einen Zustand, der
wegung und deren Musik, nicht aber deren Wahrheitsgehalt. Das nur im Wörterbuch oder in der Lyrik möglich ist, da, wo das No-
Wort erschallt oberhalb einer Linie ausgehöhlter Beziehungen, men ohne seinen Artikel leben kann, zurückgeführt auf eine Art
die Grammatik wird ihrer Zweckhaftigkeit entblößt, sie wird zur Nullzustand, der alle vergangenen und zukünftigen Spezifizierun-
Prosodie und ist nichts anderes mehr als eine Modulation, die nur gen enthält. Das Wort hat hier eine gattungshafte Form, es ist eine
λ,' -
τνϊ» i'. R L,,.. . .._..λ__
produziert und konsumiert. Dieser Hunger der modernen Lyrik Dienst, niemand zwingt ihnen eine Hierarchie auf, niemand redu-
nach dem Nomen macht aus dem lyrischen Wort ein furchtbares, ziert sie auf das Bedeuten eines geistigen Verhaltens oder einer Ab-
ein unmenschliches Wort. Es schafft eine Rede voller Hohlräume sicht, das heißt letztlich einer Zärtlichkeit. Das Zerspringen des
und Lichter, voller Abwesenheiten und übermäßig nährender Zei- lyrischen Wortes stiftet also ein absolutes Objekt. Die Natur wird
chen, die weder vorhersehbar noch andauernd in ihrer Intention zu einer Folge von plötzlich vertikal sich aufrichtenden Objek-
und dadurch der gesellschaftlichen Funktion des sprachlichen Aus- ten, die mit all ihren Möglichkeiten angefüllt sind und sich nur
drucks so entgegengesetzt sind, daß die einfache Zuflucht zum dis- in Abständen über eine unausgefüllte und dadurch erschreckende
kontinuierlichen Sprechen allem Außernatϋrlichen den Weg öff- Welt verteilen können. Diese Objektwörter ohne Verbindung, die
net. mit der ganzen Gewalt ihres Ausbruchs geschmückt sind, dessen
Was bedeutet denn in Wirklichkeit die rationale Okonomie der rein mechanisches Vibrieren noch auf merkwürdige Weise das fol-
klassischen Sprache, wenn nicht, daß die Natur ganz angefüllt ist, gende Wort berührt, doch alsbald zur Ruhe kommt, diese lyri-
besitzbar, ohne Entweichendes und ohne Schatten, daß sie von schen Wörter schließen die Menschen aus: es gibt keinen lyrischen
den Netzen der Rede voll erfaßt werden kann? Die klassische Spra- Humanismus der Modernität; dieser Diskurs ist voller Schrecken,
che reduziert sich immer auf ein überzeugendes Ganzes, sie po- das heißt, daß er den Menschen nicht in Verbindung mit den an-
stuliert den Dialog, sie setzt ein Universum, in dem der Mensch deren Menschen setzt, sondern mit den unmenschlichsten Bildern
nicht allein ist, in dem die Wörter niemals das furchtbare Gewicht der Natur: dem Himmel, der Hölle, dem Sakralen, der Kindheit,
der Dinge haben, in dem das Sprechen immer Begegnung mit dem Wahnsinn, der reinen Materie etc.
einem anderen Menschen bedeutet. Die klassische Sprache ist Trä- Man kann dann kaum von einer lyrischen Schreibweise spre-
ger einer Euphorie, denn sie ist eine unmittelbar gesellschaftliche chen, denn es handelt sich um eine Sprache, deren Heftigkeit in
Sprache. Es gibt keine klassischen Gattungen, keine klassischen der Autonomie jede ethische Bedeutung zerstört. Die Geste des
Schreibprodukte, die nicht einen kollektiven Verbrauch, einen wie Sprechens zielt hier darauf ab, die Natur zu modifizieren, sie ist
gesprochenen Verbrauch voraussetzen. Die klassische Literatur ist eine Demiurgie; sie ist keine Haltung des Bewußtseins, sondern
ein Objekt, das zwischen Personen kreist, die durch die gleiche ein Akt des Zwanges. So ist zumindest die Sprache jener modernen
Klasse vereinigt sind, sie ist ein Produkt, das für die mündliche Lyriker, die ihre Absicht bis zu Ende führen und Dichtung nicht
Weitergabe erfunden wurde, für einen Verbrauch, der entsprechend wie eine geistige Ubung, einen Seelenzustand oder eine Stellung-
den mondänen Zusammenkünften geregelt ist; sie ist trotz ihrer nahme auf sich nehmen, sondern als Glanz und als Frische einer
strengen Kodifizierung wesentlich eine gesprochene Sprache. erträumten Sprache. Für solche Dichter ist es ebenso sinnlos, von
Wir haben gesehen, daß im Gegensatz dazu die moderne Ly- Schreibweisen zu sprechen, wie von dichterischem Gefühl. Die mo-
rik die Beziehungen in der sprachlichen Ausdrucksweise zerstört derne Lyrik ist in ihrer Absolutheit, zum Beispiel bei Ren€ Char,
und den Diskurs auf Wörterstationen zurückführt. Das schließt jenseits des diffusen Tones und der preziösen Aura, die natürlich
eine Umwälzung im Verständis der Natur ein. Die Unterbrechung durchaus eine Schreibweise darstellen und die man im allgemei-
des Zusammenhanges in der neuen lyrischen Sprache instituiert nen poetisches Gefühl nennt. Es gibt nichts dagegen einzuwen-
eine unterbrochene Natur, die sich nur blockweise enthüllt. In den, wenn man bei den Klassikern und ihren Epigonen von einer
dem gleichen Augenblick, da das Zurückweichen der Funktionen poetischen Schreibweise spricht oder auch bei der poetischen Pro-
es Nacht werden läßt über den Verbindungen der Welt, gewinnt sa in der Art der Nourritures Terrestres André Gides, weil hier die
das Objekt im Diskurs einen erhöhten Platz; die moderne Lyrik Poesie wirklich eine gewisse Ethik der sprachlichen Ausdrucks-
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machen, genauso wie es für einen modernen Leser nicht leicht ist,
jene zeitgenössischen Dichter zu beurteilen, die die gleiche einheit-
II
liche und unbestimmte Schreibweise benutzen, weil für sie die
Lyrik ein Landstrich ist, das heißt dem Wesen nach eine Kon-
vention der Ausdrucksweise. Wenn aber die dichterische Sprache
radikal die Natur in Frage stellt, einzig auf Grund der Wirkung
ihrer Struktur, ohne auf den Gehalt des Diskurses zu rekurrieren
und ohne bei der Zwischenstation einer Ideologie innezuhalten,
dann gibt es keine Schreibweise mehr, dann gibt es nur noch Stile,
durch die hindurch der Mensch sich vollständig umwendet und
der objektiven Welt entgegentritt, ohne durch irgendeine der Fi-
guren der Geschichte oder der. Gesellschaftlichkeit hindurchzu-
gehen.
Triumph und Bruch der
bürgerlichen Schreibweise

In der vorklassischen Literatur gibt es scheinbar eine Vielzahl von


Schreibweisen. Diese Vielfalt erscheint jedoch viel geringer, wenn
man diese Probleme der sprachlichen Ausdrucksweisen nicht mehr
in der Terminologie der Kunst, sondern der der Struktur stellt. As-
thetisch gesehen zeigen das ι6. Jahrhundert und der Beginn des
17. Jahrhunderts einen relativ frei sich entfaltenden Reichtum an
literarischen Ausdrucksweisen, weil der Mensch noch in ein Er-
kennen der Natur engagiert ist, nicht aber in einen Ausdruck sei-
ner eigenen Essenz. In diesem Sinne haben die enzyklopädische
Schreibweise Rabelais' oder die preziöse Corneilles — um nur ty-
pische Momente zu bezeichnen — als gemeinsame Form eine Spra-
che, deren Verzierung noch nicht ritual ist, sondern in sich ein Er-
forschungsverfahren darstellt, das auf die gesamte Ausdehnung
der Welt angewandt wird. Gerade das gibt dieser vorklassischen
Schreibweise die Einstellung des Nuancieren und die Euphorie
einer Freiheit. Für einen modernen Leser ist der Eindruck der
Vielfalt um so stärker, als die Sprache noch unstabile Strukturen
auszuprobieren scheint, als der Geist ihrer Syntax und die Regeln
zur Vergrößerung ihres Wortschatzes noch nicht endgültig fest-
gelegt zu sein scheinen. Wenn man die Unterscheidung zwischen
>Sprache< und >Schreibweise< wiederaufnimmt, kann man sagen,
daß die französische Literatur bis um ι65o noch nicht über eine
Problematik der Sprache hinausgekommen war und deshalb also
von einer Schreibweise noch gar nichts wußte. In der Tat ist eine
Moral der sprachlichen Ausdrucksweise nicht möglich, solange
die Sprache noch unschlüssig ist über ihre eigene Struktur. Die
Schreibweise erscheint erst dann, wenn die national konstituierte
Sprache zu einer Art Negativität wird, zu einem Horizont, der
voneinander trennt, was erlaubt und was verboten ist, ohne sich
noch selbst nach den Ursprüngen oder den Begründungen die-
wert, der auf Grund der historischen Umstände sofort als univer- dagegen, in der Grammatik von Port Royal zum Beispiel, erhält
sell ausgegeben wurde. die klassische Ausdrucksweise die Züge des Universalen und wird
Die Vielfalt der Gattungen und die Bewegung der Stile inner- die >clart& zu einem Wert. In Wirklichkeit ist diese >Klarheit< ein
halb des klassischen Dogmas sind Gegebenheiten der Asthetik rein rhetorisches Attribut, sie ist keine allgemeine, zu jeder Zeit
und keine der Struktur, man darf sich weder durch das eine noch und an jedem Ort mögliche Eigenschaft, sondern die ideale Zu-
durch das andere täuschen lassen: es handelt sich durchaus um gabe zu einem bestimmten Diskurs, zu dem, der einer ständigen
eine einzige Schreibweise, instrumental und ornamental zugleich, Absicht des Überredens unterworfen ist. Weil das Frühbürgertum
über die die französische Gesellschaft während all der Zeit ver- der monarchischen und die Bourgeoisie der nachrevolutionären
fügte, als die Ideologie der Bourgeoisie sich ausgebreitet und tri- Zeit mit dem Gebrauch der gleichen Schreibweise eine essentiali-
umphiert hat. Eine instrumentale Schreibweise, da man die Form stische Mythologie des Menschen entwickelt haben, hat die klas-
als im Dienste des Gehaltes stehend betrachtete, in der Art, wie eine sische, sowohl einheitliche als auch universelle Schreibweise jedes
algebraische Gleichung im Dienste eines operativen Aktes steht, Schwanken aufgegeben zugunsten eines Kontinuums, in dem jede
eine ornamentale Schreibweise, da dieses Instrument mit seiner einzelne Zelle eine >Wahk bedeutete, das heißt radikale Eliminie-
Funktion fremden Akzidentien geschmückt war, die ohne Scham rung jeder anderen Möglichkeit der Sprache. Die politische Auto-
der Tradition entnommen waren, das heißt, daß diese bürgerliche rität, der Dogmatismus des Geistes, die Einheit der klassischen
Schreibweise, die von unterschiedlichen Schriftstellern aufgenom- Ausdrucksweise sind also die Figuren der gleichen historischen
men wurde, niemals Ekel vor ihrem eigenen Erbe erweckte, daß sie Bewegung. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Revolution
nur ein glückliches Dekorum war, aus dem sich der Akt des Den- nichts an der bürgerlichen Schreibweise geändert hat und daß es
kens erhob. Natürlich haben auch die klassischen Schriftsteller nur einen sehr geringen Unterschied zwischen der Schreibweise
eine Problematik der Form gekannt, aber die Auseinandersetzung eines Fénelon und eines Mérimée gibt. Diese bürgerliche Schreib-
ging keineswegs um die Vielfalt und den Sinn der Schreibweisen weise hat ohne Bruch bis 1848 bestanden, ohne auch nur im gé-
und noch weniger um die Struktur der Ausdrucksweise; es ging ringsten durch eine Revolution erschüttert zu werden, die dem
einzig und allein um die Rhetorik, das heißt um die Ordnung der Bürgertum die politische und soziale Macht gab, die geistige aber
geplanten Rede zum Zweck einer Uberredung. Der Einmaligkeit nicht zu geben brauchte, da es sie bereits seit langem besaß. Von
der bürgerlichen Schreibweise entsprach also die Mehrzahl ihrer Laclos zu Stendhal brauchte die bürgerliche Schreibweise nach
Rhetoriken. Umgekehrt hat die klassische Schreibweise in dem einer kurzen Periode der Verwirrung nur wiederaufgenommen
Augenblick, als die Abhandlungen über Redekunst ihr Interesse und fortgesetzt zu werden. Und die Revolution der Romantik,
verloren — um die Mitte des 19. Jahrhunderts —, aufgehdrt, univer- die dem Namen nach so sehr mit einer Verwirrung der Form ver-
sell zu sein und wurden die modernen Schreibweisen geboren. bunden ist, hat brav die Schreibweise der bürgerlichen Ideologie
Diese klassische Schreibweise ist natürlich die einer Klasse. beibehalten. Dadurch daß sie etwas Ballast abwarf, indem sie die
Entstanden im 17. Jahrhundert in dem Kreis, der direkt um die literarischen Gattungen und Worte vermischte, war es ihr möglich,
Macht gruppiert war, geformt durch dogmatische Entscheidun- das Wesentliche der klassischen Sprache zu bewahren, das heißt
gen, schnell gereinigt von allen grammatischen Erscheinungen, deren Instrumentalität. Gewiß, ein Instrument, das immer mehr
die von der spontanen Subjektivität des Volkes erfunden worden >Präsenz< annimmt (insbesondere bei Chateaubriand), aber schließ-
waren, in Zucht genommen durch eine Arbeit der Definition, ist lich doch ein Instrument, das ohne Hochmut und in der Unwis-
die bürgerliche Schreibweise zunächst mit dem bei ersten politi- senheit von der Einsamkeit sprachlicher Ausdrucksform benutzt
Ι G,.-,-1,A P, ,P .',. _
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eigenen Existenz lesen konnte, nur Víctor Hugo hat durch das >Literatur<. Seit hundert Jahren haben Flaubert, Mallarmé, Rim-
Gewicht seines Stils einen Druck auf die klassische Schreibweise baud, die Goncourts, die Surrealisten, Queneau, Sartre, Blanchot
ausüben und sie bis dicht an ihr Zerspringen führen können. Die oder Camus gewisse Wege zur Integration, zum Zerstören oder
Verachtung Hugos bürgt daher immer für die gleiche Formalmy- zur Naturalisation der Literatursprache gezeichnet oder zeichnen
thologie, in deren Schutz die immer gleiche Schreibweise des acht- diese noch heute; aber der Einsatz ist nicht irgendein Abenteuer
zehnten Jahrhunderts, Zeugin der historischen Taten der Bour- der Form, irgendein Gelingen der rhetorischen Arbeit oder eine
geoisie, die Norm für ein wahres, echtes Französisch liefert, für besondere Kühnheit des Vokabulars. Jedesmal, wenn der Schrift-
diese in sich geschlossene Sprache, die von der Gesellschaft durch steller einen Wortkomplex aufzeichnet, wird die Existenz der Li-
den ganzen Umfang des literarischen Mythos getrennt ist, eine Art teratur überhaupt in Frage gestellt. Die Modernität gibt mit der
geheiligter Schreibweise, die ungerührt von den verschiedenartig- Vielfalt ihrer Schreibweisen die Sackgasse ihrer eigenen Geschichte
sten Schriftstellern als strenge Vorschrift oder als feinschmeckeri- zu erkennen.
scher Leckerbissen wiederaufgenommen wird, Tabernakel dieses
kostbaren Mysteriums, das da heißt: Französische Literatur.

Nun, die Jahre um 5850 bringen drei große historische Geschehnis-


se: den Umsturz in der europäischen Demographie, die Entwick-
lung der Metallindustrie, die an die Stelle der Textilindustrie tritt,
das heißt die Geburt des modernen Kapitalismus, die Spaltung der
französischen Gesellschaft in drei feindliche Klassen (Spaltung,
die in den Junitagen des Jahres 1848 evident wird), das heißt das
endgültige Zusammenbrechen der Illusionen des Liberalismus.
Das Zusammenwirken dieser Geschehnisse wirft die Bourgeoisie
in eine neue historische Situation. Bisher hatte die bürgerliche
Ideologie selbst das Maß für das Universelle geliefert und es un-
bestritten erfüllt. Der bürgerliche Schriftsteller, einziger Richter
des Unglücks der anderen Menschen, war, da sich ihm gegenüber
niemand befand, der ihn hätte mustern können, noch nicht zwi-
schen seiner sozialen Stellung und seiner geistigen Berufung zer-
rissen. Von nun an aber erscheint diese Ideologie nur noch als eine
unter möglichen anderen; das Universelle entgleitet ihr, sie kann
nur über sich hinausgehen, indem sie sich verurteilt; der Schrift-
steller wird Beute einer Doppeldeutigkeit, da sein Bewußtsein
sich nicht mehr vollständig mit seiner Stellung deckt. Auf diese
Weise entsteht eine Tragik der Literatur.
Zu diesem Zeitpunkt werden die Schreibweisen zahlreicher.
Von nun an will jede — die feinziselierte, die volkstümliche, die neu-
,-.-1' ,-1',- T ,;r;~1-'4r '.;'-' λ,«--h λPr '-L .-
Das Stilhandwerk intensiv und sehr lange an seiner Form arbeitet, und manchmal
wird sogar eine Preziosität der Konzision geschaffen (eine Materie
bearbeiten bedeutet im allgemeinen, etwas von ihr abschneiden),
die im großen Gegensatz steht zu der großen barocken Preziosität
>Die Form ist teuer<, sagte Valéry, als man ihn fragte, warum er (der Corneilles zum Beispiel); die eine drückt ein Erkennen der
seine Vorlesungen am College de France nicht veröffentliche. Und Natur aus, das eine Erweiterung der sprachlichen Ausdrucksweise
doch gab es eine ganze Epoche, die Zeit, als die bürgerliche Schreib- mit sich bringt; die andere, die versucht, einen aristokratischen
weise auf ihrem Höhepunkt war, in der die Form ungefähr soviel Literaturstil zu produzieren, führt die Bedingungen für eine hi-
kostete wie das Denken; man achtete natürlich auf ihre Wirksam- storische Krise ein, die mit dem Tag aufbrechen wird, an dem ein
keit, auf ihre Schönheit, aber die Form war um so leichter, als der ästhetischer Zweck nicht mehr genügt, um die Konvention dieser
Schriftsteller ein bereits ausgebildetes Werkzeug benutzte, dessen anachronistischen Sprache zu rechtfertigen, das heißt mit dem
Mechanismen intakt weitergereicht wurden und das nicht im ge- Tag, an dem die Geschichte den Zwiespalt offenkundig werden
ringsten vom Streben nach Neuheit besessen war; die Form war läßt zwischen der gesellschaftlichen Berufung des Schriftstellers
nicht Eigentum, die Universalität der klassischen Ausdrucksweise und dem Instrument, das ihm die Tradition überliefert.
rührte daher, daß sie Gemeingut war und daß nur das Denken
von Andersartigkeit betroffen wurde. Man könnte sagen, daß wäh- Flaubert hat mit der größten Zielstrebigkeit diese handwerkliche
rend dieser ganzen Zeit die Form einen Gebrauchswert besaß. I Schreibweise begründet. Vor ihm war der Fall des Bourgeois eine
Nun haben wir gesehen, daß sich gegen 1850 für die Literatur Sache des Pittoresken oder Exotischen. Die bürgerliche Ideologie
ein Problem der Rechtfertigung stellt: die Schreibweise beginnt i lieferte den Maßstab für das Universelle, behauptete das Existie-
sich Alibis zu suchen; und gerade weil der Schatten eines Zweifels ren eines >reinen Menschen< und konnte mit höchster Begeisterung
auf ihren Gebrauch zu fallen beginnt, bemüht sich eine ganze den Bourgeois als ein inkommensurables Spektakulum betrachten.
Gruppe von Schriftstellern, bereit, die Verantwortung der Tradi- Für Flaubert ist der Stand des Bourgeois ein unheilbares Übel, das
tion voll und ganz zu übernehmen, diesen Gebrauchswert der I den Schriftsteller befleckt und das er nur dadurch behandeln kann,
Schreibweisen durch einen Arbeitswert zu ersetzen. Die Schreib- daß er es in aller Klarsicht auf sich nimmt — worin genau das Wesen
weise wird nicht dank ihrer Bestimmung gerettet werden, sondern eines tragischen Gefühls besteht. Die bürgerliche Zwangsläufig-
dank der Arbeit, die sie gekostet hat. Damit beginnt das Aufblü- keit, unter der Frédéric Moreau genauso steht wie Emma Bovary
hen einer ganzen Bilderwelt vom Schriftsteller als Handwerker, oder Bouvard und Pécuchet, fordert von dem Augenblick an, in
der sich an einem legendären Ort einschließt wie ein Handwerks- dem man sie frontal erleidet, eine Kunst, die ebenfalls unter einer
meister in seiner Werkstatt und dort an der Form arbeitet, sie Notwendigkeit steht und ebenso mit einem Gesetz gerüstet ist.
zuschneidet, abschleift, aneinanderfügt, genauso wie der Stein- Flaubert hat eine normative Schreibweise begründet, die — para-
schneider, der aus der Materie Kunst entstehen läßt und regel- doxerweise — die Verfahrensregeln eines Pathos enthält. Einerseits
mäßig Stunden der Einsamkeit und Anstrengung bei dieser Arbeit baut er seinen Bericht mit einer Aufeinanderfolge von Essenzen,
verbringt: Schriftsteller wie Théophile Gautier (unfehlbarer Mei- keineswegs nach phänomenologischer Ordnung (wie es Proust
ster der Schönen Literatur), Flaubert (der in Croisset seine Sätze später tat); er fixiert die Verbzeiten in einem konventionellen Ge-
poliert), Valéry (der in seinem Zimmer am frühen Morgen arbei- brauch, so daß sie wirken wie die Zeichen für Literatur, nach dem
tet) oder Gide (der vor seinem Pult steht wie vor einer Werkbank) Muster einer auf ihr Artifizielles hinweisenden Kunst. Er erarbei-
hil'-Ι Pn ΤΙ -Τ n ΓΙ werker711nfr lier l ettres Francakes_ in der die tet einen Rhythmus der Schrift_ Scli&ifer einer A rr Reς rhwίir
seits stützen dieser Kodex der Mühen der literarischen Schreib- Schreibweise und Revolution
weise und die zahlreichen Exerzitien der Arbeit des Schreibens
eine Weisheit sowie auch eine Trauer und eine Aufrichtigkeit, denn
die Kunst Flauberts schreitet voran, indem sie mit dem Finger auf
ihre Maske weist. Das Handwerkertum des Stils hat eine Unter-Schreibweise hervor-
Diese gregorianische Kodifizierung der Literatursprache zielt gebracht, die sich von Flaubert herleitet, aber den Mustern der
darauf ab, wenn nicht den Schriftsteller mit seiner universellen naturalistischen Schule angepaßt worden ist. Diese Schreibweise
>conditio< zu versdhnen, so doch wenigstens ihm die Verantwort- Maupassants, Zolas und Daudets, die man realistische Schreib-
lichkeit für seine Form zu übertragen und aus der Schreibweise, weise nennen könnte, ist eine Kombination von formalen Zeichen
die ihm von der Geschichte überliefert wurde, eine Kunst zu ma- der Literatur (Erzählvergangenheit, indirekte Rede, Rhythmus)
chen, das heißt eine klare Konvention, einen aufrichtigen Pakt, und nicht weniger formalen Zeichen des Realismus (Stücke aus
der es dem Menschen ermöglicht, eine vertraute Stellung in einer der volkstümlichen Sprache, Kraftausdrücke, mundartliche Wen-
noch disparaten Natur einzunehmen. Der Schriftsteller gibt der dungen etc.), so daß letztlich keine Schreibweise künstlicher ist
Gesellschaft eine Kunst, die sich als solche erklärt und in all ihren als jene, die behauptet hat, die Natur aus allergrößter Nähe zu
Normen sichtbar ist. Als Gegendienst kann die Gesellschaft den zeichnen. Der Fehlschlag ist gewiß nicht nur im Bereich der Form
Schriftsteller akzeptieren. So legte Baudelaire Wert darauf, die festzustellen, sondern auch in der Theorie: der naturalistischen
wunderbare Nüchternheit seiner Poesie auf Gautier zu beziehen 1 Asthetik liegt eine Konvention des Wirklichen zugrunde, genauso
wie auf eine Art Fetisch der >bearbeitetem Form, die zwar gewiß wie es eine Fabrizierung der Schreibweise gibt. Das Paradoxe ist,
außerhalb des Pragmatismus der bürgerlichen Tätigkeit lag, sich daß die Erniedrigung der Sujets keineswegs einen Rückzug der
aber doch in eine Ordnung vertrauter Beschäftigungen einfügen Form zur Folge gehabt hat. Die neutrale Schreibweise ist eine spä-
ließ und die von einer Gesellschaft kontrolliert wurde, die in ihr tere Erscheinung, sie wird erst lange nach dem Realismus von Au-
zwar nicht ihre Träume, aber doch ihre Arbeitsmethoden wieder- toren wie Camus erfunden, und das weniger unter der Wirkung
erkannte. War es nicht besser, da die Literatur nicht von ihr selbst einer Ästhetik der Zuflucht als durch die Suche nach einer endlich
aus besiegt werden konnte, sie offen zu akzeptieren und, verur- unschuldigen Schreibweise. Die realistische Schreibweise ist weit
teilt zu diesem literarischen Gefängnis, dort wenigstens >gute Ar- davon entfernt, neutral zu sein, sie ist vielmehr beladen mit den
beit< zu liefern? Daher bedeutet die >Flaubertisierung< der Schreib- sichtbarsten Zeichen der Fabrizierung. So hat die naturalistische
weise einen allgemeinen Loskauf der Schriftsteller, sei es, daß die Schule, dadurch daß sie sich degradierte und die Forderung nach
am wenigsten Anspruchsvollen sich darin ohne Probleme erge- einem Wortgebilde, das sich ganz offen von der Wirklichkeit un-
hen, sei es, daß die Gewissenhaftesten und Reinsten sich ihr zu- terscheidet, aufgab, ohne indessen gewillt zu sein, die Sprechweise
wenden wie zur Anerkennung einer schicksalhaften Bestimmung. sozialer Gebilde wiederzufinden — wie es dann Raymond Que-
neau getan hat —, paradoxerweise eine mechanische Kunst her-
vorgebracht, die mit einer bis dahin unbekannten Ostentation auf
ihre literarische Konvention hinwies. Die Schreibweise Flauberts
erreichte langsam eine Verzauberung, es ist noch möglich, sich in
der Lektüre Flauberts zu verlieren wie in einer Natur voller Ne-
benstimmen, in der die Zeichen mehr überreden als ausdrücken.
Ι Die realistische Schreihweiς> v.>wn kann níPmalc ííΚar7an ιan
Objekt, über welches der Schriftsteller nur dadurch Macht habe, Diese kleinbürgerliche Schreibweise ist durch kommunistische
daß er die Kunst beherrscht, die Zeichen anzupassen. Schriftsteller wiederaufgenommen worden, weil sich für den Au-
Diese Autoren ohne Stil — Maupassant, Zola, Daudet und ihre genblick die künstlerischen Normen des Proletariats nicht von
Epigonen — haben eine Schreibweise praktiziert, die für sie Zu- denen des Kleinbürgertums unterscheiden können (ein Umstand,
fluchtsstätte und Ausstellungsort für ihre handwerklichen Ope- der im übrigen durchaus mit der Doktrin übereinstimmt) und weil
rationen war, die sie aus einer rein passiven Asthetik verjagt zu das Dogma des sozialistischen Realismus selbst zwangsweise zu
haben glaubten. Die Erklärungen Maupassants über die Arbeit an einer konventionellen Schreibweise führt, die beauftragt ist, so deut-
der Form sind bekannt, genauso wie all die naiven Verfahren die- lich wie möglich einen Gehalt zu signalisieren, der unfähig ist, sich
ser Schule, mit Hilfe derer ein natürlicher Satz in einen künstlichen durchzusetzen, ohne eine Form, durch den er identifiziert wird.
verwandelt wird, der dann dazu bestimmt ist, von seiner rein lite- Man begreift also das Paradox, das darin liegt, daß die kommuni-
rarischen Zweckhaftigkeit zu künden, das heißt von der Arbeit, stische Schreibweise die allergrbbsten Zeichen der Literatur häuft
die er gekostet hat. Es ist bekannt, daß in der Stilistik Maupassants und, weit davon entfernt, mit einer — zumindest in der Vergangen-
das Kunstwollen allein in der Syntax liegt, das Vokabular hat heit — im wesentlichen typisch bürgerlichen Form zu brechen, fort-
diesseits der Literatur zu bleiben. Gut schreiben — von nun an fährt, ohne Einschränkung die formalen Bemühungen der klein-
das einzige Zeichen dafür, daß es sich um Literatur handelt — heißt, bürgerlichen Kunst auf sich zu nehmen (die im übrigen bei der
in naiver Weise die Stellung eines Satzteiles ändern, heißt, ein Wort kommunistischen Leserschaft durch die Aufsätze, die sie in der
>hervorheben<, wobei man glaubt, dadurch einen >expressiven< Grundschule geschrieben hat, Kredit finden).
Rhythmus zu erhalten. Doch ist Expressivität nichts als ein My- Der französische sozialistische Realismus hat also die Schreib-
thos: sie besteht nur in der Expressivitätskonvention. weise des bürgerlichen Naturalismus wiederaufgenommen, indem
Diese konventionelle Schreibweise ist immer ein Lieblingsgebiet er, ohne sich irgendeinen Zwang aufzuerlegen, alle absichtlichen
der Literaturbetrachtung in der Schule gewesen, die den Wert eines Kunstzeichen mechanisiert hat. Hier zum Beispiel ein par Zeilen
Textes nach der Sichtbarkeit der Arbeit beurteilt, die er gekostet aus einem Roman von Garaudy: >... mit weit vorgebeugtem Ober-
hat. Nun ist nichts spektakulärer als Kombinationen von Satztei- körper bearbeitete er ungestüm die Tastatur der Setzmaschine ...
len zu versuchen, nach dem Vorbild eines Feinmechanikers, der die Freude sang in seinen Muskeln, seine Finger tanzten leicht
ein schwierig einzusetzendes Teilchen einbaut. Was in der Schule und mächtig ... der giftige Dunst des Antimon ließ seine Schlä-
an der Schreibweise eines Maupassant oder eines Daudet bewun- fen klopfen und seine Adern hämmern und machte seine Kraft,
dert wird, ist ein literarisches Zeichen, das endlich von seinem Ge- seine Wut, seine Begeisterung noch wilder.< Man sieht, daß hier
halt losgelöst ist und eindeutig die Literatur als eine Kategorie nichts ohne Bild gesagt wird, denn man muß dem Leser mit aller
ohne Verbindung mit den anderen sprachlichen Ausdrucksweisen Deutlichkeit zeigen, daß es >gut geschrieben< ist, das heißt, daß
setzt und damit eine ideale Verständlichkeit der Dinge instituiert. das, was er konsumiert, Literatur ist. Diese Bilder, die sich des ge-
Zwischen einem Proletariat, das von jeder Kultur ausgeschlossen ringsten Verbs bemächtigen, sind keineswegs einem Lebensgefühl
ist, und einer Intelligenzia, die bereits begonnen hat, die Litera- entsprungen, das versuchte, die Einzigartigkeit einer Empfindung
tur selbst in Frage zu stellen, wird die mittlere Kundschaft der wiederzugeben, sie sind ein Literaturzeichen, durch das eine Spra-
Grund- und Oberschulen, das heißt grob gesprochen das Klein- che situiert wird und das die gleiche Aufgabe hat wie ein Etikett,
bürgertum, in der aristokratisch-realistischen Schreibweise — in das über einen Preis Auskunft gibt.
der die meisten der handelsüblichen Romane geschrieben sind — >Maschine schreiben< oder >zum ersten Mal glücklich sein< sind
>']ac nrívílee erte Ríl ι] einer T.iterat"r finden_ die alle leuchtenden Ι Wenrl"neen au.ς der allrävlírhen .Snrarhe ']mir T.irarat ιι r ceí mι1ÍR
Preziοsität. Garaudy schreibt: >Nach jeder Zeile nahm der zier- als der Prozeß, den man ihr machen müßte. Deshalb sind die kom-
liche Arm der Linotype seine Handvoll tanzender Matrizen auf.< munistischen Schriftsteller die einzigen, die unbeirrt eine Schreib-
Oder: >Jede Zärtlichkeit seiner Finger weckt das fröhliche Glok- weise fortführen, welche von bürgerlichen Schriftstellern seit lan-
kenspiel der kupfernen Matrizen, die in einem Regen hoher Töne gem verurteilt worden ist, seit dem Tag nämlich, an dem sie gespürt
in die Gleitschienen fallen.< haben, daß sie durch die Lügen ihrer eigenen Ideologie kompro-
Natürlich muß man hier den Anteil der Mittelmäßigkeit berück- mittiert war, das heißt seit dem Tag, als der Marxismus sich ge-
sichtigen; im Falle Garaudys ist er immens. Bei André Stil findet rechtfertigt gefunden hat.
man viel diskretere Verfahren, die jedoch ebenfalls nicht dieser
Regel der aristokratisch-realistischen Schreibweise entgehen. Die
Metapher will hier nur noch ein fast völlig in die wirkliche Spra-
che integriertes Klischee sein und signalisiert Literatur ohne gro-
ßen Aufwand: >Klar wie Felswasser <, >... seine Hände, deren Haut
von der Kälte wie Pergament geworden war< etc. Die Preziosität
ist aus dem Wortschatz verdrängt und in die Syntax verlagert.
Wie bei Maupassant zwingt sich die Literatur auf durch das künst-
liche Zerschneiden der Satzergänzuπgen (>... mit einer Hand hebt
sie die Knie an, den Rücken gekrümmt ...<). Diese mit Konvention
gesättigte Sprache gibt das Reale nur wie in Anführungszeichen
wieder; volkstümliche Worte oder nachlässige Wendungen werden
inmitten eines rein literarischen Stiles gebraucht: >Wahrhaftig, er
macht einen wüsten Krach, der Wind<, oder noch besser: > Die Müt-
zen, vom Wind geschüttelt, sehen sie einander ganz schön neugie-
rig an.< Das familiäre >ganz schön neugierig< (französisch: >avec
pas mal de curiosité <), das auf ein unverbundenes Partizip folgt,
ist eine der gesprochenen Sprache völlig fremde Redefigur.
Natürlich muß der Fall Aragons ausgenommen werden, dessen
literarisches Erbe völlig anderer Natur ist. Er zieht es vor, die rea-
listische Schreibweise mit einem leichten Anstrich >Achtzehntes
Jahrhundert < zu versehen, indem er Zola mit etwas Laclos ver-
mischt.

Vielleicht liegt dieser braven Schreibweise der Revolutionäre das


Gefühl der Ohnmacht zugrunde, schon jetzt eine freie Schreib-
weise schaffen zu können. Vielleicht auch können nur bürgerliche
Schriftsteller die Kompromittiertheit der bürgerlichen Schreib-
weise spüren. Das Zersplittern der Literatursprache ist eine Sache
des Bewußtseins und nicht eine der Revolution gewesen. Sicher ist 4
Schreibweise und Schweigen um noch reiner die Notwendigkeit ihres Sterbens zu besingen. Die
typographische Agraphie Mallarmés will um die spärlich gesetz-
ten Wörter eine Zone der Leere schaffen, in der die von ihren
sozialen und schuldig gewordenen Harmonien befreiten Wörter
Die handwerkliche Schreibweise stört innerhalb des bürgerlichen endlich nicht mehr widerhallen. Die Vokabel, von dem tauben Ge-
Erbes keinerlei Ordnung. Der aller anderen Kämpfe beraubte stein der üblichen Klischees und den Reflexen des Schriftstellers
Schriftsteller besitzt eine einzige, zu seiner Rechtfertigung ausrei- befreit, verliert dann völlig jede Verantwortung für alle möglichen
chende Leidenschaft: das Hervorbringen der Form. Wenn er auch Textzusammenhänge, sie nähert sich einem kurzen einzigartigen
auf Freilegung einer neuen literarischen Sprache verzichtet, so Akt, dessen Stumpfheit Einsamkeit, das heißt Unschuld bezeugt.
kann er doch die alte steigern, sie mit neuen Intentionen, Archais- Diese Kunst hat die Struktur des Selbstmordes: das Schweigen
men und Preziositäten beladen, ihr neuen Glanz geben und damit ist darin eine homogene dichterische Zeit, die das Wort zwischen
eine reiche und sterbliche Sprache schaffen. Die große traditionelle zwei Schichten zwängt und es zerspringen läßt, weniger wie das
Schreibweise, die André Gides, Valérys, Montherlants, selbst die Bruchstück eines Kryptogrammes als vielmehr wie ein Licht, eine
André Bretons, bedeutet, daß die Form mit ihrem Gewicht und Leere, einen Mord, eine Freiheit. (Es ist bekannt, wieviel diese
ihrer ungewöhnlichen Drapierung einen die Geschichte transzen- Hypothese eines die Sprache tötenden Mallarmé Maurice Blan-
dierenden Wert darstellt, so wie es auch die rituale Sprache der chot verdankt.) Die Sprache Mallarmés ist wie Orpheus, der das,
Priester sein kann. was er liebt, nur retten kann, indem er darauf verzichtet, und der
Andere haben geglaubt, daß sie diese geheiligte Sprache nur da- sich trotzdem ein wenig umwendet; sie ist die bis an die Grenzen
durch bannen können, daß sie sie zerbrechen. Sie haben infolge- des gelobten Landes geführte Literatur, das heißt an die Grenzen
dessen die literarische Sprache unterminiert und haben in jedem eines Landes ohne Literatur, von dem aber doch gerade der Schrift-
Augenblick die immer wieder sich bildende Schale der Klischees, steller zu künden hätte.
der Gewohnheiten, der formalen Vergangenheit gesprengt. Sie
glaubten durch das Chaos der Formen, durch die Wüste der Wör- In dem Streben nach Befreiung der literarischen Sprache hier eine
ter hindurch ein geschichtsloses Objekt und die Frische eines andere Lösung: eine neutrale Schreibweise schaffen, die von aller
neuen Zustandes der Sprache erreichen zu können. Doch all diese Unterwerfung unter eine gekennzeichnete Ordnung der Sprache
Störungen enden damit, daß sie sich in ihre eigenen Geleise einfah- befreit ist. Ein Vergleich aus der Linguistik wird diesem neuen
ren und ihre eigenen Gesetze schaffen. Die >Schöne Literatun be- Phänomen vielleicht gerecht werden: Es ist bekannt, daß manche
droht jede Sprache, die sich nicht auf das soziale Sprechen gründet. Linguisten zwischen zwei Punkten einer Polarität (Singular-Plu-
In der Flucht nach vorn kann eine Syntax der Ordnungslosigkeit, ral, Präteritum-Präsens) die Existenz eines dritten, eines neutralen
kann die Desintegration der Sprache nur zu einem Verstummen Begriffes oder Nullzustandes setzen. So erscheint ihnen zwischen
führen. Die Agraphie Rimbauds oder mancher Surrealisten — die den Modi des Konjunktivs und des Imperativs der Indikativ als
gerade deshalb in Vergessenheit geraten sind—, diese erschütternde eine amodale Schreibweise. Bei allen gebotenen Einschränkungen:
Selbstzerstörung der Literatur zeigt, daß für einige Schriftsteller die Schreibweise im Nullzustand ist im Grunde eine indikative
die Sprache, erster und letzter Ausweg des literarischen Mythos, oder, wenn man so will, eine amodale Schreibweise. Zu sagen,
schließlich das wiedererstehen läßt, was sie zu fliehen vorgab, daß das die Schreibweise des Journalisten ist, wäre richtig, wenn
zeigt, daß es keine sich revolutionär erhaltende Schreibweise gibt nicht gerade der Journalismus im allgemeinen eine optative oder
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nen Zufluchtsort und kein Geheimnis. Man kann also nicht sagen, der ist nichts treuloser als eine neutrale Schreibweise. An der glei-
daß diese Schreibweise unempfindlich und gefühllos sei, sie ist nur chen Stelle, an der sich ursprünglich eine Freiheit befand, entste-
unschuldig. Es handelt sich darum, über Literatur hinauszugehen, hen Automatismen, und ein Netz erstarrter Formen umschlingt
indem man sich einer Art Basis-Sprache anvertraut, die von den immer stärker die erste Frische des Diskurses, eine Schreibweise
lebendigen Sprachen ebensoweit entfernt ist wie von der eigent- entsteht an der Stelle einer unbegrenzten Ausdrucksmöglichkeit.
lichen Literatursprache. Diese durchsichtige Rede, die durch Der Der Schriftsteller wird Klassiker und zum Epigonen seiner ur-
Fremde von Camus aufgekommen ist l, vollbringt einen Stil der sprünglichen Schöpfung, die Gesellschaft macht aus seiner Schreib-
Abwesenheit, der fast eine ideale Abwesenheit des Stils bedeutet. weise eine Manier und ihn zum Gefangenen seiner eigenen forma-
Die Schreibweise reduziert sich damit auf eine Art neñari νen Mo- len Mythen.
dus, indem sich der soziale oder mythische Charakter einer sprach-
lichen Ausdrucksweise zugunsten eines neutralen, bewegungslo-
sen Zustandes der Form selbst zerstört; das Denken bewahrt
damit seine ganze Verantwortlichkeit, ohne sich durch ein neben-
sächliches Engagement der Form in eine Geschichte abzudecken,
mit der sie nichts zu schaffen hat. Wenn die Schreibweise Flauberts
ein Gesetz enthält, wenn die Mallarmés ein Schweigen postuliert,
wenn andere, die Prousts, Célines, Queneaus, Préverts, jede in ih-
rer Weise, sich auf das Vorhandensein eines sozialen Seins grün-
den, wenn a11 diese Schreibweisen eine Dichte der Form und eine
Problematik des sprachlichen Ausdrucks und der Gesellschaft ein-
schließen, indem sie das Wort als ein Objekt setzen, das von einem
Handwerker, von einem Zauberer oder einem Schreiber, nicht aber
von einem Intellektuellen bearbeitet werden muß, so stellt die neu-
trale Schreibweise tatsächlich die allererste Bedingung der klas-
sischen Kunst wieder her: ihre Instrumentalitilt. Doch diesmal
steht das formale Instrument nicht mehr im Dienst einer sieg-
reichen Ideologie, es ist der Modus einer neuen Situation des
Schriftstellers, es ist die Art und Weise, wie ein Schweigen be-
stehen kann, es verzichtet freiwillig auf jede Zuflucht zur Eleganz
und zum Schmuck, denn diese beiden Dimensionen würden aber-
mals die Zeit in die Schreibweise einführen, das heißt eine ablen-
kende Macht, die Trägerin der Geschichte. Wenn die Schreibweise
wirklich neutral ist, wenn die Ausdrucksform, statt ein lästiger
unbezähmbarer Akt zu sein, zum Zustand einer reinen Gleichung
wird, die angesichts der Leerheit des Menschen keine andere Dich-
te hat als eine algebraische Aufgabe, dann ist die Literatur besiegt,
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Die Schreibweise und das Wort de der Menschen zum Ort für ihre Reflexe; die Literatur ist nicht
mehr Stolz oder Zuflucht, sie beginnt ein luzider Akt der Infor-
mation zu werden, als ob sie zunächst durch das Reproduzieren
die soziale Disparatheit kennenlernen müsse; sie weist sich als Auf-
Vor etwas mehr als hundert Jahren wußten die Schriftsteller im gabe zu, unmittelbar, noch vor jeder anderen Botschaft, zu be-
allgemeinen nicht, daß es mehrere — und sehr unterschiedliche — richten von der Situation der Menschen, die eingemauert sind in
Arten und Weisen gab, Französisch zu sprechen. Um 1830, als die der Sprache ihrer Klasse, ihrer Provinz, ihres Berufes, ihres Erbes
Bourgeoisie sich gutmütig mit dem vergnügte, was sie am Rande oder ihrer Geschichte.
ihrer eigenen Welt entdeckte, das heißt in dem kärglichen Teil In dieser Hinsicht entledigt sich die auf der sozialen Rede fun-
der Gesellschaft, den sich Bohémiens, Hausmeister und Diebe tei- dierte literarische Sprache niemals einer Tugend der Beschreibung,
len, begann man, in die eigentliche Literatursprache einige Stücke durch die sie begrenzt wird, denn die Universalität einer Sprache
einzubauen, die aus den unteren Sprachen stammten, vorausge- ist — im augenblicklichen Zustand der Gesellschaft — eine Erschei-
setzt, daß diese ein recht exzentrisches Aussehen hatten (sonst wä- nung des Hörens und keineswegs des Sprechens: Im Inneren einer
ren sie bedrohlich gewesen). Diese pittoresken Jargons schmück- nationalen Norm wie der des Französischen unterscheiden sich
ten die Literatur, ohne ihre Struktur zu bedrohen. Balzac, Süe, ¡ die Sprechweisen von Gruppe zu Gruppe, und jeder Mensch ist
Monnier, Hugo gefielen sich darin, ein paar absonderliche Formen Gefangener seiner Sprache. Außerhalb seiner Klasse kennzeichnet
der Aussprache und des Vokabulars der Gaunersprache, der bäuer- ihn sein erstes Wort, es situiert ihn und stellt ihn mitsamt seiner
lichen Dialekte, der Sprache der Hausmeister oder der deutsch Geschichte zur Schau. Der Mensch wird dargeboten und ausge-
eingefärbten Sprache zu reproduzieren. Aber diese soziale Spra- liefert durch seine Ausdrucksweise, verraten durch eine formale
che, eine Art Theaterkostüm, das einer Essenz umgehängt wird, Wahrheit, die seinen zweckbedingten oder großmütigen Lügen
hat niemals die Gesamtheit dessen, der sie sprach, engagiert; die entgleitet. Die Vielfalt der Ausdrucksweisen wirkt also wie eine
Leidenschaften bestanden und wirkten oberhalb des Sprechens Zwangsläufigkeit und begründet deshalb eine Tragik.
weiter. Die Wiederherstellung der gesprochenen Sprache, die ihren An-
Man mußte wahrscheinlich bis zu Proust warten, um zu sehen, fang durch amüsierte Nachahmung des Pittoresken nahm, hat
daß ein Schriftsteller Menschen völlig mit ihrer Ausdrucksweise denn auch dazu geführt, den ganzen Gehalt des sozialen Wider-
Identifizierte und seine Gestalten nicht anders lieferte als in der spruchs auszudrücken. Im Werke Célines zum Beispiel steht die
reinen Art und dem dichten und farbigen Volumen ihrer Rede. Schreibweise nicht im Dienste eines Denkens wie ein gelungenes
Während sich zum Beispiel die Gestalten Balzacs leicht auf die realistisches Dekor, das der Schilderung einer sozialen Unterklasse
Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft reduzieren lassen, gleichgestellt wäre, sie stellt tatsächlich das Eintauchen des Schrift-
zu denen sie eine Art algebraisches Relais bilden, kondensiert sich stellers in die klebrige Dichte der Conditio dar, die er beschreibt.
eine Person Prousts in der Dichte einer besonderen sprachlichen Es handelt sich hier gewiß immer noch um >Ausdruck<, und die
Ausdrucksform, und auf dieser Ebene integriert und ordnet sich Literatur wird nicht ííberschritten, aber man muß zugeben, daß
tatsächlich ihre ganze historische Situation: ihr Beruf, ihre Klasse, von allen Mitteln der Beschreibung (da bisher Literatur vorwie-
ihr Vermögen, ihr Erbe, ihre Biologie. Auf diese Weise beginnt die gend das hat sein wollen) das Ergreifen einer wirklichen Sprache
Literatur die Gesellschaft zu kennen als ein Wesen, dessen Phäno- für den Schriftsteller der humanste ihm mögliche Akt ist. Ein
mene sie vielleicht reproduzieren könnte. Während dieser Augen- ganzer Teil der modernen Literatur wird von mehr oder weniger
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auch gelingen mögen, sie sind stets nur Reproduktionen, eine Art Utopie der Sprache
Melodie, die von langen Berichten in einer absolut konventionellen
Schreibweise eingefaßt sind.
Raymond Queneau hat zeigen wollen, daß die Ansteckung der
geschriebenen Rede durch die gesprochene in allen Teilen möglich Die Vermehrung der Schreibwelsen ist eine moderne Erscheinung,
sei, und bei ihm ergreift die Sozialisierung der literarischen Spra- die den Schriftsteller zu einer Wahl zwingt, aus der Form eine Ver-
che sämtliche Schichten der Schreibweise zugleich: die Schreibung haltensweise macht und eine Ethik der Schreibweise hervorruft.
der Wörter, den Wortschatz und — was noch wichtiger ist, wenn- Zu allen Dimensionen, durch die die literarische Schöpfung be-
gleich viel weniger spektakulär — die Vortragsweise. Natürlich si- zeichnet wurde, tritt damit eine neue Tiefe, da die Form für sich
tuiert sich diese Schreibweise Queneaus nicht außerhalb der Lite- allein eine Art parasitären Mechanismus der intellektuellen Funk-
ratur, denn sie trägt, da sie immer nur von einem begrenzten Teil tion bildet. Die moderne Schreibweise ist ein veritabler unabhän-
der Gesellschaft konsumiert wird, keine Universalität, sondern giger Organismus, der um den literarischen Akt wächst, ihn mit
nur ein Experiment und Zerstreuung. Zumindest aber ist zum er- einem seiner Intention fremden Wert schmückt, ihn unaufhörlich
sten Mal nicht die Schreibweise literarisch; die Literatur wird aus zu einem doppelten Modus des Seins auffordert und über den Ge-
der Form verwiesen, sie ist nur noch eine Kategorie; die Litera- halt Wörter lagert, dichte Zeichen, die in sich eine Geschichte tra-
tur ist Ironie, und die Sprache bildet hier die eigentliche Erfahrung. gen, eine zweite Kompromittierung oder eine zweite Erldsung, so
Oder vielmehr die Literatur wird offen auf eine Problematik der daß zu einer Situation des Denkens ein zusätzliches Schicksal der
Sprache zurückgeführt. Sie vermag tatsächlich nur das noch zu Form tritt, das oft abweichend ist und immer zur Last wird.
sein. Nun, diese Fatalität des literarischen Zeichens, die zur Folge
Man sieht hier das mögliche Feld eines neuen Humanismus sich hat, daß der Schriftsteller kein Wort schreiben kann, ohne die be-
abzeichnen: die allgemeine Verdächtigung, die der Sprache überall sondere Pose einer veralteten, anarchischen oder imitierenden, in
in der modernen Literatur zuteil wird, würde durch eine Versöh- jedem Fall konventionellen und inhumanen Ausdrucksweise an-
nung des Schriftstellerwortes und des Wortes der Menschen er- zunehmen, wird genau in dem Augenblick wirksam, in dem die
setzt. Erst dann könnte sich der Schriftsteller als vollständig >enga- Literatur, die mehr und mehr ihr Dasein als bourgeoiser Mythos
g& bezeichnen, wenn sich seine Dichterfreiheit im Inneren einer zerstört, von Arbeiten und Zeugnissen eines Humanismus gefor-
cönditio des Wortes stellte, deren Grenzen die der Gesellschaft dert wird, der endlich die Geschichte in sein Bild vom Menschen
wären und nicht die einer Konvention oder eines Publikums. An- integriert hat. Daher behaupten sich letzten Endes die alten lite-
ders wird das Engagement immer nur nominal bleiben, es kann rarischen Kategorien, die bestenfalls ihres traditionellen Gehaltes
das Heil eines Gewissens gewähren, niemals aber eine Aktion be- entledigt sind, der Ausdruck einer zeitlosen Essenz des Menschen
gründen. Weil es kein Denken ohne Sprache gibt, ist die Form die war, nur durch eine spezifische Form, durch eine lexikalische oder
erste und letzte Instanz literarischer Verantwortlichkeit, und weil syntaktische Ordnung, durch eine Sprache, um es umfassend zu
die Gesellschaft nicht versöhnt ist, instituiert die notwendige und benennen: es ist die Schreibweise, die von nun an die gesamte lite-
notwendigerweise gelenkte Sprache für den Schriftsteller eine con- rarische Identität eines Werkes aufsaugt. Ein Roman Sartres wird
dido der Zerrissenheit. nur zum Roman durch die Beibehaltung eines gewissen, im übri-
gen unterbrochenen Erzählertones, dessen Normen im Verlaufe
einer ganzen Geologie des Romans entwickelt worden sind. Es
wart des Realen auszudrücken (in Der Aufschub), dann ist es die Druck all derer, die sie nicht sprechen, in sich abgeschlossene Spra-
erzählende Schreibweise, die über der Gleichzeitigkeit der Ereig- che, die er weiter benutzen muß. Es besteht also eine Sackgasse
nisse wieder eine einzige homogene Zeit entstehen läßt, die des der Schreibweise, es ist die Sackgasse der Gesellschaft selbst. Die
Erzählers, dessen besondere, an eindeutigen Zeichen genau er- heutigen Schriftsteller spüren es: für sie ist die Suche nach einem
kennbare Stimme die Entschleierung der Geschichte durch eine Nicht-Stil oder nach einem mündlichen Stil, nach einem Nullzu-
parasitäre Einheit stört und dem Roman die Doppeldeutigkeit stand oder einer gesprochenen Stufe der Schreibweise das Voraus-
eines vielleicht falschen Zeugnisses gibt. nehmen eines absolut homogenen Zustandes der Gesellschaft. Die
Man erkennt, daß ein modernes Meisterwerk unmbglich ist, da meisten begreifen, daß es außerhalb einer konkreten und nicht
der Schriftsteller durch seine Schreibweise in einen Widerspruch mehr nur mystischen oder nur nominalen Universalität der zivi-
gebracht wird, aus dem es keinen Ausweg gibt: entweder wird das len Welt keine universale Sprache geben kann.
Thema des Werkes naiv den Konventionen der Form ausgeliefert, Ín jeder gegenwärtigen Schreibweise stecken also zwei Postu-
die Literatur bleibt unempfänglich für unsere gegenwärtige Ge- late: es besteht darin die Bewegung eines Bruches und die einer
schichte, und der Mythos der Literatur wird nicht überwunden, Erstmaligkeit; sie enthält das Muster jeder revolutionären Situa-
oder aber der Schriftsteller erkennt die weite Neuartigkeit der ge- tion, deren fundamentale Zweideutigkeit darin besteht, daß wohl
genwärtigen Welt an, verfügt aber, um von ihr zu berichten, nur oder übel die Revolution aus dem, was sie zerstören will, das Bild
über eine glänzende, jedoch tote Sprache. Im Augenblick, da er dessen schöpft, was sie zu erringen strebt. Wie die gesamte mo-
vor seinem weißen Blatt sitzt und seine Wörter wählt, die offen derne Kunst trägt die Literatursprache zugleich die Entfremdung
den Platz kennzeichnen, den er in der Geschichte innehat, und der Geschichte und den Traum der Geschichte in sich. Als Zwangs-
bezeugen, daß er deren Gegebenheiten auf sich nimmt, muß er läufigkeit bestätigt sie Zerrissenheit der Sprachen, die untrennbar
einen tragischen Zwiespalt feststellen zwischen dem, was er tut, ist von der Zerreißung der Gesellschaft in Klassen, als Freiheit
und dem, was er sieht; vor seinen Augen bildet die menschliche ist sie das Bewußtsein dieser Zerrissenheit und die Anstrengung,
Gesellschaft jetzt regelrecht eine Natur, die lebendige Sprachen die diese zu überwinden versucht. Sich unaufhörlich ihrer eige-
entwickelt, von denen er ausgeschlossen ist, die Geschichte dage- nen Vereinsamung schuldig fühlend, ist sie doch nicht minder eine
gen gibt ihm ein dekoratives und kompromittierendes Instrument nach dem Glück der Wörter gierige Vorstellung, sie eilt einer er-
in die Hand, eine Schreibweise, die ihm von einer früheren, ande- träumten Sprache zu, deren Frische durch eine Art idealer Vor-
ren Geschichte überkommen ist, für die er keine Verantwortung ausnahme die Perfektion einer neuen unschuldigen Welt darstellte,
trägt, das aber doch das einzige ist, was er benutzen kann. So wird in der die Sprache nicht mehr entfremdet wäre. Die Vermehrung
die Tragik einer Schreibweise geboren, da der bewußte Schrift- der Schreibweisen setzt eine neue Literatur in dem Maße, wie diese
steller von nun an gegen die überkommenen und allmächtigen Zei- ihre Sprache nur erfindet, um Projekt zu sein: die Literatur wird
chen zu kämpfen hat, die aus dem Grunde einer fremden Vergan- zur Utopie der Sprache.
genheit aufsteigen und ihm Literatur aufzwingen als ein Ritual,
nicht aber als eine Versöhnung.
Somit hängt die Lösung dieser Probleme der Schreibweise nicht
von den Schriftstellern ab — es sei denn, sie verzichten auf Litera-
tur. Jeder neue Schriftsteller eröffnet in sich den Prozeß der Litera-
tur, wenn er sie auch verdammt, gewährt er ihr doch immer einen
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