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I I.
Triumph und Bruch der bürgerlichen Schreibweise 47
Das Stilhandwerk 52
Schreibweise und Revolution S5
Schreibweise und Schweigen 60
Die Schreibweise und das Wort 64
Utopie der Sprache 67
Zweiter Teil
Die Krise des Kommentars 209
Die plurale Sprache 211
Die Wissenschaft von der Literatur 216
Die Kritik 221
Die Lektüre 229
Einleitung
Es ist bekannt, daß die Sprache ein allen Schriftstellern einer Epo-
che gemeinsamer Corpus aus Vorschriften und Gewohnheiten ist.
Das bedeutet, daß sie so etwas wie eine Naturgegebenheit dar-
stellt, die durch die Rede des Schriftstellers hindurchgeht, ohne
dieser eine Form zu geben, ja, ohne diese auch nur zu nähren: sie
ist wie ein abstrakter Kreis von Wahrheiten, außerhalb dessen erst
sich die Dichte eines einsamen Wortes abzulagern beginnt. Sie
schließt die gesamte literarische Schöpfung etwa so ein, wie Him-
mel und Erde und deren Berührungslinie für den Menschen eine
vertraute Heimstatt zeichnen. Sie ist weniger ein Materialvorrat
als vielmehr ein Horizont, das heißt gleichzeitig Grenze und Sta-
tion, mit einem Wort: der beruhigende Bereich einer Struktur.
Im eigentlichen Sinn des Wortes >schöpft< der Schriftsteller nichts
aus ihr, die Sprache als solche ist für ihn vielmehr wie eine Li-
nie, deren Überschreitung vielleicht eine Über-Natur seiner Rede
erkennbar macht; sie Ist der Raum für eine Aktion, die Definition
und das Erwarten eines Möglichen. Sie ist nicht der Ort eines
sozialen Engagements, sondern nur Reflex ohne Wahl, das un-
geteilte Eigentum aller Menschen, nicht das der Schriftsteller;
sie bleibt außerhalb des Rituals der Literatur; sie ist nicht durch
Wahl, sondern ihrer Definition nach ein soziales Objekt. Nie-
mand kann ohne Zurüstung seine Dichterfreiheit in die Dichtig-
keit der Sprache schreiben, denn die Totalität der Geschichte erhält
sich durch sie vollständig und geschlossen wie ein Naturgebilde.
Daher ist die Sprache für den Schriftsteller lediglich ein mensch-
licher Horizont, der in der Ferne eine gewisse — im übrigen völ-
lig negative — Vertrautheit schafft: die Feststellung treffen, daß
Camus und Queneau die gleiche Sprache sprechen, heißt nur,
durch eine Art Differentialoperation alle archaischen oder zukünf-
tigen Sprachen präsumieren, die sie nicht sprechen. Die Sprache
des Schriftstellers, zwischen zerstörten und noch unbekannten
Formen schwebend, ist weniger ein Fundus als vielmehr eine äu-
(1rpr',o. ε,p ,εr λ A,-n-r."mpt,-icr.l1p (‚rt fiír o11P ε n.-,c Pr n rλ r
Die Sprache als solche ist also diesseits der Literatur. Der Stil fleischlicher Struktur des Autors (es sei daran erinnert, daß Struk-
ist fast jenseits. Bilder, Vortragsweise, Wortschatz werden aus der tur Ablagerung einer Dauer ist). Daher ist auch der Stil immer ein
Konstitution und der Vergangenheit des Schriftstellers geboren Geheimnis; doch die stumme Seite seiner Verknüpfung erklärt
und werden allmählich zu den Automatismen seiner Kunst. Unter sich nicht aus der beweglichen und stets vorläufigen Natur der
dem Namen Stil formt sich auf diese Weise eine autarke sprach- Sprache, sein Geheimnis besteht in einer im Körper des Schrift-
liche Ausdrucksweise, die nur in die eigene, geheime Mytholo- stellers eingeschlossenen Erinnerung; die Assoziationskraft des
gie des Autors hinabreicht, in jene Hypophysis der Rede, wo Stils ist kein Phänomen der Geschwindigkeit wie beim Sprechen,
sich das erste Wort- und Dingpaar bildet, wo sich ein für allemal wo das, was nicht gesagt wird, immerhin ein Interim sprachlichen
die großen Wortthemen seiner Existenz niederlassen. Mag ein Stil Ausdrucks bleibt, sondern ein Phänomen der Dichte, denn ge-
noch so raffiniert sein, es haftet ihm doch immer etwas Elemen- radewegs unter dem Stil, hart oder zärtlich in seinen Figuren zu-
tares an. Er ist eine Form ohne Bestimmung, er ist das Ergebnis sammengefaßt, befinden sich Bruchstücke einer Wirklichkeit, die
eines Wachstumsstoßes, nicht das eines Wollens, er ist wie eine dem sprachlichen Ausdruck völlig fremd ist. Das Wunder dieser
vertikale, einsame Dimension des Denkens. Sein Bezugssystem Transmutation macht aus dem Stil eine Art metaliterarischer Ope-
liegt auf der Ebene einer Biologie oder einer Vergangenheit, nicht ration, die den Menschen an die Schwelle von Macht und Magie
aber auf der der Geschichte: er ist die ureigene Sache des Schrift- führt.
stellers, sein Glanz, sein Gefängnis und seine Einsamkeit. Trans- Durch seinen biologischen Ursprung liegt Stil außerhalb der
parent und indifferent gegenüber der Gesellschaft, in sich ruhen- Kunst, das heißt außerhalb des Paktes, der den Schriftsteller an
de Bewegung der Person, ist der Stil durchaus nicht Ergebnis die Gesellschaft bindet. Man kann sich also Autoren denken, die
einer Wahl oder einer Reflexion über Literatur, er ist der priva- die Sicherheit der Kunst der Einsamkeit des Stils vorziehen. Der
te Teil des Rituals, er steigt auf aus der mythischen Tiefe des Typus des Schriftstellers ohne Stil ist André Gide, der mit sei-
Schriftstellers und entfaltet sich außerhalb seiner Verantwortlich- ner handwerklichen Manier die moderne Lust an einem gewissen
keit. Er ist die schmuckvolle Stimme eines geheimen, unbekannten klassischen Ethos ausbeutet, ganz so wie Saint-Saëns Bach nach-
Fleisches und besitzt den Charakter des Notwendigen, als ob er geschaffen hat oder Poulenc Franz Schubert. Im Gegensatz dazu
in dieser Art pflanzlichen Wachstumsstoßes nur das Ende einer ist die moderne Poesie — die Víctor Hugos, Rimbauds oder die Re-
blinden und zähen Metamorphose wäre, Teil einer Infrasprache, ns Chars — mit Stil gesättigt und ist 'Kunst' nur durch das Sich-
die sich bildet an der Grenze zwischen Fleisch und Welt. Der Stil beziehen auf eine poetische Absicht. Die Autorität des Stils, das
ist eine Erscheinung keimartiger Natur, er ist die Transmutation heißt das absolut freie Band des sprachlichen Ausdrucks und sei-
eines >humors<, eines Lebensgefühls. Deshalb sind die Anspielun- nes Doppels im Fleisch, setzt den Schriftsteller als eine unver-
gen des Stils in Tiefenschichten untereinander gelagert, während mittelte Frische über die Geschichte.
das Sprechen eine horizontale Struktur besitzt und seine Geheim-
nisse auf der gleichen Linie liegen wie seine Wörter; was es ver- Der Horizont der Sprache und die Vertikalität des Stils bezeich-
birgt, wird enthüllt durch seinen eigenen Fortgang. Im Sprechen nen also für den Schriftsteller etwas Gegebenes, denn er wählt we-
wird alles offen dargeboten und ist alles zum unmittelbaren Ver- der das eine noch das andere. Die Sprache wirkt als Negativität,
brauch bestimmt, das Verbum, das Schweigen und deren Bewe- als die erste Grenze des Möglichen; der Stil ist ein Erfordernis,
gung werden der Zerstörung des Sinns entgegengestürzt, ein das die sprachliche Ausdrucksweise an das Lebensgefühl des Au-
Transfer ohne Verzögerung und ohne Spur. Der Stil dagegen be- tors bindet. In jener findet er die Vertrautheit der Geschichte, in
sitzt nur eine vertikale D i meri Rί nn Pr tri'-hr ln '-li oacrñlnc~ana l;acam ii;a canar a;αanan V r~,n~anl,aít Tn κa;' ι an F ί llan lv,nrla t
zur Umwandlung verwendet wird, niemals aber, um zu urteilen voneinander unterscheiden. Alles trennt sie: der Ton, der Vortrag,
oder um eine Wahl zu bedeuten. der Zweck, die Moral, das Naturell ihres Sprechens, so daß die Ge-
Jede Form ist aber auch Wert; deshalb besteht zwischen Spra- meinsamkeit der Epoche und der Sprache sehr wenig bedeutet ge-
che und Stil noch Raum für eine andere formale Realität: für die genüber den so verschiedenen Schreibweisen, die sich wiederum
>Schreibweiseς In jeder beliebigen literarischen Form findet sich gerade durch ihre Gegensätzlichkeit so klar definieren.
die allgemeine Wahl eines Tones, oder wenn man so will: eines Diese Schreibweisen sind in der Tat voneinander verschieden
Ethos, und hier individualisiert sich ein Schriftsteller eindeutig, und doch vergleichbar, well sie durch eine gleichartige Bewegung
denn hier engagiert er sich. Sprache und Stil liegen vor aller Proble- hervorgerufen werden: durch die Reflexion des Schriftstellers
matik der persönlichen Ausdruckswelse. Sprache und Stil sind das über den sozialen Gebrauch seiner Form und die Wahl, die er auf
natürliche Produkt der Zeit und der biologischen Person. Die for- sich nimmt. Da sie im Kern der literarischen Problematik liegt —
male Identität des Schriftstellers entfaltet sich wirklich erst außer- díe mit ihr überhaupt erst beginnt —, ist die Schreibweise also
halb der installierten grammatischen Normen und der Konstanten wesentlich die Moral der Form; sie bedeutet die Wahl des sozialen
des Stils, dort, wo das geschriebene Ganze, das zunächst in einer Bereichs, innerhalb dessen der Schriftsteller die Natur seiner Spra-
sprachlich völlig unschuldigen Form zusammengefaßt ist, endlich che zu situieren gewillt ist. Doch dieser soziale Bereich ist kei-
zu einem totalen Zeichen wird, zu der Wahl einer menschlichen neswegs der des tatsächlichen Konsums. Es handelt sich für den
Verhaltensweise, zur Affirmation eines bestimmten Gutes, den Schriftsteller nicht darum, die Gruppe der Gesellschaft zu wäh-
Schriftsteller engagierend, ein Glück oder ein Unbehagen evident len, für die er schreibt; er weiß wohl, daß er — es sei denn, man
zu machen oder mitzuteilen und gleichzeitig die sowohl normale rechne mit einer Revolution — immer nur für die gleiche Gesell-
als auch einmalige Form seines Sprechens an die weite Geschichte schaft schreiben kann. Seine Wahl ist eine Gewissensentschei-
der anderen bindend. Sprache und Stil sind blinde Kräfte, die dung und nicht eine nach der Wirksamkeit. Seine Schreibweise
Schreibweise ist ein Akt historischer Solidarität; Sprache und Stil bedeutet eine Art und Weise, Literatur zu konzipieren, nicht, sie
sind Objekte, die Schreibweise ist eine Funktion: sie bedeutet die zu verbreiten. Oder besser: Weil der Schriftsteller nichts an den
Beziehung zwischen dem Geschaffenen und der Gesellschaft, sie objektiven Gegebenheiten des Literaturkonsums ändern kann
ist die durch ihre soziale Bestimmung umgewandelte literarische (diese rein geschichtlichen Gegebenheiten unterliegen nicht seiner
Ausdrucksweise, sie ist die in ihrer menschlichen Intentioπ ergrif- Macht, selbst wenn er sich ihrer bewußt ist), überträgt er freiwillig
fene Form, die somit an die großen Krisen der Geschichte ge- die Forderungen nach einer freien sprachlichen Ausdrucksweise
bunden ist. So sind zum Beispiel Mérimée und Fénélon durch Er- auf deren Quellen, nicht aber auf deren Konsum. Die Schreibweise
scheinungen der Sprache und Akzidentien des Stils voneinander besitzt deshalb eine doppelte Realität: einerseits entsteht sie zwei-
getrennt, und doch ist ihnen eine sprachliche Ausdrucksweise fellos aus einer Konfrontierung des Schriftstellers mit seiner Ge-
eigen von gleicher Intentionalität, sie akzeptieren die gleiche Ord- sellschaft, andererseits weist sie ihn von dieser gesellschaftlichen
nung der Konventionen, sie haben die gleichen handwerklichen Zweckhaftígkeit in tragischer Weise zurück auf die instrumentel-
Reflexe, sie gebrauchen mit den gleichen Gesten, trotz eines Ab- len Ursprünge seines Schaffens. Mangels einer frei konsumierba-
standes von eineinhalb Jahrhunderten, das gleiche Instrumenta- ren sprachlichen Ausdrucksform, die ihm zur Verfügung gestellt
rium, das, wenn auch in seinem Aspekt ein wenig verändert, so werden könnte, bietet die Geschichte dem Schriftsteller die For-
doch weder in seiner Situation noch in seinem Gebrauch modi- derung einer solchen, die frei produziert werden kann.
fiziert ist, kurz: sie haben die gleiche Schreibweise. Im Gegen- So bezeichnen die Wahl und schließlich die Verantwortlichkeit
sat7, d1711 verwen'Pτ' ι ;r} Fait;o IPκP.',iP A„ ι einer 4rhreihweise eine Freiheit: doch diese Freiheft hat. je nach
möglichen Schreibweisen eines bestimmten Autors entstehen un- der sich im gleichen Augenblick vollzieht, in dem zwei Wirtschafts-
ter dem Druck der Geschichte und der Tradition. Es gibt eine strukturen einander ablösen, die entscheidende Anderungen in
Geschichte der Schreibweisen, doch diese Geschichte hat eine der Mentalität und im Bewußtsein der Menschen nach sich zie-
doppelte Natur: im gleichen Augenblick, in dem die allgemeine hen.
Geschichte eine neue Problematik der literarischen Ausdrucks-
weise vorschlägt — oder aufzwingt —, bleibt die Schreibweise noch
erfüllt von der Erinnerung an früheren Gebrauch, denn die Spra-
che ist niemals unschuldig, die Worte besitzen ein zweites Ge-
dächtnis und Erinnerungen, die sich inmitten neuer Bedeutungen
geheimnisvoll erhalten. Die Schreibweise bezeichnet genau den
Kompromiß zwischen Freiheit und Erinnerung, sie ist die sich er-
innernde Freiheft, die nur Freiheit ist in der Geste der Wahl, aber
schon nicht mehr in ihrer Dauer. Ich kann heute zweifellos diese
oder jene Schreibweise wählen und durch diese Geste meine Frei-
heft bestätigen und auf eine unvermittelte Frische oder auf eine
Überlieferung zielen, aber ich kann sie schon nicht mehr in einer
Dauer entwickeln, ohne allmählich Gefangener der Worte anderer
und meiner eigenen zu werden. Ein hartnäckiger Nachklang, der
von allen frühereπ Schreibweisen und aus der Vergangenheit mei-
ner eigenen Schreibweise stammt, übertönt meine gegenwärtigen
Wörter. Alles Geschriebene bildet eine Ausfällung wie eine chemi-
sche Flüssigkeit, die zunächst klar, unschuldig und neutral war, aus
der aber, nur durch die einfache Tatsache der Dauer, eine ganze
darin gelöste Vergangenheit ausgefällt wird wie eine dichter und
dichter werdende Geheimschrift.
Als Freiheit besteht die Schreibwelse also nur einen Augenblick.
Doch dieser Augenblick ist einer der explizitesten der Geschichte,
denn Geschichte bedeutet immer und vor allem Wahl und Gren-
zen dieser Wahl. Weil nun die Schreibweise von einer bedeutsamen
Geste des Schriftstellers stammt, berührt sie sich spürbarer mit
der Geschichte als irgendein anderer Schnitt durch die Literatur.
Die Einheit der klassischen Schreibweise, die sich Jahrhunderte
hindurch homogen erhielt, die Vielfalt moderner Schreibweisen,
die sich seit hundert Jahren bis an die Grenze des Faktums Litera-
tur vervielfältigt haben, dieses Zerspringen der >écriture française<
entspricht vollkommen einer großen Krise der Gesamtgeschich-
te. die, nur in viel konfuserer Form. in der eíuennΙ icl,en T.ítera-
Politische Schreibweisen Schreibwelse, in der die Entfernung, die sonst das Faktum von sei-
ner Bewertung trennt, im Raume des Wortes selbst aufgehoben
und das Wort als Beschreibung und Urteil zugleich gegeben wird.
Das Wort wird zum Alibi (das heißt ein >anderswo< und eine
Allen Schreibweisen ist eine Geschlossenheit eigen, die die ge- Rechtfertigung). Wenn das bereits für die Schreibweise der Lite-
sprochene Sprache nicht kennt. Eine Schreibweise ist kein Kom- ratur zutrifft, bei der die Einheit der Zeichen unaufhörlich faszi-
munikationsinstrument, sie ist kein offener Weg, der von einer niert wird durch Bereiche der Infra- oder Metasprache, so gilt es
Redeintention nur benutzt wird. Durch das Sprechen strömt Un- noch mehr für politische Schreibweisen, bei denen das Alibi des
geordnetheit und gibt ihm die verzehrende Bewegung, die es im sprachlichen Ausdrucks Einschüchterung und Glorifizierung zu-
Zustand eines ewigen Aufschubs erhält. Eine Schreibweise dage- gleich bedeutet; Macht oder Kampf bringen tatsächlich die rein-
gen ist eine verhärtete Sprachform, die aus sich selbst lebt und sten Formen der Schreibweisen hervor.
keineswegs die Last trägt, ihrer eigenen Dauer ständig eine be-
wegte Folge von Annäherungen anvertrauen zu müssen. Ihre Last Wir werden etwas später sehen, daß die klassische Schreibweise in
besteht vielmehr darin, durch die Einheit und den Schatten ih- zeremonieller Form von dem Verwachsensein des Schriftstellers
rer Zeichen das Bild eines Sprechens aufzuzwingen, das lange mit einer besonderen politischen Gesellschaft kündete und daß
vor seinem Gebrauch bereits erfunden worden ist. Der Gegen- der Umstand, so zu sprechen wie Vaugelas, als allererstes bedeute-
satz von Schreibweise und Sprechen besteht darin, daß die erste te, es mit den Mächtigen zu halten. Wenn die Revolution die Nor-
immer symbolisch und introvertiert, immer ostentativ einer gehei- men dieser Schreibweise nicht modifiziert hat, weil die Denken-
men Seite des sprachlichen Ausdrucks zugekehrt erscheint, wäh- den im wesentlichen die gleichen blieben und nur von der geistigen
rend das zweite nur eine Folge leerer Zeichen ist, deren Ablauf Macht zur politischen übergingen, so haben die außergewöhn-
allein Bedeutung zukommt. Alles Sprechen hält sich in diesem Ver- lichen Bedingungen des Kampfes doch im Schoße der >großen
brauch der Wörter, in diesem immer weiter dahingetragenen Wel- klassischen Form< eine eigentlich revolutionäre Schreibweise her-
lenschaum, und nur dort gibt es Sprechen, wo Sprache ganz offen- vorgebracht, revolutionär nicht in ihrer Struktur, die akademischer
kundig als ein Verschlingen funktioniert, das nur die beweglichen war als je zuvor, doch durch ihre Geschlossenheit und ihr Dop-
Spitzen der Wörter ergreift. Die Schreibweise dagegen ist immer pel, da der Gebrauch der Sprache zu dieser Zeit, wie noch nie zu-
in einem Jenseits sprachlichen Ausdrucks verwurzelt, sie entwik- vor in der Geschichte, an vergossenes Blut gebunden war. Die Re-
kelt sich wie ein Keim, nicht wie eine Linie, sie zeugt von einer volutionäre hatten keinerlei Grund, die klassische Schreibweise
Essenz und droht mit einem Geheimnis, sie ist eine Anti-Kommu- modifizieren zu wollen, denn sie dachten nicht daran, die Natur
rjikation und schüchtert ein. Man wird deshalb in jeder Schreib- des Menschen in Frage zu stellen, und noch weniger wäre es ihnen
weise die Doppeldeutigkeit eines Objektes finden, das Sprache in den Sinn gekommen, seine Sprache in Zweifel zu ziehen. Ein In-
und Zwang zugleich ist: es gibt im Kern der Schreibwelse einen strument, das sie von Voltaire, von Rousseau oder Vauvenargues
der Sprache fremden >Umstand<, es gibt dort etwas wie den Zu- geerbt hatten, konnte ihnen nicht als kompromittiert erscheinen.
gang zu einer Absicht, die schon nicht mehr die des Sprachaus- Die Einzigartigkeit der historischen Situation hat die Einheitlich-
drucks ist. Dieser Zugang kann sehr wohl eine Leidenschaft zum keit der revolutionären Schreibweise geformt. Baudelaire spricht
sprachlichen Ausdruck sein, wie in der Schreibweise der Litera- an einer Stelle von >der emphatischen Wahrheit der Geste in den
tur, er kann aber auch die Drohung mit einer Strafe sein, wie in po- großen Augenblicken des Lebens<. Die Revolution war par excel-
1._.__L_~ Tl'_ e_7_.._'L—__'__ J_ _ _ ,_ _ r. . Ι rP aí --r Γ;acar ηrnήλρn A„can},lírha ín '-Ianan - ía Ύ JoΙ,rhvrr λ„rrh
war die emphatische Geste, mit der allein sich das alltäglich ge- net; es spielt immer auf einen bestimmten historischen Prozeß an,
wordene Schafott fortführen ließ. Was heute als Geschwollenheit es ist wie ein algebraisches Zeichen, das eine ganze Einschiebung
erscheint, entsprach damals genau dem Zuschnitt der Wirklich- früherer Postulate ersetzt.
keit. Diese alle Zeichen der Inflation tragende Schreibweise war Da die marxistische Schreibweise mit Aktion verbunden ist, hat
äußerst exakt. Niemals war eine Sprache unwahrscheinlicher und sie in der Praxis bald eine Bewertungssprache ergeben. Dieser Zug,
doch weniger verlogen. Die Emphase war nicht nur die dem Dra- der bereits bei Marx erkennbar wird, dessen Schreibweise im all-
ma angepaßte Form, sie war auch dessen Bewußtsein. Ohne diese gemeinen jedoch noch explikativ bleibt, ist in der Schreibweise
allen großen Revolutionären gemeinsame, extravagante Drapie- des triumphierenden Stalinismus zum Hauptwesensmerkmal ge-
rung, die es zum Beispiel dem in Saint-Emilion verhafteten Gi- worden. Gewisse Begriffe, die formal identisch sind und die ein
rondiner Guadet möglich machte, zu erklären, ohne lächerlich zu neutrales Vokabular nicht doppelt benennen würde, sind durch
werden, weil es um sein Leben ging: >Ja, ich bin Guadet. Walte dei- eine Wertung gespalten, und jeder Teil hat sich mit einem anderen
nes Amtes, Henker. Bring den Tyrannen des Vaterlandes meinen Namen vereinigt: so ist <Kosmopolitismus> die negative Bezeich-
Kopf. Er hat sie schon immer erbleichen lassen. Abgetrennt, wird nung für <Internationalismus< (schon bei Marx). In der stalinisti-
er sie nur noch blasser machen!<, ohne diese Drapierung hätte die schen Welt, in der die Definition, d. h. die Trennung von Gut und
Revolution nicht zu diesem mythischen Ereignis werden können, Böse, die gesamte Sprache beherrscht, gibt es keine Wörter mehr
das die gesamte Geschichte und jede Vorstellung von einer zukünf- ohne Wert, und es ist schließlich einfach Aufgabe der Schreibweise,
tigen Revolution befruchtet hat. Die Schreibweise der Revolution einen Prozeß zu ersetzen. Es gibt keinen Aufschub mehr zwi-
war wie die Entelechie der Revolutionslegende: sie schüchterte ein schen Benennung und Urteil, die Geschlossenheit der Sprache ist
und hat eine staatsbürgerliche Weihe des Blutes erzwungen. vollkommen, da als Erklärung für einen Wert nur noch ein ande-
rer Wert gegeben wird. So sagt man schließlich, daß der und der
Die marxistische Schreibweise ist ganz anderer Natur. Bei ihr Verbrecher eine staatsfeindliche Tätigkeit entfaltet hat, was darauf
stammt die Geschlossenheit der Form nicht aus einer rhetorischen hinausläuft, festzustellen, daß derjenige ein Verbrecher ist, der ein
Steigerung oder einer Emphase des Vortrags, sondern aus einem Verbrechen begeht. Es handelt sich also um eine einfache Tautolo-
besonderen Wortschatz, der ebenso funktional ist wie ein techni- gie, und das ist ein Verfahren, das in der stalinistischen Schreib-
sches Vokabular; selbst die Metaphern sind darin streng kodifi- weise ständig angewandt wird. Diese hat es tatsächlich nicht mehr
ziert. Die Schreibweise der Französischen Revolution begründete darauf abgesehen, eine marxistische Erklärung der Tatsachen zu
immer ein blutiges Recht oder eine moralische Rechtfertigung; geben oder eine revolutionäre Rationalität der Handlungen zu
die marxistische Schreibweise wird am Anfang wie eine Sprache begründen, sondern darauf, die Wirklichkeit ín beurteilter Form
der Erkenntnis gegeben; hier ist die Schreibweise eindeutig, denn zu liefern und damit eine sofortige Lektüre der Verurteilung zu
sie ist bestimmt, den Zusammenhalt einer >Natur< aufrechtzuer- erzwingen: der objektive Gehalt des Wortes >Abweichler< ist in
halten. Durch diese lexikalische Einheit ist es ihr möglich, eine dieser Sprache eine Sache des Strafrechts. Wenn zwei Abweichler
Stabilität der Erklärungen und eine Permanenz der Methode auf- sich vereinigen, werden sie zu >Fraktionisten<, was zwar objektiv
zuzwingen; erst ganz zum Schluß seiner Sprache gelangt der Mar- kein anderes Vergehen darstellt, aber die Strafbarkeit vergrößert.
xismus zum rein politischen Verhalten. Sosehr die Sprache der Man kann zwischen einer eigentlich marxistischen Schreibweise
Französischen Revolution emphatisch ist, sosehr wird die marxi- (die Marxens und Lenins) und einer des triumphierenden Stali-
stische aus Litotes gebildet, denn jedes Wort ist nichts anderes nismus unterscheiden (die der Volksdemokratien). Es gibt au-
mehr als ein minimales Sirhhe7iehen anf eine Geς,mr}heir vim Prín- «errlem eewíl auch eine trnr7kistische Schreibweise und eine tak-
liche Mehrdeutigkeit der Begriffe >Demokratie<, >Freiheit<, >Frie- nes2 gibt. Diesen intellektuellen Schreibweisen ist gemeinsam, daß
den< etc.). hier die Ausdrucksform als privilegierter Ort dahin tendiert, aus-
Es gibt keinen Zweifel, daß jedes Regime seine eigene Schreib- reichendes Zeichen für ein Engagement zu werden. Sich einer ge-
weise besitzt, deren Geschichte noch geschrieben werden müßte. schlossenen Sprache anzuschließen, infolge des Druckes all derer,
Als die sichtbar engagierte Form des Sprechens enthält die Schreib- die sie nicht sprechen, heißt, die Bewegung des Gewählthabens
weise durch eine wertvolle Doppeldeutigkeit sowohl das Sein als zur Schau tragen, wenn nicht überhaupt, diese Wahl stützen. Die
auch das Scheinen der Macht, sowohl das, was sie ist, als das, wo- Schreibweise erscheint hier wie eine Unterschrift, die man unter
für sie gehalten werden möchte. Eine Geschichte der politischen eine gemeinsame Proklamation setzt (die man im übrigen gar nicht
Schreibweisen wäre also die beste Sozialphänomenologie. So hat selbst verfaßt hat). Auf diese Weise eine Schreibweise annehmen —
die Restauration zum Beispiel eine Klassenschreibweise entwík- man könnte noch besser sagen: sie zu seiner eigenen machen — be-
Ι
kelt, dank deren Unterdrückung unmittelbar als eine Verurteilung deutet einfach, sich alle Voraussetzungen dieser Wahl zu ersparen,
dargeboten wurde, die spontan der klassischen >Natur< entsprang. bedeutet, die Gründe zu dieser Wahl als erworbene zu manifestie-
Forderungen stellende Arbeiter waren immer >arbeitsscheue Ele- ren. Jede intellektuelle Schreibweise ist also der erste >Sprung des
mente<, Streikbrecher immer >friedfertige Arbeiter<, und die Ser- Intellekts<. Während eine ideal freie Ausdrucksform niemals meine
vilität der Richter wurde immer zu >väterlicher Wachsamkeit< (in Person, meine eigene Vergangenheit und meine Freiheit erkennen
unseren Tagen nennt der Gaullismus durch ein analoges Verfahren ließe, ist die Schreibweise, der ich mich anvertraue, bereits ganz In-
die Kommunisten >Separatisten<). Man sieht, daß hier die Schreib- stitution, sie entblößt meine Vergangenheit und meine Wahl, sie
weise die Funktion eines guten Gewissens erfüllt und daß sie die gibt mir eine Geschichte, sie stellt meine Situation zur Schau, sie
Aufgabe hat, auf betrügerische Weise den Ursprung eines Faktums engagiert mich, ohne daß ich es zu sagen brauche. Die Form wird
mit dessen entferntester Umwandlung dadurch zusammenfallen damit mehr als je zu einem autonomen Objekt, das dazu bestimmt
zu lassen, daß sie mit der Rechtfertigung des Aktes die Bürgschaft ist, ein kollektives verteidigtes Eigentum zu bedeuten. Dieses Ob-
seiner Realität gibt. Dieser Zug ist im übrigen den Schreibwei- jekt hat einen Ersparnischarakter, es hat die gleiche Funktion wie
sen aller autoritären Regime eigen. Man könnte das die Polizei- ein Abkürzungszeichen, dank dessen der Schreiber unaufhörlich
sprache nennen. Ein Musterbeispiel daraus ist der stets zur Un- seine Konversion bekennt, ohne jemals deren Geschichte nach-
terdrückung verwendete Gehalt des Wortes >Ordnung<. zeichnen zu müssen.
Dieser Doppelcharakter der heutigen intellektuellen Schreib-
Das Vordringen politischer und sozialer Fakten in den Bewußt- weisen wird dadurch verstärkt, daß trotz der Anstrengungen der
seinsbereich der Literatur hat den neuen Typ des Publizisten her- Epoche die Literatur nicht endgültig hat liquidiert werden kön-
vorgebracht, der in der Mitte zwischen dem politisch Aktiven nen. Sie bildet einen immer noch verzaubernden Worthorizont.
und dem Schriftsteller anzusiedeln ist und von dem ersteren das Einstweilen ist der Intellektuelle noch nichts anderes als ein un-
ideale Bild eines engagierten Mannes herleitet und vom zweiten vollkommen verwandelter Schriftsteller — es sei denn, er zerstöre
die Vorstellung, daß ein geschriebenes Werk einen Akt darstellt. sich selbst, werde politischer Kämpfer und gebe das Schreiben
Zur gleichen Zeit, in der an die Stelle des Schriftstellers der In- auf (manche haben es getan und sind vergessen worden, wie es in
tellektuelle tritt, entsteht in Zeitschriften und Essays eine mili- der Natur der Sache liegt) — und kann nur immer wieder zur Fas-
tante Schreibweise, die sich vom Stil befreit und die wie eine zination durch frühere Schreibweisen zurückkehren, die von der
Berufssprache der >Präsenz< erscheint. Diese Schreibweise wim- Literatur als intaktes, aber altmodisches Instrument überliefert
melt vnn Νιian"en_ Νiρm,n ιΙ wό4 aόΙ P1,σn' n "mllar, '-Ι,Ζ . -λ «' llal*r„AllAr, QrhrnίΚπιαί εαη -«-1 fnlσlirh „ncta}vÍ
sind politisch nur durch ihre Besessenheit, sich engagieren zu wol- Schreibweise des Romans
len. Kurz, es handelt sich abermals um ethische Schreibweisen, in
denen der Schreiber (man wagt nicht mehr, der >Schriftsteller< zu
sagen) das beruhigende Bild eines kollektiven Heils findet.
Aber wie bei dem augenblicklichen Stand der Geschichte jede Roman und Geschichtsschreibung standen in dem Jahrhundert
politische Schreibweise nur eine Welt der Polizeiherrschaft bestä- ihrer höchsten Blüte in enger Beziehung zueinander. Ihre tiefste
tigen kann, kann auch jede intellektuelle Schreibweise nur eine Gemeinsamkeit, auf Grund deren man sowohl Balzac als auch Mí-
Para-Literatur stiften, die nicht wagt, ihren Namen zu bekennen. chelet begreifen konnte, war das Konstruieren einer eigenen autar-
Die Sackgasse, in der sich diese Schreibweisen befinden, ist abso- ken Welt, die sich selbst ihre Dimensionen und Grenzen setzte
lut ohne Ausweg; sie können nur auf Mitwisserschaft rechnen und innerhalb deren ihre eigene Zeit, ihren Raum, ihre Bevblke-
oder auf Ohnmächtigkeit verweisen, das heißt in jedem Fall nur rung, ihre Sammlung von Objekten und Mythen.
auf eine Entfremdung. Diese kugelförmige Gestalt der großen Werke des 19. Jahrhun-
derts drückt sich in den langen Rezitativen des Romans und der
Geschichte aus, flächige Projektionen einer gekrümmten und ver-
bundenen Welt, deren entartetes Abbild sich noch in den Schnbr-
keln des damals entstehenden Feuilletonromans findet. Und doch
ist das Erzählen nicht unbedingt ein Gesetz dieser Literaturgat-
tung. Eine ganze Epoche hat zum Beispiel Romane in Briefen
konzipieren können, eine andere kann Geschichtsschreibung als
Analyse praktizieren. Das Berichten als Form, die Roman und
Geschichtsschreibung umgreift, bleibt also im allgemeinen durch-
aus Wahl oder Ausdruck eines geschichtlichen Augenblicks.