Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
FELIX FINSTER
Inhaltsverzeichnis
1. Einige Grundbegriffe der Logik und Mengenlehre 3
1.1. Aussagen 3
1.2. Mengen und Mengenoperationen 3
1.3. Relationen und Funktionen 4
2. Zahlen 5
2.1. Natürliche Zahlen, Vollständige Induktion 5
2.2. Reelle Zahlen 6
2.3. Komplexe Zahlen 14
3. Folgen und Reihen 16
3.1. Konvergenz von Folgen 16
3.2. Beschränkte und Monotone Folgen 19
3.3. Teilfolgen, Häufungspunkte 21
3.4. Cauchy-Folgen 22
3.5. Die Konvergenzsätze 23
3.6. Reihen 24
3.7. Alternierende Reihen, das Leibnizsche Konvergenzkriterium 26
3.8. Absolut konvergente Reihen 27
3.9. Umordnung von Reihen, das Cauchy-Produkt 29
3.10. Das Cauchysche Verdichtungskriterium 32
3.11. Die Exponentialreihe 33
4. Funktionen, Stetigkeit 35
4.1. Abbildungen von Mengen, Funktionen 35
4.2. Stetige Funktionen 38
4.3. Zwischenwertsatz und Umkehrfunktion 40
5. Differenzierbare Funktionen einer Reellen Variablen 43
5.1. Lokale Extrema, der Mittelwertsatz 48
5.2. Trigonometrische Funktionen 50
6. Das Eindimensionale Riemannsche Integral 53
6.1. Grundlagen 53
6.2. Die Hauptsätze der Integral- und Differentialrechung 59
6.3. Partielle Integration 61
6.4. Variablentransformation 61
6.5. Uneigentliche Integrale 63
6.6. Die Taylor-Formel 66
6.7. Die l’Hospitalschen Regeln 68
6.8. Die Taylorreihe, Potenzreihen 70
1
2 F. FINSTER
7. Topologische Grundbegriffe 74
7.1. Metrische Räume 74
7.2. Offene Mengen 78
7.3. Teilräume, Relativtopologie 80
7.4. Konvergenz und Stetigkeit 80
7.5. Topologische Räume 81
Organisatorisches:
▶ Neues Übungsblatt immer am Mittwoch oder Donnerstag. Abgabe eine Woche
später am Freitag.
▶ Regelmäßige Teilnahme an den Übungsbetrieb wird erwartet.
▶ Zentralübung: Dienstag Nachmittag, beginnt nächste Woche (also am 24. Ok-
tober).
▶ Einteilen der Übungsgruppen und sonstige organisatorische Dinge: Siehe GRIPS
Literatur: Es gibt sehr viele gute Lehrbücher. Hier ein paar Anregungen:
▶ Amann, Herbert und Escher, Joachim, Analysis I, Birkhäuser Verlag, 2. korr.
Aufl. 2002
▶ Barner, Martin und Flohr, Friedrich, Analysis I, DeGruyter Lehrbuch 2000
▶ Forster, Otto, Analysis 1, Vieweg Verlag 1999
▶ Hildebrandt, Stefan, Analysis I, Springer Verlag 2002
▶ Königsberger, Konrad, Analysis I, Springer Verlag 2001
ANALYSIS I 3
Beispiel 1.5. Im letzten Beispiel ist R1 eine Funktion. R2 is jedoch keine Funktion,
weil R(a) nicht eindeutig bestimmt ist. R3 ist ebenfalls keine Funktion, weil es zu b ∈ A
kein Element in x ∈ B gibt mit (b, x) ∈ R3 .
2. Zahlen
2.1. Natürliche Zahlen, Vollständige Induktion. Wir setzen die natürlichen Zah-
len
N = {1, 2, 3, . . .}
als gegeben voraus, genauso wie die üblichen Operationen + (Addition) und · (Mulit-
plikation), sowie die Relation ≤.
Axiom 2.1. (Wohlordnungsprinzip) N is wohlgeordnet, d.h. jede nichtleere Men-
ge M ⊂ N besitzt ein kleinstes Element. In Formeln können wir schreiben
∀M ⊂N,M ̸=∅ ∃k∈M ∀n∈M k ≤ n .
Axiome können nicht bewiesen werden. Statt dessen werden Sie an den Anfang un-
serer Überlegungen gestellt. Oft sind Axiome wie in diesem Fall unmittelbar einsichtig.
Aus Axiomen folgen weitere Aussagen durch Beweis. Um zu illustrieren, wie das geht,
beweisen wir jetzt unser erstes Theorem.
Theorem 2.2. (Prinzip der vollständigen Induktion) Genüge M ⊂ N den fol-
genden Bedingungen:
(i) 1 ∈ M
(ii) n ∈ M =⇒ n+1∈M
Dann ist M = N
Beweis. Wir führen einen indirekten Beweis. Nehme dazu an, dass die Menge Q := N \
M nicht leer ist. Dann exist nach dem Wohlordnungsaxiom ein kleinstes Element n0 ∈
Q. Wegen (i) ist n0 > 1 und daher n0 − 1 ∈ M (es kann nicht in Q sein, weil n0 das
kleinste Element ist, deswegen muss es in M sein). Nach (ii) folgt
n0 = (n0 − 1) + 1 ∈ M .
Dies ist ein Widerspruch. Also ist Q = ∅. □
Dieses Theorem kann man statt für Mengen auch für Aussageformen formulieren.
Theorem 2.3. Für eine Aussageform p(n) mit n ∈ N sei folgendes bekannt:
(i) p(1) ist wahr.
(ii) p(n) ist wahr =⇒ p(n + 1) ist wahr
Dann ist p(n) wahr für alle n ∈ N.
Beweis. Wende Theorem 2.2 an auf die Menge
M := {n ∈ N | p(n) ist wahr} .
□
Beweis. Setze
n n(n + 1) o
M := n ∈ N sn = .
2
Dann gilt
(i) 1 ∈ M : rechne dies direkt nach
(ii) Nehme an, dass n ∈ M (Induktionsvoraussetzung). Dann folgt
n(n + 1) (n + 1)(n + 2)
sn+1 = sn + (n + 1) = + (n + 1) = ,
2 2
wobei im letzten Schritt der Bruch auf den Hauptnenner gebracht und vereinfacht
wurde. Damit ist auch der Induktionsschritt bewiesen.
□
2.2. Reelle Zahlen. Wir wollen nun die rellen Zahlen axiomatisch einführen. Es gibt
drei Gruppen von Axiomen:
(I) Die algebraischen Axiome
(II) Die Anordnungsaxiome
(III) Das Vollständigkeitsaxiom
Wir beginnen mit den algebraischen Axiomen:
(I) In R gib es zwei Operationen, die jedem Paar a, b ∈ R ein Element aus R zuord-
net, nämlich
a + b Summe
ab = a · b Produkt
ANALYSIS I 7
▶ Beweis von a0 = 0: Da null neutrales Element, erhält man mit dem Distri-
butivgesetz
a0 = a(0 + 0) = a0 + a0 .
Subtrahiere nun auf beiden Seiten a0.
▶ Als Folgerung erhält man
0 = a(b + (−b)) = ab + a(−b) =⇒ −(ab) = a(−b) .
(5) Aus ab = 0 folgt, dass wenigstens eine der Zahlen a, b gleich null ist.
Beweis: Sei ab = 0 und a ̸= 0. Dann folgt mit der Existenz der Inversen und dem
Assoziativgesetz
=⇒ b = (a−1 a)b = a−1 (ab) = a−1 0 = 0 .
(6) Regeln des Bruchrechnens: Für alle b, c, d ̸= 0 gilt
a b ad + bc
+ =
c d cd
a b ab
· =
c d cd
a
c ad
b
= .
d
bc
Wir beweisen nur die erste Gleichung: Unter Verwendung des Distributiv- und
Kommutativgesetzes folgt
a b
cd + = cdac−1 + cdbd−1 = ad + bc .
c d
Damit folgt
a b
+ = ad + bc (cd)−1 .
c d
Die anderen Regeln folgen analog.
Es geht weiter mit den Anordnungsaxiomen:
(II) Auf den reellen Zahlen hat man die drei Relationen <, > und =. Für beliebi-
ge a, b ∈ R gilt genau eine der drei Relationen
a<b, b<a, a=b (Trichotonie) .
Außerdem gelten die folgenden Regeln.
(II.1) Transitivität: Aus a < b und b < c folgt a < c.
(II.2) Verträglichkeit mit Addition:
a<b =⇒ a+c<b+c ∀c∈R.
(II.3) Verträglichkeit mit Multiplikation:
a < b und c > 0 =⇒ ac < bc .
Wir schreiben a < b auch äquivalent als b > a. Außerdem führt man folgende Notation
ein:
≤ “kleiner gleich”, definiert durch a≤b: a<b ∨ a=b
≥ “größer gleich”
> 0 “positiv” ≥0 “nicht-negativ”
< 0 “negativ” ≤0 “nicht-positiv”
ANALYSIS I 9
Wir leiten nun aus diesen Axiomen wieder weitere Regeln ab:
(7)
a < b ⇐⇒ b − a > 0 ⇐⇒ −b < −a
a < 0 ⇐⇒ −a > 0 , a > 0 ⇐⇒ −a < 0
Wir leiten nur die erste Impliation ab (die anderen Beweise sind ähnlich):
a<b =⇒ 0 = a + (−a) < b + (−a) = b − a ,
wobei wir (II.2) verwendet haben.
(8) Aus a < b und c < d folgt a + c < b + d. Beweis: Aus (II.2) folgt a + c < b + c
und b + c < b + d. Verwende nun die Transitivität (II.1).
(9) Es gilt
ab > 0 ⇐⇒ a > 0, b > 0 ∨ a < 0, b < 0
ab < 0 ⇐⇒ a > 0, b < 0 ∨ a < 0, b > 0 .
Beweis: Um Äquivalenz zu zeigen, kann man beide Richtungen nacheinander
beweisen.
⇐) Falls a > 0 und b > 0, so folgt ab > 0. Ist andererseits a < 0 und b < 0, so
ist (−a) > 0 und (−b) > 0, und es folgt (−a)(−b) > 0 und somit ab > 0.
⇒) Sei ab > 0 Dann ist a ̸= 0 und b ̸= 0. Wäre z.B. a > 0 und b < 0, so folgt
a > 0, (−b) > 0 =⇒ −(ab) > 0 =⇒ ab < 0 ,
ein Widerspruch. Genauso schließt man den Fall a < 0 und b > 0 aus. Es
folgt also, dass entweder a > 0, b > 0 oder a < 0, b < 0, was zu beweisen
war.
(10) a ̸= 0 ⇐⇒ a2 > 0, insbesondere ist 1 > 0.
Beweis: a ̸= 0 ist äquivalent zu a > 0 oder a < 0. Dies ist wiederum äquivalent
zu a2 > 0.
(11) Aus a < b und c < 0 folgt ac > bc.
Beweis: Aus c < 0 folgt −c > 0.
=⇒ a(−c) < b(−c) .
Multipliziere jetzt aus und löse nach ac auf, wobei wir die früheren Regeln ver-
wenden.
(12) Es gilt
1
a > 0 ⇐⇒ >0.
a
Beweis: Aus aa−1 = 1 > 0 folgt unter Verwendung von (9) dass entweder a >
0, a−1 > 0 oder a < 0, a−1 < 0.
(13) Aus a2 < b2 , a ≥ 0 und b > 0 folgt a < b. Beweis: Wäre die Behauptung a < b
falsch, dann würde gelten a ≥ b > 0. Hieraus folgt a2 ≥ ab und ab ≥ b2 . Mit
Transitivität folgt a2 > b2 , ein Widerspruch.
Damit kommen wir zum Vollständigkeitsaxiom. Dieses hat verschiedene äquivalente
Formulierungen, beispielsweise über das Intervallschachtelungsprinzip, das wir später
kennenlernen werden. Wir verwenden hier eine Formulierung, die auf Dedekind zurück-
geht.
10 F. FINSTER
Definition 2.9. Ein Element m einer Teilmenge M ⊂ R heisst grösstes Element oder
Maximum von M (m = max M ) falls
x≤m ∀x∈M.
Entsprechend ist m das Minimum von M (m = min M ) falls
m≤x ∀x∈M.
Der wesentliche Unterschied zum Supremum (oder Infimum) besteht darin, dass
das Maximum (bzw. Minimum) selbst ein Element aus M ist. Dies wird im nächsten
Beispiel illustriert.
Beispiel 2.10. (i) Das halboffene Intervall M = [0, 1) ⊂ R. Hier ist
inf M = 0 und sup M = 1 .
Es gibt kein Maximum. Aber es gibt ein Minimum, nämlich min M = 0.
(ii) M = (0, ∞). Hier ist
inf M = 0 und sup M = ∞ .
Es gibt weder ein Maximum noch ein Minimum. ♢
Definition 2.11. (Absolutbetrag) Für eine reele Zahl x ∈ R ist ihr Absolutbetrag
definiert durch
x falls x ≥ 0
|x| =
−x falls x < 0 .
Wir haben nun natürliche und reelle Zahlen eingeführt, aber noch keinen Zusam-
menhang zwischen ihnen hergestellt. Dazu fassen wir N als Teilmenge von R auf,
N = {1, 2, 3, . . .} ⊂ R .
Wir setzen N0 := N ∪ {0}. Wir verzichten hier auf eine formale Definition von N über
z.B. die Peano-Axiome (wer die Lineare Algebra hört, wird dies alles dort kennenler-
nen). Um diese Konstruktion auf einfache Weise zu verstehen, geht man vom neutralen
Element 1 der Addition in R aus. Induktiv kann man dann 2 := 1+1, 3 := 2+1, . . . set-
zen. Entsprechend kann man die negativen ganzen Zahlen durch −2 := (−1)+(−1), . . .
einführen. Wir erhalten so die ganzen Zahlen, die wir mit Z ⊂ R bezeichnen.
Eine wichtige Folgerung des Vollständigkeitsaxioms ist der
Satz 2.13. (Satz des Archimedes) Zu jedem a ∈ R gibt es ein n ∈ N, so dass a < n
ist.
Beweis. Andernfalls gäbe es ein a ∈ R mit
n≤a ∀n∈N.
Folglich wäre N nach oben beschränkt und besäße nach Axiom (III) eine kleinste obere
Schranken b = sup N. Wegen b − 1 < b ist b − 1 keine obere Schranke. Das bedeutet
aber, dass es ein n ∈ N gibt mit b−1 < n. Daraus folgt b < n+1, ein Widerspruch. □
Damit schließen wir die natürlichen Zahlen als Teilmenge der reellen Zahlen ab und
kommen zu den rationalen Zahlen
np o
Q := p, q ∈ Z, q ̸= 0 .
q
Dies ist ein archimedisch geordneter Körper, der aber nicht vollständig ist. Dies wollen
wir uns an einem einfachen Beispiel klarmachen:
Satz 2.16. (Existenz der Quadratwurzel) Für jedes c ∈ R mit c ≥ 0 gibt es genau
ein x ∈ R+ 2
0 mit x = c.
ANALYSIS I 13
Multipliziert man jeweils mit dem Distributivgesetz aus, so sieht man, dass man zwei-
mal genau das gleiche bekommt.
Das Distributivgesetz beweist man ähnlich durch direkte Rechnung. □
Für Zahlen (x, 0) erhält man die üblichen Rechenregeln für reelle Zahlen. Mit Hilfe
der Addition R ∋ x − (x, 0) kann man die reellen Zahlen als Teilmenge der imaginären
Zahlen auffassen, also
R⊂C.
ANALYSIS I 15
#a,
+E
X
18 F. FINSTER
2
M
C
2 C
M
E Az
Az
*x *x
E x
x
A
X
x x
A
X X a, X a,
Fax
Fax
C
C
Abbildung 2. Veranschaulichung des Grenzertes.
3
E
+ E
a 3
E al
+ E
a
al
Da ε beliebig klein gewählt werden kann, folgt d(a, a′ ) = 0. (Insbesondere kann man
hier ε kleiner als die Hälfte des Abstandes von a und a′ wählen; siehe Abbildung 3).
Hieraus folgt a′ = a. □
Beispiel 3.8. Wir untersuchen nun die Beispiele 3.2 auf Konvergenz.
(i) Die konstanten Folge konvergiert offensichtlich gegen a.
(ii) Die alternierende Reihe an = (−1)n+1 divergiert. Um dies zu zeigen, nehmen wir
umgekehrt an, dass die Folge gegen ein a ∈ C konvergiert. Für ε = 1 gibt es
dann ein N mit
d(a, an ) < 1 ∀n>N.
Dreiecksungleichung folgt
d(an , an+1 ) ≤ d(an , a) + d(a, an+1 ) < 2 ,
im Widerspruch zur Tatsache, dass |an − an+1 | = 2.
(iii) Die Folge an = 1/n ist eine Nullfolge, wie man folgendermaßen sieht: Sei ε > 0.
Nach dem Satz von Archimedes (Satz 2.13) gibt es ein N mit N > 1/ε. Dannn
gilt für alle n > N
1 1
d(an , 0) = < <ε,
n N
was zu zeigen war.
(iv) Die Folge an = z n ist für |z| < 1 eine Nullfolge.
Beweis: Wegen |z|−1 > 1 ist h := |z|−1 − 1 > 0. Damit können wir schreiben
d(an , 0) = z n = |z|n = (1 + h)−n .
ANALYSIS I 19
Wir müssen zeigen, dass dies für großes n nach null strebt. Die Bernoulli-Ungleichung
(Satz 2.15) liefert
(1 + h)n ≥ 1 + nh
und folglich
1 1 1 1
(1 + h)−n ≤ < = →0
1 + nh nh n h
da an = 1/n nach (iii) eine Nullfolge ist.
Satz 3.9. Die Folge an = z n mit z ∈ C divergiert falls |z| > 1.
Beweis. Nehme umgekehrt an, dass an → a. Dann gibt es zu jedem ε > 0 ein N so
dass
d(an , a) < ε für alle n > N .
Nach der Dreiecksungleichung folgt
d an+1 , an < d an+1 , a + d a, an < 2ε .
Andererseits ist
d an+1 , an = z n+1 − z n = z − 1 |z|n .
Definition 3.13. Eine reelle Folge (an )n∈N heisst monoton wachsend (bzw. streng
monoton wachsend) falls gilt:
an ≤ an+1 (bzw. an < an+1 ) ∀n∈N.
Umgekehrt heisst sie monoton fallend (bzw. streng monoton fallend) falls
an ≥ an+1 (bzw. an > an+1 ) ∀n∈N.
bis hier Vorlesung
8.11.2023 Im folgenden können wir uns bei monotonen Folgen auf monoton wachsende Folgen
konzentrieren, da man ansonsten die Folge (−an )n∈N betrachtet.
Für monotone Folgen gibt es ein einfaches Konvergenzkriterium:
Satz 3.14. (Monotone Konvergenz) Eine monoton wachsende Folge ist genau
dann konvergent, wenn sie nach oben beschränkt ist.
Beweis. Sei (an )n∈N eine monoton wachsende (reelle) Folge. Wegen der Aussage “genau
dann” müssen wir beide Richtungen beweisen.
=⇒) Sei (an ) konvergent. Dann ist die Folge nach Satz 3.12 sogar beschränkt.
⇐=) Sei (an ) nach oben beschränkt. Wir bilden die Menge
A = {an mit n ∈ N} ⊂ R .
Die Menge A ist dann nach oben beschränkt und besitzt folglich nach dem
Vollständigkeitsaxiom ein Supremum,
a := sup A .
Nach Satz 2.8 gibt es zu jedem ε > 0 ein N mit
0 ≤ a − aN ≤ ε .
Da die Folge (an ) monoton steigend und nach oben durch a beschränkt ist, folgt
0 ≤ a − an ≤ ε ∀n≥N.
Da ε beliebig klein gewählt werden kann, folgt an → a. □
Beispiel 3.15. Die Folge 1 − n1 ist monoton steigend und nach oben beschränkt. Nach
Satz 3.14 konvergiert die Folge. Tatsächlich ist
1
lim 1 − =1.
n→∞ n
♢
ANALYSIS I 21
Wir bemerken zur Klarheit, dass Satz 3.14 über nicht-monotone Folgen keinerlei
Aussage macht. Insbesondere gibt es nicht-monotone Folgen, die konvergieren, wie
beispielsweise die Folge (an )n∈N mit
(−1)n
an = .
n
3.3. Teilfolgen, Häufungspunkte.
Definition 3.16. Sei (an )n∈N eine Folge und
n1 < n2 < · · ·
eine aufsteigende Folge natürlicher Zahlen. Dann heisst die Folge
ank k∈N = an1 , an2 , . . .
eine Teilfolge der Folge (an )n∈N .
Es folgt unmittelbar aus den Definitionen, dass jede Teilfolge einer konvergenten
Folge konvergiert. Schwieriger ist die Frage, ob sich aus einer gegebenen (i.a. nicht-
konvergenten) Folge eine konvergente Teilfolge auswählen lässt. Es ist nützlich, das
Problem zunächst umzuformulieren.
Definition 3.17. Eine Folge (an )n∈N besitzt den Häufungspunkt a, falls es eine
Teilfolge (ank )k∈N gibt, die gegen a konvergiert.
Offenbar ist der Grenzwert einer konvergenten Folge auch ein Häufungspunkt. Es
gibt aber Folgen, die einen Häufungspunkt, aber keinen Grenzwert besitzen. Ein ein-
faches Beispiel ist die divergente Folge an = (−1)n+1 aus Beispiel 3.2 (ii) die beiden
Häufungspunkte a = 1 und a = −1.
Satz 3.18. Die Zahl a ist ein Häufungspunkt der Folge (an )n∈N genau dann, wenn für
jedes ε > 0 unendlich viele Folgenglieder in Bε (a) liegen.
Beweis. Wir müssen wieder beide Richtungen beweisen.
=⇒) Sei (ank ) Teilfolge von (an ) mit ank → a. Für jedes ε > 0 liegen dann fast alle
(d.h. alle bis auf endlich viele) Folgenglieder (ank ) in Bε (a), insbesondere also
unendlich viele. Da (ank ) eine Teilfolge von (an ) ist, sind dann auch unendlich
viele Folgenglieder von (an ) in Bε (a).
⇐=) Nehme an, dass für alle ε > 0 unendlich viele Folgenglieder in Bε (a) liegen. Wähle
dann induktiv eine aufsteigende Folge nk mit ank ∈ B1/n (a). Dann konvergiert
die Teilfolge (ank ) gegen a. □
Für reelle Folgen hat man das folgende wichtige Resultat.
Theorem 3.19. (Bolzano-Weierstraß) Jede beschränkte reelle Folge besitzt einen
Häufungspunkt.
Beweis. Sei (an ) eine beschränkte reelle Folge, also |an | < c ∀ n. Nehme an, (an )
besitze keinen Häufungspunkt. Setze a = inf{an | n ∈ N}. Für jedes ε > 0 liegt
dann wenigstens ein Folgenglied im Intervall [a, a + ε] (denn sonst wäre a nicht die
größte untere Schranke). Andererseits gibt es ε > 0, so dass im Intervall [a, a + ε]
nur endlich viele Folgenglieder liegen (sonst wäre a Häufungspunkt). Wähle aus diesen
endlich vielen Folgengliedern das kleinste aus, bezeichne es mit an1 . Betrachte nun die
(2) (2) (2)
Folge (an )n∈N mit an = an1 +n . Dann ist an ≥ an1 ∀ n. Als Teilfolge von (an )
22 F. FINSTER
(2)
ist (an ) wieder beschränkt und besitzt keinen Häufungspunkt. Wiederhole die Kon-
(2)
struktion mit (an ) ersetzt durch (an ). Bezeichne das kleinste Folgenglied mit an2 ,
(3)
setze an := an2 +n . Fahre auf diese Weise iterativ fort. Die so erhaltene Folge (ank )k∈N
hat folgende Eigenschaften:
(i) (ank ) ist monoton steigend.
(ii) (ank ) ist beschränkt und besitzt keinen Häufungspunkt (da sie eine Teilfolge
von (an ) ist).
Dies ist ein Widerspruch zu Satz 3.14. □
bis hier Vorlesung
10.11.2023 Tatsächlich gibt es auch ein entsprechendes Ergebnis für komplexe Folgen:
Theorem 3.20. (Bolzano-Weierstraß für komplexe Folgen) Jede beschränkte
komplexe Folge besitzt einen Häufungspunkt.
Beweis. Sei (zn )n∈N eine beschränkte komplexe Folge. Schreibe die Gleider als zn =
an + ibn mit an , bn ∈ R. Dann sind (an )n∈N und (bn )n∈N beschränkte reelle Folgen.
Nach Theorem 3.19 besitzt (an )n∈N eine konvergente Teilfolge (ank )k∈N . Da die Teil-
folge (bnk ) wiederum beschränkt ist, besitzt sie eine weitere Teilfolge (bnkl )l∈N , die
konvergiert. Da jede Teilfolge der konvergenten Folge (ank )k∈N konvergiert, folgt ins-
gesamt
l→∞ l→∞
ankl −→ a und bnkl −→ b
mit reellen Zahlen a und b. Dann konvergiert (wegen der Dreiecksungleichung) die
Teilfolge (znkl )l∈N gegen a + ib. □
3.4. Cauchy-Folgen.
Definition 3.21. Eine Folge (an )n∈N heisst Cauchy-Folge falls es zu jeden ε > 0
ein N gibt so dass
d an , am < ε ∀ m, n > N .
Also in Worten: Bei einer Cauchy-Folge wird der Abstand der Folgenglieder beliebig
klein, wenn die Indizes nur genügend groß werden. Beachte: Es genügt nicht, dass die
Abstände benachbarter Folgenglieder klein werden. Ein Gegenbeispiel ist die Folge
√
an = n .
Dies ist keine Cauchy-Folge, obwohl benachbarte Folgenglieder immer näher besammen
liegen, da
√ √ (n + 1) − n 1 1 n→∞
an+1 − an = n + 1 − n = √ √ =√ √ ≤ √ −→ 0
n+1+ n n+1+ n 2 n
(wir haben hier die dritte binomische Formel benutzt).
Satz 3.22. Eine reelle Folge ist genau dann konvergent, wenn sie eine Cauchy-Folge
ist.
Beweis. =⇒) Sei (an )n∈N eine reelle Folge mit an → a. Dann gibt es zu jedem ε > 0
ein N mit ε
d an , a < ∀n>N.
2
Nach der Dreiecksungleichung folgt für alle m, n < N
ε ε
d an , am ≤ d an , a + d a, am < + = ε .
2 2
ANALYSIS I 23
□
24 F. FINSTER
3.6. Reihen.
Definition 3.24. Eine unendliche Summe
X∞
an = a1 + a2 + · · ·
n=1
Die Reihe heisst divergent, falls die Folge (sn )n∈N divergiert.
Wir bemerken, dass man die Reihe auch bei null beginnen lassen kann. Das geht
genauso wie oben, nur dass man bei den Partialsummen auch bei null beginnt.
Definition 3.26. (geometrische Reihe) Wir betrachte für |z| < 1 die geometri-
sche Reihe
∞
X
zn .
n=0
Wir wollen zunächst die Partialsummen berechnen,
n
X
sn = zk .
k=0
Dazu beginnen wir mit der Formel
1 + z + z 2 + · · · z n (1 − z) = 1 − z n+1 ,
die man durch ausmultiplizieren direkt verifiziert (wer ganz sorgfältig sein möchte,
kann diese Formel auch mit vollständiger Induktion in n beweisen; siehe Zentralübung).
Dividiert man beide Seiten durch (1 − z) so folgt
1 − z n+1
sn = .
1−z
Schreibe dies nun als
1 1
sn = − z n+1 .
1−z 1−z
Die Folge z n+1 ist eine Nullfolge (siehe Beispiel 3.8 (iv)). Die Konvergenzsätze (Satz 3.23)
liefern
1
lim sn = .
n→∞ z
ANALYSIS I 25
♢
Viele Ergebnisse für Folgen lassen sich unmittelbar auf Reihen übertragen.
Satz 3.27. (Linearkombination konvergenter Reihen) Seien ∞
P P∞
n=1 an und n=1 bn
zwei (reelle oder komplexe) konvergente Reihen und λ, µ ∈ R (oder C). Dann konver-
giert auch die Reihe ∞
P
n=1 λan + µbn ) und es gilt
∞
X ∞
X ∞
X
λan + µbn ) = λ an + µ bn .
n=1 n=1 n=0
Beweis. Wende die Konvergenzsätze (Theorem 3.23) auf die Partialsummen an. □
P∞
Satz 3.28. (Cauchy-Kriterium) Die Reihe n=1 an konvergiert genau dann, wenn
es zu jedem ε > 0 ein N ∈ N gibt, so dass
n
X
an ≤ ε ∀n≥m≥N. (3.2)
k=m+1
Beweis. Wir bezeichnen die Partialsummen mit sn := nk=1 an . Nach dem Satz über
P
Cauchy-Folgen (Satz 3.22) ist die Folge (sn )n∈N genau dann konvergent, wenn (sn )
eine Cauchy-Folge ist, also wenn es zu jedem ε > 0 ein N existiert mit
sn − sm ≤ ε ∀n≥m≥N.
Wegen
n
X
sn − sm = ak
k=m+1
ist diese Bedingung äquivalent zu (3.2). □
bis hier Vorlesung
15.11.2023
Satz 3.29.PEine notwendige (aber nicht hinreichende!) Bedingung für die Konvergenz
der Reihe ∞ n=1 an ist, dass die zugehörige Folge (an )n∈N eine Nullfolge ist.
P∞
Beweis. Sei n=1 an konvergent. Nach dem Cauchy-Kriterium gibt es dann zu je-
dem ε > 0 ein N mit
an < ε ∀n≥N
(wir haben in (3.2) speziell m = n − 1 gesetzt). Also ist (an )n∈N eine Nullfolge. □
Beispiel 3.30. (i) Die Reihe ∞ n+1 ist nicht konvergent, weil die zugehörige
P
n=1 (−1)
Folge (an )n∈N mit an = (−1)n+1 keine Nullfolge ist.
(ii) Betrachte die sogenannte harmonische Reihe
∞
X 1
.
n
n=1
26 F. FINSTER
Die zugehörige Folge (an )n∈N mit an = 1/n ist eine Nullfolge (siehe Beispiel 3.8 (iii)).
Die notwendige Bedingung von Satz 3.29 ist also erfüllt. Trotzdem ist die har-
monische Reihe nicht konvergent, denn
1 1 1 1 1
s2n − sn = + + ··· + ≥n = ,
n+1 n+2 2n 2n 2
so dass das Cauchy-Kriterium (3.2) verletzt ist.
♢
3.7. Alternierende Reihen, das Leibnizsche Konvergenzkriterium. Wir kom-
men nun zu hinreichenden Kriterien für Konvergenz.
Definition 3.31. Eine Reihe der Form
X∞
(−1)n+1 an = a1 − a2 + a3 − a4 + · · ·
n=1
ist nach dem Leibniz-Kriterium konvergent. Wir bemerken jedoch, dass das Leibniz-
sche Konvergenzkriterium nicht dazu geeignet ist, um diesen Grenzwert tatsächlich
auszurechnen. Tatsächlich ist der Grenzwert der obigen Reihe log 2, was wir später bei-
spielsweise durch Taylor-Entwicklung der Logarithmus-Funktion werden zeigen können
(wir bezeichen mit log stets den natürlichen Logarithmus). ♢
ANALYSIS I 27
3.8. Absolut konvergente Reihen. Wir betrachten nun Reihen mit nicht-negativen
Gliedern. Dann ist de Folge der Partialsummen monoton wachsend, und wir können
die Konvergenz mit dem Konvergenzsatz für monotone Folgen untersuchen.
Satz 3.34. Die Reihe ∞
P
n=1 an mit an ≥ 0 konvergiert genau dann, wenn die Reihe
(also die Folge der Partialsummen) beschränkt ist, also es gibt c > 0 mit
Xn
ak < c ∀n∈N.
k=1
Pn
Beweis. Die Folge der Partialsummen sn := k=1 ak ist monoton wachsend. Wende
nun Satz 3.14 an. □
P∞
Definition
P∞ 3.35. Eine Reihe n=1 an heisst absolut konvergent, falls die Rei-
he n=1 |an | konvergiert. Eine konvergente Reihe, die nicht absolut konvergiert, heisst
bedingt konvergent.
Beispiel 3.36. Die alternierende harmonische Reihe
∞
X (−1)n+1
n
n=1
ist bedingt konvergent (siehe Beispiele 3.30 (ii) und 3.33). ♢
Satz 3.37. Eine absolut konvergente Reihe ist konvergent, und es gilt
X∞ X∞
an ≤ an .
n=1 n=1
Beweis. Übungsaufgabe □
Man beachte, dass hier, genau wie beim Quotientenkriterium, q strikt kleiner als eins
sein muss. Im Fall q = 1 ist i.a. keine Konvergenzaussage möglich.
Für konvergente Reihen kann man das “unendliche Kommutativgesetz” also nicht
ohne weiteres anwenden. Für absolut konvergente Reihen hab man aber den folgenden
Umordnungssatz:
Satz 3.46. (Umordnungssatz) Sei ∞
P
n=1 an eine absolut konvergente Reihe. Dann
konvergiert auch jede Umordnung dieser Reihe absolut gegen den gleichen Grenzwert.
bis hier Vorlesung
22.11.2023
30 F. FINSTER
P∞
Beweis. Sei a := n=1 an und τ : N → N eine bijektive Abbildung. Wir müssen zeigen,
dass
n
X
lim aτ (k) = a .
n→∞
k=1
P∞
Sei ε > 0. Dann gibt es wegen der Konvergenz von k=1 |ak | ein k0 so dass
∞
X ε
|ak | < .
2
k=k0 +1
Daraus folgt
k0 ∞ ∞
X X X ε
a− ak = ak ≤ |ak | ≤ .
2
k=1 k=k0 +1 k=k0 +1
Wir wählen nun N so groß, dass
τ (1), . . . , τ (N ) ⊃ {1, . . . , n0 } .
Dann gilt für alle m ≥ N
m
X m
X n0
X n0
X
aτ (k) − a ≤ aτ (k) − ak + ak − a
k=1 k=1 k=1 k=1
∞
X ε
≤ ak + <ε.
2
k=n0 +1
Die umgeordnete Reihe konvergiert also gegen den gleichen Grenzwert wie die Aus-
gangsreihe. Dass die umgeordnete Reihe wieder
Pabsolut konvergiert folgt durch An-
wendung des gerade Bewiesenen auf die Reihe ∞ n=1 |an |. □
P∞ P∞
Satz 3.47. (Cauchy-Produkt von Reihen) Es seien n=0 an und n=0 bn absolut
konvergente Reihen. Setze
n
X
ck := ak bn−k = a0 bn + a1 bn−1 + · · · + an b0 .
k=0
P∞
Dann ist auch die Reihe n=0 cn absolut konvergent und
X∞ X ∞ X ∞
cn = an bn .
n=0 n=0 n=0
Beweis. Es gilt X
cn = {ak bl | k + l = n} .
Also gilt für die Partialsummen
N
X X
CN := cn = {ak bl | (k, l) ∈ ∆n } ,
k=0
L
~
=
-
-
-
Pu
-
-
Iv
-
1-
--
-
! ↓
Abbildung 4. Die Mengen ∆N und QN .
N
X N
X
AN := an , BN := bn ,
n=0 n=0
wobei QN alle Indexpaare im “unteren Quadrat” sind (siehe wieder Abbildung 4):
∆N := {(k, l) ∈ N × N mit 0 ≤ k, l ≤ N } .
Es folgt
X
AN B N − C N = {ak bl | (k, l) ∈ QN \ ∆N } .
Um dies abzuschätzen, betrachten wir Summen der Absolutbeträge,
N
X N
X
A∗N := |an | , ∗
BN := |bn | .
n=0 n=0
Dann folgt wegen QN \ ∆N ⊂ QN \ Q[N/2] (wobei [.] wieder die Gauß-Klammer be-
zeichnet),
X
AN BN − CN ≤ |ak | |bl | (k, l) ∈ QN \ Q[N/2]
= A∗N BN
∗
− A∗[N/2] B[N/2]
∗
.
Wegen der Grenzwertsätze konvergiert die Folge A∗N BN
∗ . Also ist sie auch eine Cauchy-
Folge. Deswegen strebt die letzte Differenz für N → ∞ gegen null, d.h.
lim CN = lim AN BN = lim AN lim BN
N →∞ N →∞ N →∞ N →∞
Die Idee besteht darin, das Problem auf die geometrische Reihe zurückzuführen.
Satz 3.48. (Cauchysches Verdichtungskriterium) Es sei (a Pn )n∈N eine monoton
fallende folge nichtnegativer Zahlen. Dann konvergiert die Reihe ∞n=1 an genau dann,
wenn die sogenannte kondensierte Reihe
∞
X
2n a2n = a1 + 2a2 + 4a4 + 8a8 + · · ·
n=0
konvergiert.
Beweis. Wir bezeichnen die Partialsummen der ursprünglichen und kondensierten Rei-
he mit
X n Xn
sn := ak , tn := 2k a2k .
k=0 k=0
Verwende nun das Ergebnis für die geometrische Reihe (siehe Definition 3.26) □
ANALYSIS I 33
Bemerkung 3.52. Die Eulersche Zahl lässt sich auch durch die “Zinseszinsformel”
1 n
e = lim 1 +
n→∞ n
ausdrücken.
Beweis. Setze
n
1 n X 1
fn := 1 + und sn := .
n k!
k=0
Nach dem Binomischen Lehrsatz gilt
n
X n 1
fn =
k nk
k=0
1 n(n − 1) 1 n(n − 1) · · · 1 1
=1+n + 2
+ ··· +
n 2! n n! n!
1 1 1 1 2 n − 1
=1+1+ 1− + ··· + 1− 1− ··· 1 − ≤ sn .
2! n n! n n n
34 F. FINSTER
Hieraus folgt
∞
X
fn ≤ e = sn .
n=0
Andererseits gilt für k ≥ n
1 1 1 1 2 n − 1
fk ≥ 1 + 1 + 1− + ··· + 1− 1− ··· 1 − .
2! k n! k k k
Da die rechte Seite im Limes k → 0 gegen sn strebt, gilt fk ≥ sn für genügend großes k.
Insgesamt gibt es also zu jedem n ein N so dass
fn ≤ sn ≤ fk ≤ sk für alle k > N .
Hieran sieht man, dass die (fk )k∈N auch eine Cauchy-Folge bilden und konvergieren,
fk → f . Außerdem folgt, dass f = e. □
1 4
+2
I
(4
3
(f) exp(iφ) = cos φ + i sin φ. Verwende diese Gleichung als Definition der trigono-
metrischen Funktionen, also
cos φ := Re exp(iφ) , sin φ := Im exp(iφ) .
(e) Jede komplexe Zahl z kann mit der Polarzerlegung dargestellt werden, also
z = r eiφ mit r = |z| .
Siehe auch Abbildung 5.
4. Funktionen, Stetigkeit
4.1. Abbildungen von Mengen, Funktionen. Wir arbeiten hier mit dem naiven
Mengenbegriff, so wie er zu Beginn der Vorlesung eingeführt wurde oder genauer in der
Linearen Algebra behandelt wurde. Im folgenden seien M und N beliebige Mengen.
Definition 4.1. Unter einer Abbildung f : M → N verstehen wir eine Zuordnung,
die jedem x ∈ M genau ein Element f (x) ∈ N , das sogenannte Bild von x, zuordnet.
Wir verwenden die Bezeichnungen
M Definitionsbereich
N Zielraum
f (M ) := {f (x) | x ∈ M } Wertebereich
Die Abbildung f heisst injektiv falls es zu jedem Bildpunkt höchstens einen Punkt im
Urbild gibt, also
f (x) = f (y) =⇒ x = y .
Für eine injektive Abbildung kann man die Umkehrfunktion f −1 einführen:
f −1 : f (M ) → M , y 7→ x mit f (x) = y .
Die Abbildung f heisst surjektiv falls f (M ) = N ist.
Die Abbildung f heisst bijektiv oder invertierbar falls f injektiv und surjektiv ist.
In diesem Fall ist f −1 : N → M auf ganz N definiert. bis hier Vorlesung
Zwei Abbildungen f, g : M → N heissen gleich, in Symbolen f = g, falls 29.11.2023
Es gibt somit eine ganze “Hierarchie” von unendlichen Mengen. Die Mengen
N , P(N) , P P(N) , . . .
Beweis. Sei (xn ) eine Abzählung des Intervalls (0, 1). Die Dezimaldarstellungen seien
mit Ziffern aij ∈ {0, . . . , 9}. Damit diese Darstellung eindeutig ist, vermeiden wir die
“Periode 9”. Setze
z = 0, c1 c2 c3 · · ·
mit
ann + 2 falls ann < 5
cn :=
ann − 2 falls ann ≥ 5 .
Also gilt |cn − ann | = 2 und folglich
Die Funktion f heisst stetig, falls sie in jedem Punkt x0 ∈ D stetig ist.
Beispiel 4.8. Die Funktion f (x) = x2 ist stetig: Sei ε > 0 und x0 ∈ R. Dann ist
für |x − x0 | ≤ 1
2
f (x) − f (x0 ) = x2 − x20 = x0 + (x − x0 ) − x20
= 2x0 (x − x0 ) + (x − x0 |2 ≤ 2 |x0 | + 1 |x − x0 | .
(i) Wir wollen zunächst zeigen, dass die Exponentialfunktion in x = 0 stetig ist.
Nehmen dazu an, dass |x| < 1. Dann folgt
∞
X xn x x2 x3
exp(x) − exp(0) = =x 1+ + + + ···
n! 2! 3! 4!
n=1
∞
x x2 x3 X x n 1
≤ x 1 + + 2 + 3 ··· = x =x x
2 2 2 2 1− 2
n=0
(im letzten Schritt haben wir die Formel für die geometrische Reihe verwendet).
Damit folgt
exp(x) − exp(0) ≤ 2x .
Hieraus folgt, dass die Exponentialfunktion am Ursprung stetig ist, denn zu
gegebenem ε > 0 kann man δ beispielsweise wählen als
ε
δ = min , 1 .
2
(ii) Die Stetigkeit an einer allgemeinen Stelle x0 ̸= 0 folgt nun mit Hilfe der Funk-
tionalgleichung,
exp(x) − exp(x0 ) = exp(x0 ) | exp(x − x0 ) − exp(0) .
Verwende nun (i). ♢
Satz 4.10. Eine Funktion f : D → R (oder C, wiederum mit D ⊂ R oder C) ist in x0
stetig genau dann, wenn für jede Folge (xn )n∈N mit xn ∈ D und xn → x auch die
zugehörige Bildfolge (f (xn ))n∈N konvergiert.
Also in Worten: Eine Funktion ist genau dann stetig, wenn das Bild jeder konvergenten
Folge konvergiert.
Beweis von Satz 4.10. =⇒) Folgt direkt aus den Definitionen der Stetigkeit und der
Konvergenz von Folgen.
⇐=) Nehme an, dass das Bild jeder konvergenten Folge konvergiert. Nehme umge-
kehrt an, dass f in x0 nicht stetig ist. Dann gibt es ein ε > 0 und eine Folge (zn )
mit |zn − x0 | < 2−n und |f (zn ) − f (x0 )| ≥ ε. Dann konvergiert zn gegen x0 ,
aber die zugehörige Bildfolge f (zn ) konvergiert nicht gegen f (x0 ). Dies ist ein
Widerspruch. □
Aus diesem Satz folgt auch, dass der Grenzwert der Bildfolge gleich dem Funktionswert
des Grenzwertes ist, also
lim f (xn ) = f (x)
n→∞
(wobei wieder xn → x). Um dies zu sehen, betrachtet man die Folge
(x̃)n = (x1 , x, x2 , x, x3 , x, . . .) .
Diese Folge konvergiert offensichtlich wieder gegen x. Damit konvergiert auch die zu-
gehörige Bildfolge
f (x̃n ) n = f (x1 ), f (x), f (x2 ), f (x), f (x3 ), f (x), . . . .
Daraus folgt wiederum, dass f (xn ) → f (x).
40 F. FINSTER
1
5
1
f 1 F
L" L
b -
f(b)
. . . . . . .
-i detig
........
f(a).---
- als
steti
G A ...
ist auch
-
↑angenommen i -
7
a I
I
f(a) flb) y
Satz 4.15. (Stetigkeit der Umkehrfunktion) Sei f : [a, b] → R stetig und injektiv
mit Wertebereich W := f ([a, b]). Dann ist die Umkehrfunktion
f −1 : W → [a, b]
ebenfalls stetig.
Beweis. Sei y ∈ W . Wir müssen zeigen, dass für jede Folge (yn ) mit w ∋ yn → y auch
die “Urbildfolge” (xn ) mit xn = f −1 (yn ) konvergiert.
Nehme dazu umgekehrt an, dass die Folge (xn ) nicht konvergiert. Da (xn ) eine be-
schränkte Folge ist, gibt es (nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß), Theorem 3.19)
eine Teilfolge (xnk ) mit xnk → z ̸= z ̸= x := f −1 (y) (wenn alle Teilfolgen gegen x kon-
vergieren würden, würde auch die Folge selbst gegen x konvergieren, ein Widerspruch).
Da f stetig ist, konvergiert dann auch die Folge f (xnk ) g und
lim f (xnk ) = f lim xnk = f (z) .
k→∞ k→∞
Die Aussage ist in Abbildung 6 illustriert. Man beachte, dass für unser Argu-
ment entscheidend war, dass [a, b] ein beschränktes Intervall ist (ansonsten hätten
wir Bolzano-Weierstraß nicht anwenden können). Diese Einschränkung wollen wir nun
loswerden.
Definition 4.16. Unter einem uneigentlichen Intervall vesteht man eine der Men-
gen (a, ∞), [a, ∞), (−∞, b) oder (−∞, b] mit a, b ∈ R oder die Menge (−∞, ∞). Wir
nennen I ein verallgemeinertes Intervall, falls es entweder ein Intervall oder ein
uneigentliches Intervall ist.
Wie schon in obigem Bildchen gezeichnet, bedeutet Injektivität bei einer stetigen
reellen Funktion auf einem verallgemeinerten Intervall, dass die Funktion in folgendem
Sinne streng monoton ist:
42 F. FINSTER
L---
-"
↑angenommen
a
als
?
A ...
F. FINSTER
i
I
f(a)
-i detig
fib)
ist
-
7
auch
+
Tangente
sekante
T
i Xp
>X
Falls x0 ein Randpunkt von I ist, betrachten wir entsprechend den rechts- oder
links-seitigen Grenzwert. In Worten ist eine Funktion also differenzierbar, falls der
Differenzenquotient einen Limes besitzt. Graphisch gibt der Differenzenquotient die
Steigung einer Sekanten an, während die Ableitung die Tangentensteigung angibt (sie-
he Abbildung 7). Wir gehen hierauf nicht genauer ein, weil Sie das hoffentlich aus der
Schule kennen.
Für die Ableitung verwendet man auch andere Bezeichnungen:
• f˙ (insbesondere für Zeitableitungen in der Physik)
• Df (diese Notation werden wir später für Funktionen mehrerer Variablen ver-
wenden)
df df
• oder (x0 )
dx dx
Mit der Notation ist man in der Mathematik immer sehr flexibel. Man kann also immer
das nehmen, was einem einfacher oder besser vorkommt.
Höhere Ableitungen werden induktiv definiert. Wir verwenden die Bezeichungen
dn f
f ′′ , f ′′′ , . . . , f (n) oder auch
(x0 ) .
dxn
Satz 5.2. Eine Funktion f : I → R (oder C) ist in x0 ∈ I genau dann differenzierbar,
wenn es eine Konstante c ∈ R (bzw. C) gibt, so dass
f (x) = f (x0 ) + c (x − x0 ) + φ(x) (x ∈ I) , (5.1)
wobei φ eine Funktion ist mit
φ(x)
lim =0.
x→x0 , x̸=x0 x − x0
Wir verwenden auch die sogenannten Landau-Symbole, die besonders in der Physik
gebräuchlich sind:
f (x) = O(x) falls |f (x)| ≤ c |x| in Bε (x)
f (x)
f (x) = o(x) falls lim =0
x→0, x̸=0 x
Damit kann man (5.1) knapper schreiben als
f (x) = f (x0 ) + +f ′ (x0 ) (x − x0 ) + o x − x0 .
ANALYSIS I 45
Beweis von Satz 5.2. =⇒) Sei f in x0 differenzierbar. Setze c := f ′ (x0 ). Definiere die
Funktion φ durch
φ(x) := f (x) − f (x0 ) − c (x − x0 ) .
Dann ist für alle x ∈ I \ {x}
φ(x) f (x) − f (x0 ) x→x0
= − c −−−→ 0.
x − x0 x − x0
⇐=) Nehme an, dass f die Darstellung
f (x) = f (x0 ) + c (x − x0 ) + o(x − x0 )
habe. Dann folgt, dass
f (x) − f (x0 ) o(x − x0 )
lim = lim c+ =c,
x→x0 , x∈I\{x0 } x − x0 x→x0 , x∈I\{x0 } x − x0
also ist f in x0 differenzierbar.
□
Korollar 5.3. Ist die Funktion f in x0 differenzierbar, so ist sie in x0 auch stetig.
Beweis.
lim f (x) = f (x0 ) + lim c (x − x0 ) + φ(x) = f (x0 ) .
x→x0 x→x0
□
Beachte: Die Umkehrung dieser Aussage ist im allgemeinen falsch! Es gibt also stetige
Funktionen, die nicht differenzierbar sind. Ein einfaches Beispiel ist die Betragsfunk-
tion f (x) = |x|, die überall stetig, aber bei x = 0 nicht differenzierbar ist. Auch ist die
Ableitung einer Funktion im allgemeinen nicht stetig. Beispiele hierfür werden wir in
der Zentralübungen und/oder der Übungsstunde kennenlernen.
Satz 5.4. (Rechenregeln der Ableitung) Mit f, g : I → R (oder C) sind auch f +g,
f g und (falls g(x0 ) ̸= 0) auch f /g in x0 differenzierbar, und es gilt
(f + g)′ (x0 ) = f ′ (x0 ) + g ′ (x0 ) (5.2)
′
f · g (x0 ) = f ′ (x0 ) g(x0 ) + f (x0 ) g ′ (x0 ) (Produktregel) (5.3)
f ′ f ′ (x0 ) g(x0 ) − f (x0 ) g ′ (x0 )
(x0 ) = (Quotientenregel) . (5.4)
g g(x0 )2
Beweis. Die Gleichung (5.2) folgt unmittelbar aus den Rechenregeln für Grenzwerte
von Folgen. Die Produktregel folgt aus der Rechnung
f (x) g(x) − f (x0 ) g(x0 )
(f g)′ (x0 ) = lim
x→x0 , x̸=x0 x − x0
f (x) − f (x0 ) g(x) − g(x0 )
= lim g(x) + f (x0 )
x→x0 , x̸=x0 x − x0 x − x0
′ ′
= f (x0 ) g(x0 ) + f (x0 ) g (x0 ) ,
wobei wir im letzten Schritt die Grenzwertsätze angewendet und verwendet haben,
dass g (als differenzierbare Funktion) stetig in x0 ist.
46 F. FINSTER
Da die Folge (yn )n∈N beliebig gewählt werden kann, folgt auch, dass f −1 in y0 diffe-
renzierbar ist. □
Nun gilt
g f (x) − g f (x0 )
g ◦ f (x0 ) = lim
x→x0 ,x̸=x0 x − x0
∗
f (x) − f (x0 )
= g ′ f (x0 ) f ′ (x0 ) ,
= lim g f (x)
x→x0 ,x̸=x0 x − x0
da f in x0 stetig ist. □
Die Kettenregel lässt sich mit der folgenden Leibnizschen Schreibweise leicht merken,
dg dg df
= .
dx df dx
Dies ist sehr einfach und suggestiv. Man muss aber beachten, dass man in der Ma-
thematik mit Differentialen nicht einfach rechnen kann. Dies ist also nur eine günstige
Schreibweise für die Kettenregeln, wie wir sie bewiesen haben.
Definition 5.9. Die Menge der stetigen reellwertigen Funktionen auf I wird C 0 (I, R)
(oder auch nur C 0 (I)) bezeichnet. Sie bildet einen Vektorraum mit punktweisen Ope-
rationen, also
αf + βg (x) := αf (x) + βg(x) .
Entsprechend werden die k-mal stetig differenzierbaren Funktionen mit C k (I, R)
(oder auch einfach C k (I)) bezeichnet. Schließlich bezeichnet C ∞ (I, R) (oder C ∞ (I))
die glatten (also beliebig oft differenzierbaren) Funktionen.
48 F. FINSTER
Die Vektorraumstruktur der Räume C k (I, R) ist sehr nützlich, weil sich dadurch
Begriffe und Methoden der Linearen Algebra in der Analysis anwenden lassen. Die
Räume C k (I, R) sind allerdings unendlich-dimensional. Damit werden wir uns näher
in der Funktionalanalysis im 5. Semester beschäftigen.
E11
Abbildung 8. Der Mittelwertsatz.
f(b)
-
-
f(a)
In diesem Kollorar haben wir unsere erste Differentialgleichung gelöst. Wir werden
(gewöhnliche) Differentialgleichungen genauer in Analysis II behandeln. In dieser Spra-
che ist die Exponentialfunktion also die eindeutig bestimmte Lösung der Differential-
gleichung f ′ = f mit Anfangswerten f (0) = 1.
Korollar 5.16. Sei f ∈ C 1 (I, R) und f ′ (x) ≥ 0 (oder > 0) für alle x ∈ I. Dann ist f
monoton steigend (bzw. streng monoton steigend).
Beweis. Gegeben x, y ∈ I mit x < y gibt es nach dem Mittelwertsatz ein ξ ∈ (x, y)
mit
f (y) − f (x)
0 ≤ f ′ (ξ) = .
y−x
Hieraus folgt f (x) ≤ f (y). Also ist f monoton steigend. Die Aussage für strenge
Monotonie folgt entsprechend. □
5.2. Trigonometrische Funktionen. Wir habe bereits gesehen: Für alle t ∈ R ist
|eit | = 1 Also nimmt die Funktion eit Werte auf dem Einheitskreis an. Wir definieren
die trigonometrischen Funktionen Sinus und Cosinus durch
Wir wollen nun Eigenschaften der trigometrischen Funktionen untersuchen und die
Polardarstellung herleiten.
Lemma 5.17. Die Funktion ϕ : R → C, t 7→ eit ist von der Klasse C ∞ (R, C) und löst
das Anfangswertproblem
Beweis. Die Differenzierbarkeit folgt genau wie in Beispiel 5.5. Damit darf man auch
“gliedweise ableiten”,
∞ ∞
d it d X (it)n X 1
e = = n (it)n−1 = ieit .
dx dx n! n!
n=0 n=0
Induktiv kann man nun auch höhere Ableitungen bilden. Daraus folgt auch, dass die
Ableitungen alle stetig sind. □
Hieraus und aus den Rechneregeln für die Exponentialfunktion und komplexe Zah-
len folgen entsprechende Eigenschafte für trigonometrische Funktionen, die wir nun
zusammenstellen.
ANALYSIS I 51
Lemma 5.20. Die Funktionen cos(t) und sin(t) sind periodisch mit Periode 2π, d.h.
cos(t + 2π) = cos(t) und sin(t + 2π) = sin(t) ∀t∈R.
ANALYSIS I 53
und daher
Definition 6.1. (i) Eine Zerlegung Z von I = [a, b] in Teilintervalle Ij der Längen |Ij |
mit j = 1, . . . , k ist eine Menge von Punkten
ξ := (ξ1 , . . . ξk ) ∈ Rk .
k
X
SZ (f, ξ) := f (ξj ) ∆xj
j=1
54 F. FINSTER
(iii)
Offensichtlich gilt stets
S Z (f ) ≤ SZ (f, ξ) ≤ S Z (f ) .
Definition 6.2. (i) Z ∗ ist eine Verfeinerung von Z, falls alle Teilpunkte von Z
auch Teilpunkte von Z ∗ sind.
(ii) Die gemeinsame Verfeinerung von Z1 und Z2 ist eine Verfeinerung, deren
Teilpunkte genau die Vereinigung der Teilpunkte von Z1 und Z2 sind. Wir schrei-
ben dafür Z1 ∨ Z2 .
Lemma 6.3. Ist Z ∗ eine Verfeinerung von Z, so gilt
S Z (f ) ≤ S Z ∗ (f ) ≤ S Z ∗ (f ) ≤ S Z (f ) .
bis hier Vorlesung
22.12.2023
Beweis. Ist Iℓ∗ ⊂ Ij , so folgt inf Ij f ≤ inf Iℓ∗ f und supIj f ≥ supI ∗ f . Damit folgt auch
ℓ
S Z (f ) ≤ S Z ∗ (f ) und S Z ∗ (f ) ≤ S Z (f ) .
Damit folgt die Behauptung. □
Definition 6.6. Eine Funktion f ∈ B(I) heisst integrierbar (oder integrabel oder
Riemann-integrierbar) falls I(f ) = I(f ) ist. Wir setzen in diesem Fall
I(f ) := I(f ) = I(f ) .
Wir nenne I(f ) das bestimmte Integral von f über I = [a, b]. Übliche Schreibweise:
ˆ b ˆ b ˆ
f (x) dx = f = f (x) dx = I(f ) .
a a I
Wir bezeichnen die integrierbaren Funktionen auf I mit R(I).
Es stellt sich die allgemeine Frage, welche Funktionen Riemann-integrierbar sind.
Satz 6.7. (I. Integrabilitätskriterium) Eine beschränkte Funktion f : I → R ist
integrierbar genau dann, wenn es zu jedem ε > 0 eine Zerlegung Z von I gibt, so dass
S Z (f ) − S Z (f ) < ε .
Beweis. Die Rückrichtung folgt unmittelbar, weil
S Z (f ) ≤ I(f ) ≤ I(f ) ≤ S Z (f ) .
Für die Hinrichtung verwenden wir, dass es nach Definition des Supremums und Infi-
mums zu jedem ε > 0 Zerlegungen Z1 und Z2 gibt mit
ε ε
S Z1 (f ) ≥ I(f ) − und S Z1 (f ) ≤ I(f ) + .
2 2
Wähle nun Z = Z1 ∨ Z2 . □
mit S Z ∗ (f ) − S Z ∗ (f ) < 2ε . Wähle nun eine Zerlegung Z von I mit ∆(Z) < δ (mit
einem Parameter δ, der weiter unten genauer bestimmt wird). Für Z ′ := Z ∨ Z ∗ ist
dann
ε
S Z ′ (f ) − S Z ′ (f ) < .
2
Außerdem unterscheiden sich die Ober- und Untersummen nur um maximal ℓ Sum-
manden. Verwendet man außerdem, dass f beschränkt ist,
sup |f | ≤ c ,
I
so können wir folgendermaßen abschätzen,
ε
S Z (f ) − S Z (f ) ≤ S Z ′ (f ) − S Z ′ (f ) + 2cℓδ ≤
+ 2cℓδ .
2
Jetzt wählen wir δ so klein, dass der letzte Summand kleiner gleich ε/2 ist, also bei-
spielsweise
ε
δ := .
4cℓ
Dann folgt die Behauptung. □
56 F. FINSTER
Korollar 6.9. Sei {Zn } eine Folge von Zerlegungen von I mit ∆(Zn ) → 0. Dann ist
für jede integrierbare Funktion f ∈ R(I)
ˆ b
f (x) dx = lim SZn (f ) .
a n→∞
Satz 6.10. R(I) ist ein reeller Vektorraum. Die Abbildung I : f 7→ I(f ) ist ein
lineares Funktional, also
I αf + βg = α I(f ) + β I(g)
bis hier Vorlesung für alle f, g ∈ R(I) und α, β ∈ R.
10.1.2024
Beweis. Wir setzen h := αf + βg. Wir betrachten zunächst ein Teilintervall Ij . Dann
gilt für alle x, y ∈ Ij
h(x) − h(y) = α f (x) − f (y) + β g(x) − g(y)
≤ |α| f (x) − f (y) + |β| g(x) − g(y) .
Jetzt bilden wir das Supremum über x und das Infimum über y. Wir erhalten dann
sup h − inf h ≤ sup inf |α| f (x) − f (y) + |β| g(x) − g(y)
Ij Ij xinIj y∈Ij
≤ |α| sup inf f (x) − f (y) + |β| sup inf g(x) − g(y) .
xinIj y∈Ij xinIj y∈Ij
Satz 6.11. Aus f, g ∈ R(I) folgt f g ∈ R(I) (die integrierbaren Funktionen bilden also
eine Algebra!) und |f | ∈ R(I). Ist |g| ≥ c > 0, so ist auch f /g ∈ R(I).
ANALYSIS I 57
Beweis. Die Beweismethode ist genau wie im vorherigen Satz. Aber man muss nun
das Produkt und den Quotienten folgendermaßen abschätzen. Für h = f g gilt
h(x) − h(x′ ) = f (x) g(x) − g(x′ ) + f (x) − f (x′ ) g(x′ )
Im Limes n → ∞ strebt die linke Seite gegen null. Da beide Klammerausdrücke auf der
rechte Seite nicht-negativ sind, konvergieren sie auch beide gegen null. Folglich ist f
auf den Teilintervallen auch integrierbar. Die Formel (6.1) folgt unmittelbar, indem
man Riemannsche Zwischensummen betrachten und den Limes n → ∞ bildet. □
wobei Zn eine beliebige Folge von Zerlegungen ist, deren Feinheit nach null strebt
(also ∆Zn → 0). Für Rechnungen wählt man am einfachsten die äquidistante Zerlegung
Zn = {a = x0 < x1 < · · · < xn = b}
mit
b−a
xj = a + j.
n
Die Feinheit dieser Zerlegung ist offensichtlich
1
∆(Zn ) = .
n
Wir wählen jetzt die Zwischenpunkte ζj = xj . Dann erhält man die Riemannschen
Summen
n
X b−a b−a
Sn = f a+ j .
n n
j=0
ANALYSIS I 59
Wir wissen, dass diese Riemannschen Summen gegen das Integral konvergieren, also
ˆ b
f = lim Sn .
a n→∞
(b − a)2
n(n + 1)
= a (b − a) + 2
.
n 2
Im Limes n → ∞ erhält man
ˆ b
(b − a)2 1 2
b − a2 .
x dx = a (b − a) + =
a 2 2
Natürlich ist diese Methode für kompliziertere Funktionen unpraktikabel. ♢
bis hier Vorlesung
12.1.2024
6.2. Die Hauptsätze der Integral- und Differentialrechung. Kurz gesagt besa-
gen die Hauptsätze, dass die Integration die “Umkehrung” der Differentiation ist. Sie
gehen auf Newton und Leibniz zurück.
Definition 6.17. Sei wieder I = [a, b] und f ∈ C 0 (I). Eine Funktion F ∈ C 1 (I) heisst
Stammfunktion von f falls
F ′ (x) = f (x) ∀x∈I.
Satz 6.18. Für beliebiges c ∈ I ist die Funktion
ˆ x
F (x) := f (t) dt mit x ∈ I
c
eine Stammfunktion von f .
Satz 6.19. Ist Φ ∈ C 1 (I) eine Stammfunktion von f , so gilt
ˆ b
b
f (x) dx = Φ(b) − Φ(a) = Φ a .
a
Beweis von Satz 6.18. Sei x ∈ I und h ̸= 0 mit xh ∈ I. Dann ist der Differenzenquo-
tient
1
∆h F (x) := F (x + h) − F (x)
h
wohldefniert. Verwendet man die Linearität des Integrals, so folgt
ˆ
1 x+h
∆h F (x) = f (t) dt
h x
Im Fall h < 0 verwenden wir hier die übliche Konvention, dass sich bei Vertauschung
der Grenzen das Vorzeichen des Integrals umkehrt, also
ˆ x+h ˆ x
f (t) dt := − f (t) dt .
x x+h
60 F. FINSTER
Subtrahiere jetzt f (x) und verwende wiederum die Linearität des Integrals,
ˆ
1 x+h
∆h F (x) − f (x) = f (t) − f (x) dt .
h x
Wir definieren die Oszillation von f durch
n o
σ(h) := sup f (t) − f (x) : t ∈ I mit |x − t| < |h| .
Wegen der Stetigkeit von f inx liefert dann dass
lim σ(h) = 0 .
h→0
Schließlich können wir das obige Integral so abschätzen,
ˆ x+h
1 h→0
∆h F (x) − f (x) ≤ σ(h) 1 dt = σ(h) −−−→ 0 .
h x
Also ist F in x tatsächlich differenzierbar und F ′ (x) = f (x). □
Beweis von Satz 6.19. Sei Φ ∈ C 1 (I) eine beliebige Stammfunktion von f und F (x)
die spezielle Stammfunktion
ˆ x
F (x) := f (t) dt ∈ C 1 (I) .
a
Dann ist nach dem vorigen Satz
d
F (x) − Φ(x) = f (x) − f (x) = 0 .
dx
Nach dem Mittelwertsatz folgt (siehe Korollar 5.14 im Fall m = 0 = M ), dass F − Φ
eine Konstante ist, also
Φ(x) = F (x) + k mit k ∈ R .
Damit folgt
ˆ b
f (x) dx = F (b) = F (b) − F (a) = Φ(b) − Φ(a) ,
a
was zu zeigen war. □
Beispiel 6.22. Das folgende Integral kann man mit partieller Integration berechnen,
ˆ π ˆ π
2
2
2 d
sin (x) dx = sin(x) − cos(x) dx
0 0 dx
π ˆ π
2 2 d
= − sin(x) cos(x) + sin(x) cos(x) dx
0 0 dx
ˆ π ˆ π
2 π 2
= cos2 (x) dx = − sin2 (x) dx .
0 2 0
Bringt man nun den letzten Summanden auf die linke Seite und dividiert durch zwei,
so folgt
ˆ π
2 π
sin2 (x) dx = .
0 4
Weite Beispiel werden werden wir in den Übungen und der Zentralübung kennenlernen.
6.4. Variablentransformation.
Satz 6.23. (Substitutionsformel) Seien I und I ∗ abgeschlossene Intervalle, f ∈
C 0 (I) und φ ∈ C 1 (I ∗ ) mit φ(I ∗ ) ⊂ I. Dann gilt für beliebige α, β ∈ I ∗ die Formel
ˆ φ(β) ˆ β
f φ(u) φ′ (u) du .
f (x) dx =
φ(α) α
Diese Formel ist sehr nützlich und kann auf zwei Arten verwendet werden.
1. Anwendung: “von rechts nach links”: Nehme an, dass das Integral
ˆ β
h(u) du
α
berechnet werden soll. Versuche, h in der Form
h(u) = f φ(u) φ′ (u)
(dies beinhaltet die Bedingung, dass beide Limites getrennt existieren müssen). Man
nennt diese Integral auch das uneigentliche Riemann-Integral.
Entsprechend definiert man auch für eine beschränkte Funktion f : (−∞, b] → R
das uneigentliche Integral
ˆ b ˆ b
f (x) dx := lim f (x) dx .
−∞ L→−∞ L
Beweis. Nach Definition der Ableitung ist f (x) = f (0) + f ′ (0) x + φ(x) mit
φ(x)
lim =0.
x→0,x̸=0 x
Damit folgt
ˆ ˆ
f (x) f (0) ′ φ(x)
dx = + f (0) + dx
[a,b]\(−ε,ε)x [a,b]\(−ε,ε) x x
ˆ
b
′
φ(x)
= f (0) log |x| + f (0) b − a − 2ε + dx .
a [a,b]\(−ε,ε) x
Beweis. Gegeben N ∈ N betrachten wir das Intervall [1, N + 1] und zerlegen es durch
Z := {1, 2, . . . , n + 1} .
Dann ist
N
X N
X +1
SZ = an , SZ = an .
n=1 n=2
Damit folgt
N
X +1 ˆ N +1 N
X
an ≤ f (x) dx ≤ an .
n=2 1 n=1
Hieran sieht man, dass das Integral genau dann konvergiert, wenn die Reihe konvergiert
(wir lassen hier aus Zeitgründen weitere Details weg). □
Dies ist wesentlich einfacher als der frühere Beweis mit dem Cauchyschen Verdich-
tungskriterium (siehe Korollar 3.49).
Man sieht mit Satz 6.30 auch, dass für jede stetite Funktion f ∈ C 0 ((1, ∞)) mit
1
|f (x)| ≤ mit alpha > 1 für alle x ∈ [1, ∞)
xα
66 F. FINSTER
♢
bis hier Vorlesung
19.1.2024
6.6. Die Taylor-Formel. Unser Ziel besteht darin, eine gegebene Funktion f lokal
durch ein Polynom zu approximieren. Zur Motivation beginnen wir mit dem Fall, dass
die Funktion f selbst ein Polynom ist, also
f (x) = a0 + a1 x + · · · + an xn .
Wie verhält sich die Funktion um ein gegebenes x0 ∈ R herum? Um diese Frage zu be-
antworten, setzen wir x = x0 + u und multiplizieren alle Summen mit den binomischen
Formeln aus. Wer erhalten dann ein Polynom in u = x − x0 , also
f (x) = b0 + b1 (x − x0 ) + · · · + bn (x − x0 )n .
Man kann f nun linear, quadratisch, . . . approximieren, indem man dieses Polynom
trunkiert.
Der folgende Satz liefert uns eine entsprechende Approximationsformel für den Fall,
dass f kein Polynom, sondern eine stetig differenzierbare Funktion ist.
Satz 6.33. (Taylorsche Formel) Sei I = [a, b] ein Intervall, f ∈ C n+1 (I) und x0 ∈
I. Dann gilt für alle x ∈ I
1 ′′
f (x) = f (x0 ) + f ′ (x0 ) (x − x0 ) + f (x0 ) (x − x0 )2 (6.2)
2
1 (n)
+ ··· + f (x0 ) (x − x0 )n + Rn+1 (x) (6.3)
n!
n
X f (k) (x0 )
= (x − x0 )k + Rn+1 (x) (6.4)
k!
k=0
wobei
ˆ x
1
Rn+1 (x) = (x − τ )n f (n+1) (τ ) dτ .
n! x0
Wir nennen das Polynom in (6.4) das Taylorpolynom, und Rn+1 (x) ist das soge-
nannte Restglied.
Wir beweisen zunächst einen Hilfssatz.
Beweis. Es genügt, den Fall n > 1 zu betrachten. Mittels partieller Integration folgt
sukzessive
ˆ 1
1
(1 − t)n ϕ(n+1) (t) dt
0 n!
ˆ 1
1 d
= (1 − t)n ϕ(n) (t) dt
0 n! dt
ˆ 1
1 n (n) 1 1 d
= (1 − t) ϕ (t) 0 − (1 − t)n ϕ(n) (t) dt
n! 0 n! dt
ˆ 1
1 1
= − ϕ(n) (0) + (1 − t)n−1 ϕ(n) (t) dt .
n! 0 (n − 1)!
So erhält man das gewünschte Taylorpolynom. Das Restglied erhält man durch die
folgende Variablentransformation,
ˆ 1
1
(1 − t)n ϕ(n+1 )(t) dt
0 n!
ˆ 1
1
(x − x0 )n+1 (1 − t)n f (n+1 ) x0 + t (x − x0 ) dt
=
n!
0
τ := x0 + t (x − x0 ) , dτ = (x − x0 ) dt
=
x − τ = x − x0 − t (x − x0 ) = (1 − t)(x − x0 )
ˆ x
1
= (x − τ )n f (n+1) (τ ) dτ = Rn+1 (x) .
x0 n!
□
In der Physik schreibt man das Taylorpolynom mit Restglied meistens so,
1 (n)
f (x) = f (x0 ) + f ′ (x0 ) (x − x0 ) + · · · + f (x0 ) (x − x0 )n + O (x − x0 )n+1 .
n!
6.7. Die l’Hospitalschen Regeln. Wir wenden uns nun der Frage zu, wie man für
zwei (stetige und genügend oft differenzierbare Funktionen) den Grenzwert
f (x)
lim
x→x0 ,x̸=x0 g(x)
berechnen kann. Wenn g(x0 ) ̸= 0, kann man die Grenzwertsätze anwenden. Falls g(x0 ) =
0 und f (x0 ) ̸= 0, so existiert der Grenzwert offensichtlich nicht, weil der Quotient
in jedem Intervall um x0 beliebig groß wird. Was kann aber tun, wenn sowohl der
Zähler als auch der Nenner bei x0 verschwinden? Oft kann man diese Frage mit den
bis hier Vorlesung l’Hospitalschen Regeln beantworten.
24.1.2024
ANALYSIS I 69
Satz 6.37. (L’Hospitalsche Regeln) Sind f, g ∈ C k (I) mit k ∈ N und gilt für
ein x0 ∈ I dass
f (ν) (x0 ) = 0 = g (ν) (x0 ) für ν = 0, . . . , k − 1 ,
(k)
g (x0 ) ̸= 0 .
Dann ist
f (x) f (k) (x0 )
lim = (k) .
x→x0 ,x̸=x0 g(x) g (x0 )
Proof. Nach der Taylorformel mit Restglied gilt
1 (k) 1 (k) ′
f (x) = f (ξ) (x − x0 )k und g(x) = g (ξ ) (x − x0 )k .
k! k!
Damit folgt
f (x) f (k) (ξ)
= (k) ′ .
g(x) g (ξ )
Im Limes x → x0 konvergieren ξ und ξ ′ gegen x0 . Damit können wir die Grenzwertsätze
anwenden. □
Beispiel 6.38.
sin x cos x
lim = lim =1
x→0,x̸=0 x x→0,x̸=0 1
ex − 1 ex
lim = lim =1
x→0,x̸=0 log(1 + x) x→0,x̸=0 1
1+x ♢
Es gibt noch allgemeinere Formulierungen der l’Hospitalschen Regeln. Tatsächlich
sind unsere Annahmen zu stark. Beispielsweise genügt es im Fall k = 1, dass die Funk-
tionen differenzierbar sind, sie brauchen aber nicht stetig differenzierbar zu sein. Wir
wollen nun ein allgemeineres Ergebnis ableiten. Grundlage ist eine Verallgemeinerung
des Mittelwertsatzes.
Theorem 6.39. (Verallgemeinerter Mittelwertsatz) Seien f, g : [a, b] → R stetig
und im offenen Intervall (a, b) differenzierbar. Sei außerdem g ′ (x) ̸= 0 für alles x ∈
(a, b). Dann gibt es ein ξ ∈ (a, b) mit
f (b) − f (a) f ′ (ξ)
= ′ .
g(b) − g(z) g (ξ)
Beweis. Es ist g(b) ̸= g(a), denn sonst gäbe es nach dem Satz von Rolle ein ξ ∈ (a, b)
mit g ′ (ξ) = 0. Wir betrachten (ähnlich wie in unserem Beweis des Mittelwertsatzes)
f (b) − f (a)
F (x) = f (x) − g(x) − g(a .
g(b) − g(a)
Man rechnet direkt nach, dass F (b) = F (a). Also gibt es nach dem Satz von Rolle
ein ξ ∈ (a, b) mit F ′ (ξ) = 0. Durch direkte Rechnung folgt die Behauptung. □
Beweis. Wir beginnen mit Fall (a). Nach dem verallgemeinerten Mittelwertsatz gibt
es zu jedem x ∈ (a, b)] ein ξ ∈ (a, x) so dass
f (x) f (x) − f (a) f ′ (ξ)
= = ′ .
g(x) g(x) − g(a) g (ξ)
Im Limes x ↘ a geht auch ξ ↘ a. Damit konvergieren beide Seiten, und man erhält
die Behauptung.
Im Fall (b) setze A := limx↘a f ′ (x)/g ′ (x). Nach Definition des Grenzwertes gibt es
zu jedem ε > 0 ein δ > 0 so dass
f ′ (x)
−A <ε für alle x ∈ (a, a + δ) .
g ′ (x)
Mit dem verallgemeinerten Mittelwertsatz folgt
f (x) − f (y)
−A <ε für alle x, y ∈ (a, a + δ) .
g(x) − g(y)
Nun ist
f (x) f (x) − f (y) 1 − g(y)/g(x)
= .
g(x) g(x) − g(y) 1 − f (y)/f (x)
Wir halten nun y fest. Wegen der Stetigkeit von f und g konvergiert der letzte Faktor
im Limes x ↘ a gegen eins. Damit gibt es δ ′ ∈ (0, δ) so dass
f (x)
−A <ε für alle x ∈ (a, a + δ ′ ) .
g(x)
Das liefert die Behauptung. □
Wir bemerken abschließend, dass die Hospitalschen Regeln auch dann anwendbar
sind, wenn x → ±∞ geht. In diesem Fall kann man zunächst mit der Funktion 1/x
verketten, also z.B.
f (x) f (1/y)
lim = lim .
x→∞ g(x) y↘0 g(1/y)
Nun kann man Theorem 6.40 anwenden. Der Faktor, den man beim Nachdifferenzieren
erhält, kürzt sich weg.
6.8. Die Taylorreihe, Potenzreihen. Bisher haben wir die Taylorformel mit Rest-
glied kennengelernt,
n
X f (k) (x0 )
f (x) = (x − x0 )k + Rn+1 (x) .
k!
k=0
Die Frage ist, ob man hier den Grenzübergang n → ∞ bekommt, um eine unendliche
Reihe zu bekommen. Wir beginnen mit der Definition der zugehörigen Reihe.
ANALYSIS I 71
f(x)
↑
& *
alle Ableitungen
X
>
verschwinden !
(iii) Wir betrachten nun das Beispiel von Cauchy. Dazu defininieren wir die Funkti-
on f : R → R abschnittsweise gemäß
0 falls x = 0
f (x) = 1
exp − 2 falls x ̸= 0 .
x
Wir berechnen zunächst die Ableitung. Im Fall x ̸= 0 berechnet man die Ablei-
tung mit der Kettenregel zu
′ − 12 2
f (x) = e x .
x3
Der rechtsseitige Grenzwert berechnet sich so,
1 1 3 3
lim e− x2 3 = lim e−u u 2 = lim exp − u + log u = 0 .
x↘0 x u→∞ u→∞ 2
Die Ableitung an der Stelle x = 0 kann man direkt mit Hilfe des Differenzenquo-
tienten berechnen, da für alle y ̸= 0,
f (y) − 0 1 − 1 y→0,y̸=0
= e y2 −−−−−−→ 0 .
y−0 y
Wir sehen also, dass f überall differenzierbar ist und
0 falls x = 0
′
f (x) = 1 1
3 exp − 2 falls x ̸= 0 .
x x
Die höheren Ableitungen kann man analog berechnen. Man erhält
0 falls x = 0
′
f (x) = 1
pn (x) exp − 2 falls x ̸= 0 ,
x
wobei pn ein Polynom vom Grade 3n ist.
Insgesamt sehen wir, dass die Funktion f glatt ist. Die Taylorreihe um x = 0
ist
∞
X 1 (n)
f (0) xn = 0 ,
n!
n=0
sie verschwindet also identisch! Damit konvergiert die Taylorreihe, aber sie stimmt
nicht mit der Funktion f überein. Grund dafür ist, dass die Funktion f im Li-
mes x → 0 so rasch nach null strebt, dass alle ihre Ableitungen am Ursprung
ANALYSIS I 73
Diese Definition beantwortet die obigen Fragen natürlich nicht. Wir können die
Fragen jetzt aber immerhin etwas schöner formulieren als: Wann ist eine Funktion
reell analytisch? Am Beispiel von Cauchy sieht man, dass es glatte Funktionen gibt,
die nicht reell analytisch sind. Es ist nicht einfach, die reell analytischen Funktionen
allgemein zu charakterisieren. Wir geben uns hier mit einem hinreichenden Kriterium
zufrieden, das die meisten Funktionen in den Anwendungen abdecken.
Satz 6.44. Sei f ∈ C ∞ (I), und es gebe Konstanten M, r > 0, so dass für alle x ∈ I
und alle n ∈ N0 die Abschätzung
f (n) (x) ≤ n! M r−n
gilt. Dann ist f reell analytisch.
Beweis. Wir wählen 0 < δ < r. Dann ist nach der Taylorformel mit Lagrangeschem
Restglied
n
X f (k) (x0 ) f (n+1) (ξ)
f (x) = (x − x0 )k + (x − x0 )n+1 .
k! (n + 1)!
k=0
Wir können das Restglied abschätzen durch
f (n+1) (ξ) 1
(x − x0 )n+1 ≤ n! M r−n |x − x0 |n ≤ M cn
(n + 1)! n!
mit
δ
c :=<1.
r
Also konvergiert das Restglied gegen null, und die Taylorreihe konvergiert. □
Wir betrachten abschliessend das Konvergenzverhalten von Taylorreihen etwas all-
gemeiner.
Definition 6.45. Eine Reihe der Form
X∞
an z n
n=0
Beweis. Sei |z| < R. Dann gibt es ein ξ ∈ C mit |z| < |ξ|, so dass die Reihe ∞ n
P
n=0 an ξ
n
konvergiert. Folglich bilden die Glieder der Reihe an ξ eine Nullfolge. Insbesondere
sind die Glieder beschränkt, also es gibt ein c > 0 mit
an ξ n | ≤ c für alle n ∈ N .
Damit können wir die Potenzreihe folgendermaßen abschätzen,
X X z n X z n
an z n = an ξ n | ≤c .
ξ ξ
n=0 n=0 n=0
Die letzte Reihe konvergiert als geometrische Reihe. Also hat die Potenzreihe eine
konvergente Majorante und konvergiert damit
P∞ absolut.
Sei nun |z| > R. Würde die Reihe n n
n=0 an z konvergieren, so wäre an z eine
Nullfolge. Folglich wäre nach der obigen Abschätzung die Reihe
X∞
an ζ n konvergent für alle ζ mit |ζ| < |z| .
n=0
Damit gäbe es ein ζ mit |ζ| > R für welches die Potenzreihe konvergiert. Dies ist ein
Widerspruch zur Definition des Konvergenzradius. □
Der Konvergenzradius lässt sich mit dem Wurzel- oder dem Quotientenkriterium
berechnen zu
1 1
R= bzw R= .
|an+1 |
p
n
lim supn→∞ |an | lim supn→∞
|an |
Hier bezeichnet lim sup den Limes superior, der als der grösste Häufungspunkt der
Folge definiert ist.
7. Topologische Grundbegriffe
7.1. Metrische Räume. Für komplexe Zahlen haben wir bereits die Abstandsfunk-
tion d(x, y) = |x − y| kennengelernt. Wir haben auch die Kugel mit Radius r um x
definiert durch
Br (x) = {y ∈ C | d(x, y) < r} .
Wir betrachten diese Begriffe nun allgemeiner, was sich als sehr nützlich und für das
Verständnis vieler mathematischer Zusammenhänge als sehr hilfreich erweist.
Definition 7.1. Sei E ̸= ∅ eine Menge. Wir nennen eine Abbildung
d : E × E → R+
0
eine Abstandsfunktion oder Metrik falls sie für alle x, y, z ∈ E folgende Eigen-
schaften hat:
(i) d(x, y) = d(y, x) (Symmetrie)
(ii) d(x, y) = 0 ⇔ x = y (Definitheit)
(iii) d(x, y) ≤ d(x, z) + d(z, y) (Dreiecksungleichung)
(E, d) heisst metrischer Raum.
bis hier Vorlesung Wir definieren Bälle wiederum durch
31.1.2024
Br (x) := {y ∈ E | d(x, y) < r} .
Beispiel 7.2. Wir betrachten ein paar einfache Beispiele.
ANALYSIS I 75
Wir führen die Abstandsfunktion als den Euklidischen Abstand zwischen den
Vektoren ein, also v
u n
uX
2
d(x, y) := t xj − y j .
j=1
Veriziere die Eigenschaften der Metrik. Die Eigenschaft (i) ist offensichtlich. Für (ii)
können wir so schließen,
d(f, g) = 0 ⇐⇒ f (x) − g(x) = 0 ∀ x ∈ [0, 1]
⇐⇒ f (x) = g(x) = 0 ∀ x ∈ [0, 1] ⇐⇒ f =g.
Die Eigenschaft (iii) verifiziert man für f, g, h ∈ C 0 ([0, 1]) folgendermaßen,
d(f, g) = sup f (x − g(x)
x∈[0,1]
= sup f (x − h(x) + h(x) − g(x) (Dreieicksungleichung in R)
x∈[0,1]
♢
Beispiel 7.4. (Geodätischer Abstand auf Fläche im R3 ) Dieses Beispiel be-
schreiben wir der Einfachheit halber nur in Worten. Es ist als Anregung gedacht; es
genügt also, wenn Sie es auch rein anschaulich verstehen (später werden wir das al-
les sauber mathematisch beschreiben können). Wir betrachten eine zweidimensionale
Fläche E im R3 , siehe Abbildung 10. Wir nehmen an, dass wir je zwei Punkte x, y ∈ E
& *
alle Ableitungen
X
> !
verschwinden
76 F. FINSTER
-ECR
( -
-
H
E
10
(
Un He
M
gegeallet
..
zu
Z
* x
-
Abbildung 11. Aneinandersetzen und glätten von Kurven.
durch eine glatte Kurve verbinden können, die auf der Fläche verläuft (wie in Abbil-
dung 10 dargestellt). Eine solche Kurve kann beschrieben werden durch eine Abbil-
dung γ ∈ C ∞ ([0, 1], R3 ) mit den Eigenschaften
γ(0) = x , γ(1) = y und γ(t) ∈ E ∀ t ∈ [0, 1] .
Die Länge ℓ der Kurve kann berechnet werden durch
ˆ 1
ℓ(γ) = γ ′ (t) dt
0
(der Integrand ist der Betrag der “Geschwindigkeit”; diese Gleichung werden wir auch
später noch genauer kennenlernen). Man kann nun eine Metrik einführen durch
d(x, y) := inf ℓ(γ) γ verbindet x mit y . (7.1)
Man kann direkt überprüfen, dass dies tatsächlich alle Eigenschaften der Metrik hat.
Für die Dreieicksungleichung muss man dazu zwei Kurven aneinandersetzen, umpara-
metrisieren und außerdem“glätten”, so wie dies in Abbildung 11 anschaulich dargestellt
ist.
Diese Abstandsfunktion heisst auch geodätischer Abstand. Falls das Infimum in (7.1)
angenommen wird (also falls es eine glatte Kurve gibt, welche den Abstand minimiert),
so heisst die minimierende Kurve auch Geodäte. ♢
-
ANALYSIS I 77
11
D
-I
xX
A
·
diam A
Die meisten unserer Ergebnisse über Konvergenz komplexer Folgen übertragen sich
unmittelbar auf Folgen in metrischen Räumen. (Man beache jedoch, dass Reihen in
dieser Allgemeinheit keinen Sinn machen, weil man i.a. nicht addieren kann.) Wir
-
stellen die wesentlichen Begriffe nochmals zusammen. 12
⑱
Definition 7.5. Sei (xn )n∈N eine Folge in E (also xn ∈ E für
& alle n). Die Folge
X
konvergiert gegen x ∈ E, xn → x, falls
∀ε > 0 ∃N mit d(xn , x) < ε ∀n≥N.
Eine Folge (xn ) heisst Cauchy-Folge falls
∀ε > 0 ∃N mit d(xn , xm ) < ε ∀ m, n ≥ N .
Ein Punkt x ∈ E ist Häufungspunkt der Folge (xn )n∈N falls für alle ε > 0 unendlich
viele Folgenglieder in Bε (x) liegen.
Genau wie früher sieht man, dass der Grenzwert (sofern er existiert) eindeutig be-
stimmt ist. Cauchy-Folgen sind i.a. konvergent, wie man in unserem früheren Beispiel
der rationalen
√ Zahlen sieht, also E = Q und (xn )n∈N eine Folge rationaler Zahlen, die
gegen 2 ̸∈ Q konvergiert.
Definition 7.6. Ein metrischer Raum (E, d) heisst vollständig falls jede Cauchy-
Folge konvergiet.
Schließlich wollen wir den Begriff der Beschränktheit einführen.
Definition 7.7. Für A ⊂ E definieren wir den Durchmesser diam(A) (was für das
englische Wort “diameter” steht) durch (siehe Abbildung 12)
diam(A) := sup d(x, y) .
x,y∈A
Die Menge A ⊂ E heisst beschränkt falls diamA < ∞, anonsten ist sie unbe-
schränkt.
Alternativ könnte Beschränktheit auch so definieren: Die Menge A ⊂ E ist beschränkt,
falls es x und R gibt mit BR (x) ⊃ A. Dass diese alternative Definition tatsächlich äqui-
valent zu unserer Definition ist, kann man unter Verwendung der Dreiecksungleichung
beweisen.
78 F. FINSTER
-
12
⑱
&
X
7.2. Offene Mengen. Es sei wieder (E, d) ein metrischer Raum. Wir definieren die
offenen Bälle wieder durch
Br (x) := {y ∈ E | d(x, y) < r} .
Definition 7.8. (i) Eine Teilmenge A ⊂ E heisst offen falls
∀x∈A ∃ε>0 mit Bε (x) ⊂ A .
Dies ist in Abbildung 13 illustriert. Die Menge aller offenen Mengen bezichnet
wir mit O ⊂ P(A). Wir nennen O auch die Topologie von E.
(ii) Eine Teilmenge A ⊂ E heisst abgeschlossen falls ihr Komplement ∁A := E \ A
offen ist.
(iii) Sei x ∈ E. Eine Menge A ⊂ E heisst Umgebung von x falls eine offene
Menge A existiert mit x ∈ A ⊂ U .
Offensichtlich sind die Menge ∅ und E sowohl offen als auch abgeschlossen. Mit
der Dreiecksungleichung sieht man auch, dass offene Bälle stets offene Mengen sind.
bis hier Vorlesung Bei der diskreten Topologie (siehe Beispiel 7.2 (c)) sind alle Teilmengen von E offen
2.2.2024 und abgeschlossen. Im Euklidischen Raum (siehe Beispiel 7.2 (b)) ist die einpunktige
Menge {x} abgeschlossen, aber nicht offen.
Satz 7.9. Ist (Ωi )i∈I mit Ωi ∈ O (und einer beliebigen Indexmenge I) eine Familie
offener Mengen, so ist auch ihre Vereinigung offen, also
[
Ωi ∈ O .
i∈I
Ist (Ωi )i=1,...,n mit Ωi ∈ O eine endliche Familie offener Mengen, so ist auch ihr Schnitt
offen, also
Ω1 ∩ · · · ∩ Ωn ∈ O .
Beweis. Sei x ∈ ∪i∈I Ωi . Dann gibt es einen Index j ∈ I mit x ∈ Ωj . Da Ωj offen ist,
gibt es ein ε > 0 mit Bε (x) ⊂ Ωj . Dann folgt
[
Bε (x) ⊂ Ωi ,
i∈I
was zu zeigen war.
Sei nun x ∈ Ω1 ∩· · ·∩Ωn . Da jedes Ωi offen ist, existiert jeweils ein εi mit Bεi (xi ) ⊂ Ωi
(für jedes i ∈ {1, . . . , n}). Wir wählen ε = min(ε1 , . . . , εn ). Dann ist Bε (x) ⊂ Ωi für
alle i und folglich auch
Bε (x) ⊂ Ω1 ∩ · · · ∩ Ωn ,
was wiederum zu zeigen war. □
ANALYSIS I 79
Man beachte, dass unendliche Schnitte offener Mengen sind i.a. nicht offen. Das
sieht man am Beispiel in Rn
Ωn := B 1 (0) .
n
Die Mengen Ωn sind alle offen. Aber ihr Schnitt
\
Ωn = {0} ist nicht offen .
n
Durch Komplementbildung erhält man entsprechend folgendes Ergebnis für abge-
schlossene Mengen.
Satz 7.10. Ist (Ai )i∈I eine Familie abgeschlossener Mengen, so folgt
\
Ai ist abgeschlossen .
i∈I
Ist (Ai )i=1,...,n mit Ai ∈ O eine endliche Familie abgeschlossener Mengen, so ist auch
A1 ∪ · · · ∪ An ist abgeschlossen .
Definition 7.11. Sei A ⊂ E. Wir definieren
◦ [
A := B innerer Kern von A
B∈O,B⊂A
\
A := B Abschluss von A
B abgeschlossen,B⊃A
◦
∂A := A \ A Rand von A
In Worten ist der innere Kern die größte offene Menge, die in A enthalten ist. Der
Abschluss ist die kleinste abgeschlossene Menge, die A enthält.
Beispiel 7.12. Wir betrachten wieder einige Beispiele.
(a) E = C mit der Standardmetrik und sei r > 0. Dann ist
Br (0) = z ∈ C |z| ≤ r} =: A
die abgeschlossene Kreisscheibe. Da sieht man folgendermaßen. Die Menge A
ist abgeschlossen (da das Komplement offensichtlich offen ist) und entält Br (0).
Da der Abschluss der Schnitt aller solcher Mengen ist, folgt Br (0) ⊂ A. Um
Gleichheit zu zeigen, nehme umgekehrt an, dass Br (0) ̸= A. Dann gäbe es ein x ∈
A mit x ̸∈ Br (0). Dann wäre x im Komplement von Br (0). Da dieses Komplement
offen ist, gäbe es eine offene Umgebung von x, die Br (0) nicht schneidet. Das ist
ein Widerspruch.
Ausserdem ist
◦
Br (0) = Br (0)
(das ist offensichtlich, weil Br (0) schon offen ist). Damit folgt
∂Br (0) = z ∈ C |z| = r} = Sr (0) .
Der Rand der offenen Kreisscheibe ist also genau die Kreisline.
(b) Bei der diskreten Topologie ist
◦
A=A=A für alle A ⊂ E .
♢
80 F. FINSTER
◦
Satz 7.13. (i) A = x ∈ A es gibt ε > 0 mit Bε (x) ⊂ A
◦ ◦
(ii) A ⊂ B =⇒ A ⊂ B
◦
z }| { ◦ ◦
(iii) A ∩ B = A ∩ B
Beweis. (i) Setze C := {x ∈ A | ∃ ε > 0 mit Bε (x) ⊂ A . Dann ist C nach Kon-
◦
struktion offen und ist in A enthalten. Damit folgt C ⊂ A.
Für den Beweis der umgekehrten Inklusion sei Ω ⊂ A offen. Dann ist nach
Definition der Menge C auch Ω ⊂ C. Bildet man die Vereinigung über alle
◦
solche Ω folgt A ⊂ C.
(ii) Das ist offensichtlich.
◦
z }| {
(iii) Sei x ∈ A ∩ B. Dann gibt es ein ε > 0 so dass Bε (x) ⊂ A ∩ B. Nach Definition
◦
der Schnittmenge ist dann Bε (x) ⊂ A und Bε (x) ⊂ B. Es folgt, dass x in A und
◦ ◦ ◦
in B ist, also auch in A ∩ B. □
bis hier Vorlesung
7.2.2024
7.3. Teilräume, Relativtopologie. Es sei nun (E, d) wieder ein metrischer Raum
und A ⊂ E. Dann ist die Einschränkung
A, d|A×A auch ein metrischer Raum .
Die offenen Bälle dieses metrischen Raumes erhält man, indem man die offenen Bälle
in E mit A schneidet, also
BrA (x) = Br (x)E ∩ A
(wobei die Indizes zur Klarheit anzeigen, in welchem metrischen Raum man ist). Damit
folgt die einfache Beziehung
Ω ⊂ A offen ⇐⇒ es gibt V ⊂ E offen mit Ω = A ∩ V .
Diese Topologie wird die Relativtopologie von A ⊂ E genannt. Am besten sieht man
in Beispielen, wie das funktioniert.
Beispiel 7.14. Es sei E = R mit der Standardmetrik und A = (0, 1]. Dann ist die
Menge (0, 21 ] in A abgeschlossen. Außerdem ist A in A abgeschlossen.
7.4. Konvergenz und Stetigkeit. Ziel dieses Abschnittes ist es, die Begriffe Konver-
genz und Stetigkeit topologisch zu fassen. Wir beginnen mit dem Konvergenzbegriff.
Satz 7.15. Sei (E, d) ein metrischer Raum. Eine Folge (xn )n∈N in E konvergiert
genau dann gegen x ∈ E falls in jeder Umgebung von x fast alle Folgenglieder liegen.
Beweis. Die Konvergenz xn → x bedeutet, dass für jedes ε > 0 ein N existiert
mit d(x, xn ) < ε für alle n > N . Falls in jeder Umgebung von x fast alle Folgen-
glieder lieben, dann insbesondere auch in den Kugeln Bε (x). Also konvergiert dann xn
gegen x.
Gelte umgekehrt xn → x und sei Ω eine Umgebung von x. Nach Definition einer
Umgebung gibt es dann ein ε > 0 so dass Bε (x) ⊂ Ω. Nach Definition der Konvergenz
liegen dann fast alle Folgenglieder in Bε (x), damit aber auch in Ω. □
Nun zuf Stetigkeit. Dazu betrachten wir zwei metrische Räume (E, d) und (F, d′ )
und eine Abbildung f : E → F zwischen diesen Räumen. Die übliche ε/δ-Definition
der Stetigkeit lässt sich dann so formulieren:
ANALYSIS I 81
mit y := f (x). Diese letzte Schreibweise ist tatsächlich am besten geeignet für die rein
topologische Umformulierung.
Satz 7.17. Die Abbildung f : E → F ist stetig genau dann, wenn das Urbild offener
Mengen offen ist.
Beweis. Wir beweisen zunächst die Hinrichtung. Sei also f : E → F stetig und Ω ⊂ F
offen. Sei x ∈ f −1 (Ω) beliebig; wir setzen y = f (x). Da Ω offen ist, gibt es ein ε
mit Bε (y) ⊂ Ω. Da f in x stetig ist, gibt es ein δ > 0 mit Bδ (x) ⊂ f −1 (Bε (y)). Also
ist Bδ (x) ⊂ f −1 (Ω.
Für die Rückrichtung nehmen wir an, dass das Urbild offener Mengen offen ist.
Wir wollen zeigen, dass f stetig ist. Dazu wählen wir x ∈ E und ε > 0; wir setzen
wieder y = f (x). Da der Ball Bε (y) ⊂ F offen ist, ist auch sei Urbild f −1 (Bε (y)) ⊂ E
offen. Ausserdem ist offensichtlich x ∈ f −1 (Bε (y)) Also gibt es ein δ > 0 mit Bδ (x) ⊂
f −1 (Bε (y)).
=⇒ f Bδ (x) ⊂ Bε (y) ,
also ist f stetig. □
Man beachte, dass das Bild offener Mengen unter stetigen Abbildungen i.a. nicht
offen ist. Als Beispiel betrachte man E = F = R und
f :R→R, x 7→ x2 .
Dann ist f (E) = [0, ∞) nicht offen.
7.5. Topologische Räume. Wir haben gesehen, dass man viele wichtige Begriffe
aus der Analysis (wie Konvergenz und Stetigkeit) ohne Bezug auf die Metrik rein
topologisch mit Hilfe des Systems offener Mengen O ausdrücken kann. Dies ist die
Motivation dafür, dass man den bisherigen Rahmen verallgemeinert, indem man die
Topologie an den Anfang stellt.
Definition 7.18. Wir betrachten eine Menge E zusammen mit einer ausgezeichneten
Familie von Teilmengen O ⊂ P(E) mit den folgenden Eigenschaften:
(i) ∅, E ∈ O
(ii) Abgeschlossenheit unter endlichen Vereinigungen: Für alle n ∈ N und Ω1 , . . . , Ωn ⊂
E gilt
Ω1 , . . . , Ωn ∈ O =⇒ Ω1 ∩ · · · ∩ Ωn ∈ O .
82 F. FINSTER