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HUBERT

BENOIT

DIE
ÜBER

HOHE
DEN SINN DES

LEHRE
ZEN-BUDDHISMUS

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Hubert Benoit (1904–1992) war ein französischer Psychotherapeut des 20. Jahrhunderts, dessen Arbeit späte-
re Entwicklungen in der integralen Psychologie und integralen Spiritualität vorwegnahm. Sein besonderes
Interesse und sein Beitrag bestanden darin, eine wegweisende Form der Psychotherapie zu entwickeln, die
eine psychoanalytische Perspektive mit Erkenntnissen aus östlichen spirituellen Disziplinen integrierte, ins-
besondere aus dem Ch'an und dem Zen-Buddhismus. Er betonte die Rolle der spirituellen Unwissenheit der
westlichen Kultur bei der Entstehung und Fortdauer vieler zugrunde liegender Leiden. Er verwendete Kon-
zepte aus der Psychoanalyse, um die Abwehrmechanismen gegen diese grundlegende Unruhe zu erklären,
und betonte die Bedeutung einer analytischen, vorbereitenden Phase, während er vor dem warnte, was er als
die psychoanalytische Überbetonung spezi scher kausaler Vorläufer der Symptomatik ansah. Er zeigte Paral-
lelen zwischen Aspekten des Zen-Trainings und der Erfahrung der Psychoanalyse auf. Er erstellte eine Dar-
stellung in zeitgenössischen psychologischen Begriffen des entscheidenden Zen-Konzepts des Satori und
dessen Auftreten beim Einzelnen
Hubert Benoit wurde am 21. März 1904 in Nancy geboren und starb am 28. Oktober 1992 in Paris. Er absol-
vierte sein Medizinstudium in Paris, wo er 1935 seinen Abschluss machte und sich anschließend auf Chirur-
gie spezialisierte, bis 1944. Im Jahr 1944 erlitt er schwere Verletzungen während des alliierten Bombarde-
ments von Saint-Lô nach der Landung in der Normandie. In den nächsten vier Jahren unterzog er sich meh-
reren Operationen, blieb jedoch mit einer teilweise gelähmten rechten Hand zurück und konnte nicht mehr
als Chirurg arbeiten
Während seiner langen Genesung vertiefte er sein bereits bestehendes Interesse an Psychoanalyse und orien-
talischer Spiritualität. In seiner Einleitung zu "Métaphysique et Psychanalyse" drückte er seine Überzeugung
aus, dass eine höhere Wahrheit existiere, die potenziell erreichbar sei
"Als ich etwa 30 Jahre alt war, entwickelte ich durch die Werke von René Guénon insbesondere ein Be-
wusstsein für die Gültigkeit der durch den Intellekt erreichbaren Beweise. Mir wurde klar, dass es eine un-
persönliche und nicht-individuelle Art von Wahrheit gibt, die jenseits der Denksysteme liegt, die von einzel-
nen Philosophen produziert werden. Es wurde mir klar, dass jeder von uns diese Wahrheit als eine konkrete,
gelebte Realität wiederentdecken musste, und dass dies durch innere Arbeit zu erreichen war. Dies war eine
Arbeit, die nur der Einzelne durchführen konnte.
Benoits Studien führten ihn zum Vedanta und Taoismus sowie zum Zen-Buddhismus. Er war auch mit den
Arbeiten von Gurdjieff vertraut
Benoit begann seine Arbeit als Psychotherapeut in Paris im Jahr 1952. Sein Werk "Métaphysique et Psy-
chanalyse" wurde 1949 veröffentlicht, und sein bekanntestes Buch über den Zen-Buddhismus, "La Doctrine
Suprême", erschien in zwei Bänden 1951 und 1952. Im Jahr 1952 veröffentlichte er auch "Le Non-Mental
Selon La Pensée Zen", seine Übersetzung von "The Zen Doctrine of No-Mind" von D. T. Suzuki. (Suzuki
spielte eine führende Rolle bei der Einführung des Zen-Buddhismus in die englischsprachige Welt ab den
späten 1920er Jahren, war jedoch in Frankreich nicht sehr bekannt). Trotz dieser Verbindung zum Zen-Bud-
dhismus zog Benoit es vor, von Ch'an zu sprechen, anstatt vom Zen-Buddhismus, da er die ursprüngliche
chinesische Version als reinere Form der Lehre ansah
In seiner Arbeit betonte er die Bedeutung der Schaffung eines metaphysischen Rahmens, innerhalb dessen
ein intellektuelles Verständnis des menschlichen Dilemmas entwickelt werden konnte. Er schrieb
"Dr. Suzuki hat gesagt, dass Zen 'jede Form des Intellektualismus verabscheut'... Aber mein Eindruck ist,
dass Erleuchtung für den Westler doch eine gewisse intellektuelle Eingabe erfordert, wenn auch in engen
Grenzen gehalten. Der ultimative Standpunkt, der der Realität, ist klar unaussprechlich; und der Lehrer wür-
de dem Schüler schaden, wenn er ihn vergessen ließe, dass das ganze Problem genau darin besteht, die Lücke
zu überspringen, die verbale Wahrheit von echtem Wissen trennt. Aber rationale Erklärung ist erforderlich,
um Westler an den Rand dieser Lücke zu locken. Zen sagt zum Beispiel: 'Es gibt nichts Kompliziertes zu tun:
Direkt in seine Natur zu sehen, genügt.' Es dauerte Jahre der Re exion, bevor ich zu erkennen begann, wie
dieser Rat Substanz verliehen werden konnte und in unserem inneren Leben in die Praxis umgesetzt werden
konnte."

Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Hubert_Benoit_(psychotherapist)

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INHAL

EINFÜHRUNG VON SWAMI SIDDHESWARANAND 4


VORWOR 9
I. ÜBER DEN ALLGEMEINEN SINN DER ZEN-LEHR 13
II. „GUT“ UND „BÖSE 16
III. DIE VERGÖTTERUNG DES „HEILES 22
IV. DER EXISTENTIALISMUS DES ZE 24
V. DIE MECHANIK DER ANGS 31
VI. DIE FÜNF DENKWEISEN DES NOCH NICHT VERWIRKLICHTEN MENSCHEN;
PSYCHOLOGISCHE BEDINGUNGEN DES SATOR 42
VII. FREIHEIT ALS „TOTALER DETERMINISMUS 53
VIII. DIE VERSCHIEDENEN ARTEN DER ICH-BEZOGENHEI 57
IX. VOM UNBEWUSSTEN DES ZE 60
X. DIE „METAPHYSISCHE“ ANGS 64
XI. DIE SCHAU UNSERES UREIGENEN WESENS; DER ZUSCHAUER DES SCHAUSPIEL
68
XII. DIE PRAKTISCHE HANDHABUNG DER INNEREN ARBEIT AN SICH SELBST NACH
DER LEHRE DES ZE 77
XIII. DER GEHORSAM GEGENÜBER DER NATUR DER DING 82
XIV. GEFÜHLSERREGUNG UND ERREGUNGSZUSTAN 90
XV. EMPFINDUNG UND GEFÜH 102
XVI. ÜBER DAS GEFÜHLSLEBE 109
XVII. REITER UND PFER 114
XVIII. DER GRUNDIRRTUM ODER DIE „ERBSÜNDE 120
XIX. DIE STETE ALLGEGENWART DES SATOR 125
XX. ÜBER DIE PASSIVITÄT DES MENTALEN UND DIE ZERTRÜMMERUNG UNSERER
ENERGI 129
XXI. ÜBER DEN BEGRIFF DER „DISZIPLIN 140
XXII . ÜBER DIE KOMPENSATIONE 150
XXIII. VON DER INNEREN ALCHEMI 159
XXIV. VON DER DEMU 166
NACHWOR 170

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EINFÜHRUNG VON SWAMI SIDDHESWARANANDA

Die geistige Erscheinung von Dr. Benoit ist heute ein Faktum, das nicht übergangen werden kann.
Seine Werke werden früher oder später die Welt aufhorchen lassen, wie die Schriften Bergson's es
taten. Der Leser mag mit Recht nach den Gründen einer so kühnen Behauptung fragen. Und doch
erlaube ich mir jetzt schon zu sagen, dass ein Buch wie „L'évolution Créatrice“1 nur einmal im
Jahrhundert geschrieben wird. Wollte ich auf dies Problem näher eingehen, so müßte ich selbst ein
ganzes Buch darüber schreiben! Ich verzichte darauf, bitte aber den Leser, mein hohes Lob nicht als
orientalischen Überschwang aufzufassen. Die Zukunft wird für die Wahrheit meiner Behauptung
sprechen. Mit Dr. Benoit beginnt eine völlig neue Art und Weise der Betrachtung des menschlichen
Schicksals. Im Gegensatz zu Bergson aber entwickelt er eine Lehre, die metaphysisch begründet ist
und auf Überlieferung beruht.
Aus persönlicher Bewunderung für Dr. Benoit als Menschen wie als Denker sehe ich mich veran-
laßt, diese einleitenden Worte seinem Werk vorauszuschicken. Er ist einer von jenen wirklich gro-
ßen Geistern, die ich während meines vierzehnjährigen Aufenthaltes in Europa kennenlernen durfte.
Das Denken von Dr. Benoit hinterläßt zweifelsohne eine unauslöschliche Spur im Werdegang unse-
res Geistes und damit in der Struktur unserer Charakterentwicklung. Seine Lehre stellt eine Art Hy-
giene des geistigen Lebens dar, denn wir be nden uns augenblicklich im Zustand einer bedenkli-
chen Krise, welche mit dem mangelhaft funktionierenden Getriebe unserer Zivilisation zusammen-
hängt und notwendigerweise zu jener universellen Krankheit führt, welche ANGST heißt. Wir wis-
sen nicht, wie wir dem Leben begegnen sollen. Sehr treffend äußert Frau Dr. Juliette Boutonnier in
ihrer bedeutsamen Arbeit über den Begriff der Angst: „Jedenfalls lernt unsere Zivilisation ebenso
schlecht zu sterben, wie sie sich vergeblich bemüht, das Leben zu erlernen. Allenfalls entwickelt sie
schmerzstillende Drogen, welche die Todesqualen erleichtern, das ist aber so gut wie alles.“2
Das Vorwort, welches Dr. Benoit zu seinem Buch „Métaphysique et Psychanalyse“ schrieb, enthält
einen Passus, der ebenso diesem Werk als Vorwort dienen könnte, welchem ich jetzt diese beschei-
dene Einleitung hinzufüge: „Sollten die Gedankengänge dieses Buches dazu angetan sein, den mo-
dernen westlichen Leser zu überraschen, so nicht darum, weil sie in irgend einer Weise neuartig
oder kühn sind, sondern weil die überlieferte Metaphysik und mit ihr das seit Jahrtausenden zur
Menschheit gehörige Erbe an Weisheit, der sie entspringen, im Laufe der Zeiten in Vergessenheit
geraten und dem Großteil der Menschen, insbesondere im Westen, so gut wie unbekannt ist.“ ...
„Ich habe erfahren, dass es jenseits der persönlich und „L'évolution Créatrice“, subjektiv bedingten
philosophischen Systeme eine unpersönliche Wahrheit gibt.“ Das Buch, aus welchem ich diese Zei-
len zitiere, hat nicht die Aufmerksamkeit des Publikums erregt.3 Einige wesentliche Grundgedanken
des erwähnten Buches haben auf die eine oder andere Weise in vorliegendem Werk Platz gefunden.
Dr. Benoit legt hier zum ersten Mal die überkommene Lehre des Zen-Buddhismus vor, so dass sie
beim westlichen Leser inneren Zugang ndet. Dieser wird erleichtert feststellen können, dass der
spezi sch chinesische Aspekt des Mahayana-Buddhismus, jene Form des Zen, die für den Westler
ein fast unlösbares Rätsel darstellte, hier seiner östlichen Fremdartigkeit entkleidet erscheint und in
der dem Westen vertrauten dialektischen Form wiedergegeben wird. Dr. Benoit, dem Fachmann
psychologischer Analyse, ist es gelungen, sein Denken um das tiefschürfende Verständnis zu berei-
chern, welches die medizinische Beobachtung mit sich bringt. Dank diesem Verständnis, dem sich
reiche persönliche Erfahrung verbindet, hat dieses Buch eine Frische und einen unmittelbaren Kon-
takt mit dem Leben, den ein rein akademisches Werk wohl kaum aufzuweisen hätte.
Ich brauche nicht zu erwähnen, welchen Ein uß die Arbeiten Dr. Benoit's auf die augenblicklich
gültige Psychologie, wie sie auf den Universitäten und von der Mehrheit der Psychoanalytiker ge-

1 Bergson L'évolution Créatrice Alcan, Paris 1907

2 Dr. Juliette Boutonnier: „L'Angoisse“, Presse Universitaires de France, Paris.

3 Boulevard Raspail, Paris. Dr. Benoit: „Metaphysique et Psychanalyse“, Le Cercle du Livre; 66,
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lehrt wird, auszuüben berufen sind. Professor Dalbiez hat die gigantische Leistung vollbracht, die
Psychoanalyse von der Lehre Freud's zu trennen. Dr. Benoit hat in seinem Buch über die Psycho-
analyse und in diesem Buch, dass die reifsten Früchte seines Denkens enthält, sich bemüht, den
Funktionsablauf der psychischen Vorgänge im Menschen verständlich zu machen durch die Gegen-
überstellung des Zustandes, in welchem sich der Mensch be ndet, mit jenem Zustand, in dem er
sich be nden könnte, wenn seine Kon ikte einmal beseitigt waren. Dieser Funktionsablauf, wie er
sein könnte, ist keine phantastische Hypothese. Im allgemeinen stehen die Psychoanalytiker auf ei-
nem - medizinisch betrachtet - pragmatischem Standpunkt. Sie suchen die inneren Kon ikte ihrer
Patienten zu lösen, indem sie ihnen dabei behil ich sind, den verlorenen Kontakt mit der Wirklich-
keit wiederzu nden.
Dr. Benoit geht über diesen Standpunkt hinaus und versucht als Praktiker die sogenannten normalen
Fälle einer Norm zu unterwerfen, das heißt demjenigen, was wirklich n o r m a l sein könnte. Das
Wesen dieser Norm zu de nieren, ist sein Grundanliegen, die Hauptfrage seines Werkes, und hier
liegt sein außergewöhnlicher Verdienst. Ohne sich von den Methoden der Wissenschaft im mindes-
ten zu entfernen, beweist uns Dr. Benoit anhand geistiger und historischer Sachverhalte die Realität
eines n o r m a l e n Zustandes. In diesen seinen Betrachtungen über den Zen-Buddhismus entwirft
er eine genaue Studie desjenigen Zustandes, der es verdient, als normal betrachtet zu werden. Die
nicht der Norm entsprechenden menschlichen Wesen sind jene, welche von der Angst getrieben
sind. Das normale menschliche Wesen hingegen ist jenes, das von der Angst befreit ist. Die patho-
logischen Fälle, welche der klinischen Überwachung des Psychoanalytikers bedürfen, sind die Neu-
rosen und die Psychosen. Der Unterschied aber zwischen dem Neurotiker, der von einer medizini-
schen Behandlung abhängt, und uns selbst, die wir angeblich normale Fälle darstellen, ist nur ge-
ring. In Bezug auf das Normale, wenn es im absoluten Sinne des Begriffs „normal“ gebraucht wird,
sind wir alle anormal. Dr. Benoit bezeichnet den Zustand desjenigen Menschen als „natürlich“, wel-
cher zwar seine Kon ikte nicht gelöst hat, aber doch nicht soweit aus dem Gleichgewicht geraten
ist, dass er eine medizinische Behandlung in Anspruch nehmen muss. Der sogenannte normale
Mensch, wie wir ihn im großen und ganzen verkörpern, ist tatsächlich insofern der „natürliche“
Mensch, als er sich von den anormalen pathologischen Fällen unterscheidet, welche auf die Hilfe
des Psychiaters und Psychoanalytikers angewiesen sind. Aber eine große Kluft trennt den natürli-
chen vom normalen Menschen.

Ein agnostischer wissenschaftlicher Geist lehnt jede Behauptung ab, die Dinge vorbringt, welche
nicht veri ziert und kontrolliert werden können. Zu sagen, dass ein n o r m a l e r Mensch eine Rea-
lität sei, ist somit eine Behauptung, deren Wahrheit durch unser geistiges Testvermögen festgestellt
werden muss. Es ist dabei unerläßlich, gewisse Kriterien hervorzuheben und damit die Möglichkeit
zu besitzen, sich ihrer zu bedienen, ohne durch unsere „Meinungen“ und „Annahmen“ in ihrem Ge-
brauch behindert zu sein. Obwohl die Beispiele, die sich unserer Beobachtung bieten, beschränkt
sein mögen, hieße es völlig unwissenschaftlich verfahren, wollte man den Begriff des normalen
Menschen ablehnen, weil die Unterstützung der Statistik fehlt. Bei jedem Versuch einer wissen-
schaftlichen Fragestellung spielt der reine Geist der Forschung eine außerordentlich große Rolle.
Wenn unsere Untersuchung unparteiisch durchgeführt wird, werden wir den „normalen“ Menschen
als Verkörperung unserer historischen und geistigen Gegebenheiten auf nden. Dr. Benoit besitzt
den Mut zu erklären, da nur der Mensch, der den SATORI- (oder SAMBODHI)-Zustand erreicht
hat, der normale Mensch ist. Hitler hat sechs Millionen Juden umbringen lassen. In einer bestimm-
ten Epoche hat ein der Hysterie verfallener Tell der Menschheit jeden für anormal erachtet, der an-
derer Meinung war, als der vom Nazistaat diktierten. Die statistischen Berichte negierten einen
Menschen, der gesunder Auffassung war. Ebenso ist es der Gipfel an Torheit, den Menschen des
SATORI als anormal zu betrachten, weil wir alle mehr oder minder anormal sind. Uns, die wir in
einer illusorischen psychischen Spannung leben, wird die Forderung des „Loslassens“, wie sie in
diesem Buch aufgezeigt wird, zunächst als der Ausdruck einer falschen Lehre und einer unwahr-
scheinlichen Mystik erscheinen. Wir müssen uns zuerst geduldig von unserer bisherigen Vorstellung
des „Normalen“ befreien. Wir müssen das „Normale“ im Lichte eindeutiger geistiger und histori-
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scher Gegebenheiten verstehen lernen, um zum Begriff des „erfüllten“ Menschen zu gelangen - des
Menschen, der den Zustand des SATORI erreicht hat — um in ihm den normalen Menschen zu er-
kennen. Die geistige Evidenz steht in direkter Beziehung zur historischen. Die historische Evidenz
ihrerseits ist nicht durch die Zeit begrenzt. Der SATORI-Zustand ist keine zeitlich gebundene Reali-
tät. Er ist eine nichtzeitliche Wirklichkeit. Die Wahrheit des Gravitationsgesetzes existierte schon
vor Newton. Diese Wahrheit ist unzeitlicher Natur wie jede Wahrheit. Newton hat sie nur entdeckt
und dank dieser Entdeckung ist sie zur historischen Evidenz geworden und somit fähig, bewiesen
und veri ziert zu werden. Die zeitliche, historische ist dadurch zur unzeitlichen Evidenz vorgedrun-
gen.

Unser ursprünglicher Zustand ist die „Natur des Buddha“. Die Menschen, welche die nichtzeitliche
Verwirklichung erreicht haben, gaben uns die Möglichkeit, diesen Zustand in uns selbst nachzuprü-
fen und machten ihn damit historisch evident. Sie haben nichts anderes als eine bereits vorhandene
Wahrheit entdeckt. Der Schnittpunkt von Ewigkeit und Dauer ist der Augenblick. Dieser Prozess,
welcher unbewußt in uns allen, die wir das überzeitliche noch nicht verwirklicht haben, vorgeht,
wird bei den Satori-Menschen bewusst. Es ist dies keine psychologische Erfahrung, wenn wir unse-
re Psyche nur als etwas betrachten, das ohne wirkliche Kontrolle und in sehr fehlerhafter Weise
funktioniert. Jedoch ist es eine psychologische oder parapsychologische Erfahrung, wenn wir die
menschliche Psyche in ihrem ganzen Umfang verstehen, so wie sie bei den Menschen der Satori-
Erfahrung normal geworden ist.4 Die Auffassung dessen, was man unter normal versteht, ist wesent-
lich zur Korrektur der Irrtümer, die bei den mehr oder weniger anormalen Menschen vorliegen.
„Normal“ ist der Begriff, auf den wir zurückgreifen müssen, wenn wir den „natürlichen“ Menschen
in all seinen Erscheinungsformen untersuchen und ihm helfen wollen.

In der Psychoanalyse besteht eine Beziehung zwischen dem Arzt und seinem Patienten. Die Bezie-
hung, um die es sich in diesem Buch handelt, versetzt die beiden Pole des Menschen in das Innere
des Menschen selbst. Dr. Benoit unterscheidet sich in seinem Werk über die Psychoanalyse von sei-
nen Kollegen dadurch, dass er die überlieferte metaphysische Lehre als Ausgangspunkt seiner Ana-
lyse nimmt.5 Darin hat er sich von der Schule Freud's distanziert. Die Psychoanalyse darf nicht mit
der Freud'schen Lehre gleichgesetzt werden. Nach der Lektüre des Werkes „Metaphysik und Psy-
choanalyse“ haben manche Leser mir gegenüber geäußert, dass es sich hier um ein sehr „originel-
les“ Buch handle. Dr. Benoit selbst würde gegen diese Art der Betrachtung Einspruch erheben. In
einem seiner Briefe an mich bringt er seine Ablehnung jeder Theorie gegenüber zum Ausdruck, die
eine „persönliche Konstruktion“ darstellt. Das Persönliche ist das Besondere. Wenn das Besondere
sich vom Universellen ablöst, be nden wir uns im Bereich des Irrtums. Die WAHRHEIT ist über-
liefert und ewig (sanatana). Sie ist UNZEITLICH. Im Unzeitlichen, bzw. Überzeitlichen vollzieht
sich die Synthese zwischen dem Zeitlichen und dem Nicht-Zeitlichen (oder der Verneinung des
Zeitlichen), d. h. dem in Erscheinung Getretenen und dem Nicht-in-Erscheinung-Getretenen. Das
Unzeitliche ist der dreieinheitliche Begriff, der den Widerspruch zwischen dem Zeitlichen und der

4Vgl. Swami Siddheswarananda, „Essai sur la Metaphysique du Vedanta“, II. Kapitel, das dem Sri Ramana Maharshi
gewidmet ist.

5Die profane Wissenschaft entwickelt sich, während die nichtprofane Wissenschaft vom Göttlichen, traditioneller Natur
und keiner Entwicklung unterworfen ist.
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Negation der Zeit aufhebt.6 Das Unzeitliche ist nach der Vedânta „Turiya“ oder der vierte Zustand
des Bewusstseins. Er ist das PRAJNA oder SHUNYATA oder ALAYAVIJNANA des mahayani-
schen Buddhismus. Es ist eine schwierige Aufgabe, auf beiden Gebieten - in der Welt des Erschei-
nung-Gewordenen und in der Welt dessen, was noch nicht in Erscheinung getreten ist - Erfahrungen
zu beobachten. Die Beobachtung muss unparteiisch vor sich gehen und von individuellen Vorstel-
lungen und Meinungen frei sein. Dann folgt die Aufgabe, welche nicht minder große Anforderun-
gen an uns stellt, zur Synthese zwischen den beiden Begriffen zu gelangen. Eine Synthese dieser
Art beschränkt sich nicht auf einen einfachen Prozess des Intellekts. Sie muss aus dem Leben her-
aus entspringen, aus jenem Leben, in dem „denken“ und „emp nden“ eine Einheit bilden. (Um den
Vorgang dieser Synthese zu verstehen, lese man das Kapitel, welches Dr. Benoit dem Triebwerk der
Angst widmet.) Einzig eine solche Synthese ist imstande, uns vom Irrtum zu befreien. Um das zu
erreichen, müssen wir auf die höchste Stufe unserer Selbsterhellung gelangen.

Der Arzt hat auf dem Gebiete der Psychoanalyse die Aufgabe, seinem Patienten dessen innere Kon-
ikte bewußt zu machen. Das Problem der Beziehungen muss erhellt werden. Werden die Bezie-
hungen mißverstanden, stellt sich der Irrtum ein. lnnerhalb des Irrtums entstehen Halluzinationen
und Illusionen jeder Art. Im Laufe der Behandlung wird das verstehende Bewusstsein erweckt.
Wenn dieser Prozess der Bewusstmachung eine so bedeutende Rolle bei der Beseitigung des Irr-
turms spielt, dessen pathologische Varianten den Spezialisten geistiger Erkrankungen bekannt ge-
nug sind, um wieviel höher müssen wir dann noch die Bedeutung dieses Vorgangs der Bewusstma-
chung einschätzen, wenn wir den Versuch unternehmen, uns von allen Arten der Selbsttäuschung zu
befreien und unser Leben zu verändern, was nach Dr. Benoit aus dem Übergang vom „natürlichen“
zum „normalen“ Zustand des Menschen besteht!

Dies Buch ist geschrieben für Menschen, welche danach streben, normal zu werden. Es liefert uns
die notwendigen Begriffe, um uns der Beziehungen bewußt zu werden, die in uns wirksam sind: die
Beziehung, welche zwischen dem ICH und NICHT-ICH besteht, die Funktionen des Ego und seiner
Rolle und der Lösung des Problems einer „Kompensation“. Es erklärt den Sinn des delphischen
Orakels: „Mensch, erkenne dich selbst!“

Dies Buch lehrt uns, wie man objektiv die Bedingtheit des Mentalen und die Erscheinungsformen
des ICH- Prozesses erkennen kann. Das Bewusstsein von den Beziehungen gestattet uns, in ver-
nünftiger Weise auf unsere geistigen Vorgänge Ein uß zu nehmen. Der Frage des Willens kommt
dabei eine große Bedeutung zu. Das Problem des Willens ist direkt mit dem Wirken unseres Intel-
lekts verbunden. Der Wille hält eine bestimmte Richtung ein und gibt dem Handeln seine Form. Er
ist die Einheit von Verlangen und Handlung - oder auch die Handlungsfähigkeit. Der Wille, welcher
mit dem Intellekt verbunden ist, stellt nichts anderes dar als BUDDHI. Sein Handeln geht in auf-
steigender Richtung vor sich, vom Irrtum zur Wahrheit hin. Die äquivalente französische Bezeich-
nung für BUDDHI, deren sich Dr. Benoit bedient, heißt „Intelligence Indépendante“, was im Deut-
schen etwa hieße: „Unabhängig wirkendes Verstehen«.
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Die Art und Weise, wie man Buddhi oder das „Unabhängig wirkende Verstehen , bzw. die Göttliche
Vernunft erweckt, ist der Gegenstand dieses Buches, welches auch „Die Wissenschaft vom Buddhi-
Yoga“ heißen könnte. Dr. Benoit erscheint hier als wirklicher Apostel der Lehre vom „Unabhängig
wirkenden Verstehen“. Aber weder er noch ich als Autor dieses Vorwortes machen darauf Anspruch,

6Dr. Benoit erklärt in diesem Buch sehr genau den dialektischen Prozess, nach dem sich der Gegensatz von These und
Antithese in der Synthese löst. Eben dies ist der dreieinheitliche Begriff. Diese Synthese führt uns mittels des unabhän-
gig wirkenden Verstehens zu den wahren unmittelbaren Erkenntnissen: Die Verwirklichung dieser Synthese stellt die
Geburt des vier-einheitlichen Begriffes dar, welcher für uns die historische Evidenz der Wirklichkeit des Satori-Mensdi-
en ist. (Vgl. Metaphysique et Psychanalyse.)

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das Satori bereits erreicht zu haben. Wir gehören nur zu jener Art von Suchenden, welche an die
Bedeutung geistiger Zeugenschaft - so wie an das Zusammentreffen historischer Evidenz - und an
die Bedeutung solcher Menschen glauben, die das Satori-Erlebnis erlangt haben und „normal“ ge-
worden sind. Ich für meine Person hatte den Vorzug, drei Menschen zu begegnen, welche unzwei-
felhaft das Satori-Erlebnis hatten. Ohne die Sicherheit seiner eigenen Gewissheit hätte Dr. Benoit
sein Buch nicht niederschreiben können. Er hat seiner Bewunderung für Hui-neng, dem Sechsten
Patriarchen, dadurch Ausdruck verliehen, dass er mit größter Sorgfalt das kürzlich erschienene
«
Werk von Prof. Suzuki übersetzt hat, „The Zen Doctrine of No-Mind ,7 das die Botschaft Hui-
neng's wiedergibt und vermittelt. Die Tatsache, dass der Sechste Patriarch im siebten Jahrhundert
gelebt hat, während die Menschen, denen ich begegnet bin, noch gestern lebten, spielt keine Rolle
für denjenigen, der den Zustand der Erleuchtung erforscht. Sambodhi ist überzeitlich. Wer auch
immer die Bedeutung des unabhängig wirkenden Verstandes begreift, wird sie von dem Feld ihrer
Aktion nicht zu trennen vermögen. Das Aktionsfeld ist das Leben selbst. In der Erfüllung des Le-
bens besteht die historische Evidenz, die uns ein Hui-neng und ein Ramana Maharshi vorgelebt und
aufgezeigt haben. Sie bewahrt unsere innere geistige Klarheit vor jedem Widerspruch. Dies Buch ist
ein Glaubensbekenntnis in jenem Sinne, wie Professor Suzuki das Wort „Glaubensbekenntnis“ auf-
faßt. Es ist keine persönliche Konstruktion und kein Glaube im üblichen Sinne. Es ist der Weg einer
Seele, welche die Wahrheit sucht. Bis zu einem gewissen Grade ist dies Buch auch ein autobiogra-
phisches Zeugnis.

7Deutsche Übersetzung: D. T. Suzuki: Die Lehre des Nicht-Bewusstseins. (Otto Wilhelm Barth-Verlag, GmbH, Mün-
chen-Planegg 1958).
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VORWORT

Dieses Buch enthält eine gewisse Anzahl wesentlicher Begriffe, die dahin tendieren, unser Ver-
ständnis für die Fragen des menschlichen Daseins zu verbessern. Ich vermute, dass Sie einräumen,
auf diesem Gebiet noch etwas lernen zu können. Das soll kein Scherz sein. Der Mensch hat es nö-
tig, um konkret sein Leben leben zu können, sich innerlich in einer Verfassung zu be nden, als ob
er die „großen Fragen“, die seine eigene Lage betreffen, bereits gelöst oder aus dem Wege geräumt
habe. Die allermeisten Menschen denken gar nie über ihre Lage als Mensch nach, weil sie bestimmt
oder unbestimmt der Überzeugung sind, dass sie die Probleme des menschlichen Daseins begreifen.
Fragen Sie zum Beispiel verschiedene Menschen, warum sie zu leben wünschen und welches der
Grund dessen ist, was man „Selbsterhaltungstrieb“ nennt, so wird der eine Ihnen antworten: „Das ist
so, weil es nun mal so ist. Warum ein Problem in den Dingen sehen, wo keines vorhanden ist?“
Solch ein Mensch lebt im Glauben, dass diese Frage überhaupt nicht existiert. Ein anderer wird Ih-
nen entgegnen: „Ich wünsche zu leben, weil Gott es so will. Es ist Sein Wille, dass ich zu leben
wünsche und im Laufe meines Daseins mein Heil erwerbe und all die guten Taten vollbringe, die Er
von Seinen Geschöpfen erwartet.“ Dieser Mensch lebt in einem ausgesprochenen Zustand des
Glaubens. Wenn Sie weiter in ihn dringen und ihn fragen, warum Gott von ihm verlangt, dass er
sein Heil erwerbe, etc. ... wird er Ihnen schließlich antworten, dass die Vernunft des Menschen den
tiefsten Grund der Dinge weder erfassen kann noch soll. In dieser Hinsicht gleicht er dem agnosti-
schen Menschen, denn dieser wird Ihnen in der Tat entgegnen, dass ein weiser Mensch darauf ver-
zichten soll, immer die letzte Wirklichkeit der Dinge zu wissen und dass ja schließlich das Leben
auch ohne dies Wissen erträglich ist. Jeder Mensch, ob er es wahr haben will oder nicht, lebt auf der
Basis einer persönlichen „Metaphysik“, die er für richtig hält. Diese praktische „Metaphysik“ ent-
hält positive Glaubensauffassungen verschiedener Art, das, was man „Prinzipien“ oder „Werteska-
la“ nennt, oder auch einen negativen Glauben, den Glauben an die Unmöglichkeit, dass der Mensch
die letzte Wirklichkeit, welchen Dinges es auch sei, zu erkennen vermöge. Der Mensch vertraut im
allgemeinen seiner ausgesprochenen oder unausgesprochenen „Metaphysik“, dass heißt er hat das
sichere Gefühl, auf diesem Gebiet nichts erlernen zu müssen. Aber gerade darin, wo er am sichers-
ten scheint, ist er am unwissendsten, und doch hätte er auf diesem Gebiet wirkliche Sicherheit und
wahres Wissen am nötigsten.

Da ich über die Probleme des menschlichen Daseins geschrieben habe, darf ich mich, darauf gefaßt
machen, besonders selten jenen Menschen zu begegnen, die mein Buch mit offenem Geist lesen
werden. Hätte ich mich über die vor-kolumbische Kultur oder über irgendeine Kunstlehre verbrei-
tet, würde mir der Leser sicherlich gerne zugestehen, dass er etwas bei mir lernen kann. Da ich aber
von den innersten Belangen seiner selbst spreche, besteht alle Aussicht, dass er von vorne herein
Widerstand leistet und sich verschließt mit der Bemerkung, dass „ich ihn schließlich doch nichts
lehren könne, was ihn selbst beträfe“. Ich hingegen kann Ihnen nichts vermitteln aus dem Gebiet,
von dem ich schreibe, wenn Sie mir nicht einräumen, dass Sie noch etwas dabei lernen können. Der
Leser, an den ich mich mit meinem Buch wende, gibt zu, dass sein Verständnis der Fragen des men-
schlichen Daseins möglicherweise verbessert werden kann. Er läßt andrerseits - unter Vorbehalt der
Untersuchung - die Vermutung offen, dass mein Verständnis dem seinen überlegen ist und ich ihn
deshalb zu unterrichten vermag. Und, was letzten Endes das Schwerste ist, er beläßt es nicht bei je-
ner Haltung der Resignation, nach der die letzte Wirklichkeit der Dinge für ihn immerdar uner-
reichbar sein wird. So nimmt er wenigstens hypothetisch die Möglichkeit des Vorhandenseins des-
sen an, was der Zen „Satori“ nennt, nämlich die Möglichkeit einer Verwandlung des inneren men-
schlichen Funktionsablaufes, die ihm schließlich zum glückhaften Bewusstwerden seines absoluten
Wesens verhilft.

Nehmen wir an, Sie räumen die drei Vorstellungen ein; die Möglichkeit, Ihr Verständnis der Fragen
des menschlichen Daseins zu verbessern, die Möglichkeit, dass ich Ihnen bei dieser Arbeit behilf-
lich sein kann und die Möglichkeit, dass der Mensch eine radikale Änderung seiner natürlichen Da-
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seinsbedingungen erreichen kann, so wird die Lektüre dieses Buches für Sie vielleicht kein Zeitver-
lust sein. Im entgegengesetzten Falle würden Sie sicherlich nur Ihre Zeit vergeuden, und davon
müßte ich Ihnen abraten. „Aber,“ werden Sie mir entgegnen, „wenn ich auch mit diesen drei
Grundvoraussetzungen nicht einverstanden bin, könnte Ihr Buch doch dazu beitragen, sie mir
glaubhaft und annehmbar zu machen?“ Gerade dies aber ist ausgeschlossen. Im Bereich des Ge-
fühlslebens kann ein Mensch den andern beein ussen, er kann ihm Gefühle und Gedanken, die auf
Gefühlen beruhen, nahebringen. Er kann ihn hingegen nicht auf dem rein intellektuellen Gebiet be-
ein ussen, dem einzigen Bereich, wo wir schon jetzt Freiheit genießen. Ich kann Ihnen rein intel-
lektuelle Gesichtspunkte aufdecken, die bisher latent in Ihnen ruhten. Da sie im Dämmerzustand
schon vorhanden waren, brauche ich sie nur zu erhellen. Aber nichts von dem, was man als rein „in-
tellektuell“ oder „geistig“ bezeichnen kann, vermag ich von außen her in Sie hinein zu verlegen.
Wenn Sie zum Beispiel beim Lesen meines Buches den Eindruck gewinnen, dass in Ihrem Denken
eine deutliche Bejahung des möglichen „Satori“ au euchtet, so geschieht dies nur aus dem Grunde,
dessen seien Sie versichert, weil diese Bejahung mehr oder weniger latent schon in Ihnen früher
vorhanden war. Die Lektüre meines Buches kann für Sie fruchtbar sein, auch wenn Sie die erwähn-
ten drei Grundvoraussetzungen nicht mit voller Entschiedenheit und Klarheit annehmen. Es ist aber
nötig, dass Sie die Möglichkeit dieser Voraussetzungen einräumen. Vor allem wäre es hinderlich,
wenn Sie von Beginn an eine feindliche Haltung mitbrächten. Ist Ihre Einstellung ausgesprochen
gegnerisch, so werde ich Sie nicht überzeugen können und würde mir nicht einmal die Mühe neh-
men, Sie zu überzeugen. Die metaphysischen Begriffe gehören nicht dem Bereich des Beweisbaren
an. Jeder von uns kann ihnen nur in dem Maße beip ichten, in dem er intuitiv in ihnen die Klärung
sonst unerklärbarer Erscheinungen erkennt.
Alles bisher Gesagte soll ein grundsätzliches Missverständnis, das vermieden werden muss, aus
dem Wege räumen. Es gibt noch andere, weniger wichtige Missverständnisse, auf die wir jetzt ein-
gehen werden.

Sie werden so gut wie nichts von diesem Buch haben, wenn Sie es in die Hand nehmen wie einen
„Reader's Digest“, der Ihnen „Das Wissenswerte über den Zen-Buddhismus“ bringt. Zunächst ein-
mal verbietet sich bei Gegenständen dieser Art eine „volkstümliche“ Darstellungsweise von selbst.
Es gibt kein Schriftstück, das Sie schnell in den Geist des Zen einführen könnte. Außerdem ist mein
Buch tatsächlich für Menschen geschrieben, die schon viel über die Metaphysik des Orients und
Fernen Ostens nachgedacht, sowie das Wesentliche auf diesem Gebiete gelesen haben und sich um
ein Verständnis bemühen, das dem Geist des Westens angepaßt ist. Der Leser, an den ich mich wen-
de, kennt etwa „The Zen Doctrine of No-Mind“ von Dr. D. T. Suzuki, oder wenigstens die früheren
Bücher desselben Autors, soweit sie übersetzt sind.

Ich will nicht behaupten, dass meine Versuche einer etwaigen Zen-„Orthodoxie“ entsprechen. Die
Ideen, denen ich hier Ausdruck verleihe, entstanden in mir ganz einfach dadurch, dass ich den
Standpunkt des Zen annahm, so wie ich ihn aus den Büchern, die ihn erklären, verstanden habe. Das
ist alles. Im übrigen ist es unstatthaft, von „Orthodoxie“ in diesem Zusammenhang zu sprechen, da
das Zen in keiner Weise eine „systematische“ Lehre vorstellt. Das Zen vergleicht jede Art von Un-
terweisung mit einem Finger, der auf den Mond hindeutet; es warnt uns unaufhörlich vor dem Irr-
tum, die Wirklichkeit in diesem ausgestreckten Finger zu sehen, der nichts als ein Mittel ist und in
sich selbst keine Bedeutung hat. Ebenso wenig nenne ich mich „Eingeweihter des Zen“. Das Zen ist
keine Kirche, in welcher oder außerhalb welcher man sich be nden könnte. Es ist ein universeller
Gesichtspunkt, jedem zugänglich, keinem auferlegt. Es ist keine Partei, deren Mitgliedschaft man
erwerben oder der man sich verp ichten muss. Ich kann mich des Zen-Standpunktes bedienen auf
meiner Suche nach der Wahrheit, ohne, im wörtlichen oder übertragenen Sinne, mich in chinesi-
schem oder japanischem Gewande zu bewegen. Im Bereich des reinen Denkens verschwinden alle
Etiketten, und die Kluft zwischen Orient und Okzident wird belanglos. Ich persönlich bin Westler in
dem Sinne, dass ich einen bestimmten westlichen Stil des Denkens vertrete. Aber das hindert mich,
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nicht, geistig den Orientalen zu folgen und ihre Auffassung der Probleme des menschlichen Daseins
zu teilen. Ich brauche keineswegs das Evangelium zu verbrennen, um Hui-neng zu lesen. Weil ich
westlich denke, habe ich dies Buch so geschrieben, wie es geschrieben ist. Dr. Suzuki sagt, dass „im
Zen jede Form von Intellektualismus verpönt ist“. Die Meister des Zen geben in ihren Abhandlun-
gen keine Antworten auf Fragen, die man ihnen gestellt hat. Sie ziehen es vor, mit einem rätselhaf-
ten Wort oder durch Schweigen zu antworten. Manchmal wiederholen sie auch die gestellte Frage
oder versetzen dem Fragenden gar einen Hieb. Ich habe den Eindruck, dass Abhandlungen zur Auf-
klärung des westlichen Menschen bis zu einem gewissen Grade nötig sind. Sicherlich ist der letzte,
wirkliche Gesichtspunkt nicht mitteilbar, und der Lehrer würde dem Schüler nur schaden, wenn er
ihn vergessen ließe, dass das Problem gerade darin besteht, den Graben zu überspringen, der die
Ausdruck gewordene Wahrheit von der wirklichen Erkenntnis trennt. Der Westler braucht aber eine
diskursive Erklärung, an Hand derer er bis zu dem Rand dieses Grabens geführt wird. Es heißt zum
Beispiel im Zen: „Der Mensch braucht nichts Kompliziertes zu vollbringen. Es genügt, dass er un-
mittelbar in sein eigenes Wesen schaut.“ Was mich betrifft, so habe ich Jahre dazu gebraucht, um
langsam eine wirkliche Vorstellung davon zu bekommen, wie dieser Rat praktisch und konkret in
unserem Innenleben durchzuführen ist. Und ich vermute, dass viele meiner westlichen Freunde sich
in einer ähnlichen Lage be nden.

Der Stil meines Buches ist zwar in gewissem Sinne westlich, unterscheidet sich aber gerade durch
den besonderen Charakter des Zen-Standpunktes von jenem architektonisch klaren und geordneten
Stil, der dem „cartesianischen“ Zug unseres Denkens so sehr entspricht. Innerhalb jedes Absatzes
besteht wohl eine logische Ordnung, die sich aber nicht auf das Ganze aller Kapitel, auf das Buch
als Ganzes erstreckt. Fortwährend treten „Sprünge“ auf, welche den annehmlichen Faden der Logik
reißen lassen. Die einzelnen Kapitel sind in einer gewissen Folge aneinandergereiht, aber nichts
würde sich wesentlich ändern, wenn man sie anders aufeinander folgen lassen würde. In diesem und
jenem Kapitel scheinen sich einzelne Sätze, wenn man sie wörtlich versteht, gegenseitig zu wider-
sprechen. Der westliche Leser muss dies vorher wissen, sonst erwartet er ohne weiteres eine korrekt
von A bis Z durchgeführte, überzeugende Beweisführung, versucht, Inhalt und Gehalt des Buches
mit seinem „vorgefaßten“ Rahmen zu verwechseln und wird die Lektüre schnell aufgeben.
Ich möchte wiederholen, dass diese Schwierigkeit mit der Natur der Zen-Auffassung selbst zusam-
menhängt. In den meisten andern Lehren begreift der vorgesetzte Blickpunkt einen gewissen unver-
änderlichen Teil des Blickfeldes mit ein. Wenn ich einen komplexen Gegenstand von einem einzi-
gen Ausgangspunkt aus betrachte, erblicke ich seine Projektion in meiner Netzhaut. Diese Projekti-
on setzt sich aus Linien und Flächen zusammen, welche in dauernder wechselseitiger Beziehung
stehen. Das Zen hingegen legt keinen Wert auf die Theorie als solche, auf das Blickfeld, unter dem
es den Rauminhalt der Wirklichkeit erkennen kann. Nur diese Wirklichkeit selbst interessiert das
Zen, und es hat keine Hemmungen, dies so komplexe Objekt von allen Seiten zu betrachten, um die
verschiedensten Erkenntnisse zu gewinnen, die in unserm Geiste in eine unformale Synthese einge-
hen.

Die Zen-Lehre vergöttert keinen Formalbegriff und hat also die Freiheit, sich zwanglos aller er-
denklichen Formalbegriffe zu bedienen, ohne sich um deren scheinbare Widersprüche zu kümmern.
Diese ungebundene Benutzung der Ideen erlaubt es dem Zen, sich in freier Weise alle Ideen nutzbar
zu machen, ohne selbst ihnen unterworfen zu sein. Der Gesichtspunkt des Zen beschränkt sich also
nicht auf ein bestimmtes Blickfeld, sondern enthält alle möglichen Blickfelder. Der Leser meines
Buches soll wissen, dass keinerlei synthetisches Verständnis gleichsam durch Verkörperung in die-
sem Text von meinem Geist in den seinen übergehen kann. Die Synthese muss sich in seinem eige-
nen Geist vollziehen, auf die ihm selbst gemäße Weise, so wie sie sich in meinem Geiste auf die mir
gemäße Art vollzieht. Niemand kann diese Arbeit für uns tun. Mein Text bringt nur gültige Elemen-
te für das Zustandekommen dieser Synthese. Die diskursive Ordnung - gleichgültig, ob diese Ele-
mente in ihr streng logisch oder mit logischen Sprüngen wiedergegeben sind - muss so genommen
werden wie sie ist. Es darf kein Anspruch auf formal harmonischen Aufbau erhoben werden, der nur
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der bloße Anschein einer wahren geistigen Synthese wäre, die im tiefsten Inneren unseres Wesens
begründet sein muss.

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I. ÜBER DEN ALLGEMEINEN SINN DER ZEN-LEHR

Seit urdenklichen Zeiten erwägt der Mensch die Probleme seines Seins, er denkt darüber nach, das
er nicht so ist, wie er sein möchte und deutet mehr oder weniger richtig die Fehler seines Hand-
lungsmechanismus, das heißt er übt Selbstkritik. Diese Arbeit der Kritik fällt manchmal primitiv
aus, oft aber erreicht sie in einer Reihe von Lehren einen hohen Grad von Tiefe und subtiler Genau-
igkeit. Die unerwünschten Erscheinungsformen des inneren menschlichen Funktionsablaufes, so-
weit sie sich auf den Durchschnittsmenschen beziehen, sind häu g und genau erkannt und beschrie-
ben worden.

In Hinblick auf die Fülle dieser Art von Erkenntnisarbeit nimmt die geringe Leistung auf therapeuti-
schem Gebiet Wunder. Die Lehren, die einst und jetzt Aussagen machten über das Problem des
Menschen und Grund wie Art untersuchen, warum der Mensch schlecht funktioniert, kommen not-
wendigerweise zur Fragestellung: „Wie kann man diesem Zustand der Dinge abhelfen?“ Gerade
hier aber herrscht Unstimmigkeit, und angesichts dieser Frage erweisen sich die jeweiligen Lehren
als dürftig. Fast alle Schulen weichen aus, die einen umgehen die Frage einfach grob hin, die andern
machen spitz ndige Aus üchte. Eine Ausnahme ist nur die Zen-Lehre (und auch hier muss man
präzisieren: einige Zen-Meister).

Das soll nicht heißen, dass es in andern Schulen nicht auch einzelne Männer gegeben hat, die ihre
eigene „Verwirklichung“ erreicht haben. Eine deutliche Auslegung aber der Frage, eine klare Zu-
rückweisung der irreführenden Wege zu diesem Ziel ndet sich nur im reinen Zen.

Der Hauptirrtum der falschen Methoden besteht darin, dass das vorgeschlagene Heilmittel nicht den
tiefer liegenden Grund der Leiden des gewöhnlichen Menschen berücksichtigt. Die kritische Analy-
se der Probleme des Daseins dringt nicht tief genug ein in die tiefere Bedingtheit der innermensch-
lichen Erscheinungen. Sie stößt bei dieser Verkettung von Ursachen nicht bis zur letzten Ursache
vor. Zu schnell bleibt sie bei der bloßen Schilderung von Symptomen stehen. Der Untersuchende
sieht nur das Symptom selbst, und wenn seine diesbezügliche Analyse zu Ende ist, macht er halt. So
kann er natürlich für die jeweilige Situation nur ein künstlich erdachtes Heilmittel in Betracht zie-
hen, das ganz einfach eine dem jeweils schädlichen Symptom entgegen gesetzte Situation erzeugen
soll. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Mensch kommt zu der Folgerung, dass sein ganzes Unglück an
seinen Ausbrüchen von Zorn, Eigenliebe, Sinnlichkeit etc. läge. Er erwartet sich Besserung durch
den Versuch, Freundlichkeit, Bescheidenheit und. ein asketisches Verhalten an den Tag zu legen.
Ein anderer etwa, ein intelligenterer Mensch, wird zu der Folgerung gelangen, dass sein Unglück
auf seiner inneren Erregbarkeit beruhe und wird durch geeignete Übungen versuchen, innerlich zur
Ruhe zu kommen. Eine Lehre dieser Art würde lauten: „Unser Unglück hängt damit zusammen,
dass wir immer etwas wünschen und an dem hängen, was wir besitzen.“ Je nach dem Grad der Ein-
sicht des Lehrers läuft dies auf den Vorschlag hinaus, die Güter des Menschen zu verteilen oder zu
lernen, sich innerlich von jenen Gütern zu lösen, welche man nach außen hin beibehält. Diese Lehre
sieht den Hauptgrund des Unglücks des Menschen in seiner mangelnden Selbstbeherrschung. Sie
wird zu Yoga-Übungen raten, d. h. zu Methoden, welche eine fortschreitende Disziplinierung des
Körpers oder des Gefühls, des selbstlosen Verhaltens, des Wissens oder der Aufmerksamkeit zum
Ziele haben.

All dies käme nach der Lehre des Zen nur der Abrichtung eines intelligenten Tieres gleich und führt
zur Knechtung des Menschen oder zu Ähnlichem, wobei eine erhebende Illusion im Menschen den
Eindruck erweckt, er sei frei. Hinter all diesen Gedankengängen steckt die einfache Überlegung:
„Aus folgender offensichtlicher Tatsache geht es nicht voran mit mir, nun gut, so will ich in Zukunft
das Gegenteil tun.“ Diese Art der Fragestellung, insbesondere, wenn eine Form als solche schlecht
beurteilt wird, hält den Studierenden im Bereich des Formalen begrenzt, so dass er es notwendiger-
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weise ablehnen muss, sein Bewusstsein außerhalb jeglicher Form zu erneuern, Solange ich mich im
Rahmen der dualistischen Ebene bewege, fehlt mir jeder überzeugende Hinweis, der mich aus der
Illusion des Dualismus herausreißen, in die große Einheit aufnehmen und in ihr gesunden lassen
könnte. Dies entspricht haargenau dem Problem „Achilleus und die Schildkröte“. Die Art der Fra-
gestellung schon hält den Fragenden in den Grenzen zurück, die er überschreiten soll, und so bleibt
die Frage unlösbar.

Das tiefschürfende Denken des Zen hingegen durchdringt alle unsere Erscheinungen, und begnügt
sich nicht, nur deren Formen zu berücksichtigen. Dem Zen ist bewusst, dass in Wirklichkeit nichts
schlecht in uns selbst funktioniert und wir nur deshalb leiden, weil wir dies nicht begreifen, weil wir
in der illusorischen Annahme befangen sind, dass wir das Wirken unseres inneren Getriebes verbes-
sern müssten. Andrerseits wäre es natürlich absurd, zu behaupten, dass alles Leid des Menschen nur
daher rühre, dass er in der illusorischen Annahme lebt, es fehle ihm etwas, da doch das „Übel“, von
dem die Rede ist, keine Wirklichkeit besitzt. Eine illusorische Annahme, eine Annahme ohne Wirk-
lichkeit, kann ja nie der Grund für etwas Wirkliches sein. Genau genommen kann ich übrigens in
mir tatsächlich nicht die Annahme vor nden, dass mir etwas fehle. Wie könnte auch die illusorische
Annahme von irgendetwas nicht Vorhandenem tatsächlich gegenwärtig sein? Ich stelle nur fest, dass
mein Innenleben funktioniert, als ob diese Annahme vorhanden sei. Meine innere Welt funktioniert
so, nicht auf Grund des Vorhandenseins dieser Annahme, sondern weil die unmittelbare geistige In-
tuition, dass mir nichts fehlt, im Grunde meines Bewusstseins schläft und noch nicht aus ihrem
Dämmerzustand erwacht ist. Sie ist vorhanden, denn eigentlich fehlt mir nichts, aber sie schläft und
erzeugt somit keinerlei Wirkung. Mein ganzes offensichtliches „Übel“ hängt mit der Tatsache zu-
sammen, dass mein intuitiver Glaube an die vollkommene Wirklichkeit sich im Schlafzustand be-
ndet. Wach in mir sind vorläu g nur „Annahmen“, und diese zeigen sich in allem, was mir meine
Sinne und mein auf der Ebene des Dualismus arbeitender Geist aufweisen. Es sind somit Annah-
men, die die Existenz einer vollkommenen, einzigen Realität ausschließen. Sie sind illusorische
Gebilde, besitzen keine Wirklichkeit und hängen mit dem Schlafzustand meines Glaubens zusam-
men. Ich bin ein „wenig gläubiger Mensch“, genauer noch ein glaubensloser Mensch, oder besser,
ich bin ein Mensch, dessen Glaube schläft und der nur an das glaubt, was er in dem Bereich der
Form erkennt. (Dieser Begriff des vorhandenen, aber schlafenden Glaubens erklärt unser Bedürfnis
nach der Gestalt eines „Erweckers“, einer Lehre, einer Erhellung, durch die wir befreit würden. Es
liegt ja eben im Wesen des Schlafes, dass der Schlafende sich dessen, was ihn erwecken könnte,
nicht bewusst ist.)

So scheint alles schlecht in mir zu funktionieren, weil die Grundidee, dass alles vollkommen, ewig
und völlig positiv ist, im Zentrum meines eigenen Wesens schläft und nicht zu Leben und Wirklich-
keit erweckt ist. Hier berühren wir den ersten schmerzhaften Punkt, mit dem alle unsere andern
schmerzhaften Erscheinungen zusammenhängen. Der Schlafzustand unseres Glaubens, d. h. unserer
intuitiven Gewissheit, der vollkommenen und einzigen Realität, außer welcher nichts wirklich „ist“,
stellt den Ausgangspunkt einer Kette falscher Vorstellungen dar. Keine Therapie gegen das illusori-
sche menschliche Leiden kann wirksam sein, wenn sie nicht diesen Grundirrtum an der Wurzel
packt.

Auf die Frage „Was muss ich zu meiner Befreiung tun?“, antwortet das Zen „Du musst nichts tun,
da du nie gefangen worden bist und es in Wirklichkeit nichts gibt, von dem da dich befreien müss-
test.“ Diese Antwort kann missverständlich und entmutigend erscheinen, weil sie das Wort „Tun“ in
zweideutigem Lichte lässt. Bei dem Durchschnittsmenschen löst sich das Tun in dualistischer Weise
auf in Denken und Handeln und nur auf die Handlung, die Ausführung des Gedachten, wendet der
Mensch das Wort „tun“ an. In diesem Sinne hat das Zen recht, dass wir nichts zu „tun“ haben. Un-
ser „Tun“ wird harmonisch und spontan vor sich gehen, wenn wir erst einmal aufgeben, es auf ir-
gend eine Weise verändern zu wollen und wenn wir ausschließlich daran arbeiten, den schlafenden
Glauben in uns zu erwecken, das heißt diejenige Grundidee klar zu verstehen, die allein für uns von
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wirklichem Interesse ist. Diese in sich geschlossene und gewissermaßen bewegungslos ruhende Ge-
samtidee führt natürlich zu keinerlei besonderer Handlung, schließt keinerlei besondere Dynamik in
sich. Sie ist diese zentrale Reinheit des Nicht-Handelns, durch die hindurch der spontane Strom des
wirklichen natürlichen Lebens in ungetrübter Weise ießen kann. Dieses Verständnis wecken und
p egen ist tatsächlich auch ein wahres „Nichts-Tun“, wenn Tun das heißt, was es notwendigerweise
für den Durchschnittsmenschen bedeutet. Ja mehr noch, das Erwachen dieses Gedankens in unse-
rem Bewusstsein äußert sich praktisch sogar durch eine (zum völligen Aufhören strebende) Verän-
derung aller über üssigen Handhabungen, mit denen der Mensch bis dahin die Erscheinungen sei-
nes Innenlebens gewaltsam zu verändern suchte. Allerdings kann man sagen, dass das Bemühen,
eine Idee zu erfassen, auch eine Art von „Tun“ ist. Da aber das Wort „tun“ für den Durchschnitts-
menschen die eben erwähnte Bedeutung hat, erscheint es besser, um jedem gefährlichen Irrtum vor-
zugreifen, im Sinne des Zen zu sprechen. Das heißt aufzuzeigen, dass das Bemühen, das die men-
schliche Angst beseitigen kann, eine Arbeit des reinen Intellektes ist und nicht erfordert, dass man
irgendetwas Besonderes in seinem inneren Leben „tue“, sondern dass man im Gegenteil aufhöre,
irgend eine Veränderung im Innern herbeiführen zu wollen.

Betrachten wir die Frage noch genauer. Die Arbeit, welche den Glauben an die einzige und voll-
kommene Wirklichkeit unseres Seins erweckt, geht in zwei Perioden vor sich. Im ersten vorläu gen
Stadium gewahrt unser diskursives Denken alle nötigen Ideen, um theoretisch das Vorhandensein
dieser intuitiven „Gewissheit“ dieses in uns schlafenden Glaubens zu verstehen, wie auch die Mög-
lichkeit seiner Erweckung zu entdecken und zu erkennen, dass nur diese Erweckung unseren illuso-
rischen Leiden ein Ende bereiten kann. Auf dieser Vorstufe kann die ausgeübte Tätigkeit auch als
„Tun“ gelten. Angenommen aber, dies theoretische Verständnis sei erworben, so ändert es noch
nichts an der Natur unseres Leidens. Das Verstehen muss sich zu gelebtem, lebendigem Verständnis
umformen, unser Gesamtorganismus muss davon durchdrungen sein, theoretisches und praktisches
Verständnis müssen eins werden, abstrakt und konkret zugleich. Erst dann ist unser Glaube wirklich
erweckt. Aber diese Verwandlung, dieses Zersprengen der Form, kann nicht das Ergebnis eines di-
rekten Bemühens sein, denn der Durchschnittsmensch p egt blind zu sein für alles, was außerhalb
einer festen Form liegt. Es gibt keinen bestimmten „Weg“ zur Befreiung; wie gäbe es ihn auch, da
wir doch in Wirklichkeit nie unfrei waren und es auch weiterhin nicht sein werden. Wir müssen nir-
gendwo „hingehen“ und es gibt auch nichts zu „tun“. Der Mensch braucht auf direkte Weise nichts
zu unternehmen, um seine völlige und unendlich beglückende Freiheit zu erfahren. Was er tun
muss, geht auf indirekte und negative Weise vor sich. Was er dank seiner Arbeit begreifen soll, ist
die Tatsache, dass alle „Wege“, die er plant oder beschreiten will, nur eine täuschende Illusion sind.
Hat der Mensch auf Grund ausdauernder Bemühungen klar verstanden, dass alles was er zu seiner
Befreiung tun kann, nichtig ist, hat er in konkreter Weise den Begriff aller vorgestellten „Wege“ in
sich ausgemerzt, dann wird „Satori“ ausgelöst und mit ihm die wirkliche innere Gewissheit er-
weckt, dass es keinen Weg gibt, den wir in irgend einer Weise gehen könnten, da wir von Ewigkeit
her im einzigen und prinzipiellen Zentrum aller Dinge waren.

Das, was wir unter „Befreiung“ verstehen, bedeutet somit das Verschwinden der Illusion, unfrei zu
sein. Wir erlangen diese Befreiung in chronologischer Aufeinanderfolge durch die innere Arbeit an
uns selbst, wenn die Befreiung auch im Grunde nicht durch sie verursacht ist. Diese innere, formale
Arbeit kann nicht etwas erzeugen, was jenseits jeder Form, folglich auch jenseits ihrer selbst liegt.
Sie ist nichts, als das Instrument, durch das der Urgrund wirksam wird.

So besteht also die berühmte „enge Pforte“ nicht auf formale Weise, ebenso wenig wie der „Weg“,
der zu ihr führt. Es sei denn, man wollte dieses Begreifen, dass es weder Weg noch Pforte, Richtung
oder Zielpunkt gibt, so benennen. Dies ist das große Geheimnis und zugleich die große offensichtli-
che Klarheit, die uns die Meister des Zen enthüllen.

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II. „GUT“ UND „BÖSE

Bekanntlichermaßen schildert uns die traditionelle


Metaphysik die fortdauernde Schöpfung des Uni-
versums als das sich versöhnende und versöhnte
Spiel zweier entgegengesetzter und sich ergän-
zender Kräfte. Die Schöpfung ist danach das Er-
gebnis dreier Kräfte: einer positiven, einer negati-
ven und einer versöhnenden Kraft
Dieses „Gesetz der Drei“ kann durch ein Dreieck
symbolisch dargestellt werden: die beiden unteren
Spitzen des Dreiecks stellen die beiden unteren
Prinzipien der Schöpfung dar, das positive und
das negative Prinzip. Die obere Dreiecksspitze
stellt das Obere oder Versöhnende Prinzip dar. Die
beiden unteren Prinzipien entsprechen nach der
chinesischen Lehre den beiden großen kosmi-
schen Kräften (Positives/Negatives) von Yang:
(positiv, männlich, trocken, unteres Prinzip warm)
und Yin: (negativ, weiblich feucht, kalt). Zugleich
entsprechen sie dem Roten und dem Grünen Drachen, deren unaufhörlicher Kampf die fortdauern-
de Schöpfung der „Zehntausend Dinge“ bedeutet

Das Diagramm des T'ai-ki enthält einen schwarzen Teil, das Yin, und
einen weißen Teil, das Yang, genau gleich große Flächen und einen
Kreis, der beide Flächen umgibt und das Tao heißt (Oberes Versöh-
nendes Prinzip). Die schwarze Fläche enthält einen weißen Punkt und
die weiße Fläche einen schwarzen, um zu verdeutlichen, dass kein
Element der Schöpfung völlig positiv oder völlig negativ ist. Der ur-
sprüngliche Yang-Yin-Dualismus enthält alle erdenklichen Gegensät-
ze: Sommer-Winter, Tag- Nacht, Bewegung-Unbeweglichkeit,
Schönheit- Hässlichkeit, Wahrheit-Irrtum, Aufbau-Zerstörung, Leben-
Tod, etc
Dieser letzte Gegensatz ist ganz besonders in einer der hinduistischen
Triadenlehren beleuchtet worden, auf die wir noch zu sprechen kom-
men: unter Brahma, dem obersten Prinzip, ist die Schöpfung das
gleichzeitige Werk von Vishnu, dem „Bewahrer der Lebewesen“, und
von Shiva, dem „Zerstörer der Lebewesen“.

Die Schöpfung des Universums, wie wir es erkennen, vollzieht sich in der Zeit. Das heißt, das Spiel
der beiden unteren Prinzipien ist zeitlich. Aber diese beiden Prinzipien selbst dürfen nicht als zeit-
lich betrachtet werden, da man sie nicht den Grenzen unterwerfen kann, die ihr Spiel hervorbringt.
Sie nehmen eine vermittelnde Stellung ein und sind zwischen dem Oberen Prinzip und der Schöp-
fung des Universums gelegen, welche die Manifestation dieses Prinzips darstellt. Die ganze Schöp-
fung des Universums spielt sich somit in der Zeit ab, aber sie selbst ist ein zeitloser Vorgang, dem
man Anfang und Ende weder zu noch absprechen kann, da diese Worte außerhalb der Grenzen der
Zeit jeglichen Sinnes entbehren. Die modernsten wissenschaftlichen Theorien von heute nähern sich

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hier der Metaphysik und fassen für das konkrete Universum weder einen Anfang noch ein Ende ins
Auge.

All dies muss man begreifen, um sich endgültig von jener kindlichen Vorstellung zu lösen, nach der
ein in anthropomorpher Art gesehener Schöpfer einst die Bewegung des Universums in Gang ge-
setzt hätte. Mein Körper zum Beispiel ist nicht nur an dem Tage seiner Zeugung entstanden. Er wird
immerdar aufs Neue geboren. Jeden Augenblick meines Lebens vollzieht sich in meinem Körper
Geburt und Tod der Zellen, aus denen er zusammengesetzt ist. Der ausgewogene Kampf in mir von
Yang und Yin gebiert mich immer neu, bis zu meinem Tode. Innerhalb dieser nichtzeitlichen Triade,
die unaufhörlich unsere zeitliche Welt neu gebiert, erkennt man die völlige Gleichheit der zwei un-
teren Prinzipien. Da beider Zusammenwirken für die Erscheinung des Ganzen aller Phänomene wie
für die Erscheinung jedes Einzelphänomens, so klein es auch sei, notwendig ist, kann man weder
dem einen noch dem andern der beiden Prinzipien eine qualitative oder quantitative Überlegenheit
einräumen. In der einen Erscheinung sehen wir das Yang, in der andern das Yin vorherrschen, aber
die beiden Drachen halten sich in der räumlichen und zeitlichen Ganzheit des Universums genau die
Waage. Daher ist das Dreieck, welches die schöpferische Triade vorstellt, in der überlieferten Meta-
physik immer ein gleichschenkliges Dreieck gewesen, dessen Basis streng horizontal verläuft.
Die Gleichheit der beiden unteren Prinzipien bringt notwendigerweise die Gleichheit ihrer abstrakt
ins Auge gefassten Erscheinungsformen mit sich. Wenn Shiva auf gleicher Stufe wie Vishnu steht,
weshalb wäre dann das Leben dem Tod überlegen? Vom abstrakten Standpunkt aus, auf dem wir
augenblicklich stehen, ist das eben Gesagte völlig einleuchtend. Warum sähen wir von hier aus be-
trachtet im Aufbau auch nur im Geringsten etwas Überlegeneres als im Abbau, in der Bejahung Hö-
heres als in der Verneinung, in der Freude Besseres als im Leiden, in der Liebe Höheres als im
Hass, etc.?

Lassen wir das rein intellektuelle, theoretische und abstrakte Denken beiseite und beschränken wir
uns auf unsere konkrete Psychologie, so können wir zwei Dinge feststellen: zunächst einmal die uns
eingeborene Parteinahme für alle positiven Erscheinungen, als da sind Leben, Aufbau, Güte,
Schönheit, Wahrheit. Das erklärt sich leicht, da diese Parteinahme der geistige Ausdruck einer ge-
fühlsmäßigen Vorliebe ist, welche logischerweise mit dem im Menschen vorhandenen Lebenstrieb
zusammenhängt. Doch können wir auch eine Tatsache wahrnehmen, die weniger leicht zu erklären
ist: Im metaphysischen Sinn verbindet man mit der Vorstellung des „verwirklichten“, jeder irratio-
nalen Determiniertheit entzogenen und innerlich freien Menschen, der nach der Vernunft, d. h, mit
dem Höchsten Prinzip identisch lebt, völlig in den Rahmen der kosmischen Ordnung eingefügt und
von dem irrationalen Existenzbedürfnis mit seiner eingeborenen Vorliebe für das Leben gegenüber
dem Tode befreit ist, die eindeutige intuitive Erkenntnis, dass die Handlungen eben dieses „befrei-
ten“ Menschen konstruktiv und von Liebe erfüllt sein müssen, nicht aber voll von Hass und zerstö-
renden Elementen. Wir möchten nicht behaupten, dass der „verwirklichte“ Mensch voller Liebe und
konstruktiver Ideen sei, denn er hat ja die dualistischen Gefühle des gewöhnlichen Menschen hinter
sich gelassen. Aber wir können nicht anders, als seine Handlungen vom Geist der aufbauenden Lie-
be bestimmt zu sehen. Warum scheint also jene Parteinahme, die aus dem Geist des „verwirklich-
ten“ Menschen ausgeschaltet wurde, in seinem Verhalten weiter fortzubestehen? Auf diese Frage
muss eine Antwort gefunden werden, wenn wir das Problem von „Gut“ und „Böse“ ganz verstehen
wollen.

Sehr viele Philosophen haben in durchaus richtiger Weise unsere gefühlsmäßige Vorstellung von
Gut und Böse kritisiert und ihr einen absoluten Wert abgesprochen. Diese Ablehnung ging aber häu-
g auf Kosten eines Systems, das mit der Zurückweisung irriger Annahmen auch deren gute Seiten
leugnete, den Menschen jenseits von Gut und Böse stellte und ihn damit in seinem praktischen Le-
bensverhalten richtungslos ließ oder einer verkehrten Moral auslieferte. Die Schwierigkeit besteht
nicht in der Kritik unserer gefühlsmäßigen Betrachtung von Gut und Böse, sondern in einer Art der

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Kritik, die jene Vorstellung nicht zerstört, sondern vervollständigt und in die metaphysische Ver-
söhnung mit einbezieht.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst kurz den Hauptirrtum, den der Mensch angesichts dieses Pro-
blems begeht. Der Mensch sieht außerhalb seiner und in sich selbst positive und negative, aufbau-
ende und zerstörende Erscheinungen. Kraft seines Lebenstriebes muss er die aufbauenden Dinge
den zerstörenden vorziehen. Als denkendes Lebewesen und begabt, abstrakt zu denken und zu ver-
allgemeinern, ist er fähig, sich geistig zum Begriff der aufbauenden wie der zerstörerischen Kräfte
im allgemeinen, das heißt sich zum Begriff der beiden unteren Prinzipien, des positiven und des ne-
gativen, zu erheben. Auf dieser Stufe des Denkens wird die gefühlsmäßige Vorliebe zur geistig-in-
tellektuellen Parteinahme, und der Mensch kommt zu dem Ergebnis, dass der positive Aspekt der
Welt „gut“ und einzig zulässig ist, und dass er immer vollständiger den negativen Aspekt, welcher
„böse“ ist, ausscheiden muss. Hiermit hängt die Sehnsucht nach einem „Paradies“ zusammen, das
frei von jeder negativen Vorstellung gedacht wird. In diesem unvollkommenen Stadium des Den-
kens erkennt der Mensch das Vorhandensein der zwei unteren Prinzipien, aber nicht das des oberen
Prinzips, welches die beiden andern versöhnt. Er sieht daher nur die kämpferische Natur der beiden
Drachen und nicht ihre gegenseitige Ergänzungsbedürftigkeit. Er sieht die beiden Drachen streiten,
aber er erkennt nicht, dass sie in diesem Streit zusammenarbeiten, weshalb er unumgänglicher Wei-
se den ganz absurden Wunsch hegen muss, das „Ja“ endgültig über das „Nein“ triumphieren zu se-
hen. Er erkennt zum Beispiel in sich selbst aufbauende Möglichkeiten, die er für „Qualitäten“ hält,
wie andrerseits zerstörerische Möglichkeiten, die er als „Fehler“ bezeichnet. Er ist der Auffassung,
dass seine richtige Entwicklung die völlige Ausscheidung seiner „Fehler“ erfordere und nur die gu-
ten Seiten, die „Qualitäten“, ihn beherrschen dürften. Nach dem Bilde des „Paradieses“ entwirft er
das Bild des „Heiligen“, in dem nur die völlig positiven Kräfte wirksam sein dürfen, und diesem
Vorbild strebt er nach

Anders ausgedrückt: diese Weise des Verhaltens bewirkt eine Art Dressur aller bedingten Re exe,
und die negativen Kräfte werden zugunsten der positiven zurück gehalten. Es leuchtet jedoch ein,
dass eine derartige Entwicklung unvereinbar ist mit der nicht zeitlichen Verwirklichung, welche die
Synthese des negativen und positiven Pols darstellt und voraussetzt, dass diese beiden Pole, ohne in
ihrer Gegensätzlichkeit aufgehoben zu werden, harmonisch zusammenarbeiten können. Wenn der
Begriff des Oberen Prinzips fehlt, führt diese Auffassung von den beiden unteren Prinzipien unaus-
weichlich dazu, diesen beiden unteren Prinzipien einen sowohl absoluten wie persönlichen Charak-
ter zu verleihen: Das positive Prinzip wird „Gott“, das negative Prinzip wird „Satan“. Fehlt die obe-
re Spitze des Triaden Dreiecks, so kann die Basis des Dreiecks nicht horizontal bleiben. Sie macht
eine Vierteldrehung: die untere positive Spitze wird zu „Gott“ und steigt zum Zenit (zum
„Paradies“) auf, die untere negative Spitze wird zum „Teufel“ und sinkt zum Fußpunkt herab (zur
„Hölle“). „Gott“ wird als vollkommenes, positives, anthropomorphes Prinzip vorgestellt; er ist ge-
recht, gut, schön, bejahend, aufbauend. „Satan“ verkörpert das vollkommen negative, anthropomor-
phe Prinzip; er ist ungerecht, böse, hässlich, negativ, zerstörerisch. Da dieser Dualismus der Prinzi-
pien der tiefen Intuition des Menschen von einem einzigen, alles umfassenden Prinzip widerspricht,
stellt die Existenz des „Bösen“, des „Satans“ in seiner Beziehung zu „Gott“ den Menschen vor ein
praktisch unlösbares Problem und zwingt ihn zu philosophischen Kunststücken. Innerhalb dieser
akrobatischen Kunststücke der Philosophie gibt es jedoch eine Idee, deren Grund, wie wir gleich
sehen werden, etwas Richtiges enthält, die Idee nämlich, dass „Gott“ die Existenz des „Teufels“
will und nicht umgekehrt. Diese Idee gibt „Gott einen offensichtlichen Vorrang vor dem „Teufel“,
Aber nichts in dieser dualistischen Sicht kann erklären, wieso es „Gott“ nötig habe, die Existenz des
„Teufels“ zu wollen, und dabei doch völlig frei bleibe.
Achten wir nun auf die enge Verwandtschaft, welche zwischen dieser dualistischen „Gott-Teufel“-
Vorstellung und dem ästhetischen Sinn besteht, der das menschliche Lebewesen von anderen Lebe-
wesen unterscheidet. Der ästhetische Sinn äußert sich darin, den Dualismus Bejahung-Verneinung
in Formen zu erblicken, „Satan“ ist hässlich, er besitzt eine negative Form, eine sich gewissermaßen
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au ösende Form, die zum Formlosen strebt. Der Mensch zeigt eine gefühlsmäßige Vorliebe für die
Wohlgefügtheit, den konstruktiven Geist im Gegensatz zur Enstelltheit, der Zerstörung schlechthin.
Die Form des „schönen“ menschlichen Körpers ist diejenige, die dem Höhepunkt des aufbauenden
Elementes entspricht, und zwar zu dem Zeltpunkt, wo er so weit wie möglich vom Formlosen ent-
fernt ist und noch nicht begonnen hat, zur Formlosigkeit zurückzukehren. So nimmt es nicht wun-
der, dass jede „Moral“ in Wirklichkeit der ästhetische Ausdruck subtiler Formen ist, wie etwa: „eine
schöne Geste machen“, „einen hässlichen Charakter haben“, etc.

Zu dieser dualistischen Auffassung von Gut und Böse, die der Idee des Höchsten Versöhnenden
Prinzips vorangeht, gelangt der menschliche Geist auf spontane und natürliche Weise, wenn ihm die
uralte metaphysische Wahrheit nicht überliefert wurde. Die erwähnte dualistische Vorstellung ist
unvollständig und ist irrig, insofern sie unvollständig ist. Doch enthält sie eine wesentliche Wahrheit
innerhalb ihrer Grenzen. Wenn auch die intellektuelle Parteinahme für das „Gute“, soweit sie auf
Unwissenheit beruht, ein Irrtum ist, so kann die angeborene gefühlsmäßige menschliche Vorliebe
für das „Gute“ kein Irrtum sein, da sie auf der irrationalen Ebene des Gefühls entsteht und somit
weder für noch gegen die Vernunft spricht. Außerdem hat diese gefühlsmäßige Neigung sicherlich
einen Grund, eine „Existenzberechtigung“, welche unser rationales Verstehen nicht a priori abwei-
sen darf, sondern im Gegenteil suchen soll, zu verstehen.

Präzisieren wir unsere Frage: Angenommen, die beiden unteren, vom reinen Intellekt erkannten
Prinzipien erscheinen in ihrem sich gegenseitig ergänzenden Antagonismus völlig gleich, warum
erscheinen sie dann vom praktisch gefühlsmäßigen Gesichtspunkt aus gesehen ungleich, und zwar
so, dass das positive Prinzip ganz eindeutig den Vorrang vor dem negativen Prinzip erhält? Wenn
wir bei der Zeichnung des Triaden Dreiecks die beiden unteren Spitzen „relatives Ja“ und „relatives
Nein“ nennen, weshalb fühlen wir uns, auf der Suche nach einer Bezeichnung für die oberste Spit-
ze, gezwungen, sie „absolutes Ja“ statt „absolutes Nein“ zu nennen? Wenn die unteren Spitzen der
„relativen Liebe“ und dem „relativen Hass“ entsprechen, warum kann dann die oberste Spitze nur
„absolute Liebe“ und nicht „absoluter Hass“ heißen? Warum erweckt das Wort „Schöpfung“, ob-
wohl die Schöpfung nicht minder Zerstörung wie Aufbau enthält, in unserem Geiste immer die Vor-
stellung von Aufbau und Wachstum, aber nie die Vorstellung von Niedergang und Abbau?

Um dies verständlich zu machen, führen wir ein einfaches mechanisches Beispiel an. Ich werfe ei-
nen Stein: zwei Kräfte sind im Spiel, eine aktive Kraft, die aus meinem Arm kommt, eine passive
Kraft, die im Stein ruht. Diese beiden Kräfte sind einander entgegengesetzt, ergänzen sich aber. Ihr
Zusammenwirken ist nötig, damit der Stein seine Bahn beschreibt. Ohne die aktive Kraft meines
Arms käme der Stein nicht in Bewegung. Ohne die von seiner Masse bedingten Trägheit würde der-
selbe Stein, sobald er aus meiner Hand geworfen wird, keine Bahn beschreiben können. Hätte ich
Steine von verschiedener Masse zu werfen, so würde ich den Stein am weitesten werfen können,
dessen Trägheit am genauesten der aktiven Kraft meines Armes entspräche. Vergleichen wir die
beiden Kräfte untereinander: keine der beiden verursacht die andere. Die Masse des Steins besteht
unabhängig von der Kraft meines Armes und umgekehrt. Von hier aus betrachtet ist keine der bei-
den Kräfte der andern überlegen. Aber das Spiel der aktiven Kraft verursacht das Spiel der passiven.
Wenn das Spiel meines Armes Aktion ist, so ist das Spiel der Trägheit des Steins Reaktion. Was für
diese beiden Kräfte einer so geringfügigen Erscheinung gilt, hat auf allen Stufen der universellen
Schöpfung Geltung. Werden die beiden unteren, das positive und das negative Prinzip, abstrakt, au-
ßerhalb ihres Spiels betrachtet, so bedingen sie sich gegenseitig nicht. Unabhängig von einander
weisen sie auf einen Ersten Grund hin; im Hinblick auf diesen sind sie völlig gleich. Sobald wir sie
aber in ihrem Zusammenwirken betrachten, erkennen wir das Spiel der aktiven Kraft als Ursache
des Spiels der passiven Kraft. (In diesem Sinne will „Gott“ die Existenz des „Teufels“ und nicht
umgekehrt.) Soweit die beiden unteren Prinzipien wirken und etwas hervorbringen, löst das positive
Prinzip das Spiel des negativen Prinzips aus und besitzt somit in diesem Punkt eine fraglose Über-
legenheit über das negative Prinzip. Der Vorrang der aktiven Kraft vor der passiven besteht nicht in
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chronologischer (Reaktion und Aktion treten gleichzeitig auf), sondern in kausaler Vorzeitigkeit.
Man könnte es so ausdrücken, dass der augenblickhafte Kraftstrom, durch den das Höchste Prinzip
die beiden unteren Prinzipien in Bewegung setzt, das negative Prinzip berührt, indem er durch das
positive Prinzip hindurchgeht. So lässt sich begreifen, dass die beiden unteren Prinzipien, die dem
„Sein“ nach gleich sind, der „Erscheinung“ nach ungleich sind und das positive Prinzip dem negati-
ven überlegen ist. Die Kraft, welche eine Barmherzige Schwester zum Wohltun bewegt, ist dieselbe
wie diejenige, die den Mörder zu seiner Tat führt, aber die P ege der Waisenkinder hat unleugbaren
Vorrang vor dem Mord. Beachten wir also, dass der konkrete Akt der Barmherzigkeit einen unbe-
streitbaren Vorzug vor dem konkreten Akt des Mordes hat, dass aber beide Handlungen, abstrakt
gesehen, gleich sind, da sie unter dieser Perspektive nur die symbolischen Repräsentanten von posi-
tiver und negativer Kraft sind, welche gleichen metaphysischen Wert besitzen.
An diesem Punkt angekommen, verstehen wir, dass jede Erscheinung konstruktiver Art aus dem
aktiven Kräftespiel (Handeln) und jede Erscheinung destruktiver Natur aus dem passiven Kräfte-
spiel (Reaktion) hervorgeht. Aus diesem Grund ist der „verwirklichte“ Mensch auch konstruktiv in
jedem Augenblick, wo die Umstände es ihm erlauben. Er ist von allen bedingten Re exen wirklich
befreit. Sein Verhalten ist keinerlei „Reagieren“ mehr, sondern nur noch reine Aktion, reines Han-
deln, und da er aktiv ist, baut er auf. Das zerstörerische Betragen des „bösen“ Menschen kann den
Anschein von Initiative erwecken und so aussehen, als ob es aus einer aktiven, destruktiven Kraft
herrühre. Wirklich handelt jedoch dieser „böse“ Mensch ursprünglich, um sich zu bejahen
(Aufbau). Aber auf Grund unrichtiger und auf Unwissenheit beruhender Gedankenassoziationen
gerät die Handlung, welche zunächst als Bejahung gedacht war, in den Bereich der vorherrschenden
Zerstörung. Wenn der Stein, den ich aufheben will, zu schwer ist, muss ich mich zu ihm hinunter
bücken. Meine ursprüngliche aktive Kraft ist deshalb nicht weniger in die Höhe gerichtet.

Der „verwirklichte“ Mensch, stellten wir fest, tut das „Gute“. Aber beachten wir, dass dieses „Gute“
nichts als eine einfache Konsequenz der inneren Arbeit ist, durch welche die Göttliche Vernunft in
diesem Menschen erweckt und aktiv geworden ist, zur Verwirklichung ihrer dreieinheitlichen Syn-
these. Das „Gute“ ist eine einfache Folge des befreiten Verständnisses, das sich in der Ganzheit des
Seins äußert. Dieses tiefe Verständnis hat jeden Irrglauben an die illusorische Vorherrschaft des un-
teren positiven Prinzips oder des „guten“ Prinzips überwunden. Ein solcher Mensch tut nur noch
das „Gute“, aber allein aus dem Grund, weil er es nicht mehr vergöttert und nicht mehr an ihm
hängt als am „Bösen“. Er verhält sich nicht so wie ein Mensch, der sich zwingt, ein „Heiliger“ zu
sein. Das starre Verhalten des systematisch eingeengten Heiligen läuft manchmal sogar Gefahr,
mehr Zerstörerisches als Aufbauendes hervorzubringen. Das Verhalten des „verwirklichten“ Men-
schen hingegen stellt letzten Endes mehr Konstruktives als Destruktives dar (ohne dass dies ir-
gendwie sein Ziel zu sein braucht), weil es aus reiner Aktivität hervorgeht und in immer neuer und
freier Form den jeweiligen Umständen in vollkommenster Weise entspricht.

Alles in allem ist die wahre Ethik das bloße Ergebnis der nichtzeitlichen Verwirklichung. Der Weg
zur Befreiung aber kann nie zu einer „Moral“ führen, jede Ethik vor dem Satori ist verfrüht und
verhindert durch die ihr eigene Beengung die Erlangung des Satori. Das soll jedoch nicht heißen,
dass der an seiner Inneren Befreiung arbeitende Mensch seine gefühlsmäßige Vorliebe für das
„Gute“ aufgeben müsse. Er nimmt diese Vorliebe mit derselben verständigen geistigen Unpartei-
lichkeit an, mit der er sein ganzes inneres Leben annimmt. Aber er wird sich hüten, in falscher Wei-
se diese gefühlsmäßige und als solche unschädliche Neigung als geistige Parteiergreifung aufzufas-
sen, die seinem inneren Frieden im Wege stände.

Mit all dem sollen nicht etwa die „spiritualistischen“ oder „idealistischen“ Lehren verurteilt werden,
welche Werte wie Tugend, Güte, Liebe etc. preisen, nach der Auffassung all derer, die guten Willens
sind. Auch dies wäre ja wieder eine widersinnige, intellektuelle Parteilichkeit. Der Mensch denkt
und handelt, wie er es eben versteht. Wir behaupten nur, dass all diese Lehren an sich und durch
sich nicht zur Erlangung des Satori führen. Wenn aber ein Mensch, was ja sein gutes Recht ist, das
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Satori erreichen will, so muss sein Verstehen auch jede Lehre überwinden, die eine theoretische Par-
teinahme zwischen Yang und Yin darstellt.

Im Zen heißt es: „Der vollkommene Weg kennt keine Schwierigkeit, es sei denn diejenige, dass er
sich jeder Vorliebe enthält... Besteht eine Differenz auch nur um den zehnten Teil eines Zolls, sind
Himmel und Erde schon voneinander getrennt.“

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III. DIE VERGÖTTERUNG DES „HEILES“

Ein Haupthindernis für die Möglichkeit der nicht-Zeitlichen Verwirklichung des Menschen besteht
in der Auffassung, diese Verwirklichung irgendwie erzwingen zu müssen. Bei vielen „geistigen“
Systemen, religiöser oder auch nicht religiöser Natur, hat der Mensch die P icht, sein „Heil“ zu er-
werben. Dabei wird alles „Zeitliche“ entwertet und jede vorstellbare Wirklichkeit wird auf das
„Heil“ bezogen. Dass es sich hierbei um eine Art von „Vergötterung“ oder Götzendienst handelt,
geht schon daraus hervor, dass eine Verwirklichung, die andere Dinge ausschließt, selbst nur ein
Ding unter anderen Dingen, d. h. begrenzt und formal ist, zumal sie gleichzeitig den Anspruch auf
„Heiligkeit“ erhebt und sich unermesslich hoch über alles übrige stellt. Jede einschränkende, der
Freiheit des Menschen also abträgliche Wirklichkeit, die er sonst dieser oder jener „zeitlichen“ Un-
ternehmung beimisst, wird hier ausschließlich auf die Idee des „Heils“ konzentriert, die somit einen
nur denkbar tyrannischen Charakter annimmt. Verwirklichung heißt aber Befreiung und so gelangt
man zu jenem absurden Paradox, dass der Mensch der P icht unterworfen ist, sich zu zwingen, frei
zu sein. Auch die Angst des Menschen bezieht sich auf die Frage seines Heiles. Er zittert bei der
Vorstellung, sterben zu müssen, ehe er zu dieser Befreiung gelangt ist. Notwendigerweise bringt ein
so schwerer Irrtum Beunruhigung, innere Erregung, das Gefühl eigener Unwürde und Selbstver-
krampfung mit sich, wodurch inneres Zur-Ruhe-Kommen, Versöhnung mit sich selbst, selbstver-
ständliches sich-hinnehmen als Einzelexistenz, Abnahme von Gefühlserregungen und alles das aus-
geschlossen wird, was dem inneren Klima nach zur Entspannung dient und die Auslösung des Sato-
ri ermöglicht.

Ein Mensch, der sich auf diese Weise irrt, hätte indes die Möglichkeit, etwas besser zu überlegen.
P icht gibt es nur, wo eine Autorität vorhanden ist, die Forderungen stellt. Der Gläubige der einen
oder anderen Religion wird „Gott“ als diese Autorität bezeichnen, welche ihm sein „Heil“ als
P icht auferlegt. Aber was ist dieser „Gott“, der sich von mir, dadurch dass er mir etwas auferlegt,
unterscheidet und der meiner Handlung bedarf? Ist also doch nicht alles in seine vollkommene
Harmonie mit einbezogen?

Der gleiche Irrtum ndet sich bei manchen Menschen, die geistig hoch genug stehen, um nicht
mehr an einen persönlichen „Gott“ zu glauben. Wenigstens scheint es, als ob sie es nicht mehr tun.
Sieht man aber näher hin, so wird man gewahr, dass sie doch noch an ihn glauben. Sie stellen sich
ihr Satori vor und betrachten sich selbst diesem ihrem Satori entsprechend. Das ist ihr persönlicher
„Gott“, ein beunruhigendes, unversöhnliches Zwangsidol. Für sie besteht das M u s s , sich zu ver-
wirklichen, sich zu befreien. Bei dem Gedanken, dies nicht zu erreichen, sind sie entsetzt und bei
jedem inneren Anzeichen, das ihnen Hoffnung verleiht, geraten sie in Ekstase. Das ist „geistiger
Hochmut“, mit dem sich unausweichlich die absurde Idee vom „Übermenschen“, dessen Verwirkli-
chung recht eigentlich erstrebt wird, und Angst verbinden.

Dieser Irrtum zieht in fataler Logik auch das Bedürfnis nach sich, andere zu unterweisen. Unsere
Haltung dem andern gegenüber entspricht genauestens der Haltung, die wir uns selbst gegenüber
einnehmen. Glaube ich, dass ich mein „Heil“ erwerben muss, so kann ich nicht umhin zu glauben,
dass ich auch den andern dahin führen m u s s , sein Heil zu erwerben. Wenn die relative Wahrheit,
die ich besitze, in mir selbst mit der Vorstellung der „P icht“ verbunden ist, dieser Wahrheit nach zu
leben — bewusste oder unbewusste Vergötterung der P icht —, so muss ich notwendigerweise auf
den Gedanken kommen, dass es zu meiner „P icht“ gehört, andere an meiner Wahrheit teilhaben zu
lassen. Im äußersten Fall führt dies zu Inquisition und „Dragonaden“, sonst aber zu jener Unzahl
von großen und kleinen Kirchen, die im Laufe der Geschichte so eifrig daran gearbeitet haben, das
geistige Bewusstsein der Menschen zu beein ussen, das Bewusstsein von Menschen, die den Kir-
chen gar keine Fragen gestellt hatten und überhaupt, wie man im Volksmund sagt, nicht viel nach
ihnen fragten.

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Die Widerlegung des eben angedeuteten Irrtums geschieht völlig klar im Denken des Zen, und so
viel ich weiß, gibt es nur hier eine vollständige Widerlegung. Im Zen wird dem Menschen gesagt,
dass er schon jetzt frei ist, dass es keine Kette gibt, aus der er sich zu befreien habe. Der Mensch
besitzt nur die Illusion von Ketten. Er wird sich seiner Freiheit erfreuen, sobald er aufhört daran zu
glauben, dass er sich befreien muss, sobald er die schrecklichen Vorstellungen von „P icht“ und
„Heil“ von sich abschüttelt. Im Zen wird die Nichtigkeit jedes Glaubens an einen persönlichen
„Gott“, ebenso wie die Wesenlosigkeit jenes erbärmlichen Zwanges aufgezeigt, die mit diesem
Glauben notwendigerweise so eng verknüpft ist. Das Zen sagt: „Setzt keinen Kopf über euern eige-
nen Kopf“, und es sagt weiter: „Sucht nicht nach der Wahrheit! Aber hört auf, an euren Meinungen
zu, hängen!“

Warum, könnte man vielleicht einwerfen, soll dann der Mensch danach trachten, das Satori zu er-
langen? Hinter dieser Fragestellung steckt die abwegige Vermutung, dass der Mensch sich um das
Satori nur unter dem Zwang der P icht bemühen könne. Das Satori aber bedeutet das Ende dieser
Angst, die jetzt noch das Innerste meines psychischen Lebens bestimmt und alle meine Freuden zu
üchtigen Ruhepausen macht. Verrät es etwa Klugheit, mich zu fragen, warum ich daran arbeite,
eine völlige und endgültige Erleichterung zu erlangen? Dringt man noch weiter in mich ein, so ant-
worte ich ganz einfach: „Weil mein Leben dann so sehr viel angenehmer sein wird.“ Habe ich das
richtig verstanden, so fürchte ich auch nicht den Eintritt des Todes, weder heute noch morgen; ich
fürchte nicht, dass er meine Bemühungen unterbreche, bevor sie an ihrem Ziel angelangt sind. Da
das Problem meines Leidens mit mir selbst aufhört, brauche ich nicht unbedingt ein Problem zu lö-
sen, das ja dann gar nicht mehr existiert.

Andrerseits verbietet wahres Verständnis keineswegs auch andere zu unterrichten, die natürlich
durchaus nicht gezwungen sind, dieser Unterweisung zu folgen. Ein Verbot dieser Art wäre ja eben-
falls eine Verp ichtung und so fehl am Platze wie jeder Zwang. Ein Mensch, welcher verstanden
hat, dass seine eigene Verwirklichung in keiner Weise einer P icht gleichkommt, beschränkt sich
einfach darauf, zu antworten, wenn er befragt wird. Ergreift er die Initiative zu sprechen, so wird er
seine Ideen nur mit größter Zurückhaltung vorbringen, ohne das Bedürfnis zu emp nden, verstan-
den zu werden. Es gleicht einem Menschen, der gesunde Nahrung im Über uss besitzt und seine
Türe öffnet. Kommt ein Vorübergehender des Weges, erkennt er den Wert der Nahrung und tritt ein,
so ist es gut. Tritt er nicht ein, so ist es ebenfalls gut. Für unsere Gefühlserregungen, Begierden und
Ängste bleibt bei einem wahren Verständnis der Dinge nicht der geringste Raum.

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IV. DER EXISTENTIALISMUS DES ZEN

Ein Mensch erklärt: „ mein Leben ist nichtssagend und eintönig. Ich nenne das nicht leben, sondern
höchstens „existieren.“ Jeder begreift, was dieser Mensch meint; das ist ein Beweis dafür, dass jeder
in sich eine Vorstellung von dieser Unterscheidung zwischen „leben“ und „existieren“ besitzt. Au-
ßerdem zieht gefühlsmäßig jeder „Leben“ dem „Existieren“ vor. Dies ist eine so klare und allge-
mein gültige Auffassung, dass der Mensch geistig gesehen, „Existieren“ für nichts, und „Leben“ für
alles erachtet. Die Unterscheidung der beiden Begriffe aber ist oft unklar oder völlig verwischt.
Man ist so weit, dass man „Leben“ mit Existenz bezeichnet und umgekehrt. Das „Leben“ erscheint
dem Menschen von solch ausschließlicher Wichtigkeit, dass es sich das Wort „Existenz“ einverleibt,
welches so seinen eigentlich Sinn ganz verloren hat.

Welche Erscheinungen im komplexen Ganzen dessen, was ein menschliches Wesen ausmacht, ha-
ben Bezug auf den Begriff „leben“ und welche auf den Begriff „existieren“? Wir kommen bei dieser
Frage zur Unterscheidung zwischen dem animalischen und dem vegetabilischen Bereich. Das Tier
und die P anze sind nicht völlig verschiedene Lebewesen. Das Tier besitzt alles das, was die P an-
ze auch hat (vegetatives Leben) und noch etwas darüber hinaus (Leben der „Bezüge“). Im Inneren
der P anze und des Tieres und innerhalb ihrer formbedingten Grenze gehen verborgene Erschei-
nungen und Bewegungen vor sich, zum Beispiel der Kreislauf der Säfte oder des Blutes, die At-
mung, Entstehung und Absterben der Zellen, Aufbau und Abbau. Während die P anze aber dem
Erdboden verhaftet ist und in Bezug auf diesen sich nicht frei in ihrem ganzen Umfang bewegen
kann, bewegt sich das Tier auf dem Erdboden und kann jede Art von Bewegungen ausführen, die
man unter dem Wort „Handeln“ zusammenfassen mag. Erhebt der Mensch den Begriff „Leben“ so
hoch über den Begriff „Existieren“, so liegt trotzdem die wertende Unterscheidung nicht zwischen
seinen vegetativen Erscheinungen, und seinen „Handlungen“. Sie liegt im Inneren des Bereichs des
„Handelns“ selbst und zwar auf folgende Weise: eine Reihe meiner Handlungen haben die Auf-
rechterhaltung meines vegetativen Lebens zum Ziel, zum Beispiel essen, ausruhen, die Befriedi-
gung des sexuellen Triebes aus rein animalischer Begierde. Diese Handlungen bestätigen mich, er-
halten meinen Bestand aufrecht, insofern, als ich ein allen andern Lebewesen ähnlicher Organismus
bin, aus den Bedingungen des Universums heraus lebe, und als „universelles“ Wesen mich im Ge-
triebe des kosmischen Triebwerks be nde. Aber abgesehen von diesen Handlungen führe ich täglich
noch andere aus, die nicht meinem vegetativen Leben dienen, die ihm sogar oft abträglich sind und
den Zweck haben, mich verschieden von allen andern Menschen erscheinen zu lassen; das heißt, die
mich darin bestätigen, dass ich von allen anderen Menschen verschieden und ein gesondertes Indi-
viduum bin.

Die Grenze, mit der wir uns befassen, liegt zwischen diesen beiden Arten von Handlungen. Meine
„egoistische“, ich-bezogene Grundhaltung, die die Fiktion meiner persönlichen Göttlichkeit in sich
schließt, lässt mein vegetatives Leben und alle Handlungen, die diesem Leben, also all jenem die-
nen, das in meinen Augen dem verächtlichen Begriff des „Existierens“ gleichkommt, als sinnlos
erscheinen. Sie veranlasst mich, nur diejenigen meiner Handlungen als sinnvoll zu betrachten, die
mich „unterscheiden“ und damit in meinen Augen ein schätzenswertes, kostbares „Leben“ verbür-
gen. Vor mir selbst habe ich keinen Wert als universeller Mensch. Für mich selbst zähle ich nur als
gesondertes „Ich“. Auf Grund der Fiktion meiner persönlichen Göttlichkeit erscheint es mir unfass-
bar, den Sinn meines Lebens in den vegetativen Erscheinungen und Handlungen zu sehen, aber es
ist für mich selbstverständlich, in denjenigen Handlungen einen .Sinn zu erkennen, die mich als
Einzelwesen bestätigen. Diese Meinung ist tief im Geiste des Menschen verwurzelt.

Für einen unparteiisch Denkenden ist diese Auffassung ganz offensichtlich absurd. Sie schließt als
Voraussetzung ein, dass mein Sonderorganismus das Zentrum des Kosmos sei. (Denn nur das Zen-
trum einer Sphäre ist einzig in seiner Art innerhalb dieser Sphäre. Jeder andere Punkt be ndet sich
in derselben Entfernung vom Zentrum wie zahllose andere Punkte.) Nur der Urgrund des Kosmos
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kann dessen Zentrum bilden. Mein Organismus ist nur das Glied in einer unendlichen Kette von
kosmischen Ursachen und Wirkungen und ich kann seinen wahren Sinn nur dann sehen, wenn ich
ihn auf seinen wirklichen Platz stelle, im Rahmen seiner wirklichen Beziehungen zu allem Übrigen.
Ich muss ihn vom Standpunkt des Universums aus betrachten, als den universellen und nicht als den
Einzelmenschen, als den Menschen, der jedem andern Menschen ähnlich ist und nicht als jenen, der
sich vom andern unterscheidet.

Der Mensch aber erfüllt seine „Existenz“ seiner Überlegung nach nur deshalb, weil das „Existieren“
eine notwendige Vorbedingung von „Leben“ ist. Er isst, ruht sich aus, aber nur deshalb, weil er
ohne diese Dinge sich nicht als Person, als Sonderwesen bestätigen könnte. Alle diese banalen und
jedermann notwendigen Handlungen vollführt er nur, um irgendetwas zu vollbringen, was keinem
anderen als ihm selbst möglich wäre. Er „existiert“, um zu „leben“. Durch die Begründung seiner
„Existenz“ auf dieser Vorstellung von „Leben“ handelt er der wirklichen Ordnung der Dinge zuwi-
der, da er ja das Wirkliche auf dem Illusorischen aufbaut. Daher ist auch das „Gleichgewicht“ des
nur ich-bezogenen Durchschnittsmenschen dauernd in Gefahr. Ein Mensch dieser Art wäre mit ei-
ner umgekehrten Pyramide zu vergleichen, die auf einem Punkt ruht. Die Zen Literatur enthält unter
anderem auch diesbezüglich ein kleines denkenswertes Gleichnis:

„Es war einmal ein Mensch, der auf einem hohen Hügel stand. Drei Wanderer kamen in einiger Ent-
fernung vorbei, bemerkten ihn und unterhielten sich über ihn. Der eine sagte: „Er muss sein Lieb-
lingstier verloren haben.“ Der andere äußerte: „Nein, er wird seinen Freund suchen.“ Der Dritte
sagte: „Er ist nur da droben, um sich der frischen Luft zu erfreuen.“ Die drei Reisenden kamen zu
keiner Übereinstimmung und diskutierten weiter, bis sie den Gipfel des Hügels erreichten. Da fragte
der eine: „O Freund, der Ihr Euch auf dem Gipfel dieser Anhöhe be ndet, habt Ihr nicht Euer Lieb-
lingstier verloren?“ - „Nein, mein Herr, ich habe es nicht verloren.“ Der Zweite fragte: „Habt Ihr
nicht Euren Freund verloren?“ - „Nein, mein Herr, ich habe auch nicht meinen Freund verloren?“
Der dritte Reisende fragte: „Seid Ihr nicht hier oben, um Euch der frischen Luft zu erfreuen?“ -
„Nein, mein Herr.“ – „Warum also seid Ihr hier oben, da Ihr alle unsere Fragen verneint?“ Der
Mann auf dem Hügel antwortete: „Ich bin ganz einfach hier, weil ich hier bin.“

Beim Lesen dieser Worte wird der Durchschnittsmensch im Allgemeinen denken; „Ganz einfach
hier zu sein“ hat doch keinen Sinn. Er wird sich vielleicht sagen: „Der Mann auf dem Hügel ist ein
Idiot, da er nichts dort oben tut“ (das heißt, weil er dort oben keine Art von Selbstbestätigung sucht.
Man erinnere sich an die ironische Bemerkung Rimbaud's: „Die Tat, dieser vergötterte Angelpunkt
der Welt!“)

Das Wort „existieren“ kommt aus dem lateinischen „ex stare“ = „sich außerhalb aufhalten“, außer-
halb des immanenten Prinzips, welches alles Existierende transzendiert. Das „Existieren“ ist die Er-
scheinungsform dessen, was aus dem ursprünglichen Sein herausströmt (zentrifugaler Schwung).
Das „Existieren“ ist dualistischer Natur; positiv ist es durch das „stare“ und negativ durch das „ex“.
Der Mensch fühlt sich deshalb im Existieren sowohl gut als schlecht. Er hat den Eindruck, etwas zu
besitzen und gleichzeitig Mangel zu leiden. Das Dasein in der Existenz enthält also notwendiger-
weise eine Tendenz zur Vervollständigung, einen Drang, den Mangel auszufüllen und das „Ex“ zu
neutralisieren, dadurch, dass man des Prinzips bewusst wird, aus dem der existierende Mensch her-
vorgeht.

Der menschliche Intellekt aber entwickelt sich fortlaufend in der Weise, dass er fähig wird, sich eine
illusorische und immer auch nur provisorische Beruhigung aus seiner ich-bezogenen Selbstbestäti-
gung zu verschaffen, noch bevor er die ganze Fülle des „stare“ erfährt, noch bevor er emp nden
kann, dass er als Emanation des Urprinzips diesem Prinzip in direktem Zusammenhang verbunden
bleibt, wodurch ihm eben die Natur dieses Prinzips mit ihren unendlichen Vorrechten verliehen ist.
Gelangt dann sein Intellekt zu dem Entwicklungsstadium, in dem der Mensch das Bewusstsein da-

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von haben könnte, mit dem Prinzip identisch zu sein, so ist sein mentaler Bereich schon stärkstens
durch die Faszinierung der nur Ich-bezogenen Selbstbestätigung bestimmt. Er wendet sich der Be-
jahung dieser egoistischen Selbstbestätigung zu, welche ein Ersatz für das „stare“ ist und als bloßer
Ersatz das „ex“ nicht zu neutralisieren vermag. So wendet er dem „ex“ in seiner zeitlichen Begren-
zung den Rücken und sieht sich vor einem unheilvollen Dualismus. Er wird hin- und hergerissen
von dem „ex“, das ihn verfolgt und nicht auszulöschen ist, und einem illusorischen „stare“, das für
sein Denken die Form von ich-bezogener Selbstbestätigung angenommen hat, die nie zum Ziele
führen kann.

Wenn der Mensch die relative Wirklichkeit der Existenz annähme, könnte er sich seiner Wesens-
gleichheit mit dem Prinzip bewusst werden, aus dem er entspringt. Aber der ich-bezogene, „egoisti-
sche“ Mensch ist mit der relativen Wirklichkeit der Existenz nicht einverstanden. Sein geistiges
Bewusstsein verachtet und verwirft die Existenz als solche und sucht die illusorische Selbstbestäti-
gung des „Handelns“ als gesondertes Individuum. Sein Geist spielt in Bezug auf die Täuschung, die
von ihm selbst ausgeht, die zu Unrecht angemaßte, aber für ihn selbst schmeichelhafte Rolle des
Prinzips. Der Mensch sucht also seinen inneren Frieden auf einem Wege, der ihn eben von diesem
Frieden entfernt. Um seinen inneren Frieden zu nden, muss der Mensch alles noch einmal einer
scharfen Prüfung unterziehen. Er muss sich die Nichtigkeit seiner „Meinungen“ und all seiner Ur-
teile vor Augen halten, er muss sich vollständig von der um sich selbst kreisenden, faszinierenden
Vorstellung einer ich-bezogenen Selbstbestätigung lösen, und muss die Wesenlosigkeit eines ich-
zentrierten „Lebens“ und demgegenüber die Wirklichkeit einer universellen „Existenz“ einsehen.
Sobald er auf einen falschen Himmel verzichtet, ist er der Erde zurückgegeben. Er „existiert“ be-
wusst, und „ist auf der Welt“ (vgl. Rimbaud: „Wir sind nicht auf der Welt“). Seine Versöhnung mit
dem „ex“ erlaubt ihm den Genuss des „stare“. Er ist die ursprüngliche Quelle, da er sich darein fügt,
auf Grund seines „Organismus“ nur eine vorübergehende Erscheinung, der Aus uss dieser Quelle
selbst. Diese „Emanation“ hat keinen besonderen Zweck und ihr persönliches „Schicksal“ hat nicht
die geringste Bedeutung.

Es ist interessant, den Organismus des menschlichen Wesens in seiner Gesamterscheinung anato-
misch wie physiologisch zu untersuchen und dann zu fragen, wozu all das, was man beobachtet,
d i e n t . Die Verdauung und die Atmung und alle entsprechenden Organe dienen dazu, das Blut mit
nährenden Stoffen zu versehen. Der Kreislauf hat die Aufgabe, dieses nährende Blut an alle Teile
des Organismus heranzutragen. Die Blutversorgung dient der Erhaltung der Knochen, der Gelenke
und der Muskeln. Die Knochen sind das Gerüst, ohne welches die Muskeln keine Bewegung aus-
führen könnten. Die Gelenke bedingen den Gebrauch des Knochengerüsts. Das nervöse Gehirn- und
Rückenmarksystem löst die Muskelanspannungen aus und koordiniert sie. Es bestimmt die Ausfüh-
rung der Bewegungen und die Vorstellungen der auszuführenden Bewegungen. Das vegetative Ner-
vensystem ist die Bedingung für den harmonischen Funktionsablauf der Eingeweide, von denen,
wie wir sahen, der Unterhalt der Bewegungsmuskeln abhängt. Das endokrine System gehört zum
vegetativen Nervensystem und hat dieselbe ausgleichende Funktion. Alles außer den genitalischen
Funktionen im Körper, von denen wir jetzt absehen wollen, ist auf die Muskeln und deren Bewe-
gungen hin abgestellt. Das heißt so viel wie: alles „Existieren“ ist auf das „Leben“ hin eingestellt,
auf das Handeln. Das menschliche Triebwerk scheint zum Handeln bestimmt zu sein. Aber wozu
nützt nun das Handeln diesem Triebwerk? Wir haben gesehen, dass der Durchschnittsmensch Wert
und wahre Nützlichkeit nur der ich-bezogenen Handlung zuschreibt. Aber diese rein individuelle
Nützlichkeit stellt sich als illusorisch vom universellen Standpunkt aus dar. Es ist schlecht denkbar,
dass das menschliche Triebwerk im Allgemeinen dazu vorhanden sei, damit sich Herr X als Herr X
bestätige. Schaltet man aber die auf den Einzelmenschen bezogene illusorische Nützlichkeit des
Handlungsablaufes aus, so stellt sich die Frage: Wozu dient das „Handeln“ dieses Triebwerkes, das
zum Handeln da ist und den menschlichen Organismus ausmacht?

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Zahlreiche Arten von Handlungen dienen offensichtlich dem Unterhalt jenes zum Handeln be-
stimmten Triebwerkes. Der Mensch handelt, um sich Nahrung, Wohnung, Kleidung etc. zu beschaf-
fen oder um sich andere zum Handeln bestimmte Apparate dienstbar zu machen. Es gibt auch noch
andere Handlungen, deren Zweck derselbe ist, aber in weniger deutlicher Weise. Das sind diejeni-
gen Handlungen, welche das Lebewesen „Mensch“ von den nicht-menschlichen Lebewesen unter-
scheiden: wissenschaftliche Entdeckungen, künstlerisches Schaffen, geistige Suche nach Wahrheit,
das heißt die Suche nach dem Guten, Schönen, Wahren. Das Gute und Schöne unterstützen eben-
falls die Existenz, indem sie deren Bedingungen verbessern. Mit dem Wahren verhält es sich ähn-
lich, da der Mensch von ihm die Besänftigung seiner inneren Unruhe erwartet und damit die har-
monische Ruhe seines inneren Gefüges.

Betrachtet man also die Dinge objektiv, so gelangt man zu dem Ergebnis, dass das einmal vorhan-
dene Triebwerk „Mensch“ mittels seiner Handlungen dahin strebt, seine eigene Existenz zu unter-
halten. Es sieht also so aus, als ob die Existenz keinen andern Zweck hätte, als eben diese Existenz
selbst. Aber heißt das nicht zugleich, dass die Existenz überhaupt keinen Zweck hat? (Wir überge-
hen den Gedanken der kosmischen Nützlichkeit des Menschen hier, von welcher der durchschnittli-
che Mensch kein lebendiges Wissen und keine praktische Vorstellung besitzt.) Die Erzeuger-Funk-
tion des Menschen, welche wir vorhin außer Acht gelassen haben, stimmt mit dem eben Gesagten
überein, da sie darauf hinzielt, die Existenz der vorhandenen Gattung Mensch aufrecht zu erhalten.
Wird der illusorische Sinn meines Handelns zum Zweck meiner ich- bezogenen Selbstbestätigung
als Einzelwesen ausgeschaltet, so erkenne ich, dass das Handeln, auf das der ganze Aufbau meines
Organismus eingestellt ist, seinerseits nur auf die Existenz dieses zum Handeln begabten Organis-
mus hinzielt. Es hat nur den Zweck, dem Aufhören der Existenz, dem Tod vorzubeugen. Jener groß-
artige Begriff „Leben“, neben welchem das „Existieren“ so nichtig erscheint, hat nur die Aufgabe,
diesem „Existieren“ zu dienen. Das Handeln geht aus der Existenz hervor und dient ihr; die Exis-
tenz ist also das Handlungsprinzip und somit dem „Leben“ unendlich überlegen (wie jedes Prinzip
seiner Erscheinungsform unvergleichlich überlegen ist.)

Wird die Existenz als Urgrund der Gesamtheit meines Handelns, als Urgrund all meiner Erschei-
nungsformen betrachtet, dann ist sie nichts anderes als der Urgrund des Mikrokosmos überhaupt,
den mein Organismus vorstellt. Damit ist sie aber auch der Urgrund des universellen Makrokosmos,
das heißt das Absolute Prinzip. Die scheinbare Sinnlosigkeit dieser Existenz, die sich selbst will und
keinen Zweck zu haben scheint, ist auch für unser diskursives Denken, scheinbare Sinnlosigkeit des
Absoluten Prinzips, für unser Denken, das aus diesem Prinzip hervorgeht, aber als bloße Erschei-
nungsform eben dieses Absoluten Prinzips dieses weder erkennt noch begreift.

Wenn ich auf diese Weise meine Existenz als Urgrund meines bestehenden Organismus betrachte,
so erscheint sie in Bezug auf die Gesamtheit all meiner Erscheinungsformen transzendent und ist
somit völlig unabhängig von der Fortdauer und vom Tod meines Organismus. Andrerseits ist meine
Existenz aber auch meine persönliche Existenz, insofern ich noch nicht gestorben bin (Immanenz
des Prinzips); gleichzeitig ist sie jedoch in Bezug auf mich als gesondertes Einzelwesen etwas Un-
persönliches; sie ist dies hinsichtlich meines universellen Wesens, insofern ich ein bloßes Glied ei-
ner Kette und als solches allen anderen Gliedern dieser Kette gleich bin. Das heißt mit anderen
Worten; meine Existenz ist unabhängig vom Tod meines Organismus (Transzendenz des Prinzips).
So erscheint es verständlich, dass die Todesfurcht des Durchschnittsmenschen, die im Mittelpunkt
seiner ganzen Psychologie steht, mit der widersinnigen Verachtung zusammenhängt, mit welcher
der Mensch sein „Existieren“ betrachtet. In paradox erscheinender Weise zittert der ich-bezogene
Mensch davor, seine Existenz zu verlieren, die er doch in Hinblick auf das „Handeln“ und „Leben“
für nichtig erklärt. In der „Existenz“ aber verbirgt sich, wie wir gesehen haben, das Absolute Prin-
zip, jenes „Alles“, das der Mensch nicht mehr oder weniger in Betracht ziehen kann; jenes Alles,
das für ihn nur Null sein kann, wenn er es nicht in Betracht zieht, oder die Unendlichkeit, wenn er
es in Betracht zieht. Misst der Mensch seiner anonymen Existenz keinen Wert bei, so nimmt er
27

nicht in bewusster Weise am Wesen des Prinzips teil, Er ist dann bewusst nichtig und null, folglich
auch nicht fähig, den Gedanken des Todes zu ertragen, der ihm wie eine negative Unendlichkeit er-
scheint. Sieht der Mensch hingegen in der anonymen Existenz ihren unendlichen Wert, dann nimmt
er völlig teil am Wesen des Prinzips. Er ist dann auf bewusste Weise unendlich, und die Tatsache,
dass er sich dem Tode beugen muss, erscheint ihm nichtig.

Hiermit tritt der illusorische Charakter der beängstigenden Fragen klar zutage, welche sich der ich-
bezogene Mensch über ein individuelles Fortleben nach dem Tode stellt. Alle diese Fragen beruhen
auf der irrigen Annahme der Wirklichkeit eines individuellen „Lebens“ und auf der Unkenntnis vom
Vorhandensein einer universellen „Existenz“.

Der Irrtum gewisser philosophischer Gedanken, die sich „existenzialistisch“ nennen, hängt unter
anderem mit der Tatsache zusammen, dass die Begriffe „existieren“ und „leben“ verwechselt wer-
den. Diese Verwechslung hat fatale Folgen: das „Existieren“ bekommt auf diese Weise einen aus-
schließlich „erscheinungsmäßigen“ Charakter, und da jeder Begriff eines Urgrundes entfällt, führt
die Tatsache, dass die Existenz nur sich selbst will, zu einer kategorischen und nicht nur scheinba-
ren Sinnlosigkeit. (Das erinnert etwa an die Vorstellung eines körperlichen Auges, das sich selbst
sehen könnte). Auch das „Leben“ selbst muss dann absurd und sinnlos werden. Und doch ist dieses
„Leben“, obwohl sinnlos, hier die Hauptsache: „Handlung“, „Tun“, „persönlicher Einsatz“ werden
hier zu geradezu dogmatischen Forderungen. Das Entfallen des Prinzips führt logischerweise zu
diesem qualvollen Dualismus, der den Menschen buchstäblich in Stücke zerreißt.

Kommen wir auf die Unterscheidung von „existieren“ und „leben“ zurück und auf die Grenze, wel-
che wir zwischen diesen beiden Begriffen gezogen haben. Wir hatten festgestellt, dass diese Grenze
innerhalb des Raumes der Handlung selbst verläuft, im Rahmen der Handlungen, die dem vegetati-
ven Leben in mir oder meiner ich-bezogenen Selbstbestätigung zugutekommen. Betrachte ich die-
sen Sachverhalt In Bezug auf mein psychologisches Bewusstsein, so sieht es zunächst so aus, als ob
der Begriff „existieren“ eine unbewusste Seite — die vegetativen Erscheinungen — und eine be-
wusste Seite — die Handlungen, welche meinem vegetativen Leben dienen — enthielte. Betrachte
ich die Sache näher, so bemerke ich, dass diese Handlungen nicht minder unbewusst sind als meine
vegetativen Vorgänge, da ihr Ziel ja für mein Bewusstsein null ist. Ich kann nicht von mir behaup-
ten, meine Existenz bewusst zu führen, wenn die Wirklichkeit meiner Existenz mir völlig unbe-
wusst ist. Zitieren wir hier ein Zwiegespräch aus der Zen-Literatur:

Ein Mönch: „Gibt es einen bestimmten Weg, den man im Tao beschreiten kann?

Der Meister: „Ja, es gibt einen“

Der Mönch: „Und worin besteht er?“

Der Meister: „Wenn man Hunger verspürt, isst man. Wenn man müde ist, schläft man.

Der Mönch: „Das tun doch alle anderen Leute auch. Ist ihr Weg denn derselbe wie Eurer?

Der Meister: „Es ist nicht derselbe.

Der Mönch: „Wieso nicht?“

Der Meister: „Wenn sie essen, so essen sie nicht nur, sondern sie hegen alle möglichen Vorstellun-
gen. Wenn sie schlafen, so schlafen sie nicht nur, sondern lassen unzähligen, über üssigen Gedan-
ken freien Lauf. Dies ist der Grund, warum ihr Weg nicht mein Weg ist.

28

fl

Dem Durchschnittsmenschen sind nur Bilder bewusst. So nimmt es nicht wunder, dass das „Existie-
ren“, welches wirklich ist und drei Dimensionen hat, ihm nicht bewusst ist. Das also, worin ich
wirklich bin, ist mir nicht bewusst, und was in mir bewusst ist, hat nur illusorischen Charakter.

Das Eintreten des Satori ist nichts anderes als das Bewusstwerden des “Existierens“, das jetzt noch
unbewusst in mir ruht, das Bewusstwerden der prinzipiellen und uranfänglichen Wirklichkeit dieses
universellen, vegetativen Lebens, welches in meiner Person eine Erscheinungsform des Absoluten
Prinzips geworden ist, das, worin ich „Ich“ und zugleich unendlich mehr als „Ich“ bin, Immanenz
und Transzendenz zugleich. Es ist das, was das Zen „Selbstschau“ nennt. So wird auch verständlich,
warum das Zen immer wieder auf die Aufrechterhaltung unseres vegetativen Lebens zurückkommt.
Dem Schüler, der nach einem Weg zur Weisheit fragt, antwortet der Meister; „Wenn wir Hunger
haben, essen wir. Wenn wir müde sind, dann legen wir uns hin.“ Diese Lehre mag der Selbstliebe
des ich-bezogenen Menschen verächtlich erscheinen, denn dieser träumt von „geistigen“ Heldenta-
ten und von persönlichen „ekstatischen“ Beziehungen zu einem persönlichen Gott, dessen Bild er
sich formt.

Es wäre falsch, die Rehabilitierung des vegetativen Lebens und der ihm dienlichen Handlungen als
tatsächliche innere Anstrengung vonseiten des „Gefühls“ her zu verstehen. Der Zen-Meister ist klug
genug, um dem Durchschnittsmenschen nicht irgendeine Autosuggestion zu empfehlen, durch die er
sich einreden könnte — etwa durch Stillung seines Hungers — nun endlich mit der absoluten Wirk-
lichkeit in Berührung getreten zu sein. Das hieße, alte bildhafte Träume unserer Einbildung durch
ein anderes Traumgebilde und durch die theoretische Vorstellung einer kosmischen Teilhabe erset-
zen und so würde alles beim Alten bleiben. Der Durchschnittsmensch braucht nicht sein vegetatives
Leben besonders zu rehabilitieren, er muss nur eines Tages die unmittelbare Wahrnehmung vom
unendlichen Wert dieses Lebens gewinnen auf Grund der vollständigen Entwertung eines nur ich-
bezogenen Lebens. Die innere Arbeit besteht also nicht darin, irgendetwas zu „tun“, sondern etwas
„nicht zu tun“ und alle ich-bezogenen illusorischen Anschauungen abzulegen, welche das Licht des
„dritten Auges“ krampfhaft verschlossen halten.

Was wir bisher über den unbewussten Charakter unseres vegetativen Lebens gesagt haben, ist je-
doch nur annähernd richtig. Es wäre angebrachter, von „unbewusstem Bewusstsein“ oder von „indi-
rektem oder mittelbarem Bewusstsein“ zu sprechen und das Satori nicht als neu entstehendes Be-
wusstsein ex nihilo zu betrachten, sondern als „Metamorphose“ vom mittelbaren zum unmittelbaren
Bewusstsein. Wenn ich den Ausdruck indirektes Bewusstsein gebrauche, will ich damit sagen, dass
ich indirekt über die Wirklichkeit meines vegetativen Lebens unterrichtet bin, da ich auf direkte
Weise nur dessen Schwankungen beobachte, welche die bestimmenden Erscheinungen meines Le-
bens bedrohen. Wenn ich Hunger habe, so erkenne ich auf direkte Weise, dass Entkräftung meine
vegetative Existenz bedroht. Besäße ich keine Art vegetativen Bewusstseins, so hätte ich auch nicht
das Bewusstsein, dass seine erscheinungsmäßige Äußerung bedroht ist. Mein Hunger verschafft mir
ein indirektes Bewusstsein meiner vegetativen Existenz. Ebenso bedeuten die Gefühle von Freude
und Trauer der ich-bezogenen Bejahungen und Verneinungen immer auch Verringerungen und Ver-
größerungen jener Bedrohung, welche die ganze äußere Welt für die Gesamtheit meiner vegetativen
Existenz darstellt. Auch sie vermitteln uns ein indirektes Bewusstsein dieser Existenz.

Alle positiven und negativen Schwankungen meines Gefühlslebens entspringen also der reinen und
vollkommenen vegetativen Urfreude. Diese wird aber nicht in direkter Weise nachempfunden, son-
dern indirekt in den Schwankungen von Sicherheit und Unsicherheit dieses vegetativen Lebens.
Und es sei wiederholt: die direkte Wahrnehmung dieser vollkommenen existentiell-vegetativen
Freude hätte nicht nur keinerlei Furcht vor dem Tode zur Folge, sondern sie würde diese Todesangst
für immer neutralisieren. Tatsächlich setzt die Todesfurcht die frei vorgestellte geistige Beschwö-
rung des Todes voraus. Die direkte Wahrnehmung hingegen der dreidimensionalen existentiellen
Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick vermag alle diese phantastischen Vorstellungen hinweg
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zu bannen, welche sich auf eine Vergangenheit oder Zukunft beziehen, die keine gegenwärtige
Wirklichkeit besitzen. Im Satori ist der Mensch vollkommen glücklich, so zu existieren wie er exis-
tiert, bis zum letzten Augenblick, wo das Aufhören der geistigen Funktionen auch das Aufhören jeg-
licher menschlichen Freude und jeglichen menschlichen Leides zur Folge hat.

Ich kann sagen, dass ich direktes Bewusstsein nicht von meiner Existenz, von meinem existierenden
Ich habe, sondern nur von den jeweiligen erscheinungsmäßigen Veränderungen dieser Existenz.
Mein Glaube an die absolute Wirklichkeit dieser Veränderungen trennt mich gerade vom Bewusst-
sein dessen, was hinter diesen Veränderungen steht. Dies, was hinter den Veränderungen wirklich
ist, verändert sich nicht, es ist die Seins-Existenz, das Prinzip meiner Erscheinungsexistenz. Ich
muss die völlige Gleichheit der variierenden Erscheinungen begreifen (Freude oder Trauer, Leben
oder Tod) in Bezug auf das, was hinter diesen Veränderungen ist. Dies Begreifen muss bis in das
Zentrum meines Ichs durchdringen, um mir schließlich das Bewusstsein von dem zu verschaffen,
was hinter den Veränderungen ist, nämlich das Bewusstsein meiner Seins-Existenz bzw. meiner ab-
soluten Wirklichkeit.

Das Zen sagt, die Knechtschaft des Menschen beruhe auf seinem Verlangen, zu existieren. Der geis-
tige Apparat des Menschen entwickelt sich in der Weise, dass seine ersten Wahrnehmungen nicht
die Wahrnehmungen seiner Existenz, sondern nur einzelner Teilbilder sind, die den Eindruck völli-
ger Abwesenheit des Existenz-Bewusstseins und so den Wunsch nach diesem Bewusstsein im Geis-
te verankern. Es gehört zur Grundsituation des Menschen, dass er notwendigerweise das Existenz-
verlangen durchleben muss, um das existentielle Bewusstsein zu erreichen, welches dies Verlangen
dann aufhebt. Nur das richtig verstandene Scheitern aller Versuche, den Existenzdrang zu befriedi-
gen, ist imstande das Hindernis zu beseitigen, welches in eben diesem Verlangen nach Existenz be-
steht.

Bei wie vielen Menschen kann man den tiefen Schrecken darüber beobachten, dass sie „ihr Leben
verpfuscht haben“! Dabei gibt es nichts, was gelingen oder misslingen könnte. Aber eine gewisse
zeitliche Verwirklichung ist für das Satori in gewissermaßen negativer Weise nötig, Solange es dem
Menschen nicht gelingt, seine Bemühungen hinsichtlich der Befriedigung seines Existenzbedürfnis-
ses vollkommen auszuführen, kann er über dieses Verlangen nicht hinauswachsen. In diesem Sinne
muss der Mensch sogar durch das Stadium des illusorischen „Lebens“ hindurchgehen, um das wirk-
liche „Existieren“ zu erreichen. Das „Existieren“ geht in Wirklichkeit dem „Leben“ voraus, wie ja
das Prinzip notwendigerweise seiner Erscheinungsform vorangehen muss. Aber im Verlaufe der
zeitlichen Dauer muss der Mensch durch das Bewusstsein zu „leben“ hindurchgehen, um dasjenige
des „Existierens“ erreichen zu können, das, solange der Mensch als Organismus lebt, identisch ist
mit dem des „Seins“.

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V. DIE MECHANIK DER ANGST

Wenn der Mensch sich mit unparteiischen Augen beobachtet, muss er feststellen, dass er weder der
willentlich bewusste Erzeuger seiner Gefühle noch seiner Gedanken ist, dass seine Gefühle und Ge-
danken nur Erscheinungen sind, die in ihm auftauchen. Das ist eine Wahrnehmung, die man leicht
bei seinen Gefühlen, aber nur schwer bei seinen Gedanken machen kann. Betrachte ich mich aber
genau, so wird mir klar, dass auch meine Gedanken mir nur zufallen. Ich kann zwar den Gegenstand
meines Denkens bestimmen, aber nicht die Gedanken selbst. Diese muss ich nehmen, wie sie kom-
men.

Da ich weder der bewusste Erzeuger meiner Gefühle noch meiner Gedanken bin, muss ich zugeben,
dass ich auch nicht der willentliche Erzeuger meines Handelns bin, daher nichts völlig frei „tun“
kann.

Diese in Bezug auf mein Bewusstsein und meinen Willen richtigen negativen Feststellungen führen
mich dazu, die mögliche Erscheinung von wirklichem Bewusstsein und Willen im Menschen, also
in mir, zu erwägen. Ich frage mich nach den Mitteln zur Verwirklichung dieser Möglichkeiten. Ich
frage mich umso eifriger, als ich, verbunden mit dem Fehlen einer wirklichen Selbstbeherrschung,
in mir eine grundsätzliche Angst verspüre, die sich auf direkte Weise in „moralischen“ Leiden äu-
ßert und durch kurz befristete Momente der Freude nur unterbrochen wird.

Auf der Suche nach Mitteln zu meiner Befreiung unterscheide ich bei den verschiedenen Lehren,
die eine Möglichkeit der Befreiung oder der „Verwirklichung“ im Verlaufe meiner Existenz in Aus-
sicht stellen, zwei Richtungen.

Die meisten dieser Lehren stützen sich auf folgende irrige Theorie: wirkliches Bewusstsein und
wirklicher Wille fehlen dem Durchschnittsmenschen. Bei seiner Geburt besitzt er sie nicht, er muss
sie erst erwerben und mittels einer besonderen inneren Arbeit in sich selbst entwickeln. Diese Arbeit
ist schwierig und zeitraubend, ihr Resultat wird folglich eine fortschreitend langsame Entwicklung
sein, das heißt, der Erwerb des Bewusstseins und des Willens geht fortschreitend vor sich. Der
Mensch wächst langsam über sich hinaus, erklettert eine immer höhere Stufe seiner Entwicklung
und erhält ein immer höheres Bewusstsein, bis er sich progressiv dem höchsten Bewusstsein nähert,
dem „objektiven“, „kosmischen“ oder „absoluten“ Bewusstsein.

Das Zen vertritt eine radikal entgegengesetzte Lehre. Nach dieser Lehre fehlt es dem Menschen
nicht an Bewusstsein und Willen an sich, es fehlt ihm überhaupt nichts und er hat in sich alles, des-
sen er bedarf. Von aller Ewigkeit her entstammt er „der Natur Buddhas“. Nichts fehlt daran, dass
sein zeitlicher Organismus auf direktem Wege durch das Absolute Prinzip, das heißt durch sein ei-
genes schöpferisches Prinzip, bestimmt werden könnte, frei zu sein. Er ist einer Maschine ver-
gleichbar, an der kein Rädchen zum absolut vollkommenen Funktionsablauf fehlt. Aber seine men-
schliche Grundsituation von Geburt an bringt eine gewisse Abweichung der Entwicklung mit sich,
die, wie wir sehen werden, eine Art von Hiatus im Gefolge hat, eine Unstimmigkeit, welche sein
Gefüge in zwei getrennte Bereiche aufteilt, in Soma und Psyche. Auf Grund dieser Unstimmigkeit
genießt der Mensch nicht die Vorzüge seines absoluten Wesens, das doch durchaus sein eigenes ist.
Der Einwand besteht zu Unrecht, dass dieser Mangel an Einstimmigkeit der Mangel an irgend einer
Sache sei. Die Maschine ist vollkommen und vollständig bis in die kleinste Einzelheit hinein, kein
Teil fehlt, das man bearbeiten oder einsetzen müsste, um ein richtiges Funktionieren zu ermögli-
chen. Es handelt sich nur darum, eine Verbindung zwischen den beiden unverbundenen Teilen her-
zustellen. Wenden wir statt dieses mechanischen Vergleiches einen chemischen an, so können wir
sagen: keine Substanz fehlt von jenen, die eine richtige Reaktion zustande zubringen vermögen. Al-
les ist vorhanden, es muss nur ein Kontakt hergestellt werden, der die Reaktion auslösen kann. Nach
einem andern Beispiel aus dem Denken des Zen ist der Mensch einer Eismasse vergleichbar, der

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absolut nichts mangelt, um der Natur des Wassers zu entsprechen. Es ist nur nötig, eine gewisse
Wärme zu produzieren, um das Eis zum Auftauen zu bringen und die Eigenschaften des Wassers
sichtbar werden zu lassen.

Diese Auffassung birgt in sich notwendigerweise den plötzlichen, blitzhaften Charakter der „Ver-
wirklichung“ des Menschen. Entweder es kommt zu keiner Vereinigung zwischen diesen beiden
Teilen des Menschen, dann erreicht er nicht seinen göttlichen Wesenskern, oder aber der direkte
Kontakt wird hergestellt, dann fehlt dem Menschen nichts mehr und er gelangt augenblicklich in
den Genuss seines göttlichen Wesenskernes. Die innere Arbeit, die zur Herstellung dieses direkten
Kontaktes führt, ist schwierig und langwierig, daher progressiver Natur. Die innere Vorbereitung auf
die Befreiung ist progressiv, aber nicht die Befreiung selbst. Im Laufe seiner fortschreitenden inne-
ren Vorbereitung nähert sich der Mensch in chronologischer Folge seiner zukünftigen Freiheit, doch
ohne sie auch nur zu einem kleinsten Bruchteil zu genießen, bevor er ihrer nicht völlig inne ist. Das
einzige, was er im Verlaufe seiner Vorbereitung verspürt, ist ein Nachlassen des Leidens über die
Tatsache, nicht frei zu sein. Er be ndet sich in der Lage eines Gefangenen, der sorgfältig daran ar-
beitet, die Eisenstäbe seines Gitters mit der Feile zu durchsägen. Seine Arbeit schreitet fort und nä-
hert ihn progressiv und im Rahmen der Zeit seiner Fluchtmöglichkeit. Solange aber die Arbeit nicht
beendet ist, bleibt dieser Mensch ganz und gar Gefangener. Er wird nicht allmählich frei. Eine Zeit
lang ist er völlig unfrei, im Augenblick aber, wo die Eisenstäbe nachgeben, ist er ganz frei. Der ein-
zige progressive Nutzen, dieser Arbeit besteht in der wachsenden Erleichterung der Qual, Gefange-
ner zu sein. Heute wie gestern ist er Gefangener, aber er leidet immer weniger darunter, weil seine
plötzliche Befreiung mit dem Fortgang der Zeit näher rückt.

Man kann denselben Vorgang auch in anderer Art aufzeigen, so wie er in dem Gespräch von Jesus
und Nikodemus zutage tritt. Jesus sagt, dass der Mensch sterben muss, um wiedergeboren zu wer-
den. Fortschreitend geht der alte Mensch, auf Grund einer speziellen inneren Arbeit, seinem Tod
entgegen, aber dieser Tod selbst und die Auferstehung zu einem anderen Leben sind nur die beiden
Aspekte eines einzigen und plötzlichen inneren Ereignisses. Der „alte Mensch“ kann mehr oder we-
niger im Sterben liegen, er kann aber nicht mehr oder weniger gestorben sein. Auch der „neue
Mensch“ ist entweder geboren oder noch nicht vorhanden, aber er kann nicht mehr oder weniger
geboren sein. Nach dem Zen heißt dieses einmalige und plötzliche innere Ereignis „Satori“ oder
„das sich öffnen des Dritten Auges“, und hierbei wird der “plötzliche“ Charakter dieses Ereignisses
betont.

„Mit einem Schlag habe ich die Höhle der Gespenster zermalmt.“

„Der leichte Kontakt eines gespannten Fadens genügt, und es entsteht eine Explosion, welche die
Erde in ihren tiefsten Schichten erschüttert. Alles, was in den Tiefen des Geistes brach lag, bricht
wie ein Vulkan hervor, zuckt auf wie ein Blitz.“

Das Zen nennt dies „die Rückkehr zu sich selbst“. „Ihr habt euch jetzt selbst gefunden. Vom ersten
Anbeginn ist euch nichts vorenthalten worden. Nur ihr selbst hieltet die Augen vor der Wirklichkeit
verschlossen.“

Die radikale Verschiedenheit dessen, was im Orient als „progressive“ Methode und dessen, was dort
als „abrupte“ Methode bezeichnet wird, hat wesentliche Folgen für die Betrachtung und Praxis der
inneren Befreiungsarbeit.

Versuchen wir nun, im Einvernehmen mit der allgemeinen Zenlehre, die gewöhnliche Grundsituati-
on des Menschen im einzelnen zu betrachten, den Mangel an innerer Einstimmigkeit, von dem wir
sprachen, und die funktionsbedingten Folgen dieser Grundsituation.

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Es wird zuerst nötig sein, die Grundsituation des „verwirklichten“ vollkommenen Menschen zu um-
reißen, der seiner eigenen göttlichen Wesenhaftigkeit inne ist. Dieser Mensch verfügt über ein psy-
chosomatisches Gefüge, das sich aus einem Soma, dem animalischen Triebwerk seines Körpers,
und einer Psyche zusammensetzt. Die Psyche dieses Menschen ist reines Denken oder freie Intelli-
genz, welche unabhängig von jeder Beein ussung des animalischen Triebwerks funktioniert, aber
durch den höheren Ein uss der Absoluten Wahrheit bestimmt ist. Diese Psyche kann auch als Gött-
liche Vernunft oder als Kosmische Intelligenz bezeichnet werden. Eine aus diesem freien Verständ-
nis, aus dieser unabhängig wirkenden Intelligenz hervorgehende und in das animalische Triebwerk
eindringende Kraft vereint diese beiden Teile des Menschen zu einer dreifachen Synthese, die dem
Absoluten Prinzip verbunden ist und an seinem Wesen teilhat. Das animalische Triebwerk enthält
eine bestimmte Substanz, welche, verbunden mit einer andern, in der Freien Intelligenz enthaltenen
Substanz, die Absolute Substanz des völlig „verwirklichten“ Menschen hervorbringt. Jene Substanz,
die im animalischen Triebwerk enthalten ist und aus der Natur entspringt, welche dieses Triebwerk
erzeugt, wollen wir hiermit „pro- göttliche negative Substanz“ nennen. Die in der Freien Intelligenz
enthaltene und der “übernatürlichen“ Wahrheit entspringende Substanz wollen wir als „pro- göttli-
che positive Substanz“ bezeichnen. Die aus der Intelligenz stammende und in das Triebwerk ein-
dringende Kraft kann als die richtige Liebe des Menschen zu sich selbst aufgefasst werden. Es ist
die Hypostase, die neutralisierende oder versöhnende Kraft, welche die Verschmelzung der beiden
pro-göttlichen Substanzen und somit die Erscheinung der Göttlichen oder Absoluten Substanz er-
möglicht. Die pro-göttliche negative Substanz kann auch als „weibliche“ Substanz (gewissermaßen
wie die Eizelle des „Seins“), die pro-göttliche positive Substanz kann auch als die „männliche“
Substanz (wie der Samen des „Seins“) bezeichnet werden. Die Vereinigung dieser beiden Substan-
zen auf Grund des Eindringens einer Kraft der Intelligenz in das Triebwerk, entspricht einer Art von
innerer Befruchtung, einem Liebesakt, der die Geburt des „neuen Menschen“ zur Folge hat.

Betrachten wir nun in Beziehung zu diesem verwirklichten Menschen die natürliche Entwicklung
des menschlichen Lebewesens,

A. DER ZUSTAND DES GEWÖHNLICHEN, d.h. NOCHNICHT-VERWIRKLICHTEN MEN-


SCHEN IN DEN ERSTEN STADIEN SEINES DASEINS.

Die freie Intelligenz ist noch nicht erschienen, Auch die pro-göttliche positive Substanz ist damit
noch nicht in Erscheinung getreten. Das Triebwerk ist vorhanden, aber noch unvollkommen entwi-
ckelt. Das Gehirn und das geistige Bewusstsein, das von ihm abhängt, sind im Begriffe sich zu bil-
den, sind aber noch nicht fertig. Auch die pro-göttliche negative Substanz ist noch nicht vorhanden,
denn sie hängt von der Synthese des vollkommen aufgebauten animalischen Triebwerks ab. Da der
geistige Bereich noch nicht völlig ausgebildet ist, hat das Kind noch kein Bewusstsein von dem Un-
terschied, der zwischen Ich und Nicht-Ich besteht. Es bewegt sich in der Außenwelt, ohne sich sei-
ner Grenzen bewusst zu sein.

B. DIE VOLLENDUNG DES ORGANISCHEN TRIEBWERKS. DAS AUFTRETEN DER PRO-


GÖTTLICHEN NEGATIVEN SUBSTANZ.

Das animalische Gehirn ist jetzt entwickelt (im Alter von l bis 2 Jahren), Das Triebwerk ist fertig
und die pro-göttliche negative Substanz somit vorhanden. Der reine animalisch-mentale Bereich,
der, ganz wie beim Tier, nur konkrete Wahrnehmungen erlaubt, ist völlig aufgebaut. Die Freie Intel-
ligenz indessen, die Möglichkeit des Mentalen, unter dem Ein uss der Absoluten Wahrheit zu funk-
tionieren, ist noch nicht gegenwärtig. Auch die pro-göttliche positive Substanz liegt noch nicht vor.
Wie beim nicht-menschlichen Lebewesen gibt es nur die vorgöttliche negative Substanz. Die Ent-
wicklung des animalisch-mentalen Bereichs ermöglicht aber die konkrete Bewusstwerdung des Un-
terschiedes von Ich und Nicht-Ich, die notwendigerweise im Kind ein Trauma erzeugt. Es hatte bis
dahin in der unbewussten, stillschweigenden Überzeugung gelebt, dass das Bewegungsprinzip sei-
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nes Daseins das Bewegungsprinzip des Alls sei. Nichts besaß gegenüber ihm selbst eine autonome
Existenz, folglich hatte seine eigene Existenz nichts zu befürchten. Nun wird ihm plötzlich bewusst,
dass sein Prinzip nicht dasjenige des Universums zu sein scheint, dass es „allerlei Dinge“ gibt, die
unabhängig von ihm selbst vorhanden sind. Es nimmt davon Kenntnis, leidet aber an der Begeg-
nung mit den „Widerständen dieser Welt“. Zugleich damit erwacht die bewusste Angst vor dem
Tode, vor der Gefahr, die das Nicht-Ich für das Ich darstellt. Psychisch entsteht ein gefühlsmäßiger
Kriegszustand zwischen Ich und Nicht-Ich. Das Kind will nämlich leben und es will die Zerstörung
all dessen, was außerhalb seiner selbst existiert und seiner eigenen Existenz abträglich sein könnte.
Das Kind drückt das etwa so aus: „Nur ich! Nicht du!“ Es bestätigt sich, indem es „nein“ sagt. Als
Ich wird alles das aufgefasst, was der eigenen Existenz vorteilhaft ist. Das Nicht-Ich ist alles, was
diese Existenz bedroht, oder eine mögliche Bedrohung vorstellt, soweit es sich eben nicht als
freundlich erweist. Die sich hieraus ergebende gefühlsmäßige Lage ist sehr einfach; zwei feindliche
Lager, zwei Parteien, welche sich zu beiden Seiten einer Schranke be nden. Der Kampfeinsatz
heißt Leben oder Tod. Ist die Mutter des kleinen Menschen freundlich, so gehört sie zu dessen Ich,
verkörpert eine großartige Verteidigung gegen den Tod und das Kind fühlt sich unter dem Schutz
dieses Verbündeten beruhigt. Ist die Mutter aber böse („ich mag dich nicht mehr, du bist nicht mehr
mein lieber kleiner Junge“), dann gehört sie zum Nicht-Ich, die großartige Verteidigung löst sich auf
und das Kind heult aus Angst vor dem Tod (obwohl es natürlich keine klare Vorstellung vom Tod
hat).

In der einfachen Situation dieses lebensgefährlichen Duells mit dem Nicht-Ich nimmt das Kind eine
völlig parteiische Stellung ein. Mangels Freier Intelligenz verfügt es nicht über die geringste Unpar-
teilichkeit und ist unfähig, sich in die Lage eines andern zu versetzen. Sein offensives oder defensi-
ves Verhalten wird nur durch nützlichkeits- und „strategische“ Zweckmäßigkeitsgründe bestimmt.
Das Verhalten des Kindes gegenüber dem Nicht-Ich wird ausschließlich durch das „Nein“ be-
stimmt, gleich ob es nun in klarer Weise ausgesprochen wird oder nicht und ob es gemäß der jewei-
ligen Art des stetigen Kampfes einen mehr oder weniger heftigen Charakter annimmt. Die Gründe
für das Verhalten des Kindes sind völlig irrationaler und gefühlsmäßiger Natur.

C. DAS ERSCHEINEN DER FREIEN INTELLIGENZ UND DER PRO-GÖTTLICHEN POSITI-


VEN SUBSTANZ.

Die Freie Intelligenz erscheint nur beim menschlichen Lebewesen, etwa im Alter von 7 bis 8 Jah-
ren. Erst jetzt wird der Geist abstrakter, allgemeiner und unparteiischer Wahrnehmungen fähig. Das
Kind vermag sich nun in die Lage eines anderen hineinzuversetzen; es kann unabhängig von der
Bejahung des Ich gegenüber dem Nicht-Ich Werte erkennen. Es ist nun imstande, Dinge und Ge-
schehnisse für wünschenswert zu halten, ohne sich dabei um den Ausgang seines Kampfes gegen
das Nicht-Ich zu kümmern. Neben der Tendenz, den Aufbau des eigenen Organismus zu sichern,
erscheint ein Streben nach Aufbau im Allgemeinen, ein Streben am kosmischen Bau teilzunehmen.
Das Kind kann die allgemeinen Ideen des Guten, Schönen und Wahren begreifen und sich von ih-
nen angezogen fühlen. Aber im Augenblick, wo die Freie Intelligenz des Kindes in Erscheinung
tritt, ist das ganze starke Getriebe seines Gefühlslebens schon auf eine völlig einseitige Sicht seiner
Stellung im Universum aufgebaut. Der „abstrakte Teil“ des Menschen erscheint sehr spät, zu einem
Zeitpunkt, da die Struktur des „animalischen Teils“ schon fest in einer Lebensweise eines rein per-
sönlich-parteiischen Charakters verankert ist. Das Denken des „Geistes“ bejaht das Ganze, wobei
das Eine und das Vielfache sich versöhnen. Das animalische Denken kann nur das Eine bejahen und
das Vielfache, das außerhalb dieses Einen besieht, negieren. Es kann sich niemals zum reinen Den-
ken aufschwingen. Das reine Denken sollte vielmehr zum animalischen Denken hinabsteigen. Da
das reine Denken aber nur nach Unparteilichkeit strebt, wendet es sich von der Einseitigkeit des
Animalischen ab und drängt ungestüm zu den reinen Begriffen, die es selbst erzeugt (“Eros“, die
Liebe des Menschen zu „Gott“). Eine Kluft trennt diese beiden Teile im Menschen. Ungeeint leben
sie nebeneinander. Auf Grund dieser mangelnden Einigung kann der Mensch nicht zu absolutem
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Bewusstsein gelangen, kann nicht die restlos beglückende Erfüllung kennen, die aus einem solchen
Bewusstsein quillt. Der abstrakte, vom animalischen isolierte Teil, kann nur substanzlose Formen
hervorbringen, bloße „Bilder“, denen die Tiefe fehlt. Er erzeugt ein „universelles Idealbild“, man
könnte auch sagen, ein „göttliches Abbild“, das stets auf das Schöne-Gute-Wahre gegründet ist, und
das, mangels absoluten Bewusstseins, auf das zeitliche Bild projiziert wird, das der Mensch von
sich selbst gewinnt. Dadurch entsteht ein „persönliches Idealbild“ narzisstischen Charakters, das
„Ego“.

Da die beiden erwähnten Teile des Menschen sich nicht ihrer eigentlichen Bestimmung gemäß ver-
einen können, nimmt der Mensch am Wesen des Absoluten Prinzips nicht teil und vergöttert ein we-
senloses Bild, das Ego. Mangels richtiger Liebe seines abstrakten Teils zum animalischen Teil muss
sich der Mensch mit einem bloßen Ersatz dieser Liebe, nämlich der „Eigenliebe“ begnügen, die die
Liebe seines abstrakten Teils zum Idealbild seiner selbst darstellt.

Die unversöhnliche Dualität dieser beiden Teile hat zur Folge, dass der Mensch von zwei verschie-
denen energetischen Systemen bestimmt und bewegt wird, die auf mancherlei Art in Wechselwir-
kung treten, wobei sie sich gegenseitig bald begünstigen, bald bekämpfen.

1. Fall: Die Freie Intelligenz ist schwach und die beiden Systeme stützen sich gegenseitig, Das Ver-
halten wird eine Prestigefrage.

Dieser dualistische Mensch ohne innere Einheit, der aber seines absoluten Wesens wegen das Be-
dürfnis nach Einheit in sich trägt, betrügt sich selbst und spielt sich innerlich eine lügenhafte Ko-
mödie vor, um in sich selbst den Anschein innerer Einheit zu erwecken. Er betrügt sich, indem er
entweder seine Anschauungen dem animalischen Teil in sich anpasst, oder umgekehrt.

Der erste dieser beiden Fälle kommt bei Menschen vor, deren Freie Intelligenz schwach ist. Bei ei-
nem Menschen dieser Art ist die Vorstellung vom Abstrakten und Allgemeinen zu schwach, als dass
sie verhindern könnte, das Besondere, das Konkrete als nicht wirklich erscheinen zu lassen. Ein sol-
cher Mensch lebt folglich im Konkreten, d. h. vom Standpunkt der Zeit aus betrachtet, in der Dauer
und nicht im Ewigen. Da er sich mit bloßer Dauer zufrieden geben kann, will er den Sieg seines Ich
über das Nicht-Ich nur als letztes Ziel; es ist ihm also möglich, etwaige Misserfolge in Kauf zu
nehmen, ohne dass sein ich-bezogenes „göttliches“ Abbild in unerträglicher Weise dadurch verletzt
würde. Dieser Mensch erhebt nur Anspruch, im Rahmen der zeitlich bedingten Dauer Erfolg zu ha-
ben, er sucht in tatsächlichen zeitlichen Verwirklichungen seine ich-bezogene Selbstbestätigung.
Der abstrakte Teil seines Wesens will dasselbe wie sein animalischer Teil; er betont sogar die in-
stinkthaften Forderungen. In diesem Menschen entsteht kein innerer Bruch. Er „rationalisiert“ seine
Bedürfnisse. Mittels einer Lüge bringt er seine idealen „Prinzipien“ auf einen Nenner mit seinem
Machtwillen. Noch genauer: er deutet seine praktischen Probleme in der Weise, dass der Verstand
seine instinktiven Tendenzen legalisiert.

2. Fall: Die Freie Intelligenz ist stark. Die beiden Systeme be nden sich in gegenseitigem Kampf.
Die „Furcht vor dem Scheitern“. Die Angst.

Der Mensch, dessen abstrakte Seite stark genug entwickelt ist, emp ndet geistig im Abstrakten und
Allgemeinen, einen höheren Grad von Wirklichkeit als im Konkreten und Besonderen. Beim Jagen
nach dem Sieg des Ich über das Nicht- Ich wird jeder einzelne Erfolg von der allgemeinen Idee des
Erfolges überstrahlt. Sein Denken bewegt sich nicht im Rahmen der Dauer, sondern unter dem
Blickwinkel der Ewigkeit. Da er aber tatsächlich in der Dauer lebt und der Schnittpunkt von Ewig-
keit und Dauer der Augenblick ist, lebt dieser Mensch im Augenblick. Dies ist der Typus Mensch
des „alles und sofort“. Den Sieg über das Nicht-Ich will er nicht letzten Endes sondern sofort, im
Augenblick. Er erhebt den Anspruch, gleich im gegenwärtigen Augenblick zeitlichen Erfolg zu ha-
ben.
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Aber ein solch völliger, augenblicklicher Sieg über irgendeinen Aspekt des Nicht-Ich ist ganz offen-
sichtlich unmöglich. Nichts kann im Zeitlichen, ohne Dauer gelingen. Um sich also nicht bis ins
Zentrum seines Wesens hinein negiert zu fühlen, muss dieser Mensch, wie man sagt, irgendetwas
unternehmen: Er wird „sich gut zureden“; er wird den vorher erhobenen Anspruch auf diese oder
jene Äußerung seiner zeitlichen Allmacht zurückziehen („diese Trauben sind mir zu sauer“). Er
„fügt“ sich, den begrenzenden Bedingungen seiner zeitlichen Existenz; er behauptet, sie willentlich
und frei anzunehmen. In Wirklichkeit aber nimmt er diese Grenzen durchaus nicht an, noch kann er
sie annehmen; er ndet sich nur mit Ihnen ab; das heißt, ohne sie anzunehmen, spielt er sich die
bloße Komödie des Annehmens vor.

Es ist wesentlich, diesen Unterschied zwischen wirklichem Annehmen und bloßem Sich ab nden zu
verstehen. Annehmen, eine Situation wirklich annehmen, das heißt, mit seinem ganzen Wesen zu
denken und zu fühlen, dass man, böte sich die Möglichkeit einer Änderung, keinerlei Grund hätte,
etwas zu verändern. In seiner dualistischen und unversöhnten Grundsituation, bei der Vernunft und
Gefühl auseinanderklaffen, kann der Mensch jedoch unmöglich gefühlsmäßig die Existenz eines
Nicht-Ich gelten lassen, durch welches er sich angegriffen und negiert fühlt. Er kann nur so tun, als
ob er es annähme, daher kann er sich nur damit ab nden. Sich mit etwas ab nden heißt, es praktisch
annehmen und theoretisch verweigern. Diese beiden Faktoren aber sind unversöhnt und bleiben un-
versöhnbar im Inneren des Menschen. Sie bleiben. unversöhnbar, weil sie zwei Sphären angehören,
die durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt sind.

Ein solcher Mensch hält den ihm nötigen Schein innerer Echtheit aufrecht mittels eines psychologi-
schen Verteidigungsmechanismus, der ihn blind für die theoretische Verweigerung seiner zeitlichen
Grundsituation macht (mentales Skotom). Er redet sich ein, dass er annimmt, dass er „weise“, dass
er „vernünftig“ ist. Er macht sich ein Theater vor und führt sich dabei selbst in die Irre. Die „ver-
nünftigen“ Vorsätze, die er fasst, sind zwar in der Tat rationell und stimmen mit der tatsächlichen
Ordnung der Dinge im Kosmos überein. Aber ein solcher Mensch hat Unrecht, Recht zu haben, ein-
fach so ohne weiteres, d. h. verfrüht Recht zu haben, dank einer inneren Komödie, die auf zwei Lü-
gen beruht: er betrügt sich, indem er einen instinktiven und unterirdisch in seiner ursprünglichen
Richtung weiter fortbestehenden Anspruch zurückzieht, und betrügt sich, indem er sich einredet,
seinen Anspruch aufzugeben, weil dies vernünftig sei, während er in Wirklichkeit diesen Anspruch
mir aufgibt, um sich nicht vom Nicht-Ich negiert zu sehen. Er spielt den Engel, der er keineswegs
ist. War das typische Wort seines animalischen Teils das „Nein“, so ist dasjenige seines abstrakten
Teils das „Ja“, Aber dies „Ja“ ist kein absolutes „Ja“, es ist nur ein relatives. Es ist nicht das seins-
mäßige „Ja“, sondern nur das erscheinungsmäßige und nicht minder illusorisch, vom absoluten
Standpunkt aus gesehen, als das „Nein“ des animalischen Teiles seines Wesens. Das absolute „Ja“
kann erst später gewonnen werden durch die Vereinigung in einer drei-einigen Synthese des relati-
ven „Ja“ und des relativen „Nein“.

All dies weiß der Mensch nicht und ist stolz auf sein „Ja“, das er als Beweis seiner Herrschaft über
den animalischen Teil seines Wesens und seiner selbst auffasst, obwohl dies durchaus nicht der Fall
ist. Er glaubt richtig damit zu handeln, wenn er mehr und mehr bejaht und gewinnt den Eindruck,
dass er sich der Wirklichkeit anpasse, obwohl er sich diesen ganzen Vorgang der Anpassung nur
vormacht. Er spaltet sich in zwei Personen auf: die „Ja“-Sagende, der „Engel“ in ihm genießt seine
besondere Vorliebe. Er macht sie sich nach Kräften bewusst und hält sie für sein eigentliches Ich.
Währenddessen wird die Person, welche „nein“ in ihm sagt, das „Tier“ in ihm, mit Verachtung be-
straft und zurückgedrängt. Der Mensch verdunkelt nach Kräften sein Bewusstsein von dieser Nein-
Person in sich. Wenn er nicht umhin kann, sie zu sehen, p egt er zu sagen, dass das nicht er selbst
sei, oder er sagt: „Ich weiß nicht, was mich da gepackt hat. Es ist stärker als ich gewesen.“

Die Nein-Person, welche zu Beginn, als das kleine Kind den Gegensatz von Ich und Nicht-Ich er-
fuhr, das Nicht-Ich aus seinem ganzen Wesen leugnete und allein sich behauptete, verliert im Laufe
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der Zeit an Boden in dem Maße, in dem sich die „Anpassungs“-Mechanismen aufbauen und. verfes-
tigen. Immer mehr und immer tiefer wird sie zurückgedrängt und von immer zahlreicher und immer
umfangreicher werdenden Schichten des Anpassungsgefüges überlagert. Langsam und methodisch
wird sie erstickt. Jene Stimme, die sich zwangsläu g angesichts der zeitlich bestimmten Grundsi-
tuation au ehnte, wird nach und nach unterdrückt und zum Schweigen verurteilt. Jede Spontanität
wird durch Trugbilder, durch vernünftige „Verhaltungsweisen“ untergraben.

Bei Menschen mit schwach ausgebildetem vitalen Traditions-Bewusstsein kann die Unterdrückung
der Nein-Natur manchmal gelingen. Das „Tier“ ist zwar nicht vernichtet, (denn solange der Mensch
nicht tot ist, bleibt auch sein „Tier“ am Leben), aber es ist so gut wie tot. Der Mensch, in dem sich
dieser Vorgang abgespielt hat, gilt als „zivilisierter“ Mensch, als ein Mensch, der „sich angepasst
hat“. Dabei stellt sich die Frage, wie dies überhaupt möglich ist, wie der Mensch tatsächlich zu dem
Glauben gelangen kann, dass er seine zeitliche Grundsituation annähme, diese tödlich begrenzte
Grundsituation, die in Wirklichkeit gefühlsmäßig unannehmbar ist. Man fragt sich, wie der Mensch
auf diese Weise leben kann. Es kann ihm hauptsächlich nur gelingen auf Grund des Spieles seiner
Vorstellungsgabe und der Fähigkeit seines Geistes, sich eine subjektive Welt vorzuzaubern, deren
einziges bewegendes Prinzip in diesem Falle er selbst ist, Nie könnte der Mensch darauf verzichten,
nicht das einzige Bewegungsprinzip des realen Universums zu sein, wenn er nicht die tröstliche Fä-
higkeit besäße, ein Universum für sich selbst zu konstruieren, ein Universum, das er ganz allein
hervorbringt.

Der Mensch, mit dem wir uns in Folgendem befassen werden, ist von ganz besonderem Interesse,
denn allmählich wird seine Existenz zu einem wahren Drama: es ist derjenige Mensch, dessen in-
stinktive, vitale Kräfte zu stark sind, als dass es seinen „Anpassungsfähigkeiten“ gelänge, das
„Nein“, das „Tier“ in ihm zu unterdrücken. Eine gewisse Zeit lang versucht er sich anzupassen. Er
redet sieh energisch selbst zu. Seine Vorstellungsgabe, die einem das Gleichgewicht haltenden Krei-
sel gleicht, dreht sich rasch und ist wirksam. Sehr häu g wird dabei ein geschickter Vorgang des
Sich-Anpassens angewendet: auf die geistige Vorstellung irgendeines Aspektes der Außenwelt wird
das „göttliche Abbild“ dieses Menschen projiziert, was der Anbetung irgendeines Abgotts von sei-
ten des Betreffenden gleichkommt, z, B. die Anbetung eines andern menschlichen Lebewesens, die
Anbetung einer „gerechten Sache“ oder eines mehr oder weniger persönlich verstandenen „Gottes“,
etc. Dieser Vorgang scheint den Dualismus von Ich und Nicht-Ich aufzuheben und ordnet alles, so-
lange er anhält.

Die Lage wird aber bedenklich, sobald all diese Vorgänge des „Sich-Anpassens“ ihre Wirksamkeit
verlieren, die Haltung der Vergötterung zusammenbricht oder sich überhaupt nicht einstellt und das
Tier im Menschen sich nicht mehr darauf einlassen will, seine Forderung, das Nicht-Ich zu besie-
gen, unaufhörlich einzudämmen; wenn der Fuchs, weil er zu lange die Trauben für sauer erachtet
hat, Gefahr läuft, vor Hunger zu sterben; wenn der Mensch in den Tiefen seines Wesens das Tier in
sich zornig aufbrüllen hört.

In diesem Augenblick, erscheint Angst sowie die sogenannte Furcht vor dem Scheitern. Untersu-
chen wir, was sich genau hierbei im Menschen abspielt. Wir werden zeigen, dass der Ausdruck
„Furcht vor dem Scheitern“ nicht genau stimmt. Die Erscheinungen, auf die wir hier eingehen, voll-
ziehen sich im abstrakten Teil des Menschen. Aber diese abstrakte Seite ist intellektueller und nicht
gefühlsbedingter Natur. So kann sie auch nicht eigentlich Furcht emp nden. Der von uns beobach-
tete Mensch fordert, wie wir gesehen haben, auf der zeitlichen Ebene augenblicklichen Erfolg, so-
mit fordert er etwas Unmögliches. Um zu verhindern, sich vom konkreten Ereignis negiert zu füh-
len, muss er diesen Anspruch aufgeben. Der abstrakte Teil seines Wesens hat nicht eigentlich Furcht
vor dem konkreten Scheitern, ein äußerst starkes, sozusagen zahnräderartiges, psychologisches Ge-
triebe untersagt ihm vielmehr, überhaupt die Möglichkeit eines solchen Scheiterns in Betracht zu
ziehen. Damit weigert sich der abstrakte Teil seines Wesens, ein Scheitern zuzulassen; um es zu
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verweigern und zu leugnen, lehnt er den Kampf gegen das Nicht-Ich ab, denn dieser Kampf muss
aussichtslos erscheinen, gemessen an dem auf den Augenblick zugespitzten Totalitätsanspruch die-
ses Menschen. Der abstrakte Teil seines Wesens ist nicht davon überzeugt, das Nicht-Ich augen-
blicklich und völlig zu besiegen, so gibt er vor, die Existenz des konkreten Nicht-Ichs zu leugnen
und üchtet sich in das Weltgebilde seiner eigenen Vorstellungskraft. Die animalische Seite seines
Wesens hat eine gewisse Zeit lang dies Verhalten ihrer überlegeneren Partnerin zugelassen.

Und in der Tat hat die Flucht vor der Auseinandersetzung zwischen Ich und Nicht-Ich dieser anima-
lischen Natur im Menschen einige Vorteile verschafft: die Freundschaft der einen, die Hochachtung
der anderen, somit die Gewähr eines gewissen Beistandes gegen das Nicht-Ich. Aber das Leben hat
immer mehr die Hoffnungen einer Entgeltung dafür, dass man liebenswürdig und vernünftig gewe-
sen ist enttäuscht. Unglücksfälle welche man als „unverdient“ emp ndet, sind eingetreten. Der ani-
malische Wesensteil glaubt nicht mehr an die bisherigen Hirngespinste. Er ist der Ansicht, dass man
der Dumme war und es endlich genügt. Er will dem Kampf nicht mehr aus dem Wege gehen und er
ist mit einer friedlichen Haltung, die nichts einbringt, nicht mehr einverstanden. Er ist endlich der
Versprechungen von späterem Nutzen müde, den er nie eintreten sieht. Er will nur noch eines: zu
den Waffen greifen. Unter diesen neuen, Umständen fasst er den Abfall der abstrakten Seite nur
noch als Feigheit vor der Gefahr, als schändlichen Verrat vor dem Feinde auf. Ein solcher Mensch
gleicht einer belagerten Festung, wo die Soldaten, welche nur emp nden oder handeln können, auf
die Rettung ihrer eigenen Haut bedacht sind, und wo der Befehlshaber, der nur überlegt, nichts von
Kampf wissen will und daher be ehlt, die Waffen niederzulegen. Die Truppe kann diesen sinnlosen
Befehl nicht verstehen, zugleich aber kann sie, da kein Befehl oder zumindest irgendeine Genehmi-
gung von oben ergangen ist, nicht kämpfen, wie sie möchte. Sie fühlt sich verlassen und in ihrer
Hil osigkeit erschreckt, Sie emp ndet Angst. Diese Angst ist nicht die Furcht vor dem besonderen
Scheitern, welches in vorliegendem Fall mit inbegriffen ist. Es Ist die Furcht vor dem Tode, diese
altbekannte Furcht, die den Menschen seit seiner ersten Begegnung mit dem Nicht-Ich erfüllt, die-
selbe Furcht, die er schon als Kind empfand, als seine Mutter ihm ihren Beistand zu entziehen
schien.

Die Angst ist also eine Erscheinung in zwei Phasen, und es ist von größter Wichtigkeit, diese zwei
Phasen, in welcher sie sich auslöst, zu unterscheiden. Mit dem „Kopf“, mit der „Vernunft“, mit dem
„Engel“ beginnt es. Der Kopf gibt vor, das Vorhandensein des gefährlichen Nicht-Ichs zu ignorieren
und üchtet sich in Traumgebilde. Damit betätigt aber der Verstand implizite das Vorhandensein des
Nicht-Ichs in der praktischen Wirklichkeit und er läuft so praktisch zum Feind über. Daraufhin wird
die animalische Seite des Menschen, das „Tier“ in ihm, von Furcht befallen, nicht von relativer
Furcht vor dem drohenden relativen Scheitern, sondern von einer totalen Furcht angesichts der tota-
len Todesgefahr, welche das Nicht-Ich für ein Ich darstellt, das durch den Abfall des Verstandes hilf-
los geworden ist. In dem, was man ungenau als „die Furcht vor dem Scheitern“ bezeichnet, stecken
folglich zwei verschiedene Elemente; eine intellektuelle Verweigerung des Scheiterns und eine ge-
fühlsmäßige Furcht nicht vor dem Scheitern, sondern vor dem Tod.

Die irrtümliche Annahme, die In dem Ausdruck „Furcht vor dem Scheitern“ ihren Ausdruck ndet,
macht deutlich, wie sich der circulus viciosus der Angst schließt. Der Mensch, von dem wir spre-
chen, vergegenwärtigt sich nicht, dass er vor dem Tode zittert und dass er ihn fürchtet, weil der Ver-
stand seinen Organismus im Stich lässt vor der allgemeinen Bedrohung des Nicht-Ich. Er ist der
Meinung, dass er vor irgendeinem negativen konkreten Aspekt der äußeren Welt zittert, der indes
sehr geringfügig sein und zum Beispiel lediglich in der schlechten Meinung von Herrn X bestehen
kann. Da ihm dieser konkrete Aspekt der Welt nun aber wie ein todbringendes Gespenst, wie ein
Schreckgebilde völliger Zerstörung erscheint (es ist ja der Tod, den er in Wirklichkeit fürchtet),
misst er diesem Weltaspekt eine total negative „Wirklichkeit“ bei. Er hält ihn für eine absolute
„Verneinung“, folglich für unzerstörbar. Diese Auffassung von der Welt als absolutem und unzer-

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störbarem Hindernis kann natürlich in seinem abstrakten Denken die Weigerung nur noch verstär-
ken, sich auf irgendeinen Kampf einzulassen. So schließt sich der circulus viciosus.

Es ist also verständlich, wieso der Zustand der Angst das fatale Los von jenen Menschen wird, die
in einer gewissen Hinsicht als die Begabtesten und innerlich Reichsten erscheinen, da ihre unpartei-
ische abstrakte Seite ebenso stark wie die animalisch-parteiergreifende Seite ausgebildet ist. Unter
dem Zustand der Angst werden hingegen kaum oder gar nicht leiden: einerseits diejenigen Men-
schen, deren abstrakter Teil schwach ist und denen folglich eine bequem-egoistische Lebensweise
möglich ist. („Materialisten“) und andrerseits diejenigen Menschen, deren animalische Seite
schwach ausgebildet ist und welche ihr Leben in einem bequemen altruistischen Verzicht hinbrin-
gen („Spiritualisten“). Bei den Menschen der ersteren Gattung trägt praktisch das „Nein“ den Sieg
davon, bei denen der zweiten Gattung das „Ja“. In beiden Fällen hat das Pendel der Waage nach der
einen oder andern Richtung hin ausgeschlagen und bleibt hiermit festgelegt. Nur der Unglückliche,
der beide Seiten in sich stark ausgeprägt vor ndet, wird innerlich von dem Kampf zwischen dem
unversöhnten „Ja“ mit dem unversöhnten „Nein“ hin und her gerissen. Dieser Mensch ist zwar un-
glücklich, aber gleichzeitig ist er am stärksten dazu aufgerufen, auf seine völlige „Verwirklichung“
hinzuarbeiten, die in der Versöhnung des „Ja“ und des „Nein“ besteht. Die andern be nden sich
zwar in einer bequemen Lage, aber zu dieser Verwirklichung sind sie nicht berufen.

Die aufmerksame Betrachtung der zwischen Angst und Vorstellungskraft bestehenden Beziehungen
ist des Interesses wert, denn diese Untersuchung wird uns über die genaue Natur des „moralischen
Leidens“ unterrichten. Rufen wir uns die zwei psychologischen Momente ins Gedächtnis, welche
bei dem Begriff der Angst mitspielen: der abstrakte Teil zieht sich vor der Wirklichkeit zurück, weil
ihm auf Grund seines Anspruchs auf augenblickliche Allmacht der normale Widerstand der Außen-
welt als unendlich, unerschütterlich und absolut verneinend erscheint. Er entzieht sich durch die
Flucht in den Bereich der Vorstellungskraft. Das konkrete Scheitern wird vom mentalen Bewusst-
sein verhindert. Aber selbst wenn dies praktische Scheitern unendlich lange hinausgeschoben und
suspendiert wird, bleibt die Vorstellung des Scheiterns für das abstrakte Denken gegenwärtig, das
sich vom praktischen Existenzkampf abwendet. Die animalische Seite im Menschen. leidet unter-
dessen unter der Furcht vor dem Tode, da die Abtrünnigkeit des Denkens („des Kopfes“) sie hil os
vor der Angriffslust des Nicht- Ich lässt.

Die doppelte Rolle, welche die Vorstellungskraft innerhalb des Zustandes der Angst spielt, liegt klar
zu Tage. Sie übernimmt einerseits die Rolle des Beschützers in Bezug auf die ich-bezogenen, illuso-
rischen Forderungen des abstrakten Teils, andrerseits die Rolle des Zerstörers in Bezug auf den
animalischen Organismus des Menschen, indem sie ihn der Todesangst ausliefert. Sie beschützt das
Ego, das illusorisch ist und greift indes den Organismus des Menschen an, dem tatsächliche Wirk-
lichkeit innewohnt.

Bei genauer Betrachtung sieht man also, dass die Angst nur auf Illusionen beruht, da ihre Gründe
illusorisch sind und die Wirkung einer illusorischen Ursache keinerlei Wirklichkeit besitzen kann.
Die auslösende Ursache der Angst ist illusorisch, da sie in demjenigen Vorstellungsablauf liegt, den
wir als bloßes künstliches Produkt des menschlichen Geistes erkannt haben. Ebenso ist ihre wirken-
de Ursache illusorischer Natur. Wenn nämlich das geistige Bewusstsein sich von dem Hindernis der
Welt abwendet und in die Vorstellungswelt üchtet, so nur deshalb, weil es einen absoluten An-
spruch an die Welt stellte. Und es stellte diesen absoluten Anspruch, weil es sich in trügerischer
Unwissenheit über seine göttliche Herkunft befand. Der Mensch sucht sich nur deshalb im Zeitli-
chen zu vergöttlichen, weil er sein wirkliches göttliches Wesen nicht erkennt. Der Mensch kommt
als Sohn Gottes auf die Welt und nimmt als solcher völlig an der Natur des Höchsten Prinzips des
Universums teil, er wird aber „amnestisch“ geboren, hat seinen Ursprung vergessen und ist in trüge-
rischer Weise davon überzeugt, nur dieser begrenzte und sterbliche Körper zu s e i n , den seine
Sinne gewahren. Mangels der Erinnerung an seinen Ursprung leidet er unter dem illusorischen Ge-
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fühl des Verlassen seins von Gott, (obwohl er ja in Wirklichkeit Gott selbst ist), und im Verlaufe
seines zeitlichen Daseins sucht er verzweifelt nach vergöttlichenden Bejahungen, die er im Zeitli-
chen natürlich nicht nden kann: all dies, ohne sich klar zu machen, dass er die absolute Wirklich-
keit nicht suchen würde, wenn er nicht an ihr teilhätte. (Es ist nicht möglich, einer Sache zu entbeh-
ren, ohne irgendeine Kenntnis von ihr zu besitzen.) Die Angst ist also eine Illusion, weil ihre Grün-
de trügerisch und illusorisch sind. Außer diesem theoretischen Beweis können wir einen praktischen
aufzeigen, das heißt, wir können direkt und auf intuitivem Wege den illusorischen Charakter der
Angst erfahren. Wenn ich mich in einem Augenblick, da ich „moralisch“ leide, an einen ruhigen
Platz zurückziehe und meine Aufmerksamkeit vom „Denken“ auf das „Fühlen“ lenke, wenn ich alle
meine gedanklichen Vorstellungen hinter mir lasse und mich darauf einstelle, das sogenannte „mo-
ralische Leiden“ wahrzunehmen, um endlich zu erfahren, was es eigentlich bedeutet, so gelingt mir
das nicht. Alles was ich dabei emp nden kann, ist ein Zustand der Ermüdung, der in meinem Kör-
per der Ausdruck dieser Angsterscheinung und vitalen Energieverschwendung ist, welche die Furcht
vor dem Tode bewirkt hat. Doch entdecke ich in mir nicht das leiseste Gefühl von Schmerz im ei-
gentlichen Sinne dieses Wortes. Je mehr ich darauf bedacht bin, zu emp nden, und je mehr ich auf
diese Weise meine Aufmerksamkeit von meinem Vorstellungsablauf ablenke, umso weniger emp-
nde ich. So erfahre ich hiermit die Unwirklichkeit der Angst.

Man wird das noch besser durch einen Vergleich mit dem physischen Leiden verstehen. Wenn ich
ein schmerzhaftes Furunkel habe, leide ich physisch umso weniger, je stärker ich meine Vorstel-
lungskraft in Bewegung setze. Je weniger ich hingegen meine Vorstellung wirken lasse, desto leb-
hafter emp nde ich meinen Schmerz. Das bedeutet, dass dieser Schmerz wirklich ist, nicht bloß
vorgestellt oder imaginär. Wir wollen damit nicht behaupten, dass dem „moralischen“ Leiden kei-
nerlei Wahrnehmung innewohnt. Wir sagen nur, dass diese Wahrnehmung einen illusorischen Cha-
rakter besitzt, was etwas ganz anderes ist.

Wenn ein Mensch in der Wüste eine Fata Morgana erblickt, könnte man nicht sagen, dass er nichts
sieht. Sicherlich sieht er etwas, aber das, was er sieht, existiert nicht. So nehme ich auch, wenn ich
„moralisch“ leide, etwas wahr, aber ich nehme nichts wahr, was wirklich existiert.

Was geht eigentlich in mir vor, wenn ich „moralisch“ leide? In meinem Emp nden, haben wir fest-
gestellt, besteht die Furcht vor dem Tode. Diese Furcht verbrennt meine vitale Energie und zehrt an
meinen organischen energetischen Reserven. Meinem Organismus, meinem Körper wird somit ein
Schaden zugefügt. Dieser Schaden ist nicht derselbe wie derjenige des physischen Schmerzes. Der
Schaden des physischen Schmerzes betrifft einen Teil des Körpers, er betrifft den Körper als Aggre-
gat von Teilen. Der Schaden des „moralischen“ Schmerzes, der einen Energieverlust direkt an der
Quelle darstellt, betrifft den Körper als Gesamtheit. Diese Art von Schaden äußert sich im organi-
schen Emp ndungsvermögen durch keinen bestimmten Schmerz, sondern durch ein allgemeines
Missbehagen, durch Müdigkeit, Depression und Nachlassen der Vitalität. Im Verlaufe des „morali-
schen“ Leidenszustandes tritt physisch betrachtet ein allgemeines depressives Missbehagen auf.
Gleichzeitig spielen sich im Bereich des Psychischen Vorgänge unerfreulicher, bedrohlicher Vorstel-
lungen ab. Das „moralische“ Leiden ist also die Folge bedrohlicher geistiger Bildassoziationen im
Zusammenhang mit einem somatisch depressiven Zustand. Der Verlust organischer Energie ohne
Widerpart (denn ein Austausch mit der Außenwelt ndet in diesem Zustand nicht statt), geht offen-
sichtlich in die Richtung des Todes. Auch den drohenden Bildvorstellungen wohnt eine Atmosphäre
von Tod inne, und sie wirken wie ein feindlicher Angriff auf mich, der auf mein Leben abzielt. Hier
ist die Fata Morgana, deren Opfer ich bin! Ich sehe Mörder vor mir, die auf mich losgehen, und ich
bin von ihrem wirklichen Vorhandensein überzeugt. Trotzdem ist kein Mörder weit und breit da, so
wenig wie es einen Wasserspiegel am Horizont der Wüste gibt. Im Zen heißt das „die Höhle der Ge-
spenster“.

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Halten wir fest, dass die Angst im „Kopf“ beginnt, dass der Verstand die Initiative bei diesem Vor-
gang hat. Natürlich unterstützt eine organische Depression physiologischen Charakters das Erschei-
nen der Angst (wir können stimmungsmäßig den ganzen Tag bedrückt sein, wenn wir schlecht ge-
schlafen haben). Aber sogar in diesem Fall hängt die Angst vom geistigen Bereich ab, denn wenn
ich meine Aufmerksamkeit auf das „Emp nden“ richte, fühle ich mich nur noch müde, aber nicht
mehr geängstigt.

In der Angst hält der Mensch seine Aufmerksamkeit fest auf die Bilder seines Vorstellungsablaufes
gerichtet, bei denen er vor dem gefährlichen und wirklichen Nicht-Ich Zu ucht sucht. Die Angst
packt ihn dabei von hinten, sie kommt aus der Richtung, in die er nicht blickt und der er den Rü-
cken kehrt. Die innere Geste, von der wir vorhin gesprochen haben und die in der Verlagerung mei-
ner Aufmerksamkeit vom „Denken“ zum „Fühlen“ hin besteht, entspricht einem radikalen Rich-
tungswechsel, bei dem ich eine halbe Wendung von genau 180° um mich selbst ausführe: diesmal
kehre ich den Bildern meines Vorstellungsablaufes den Rücken und Blicke in die Richtung, aus der
die Angst kam. Ich sage „kam'', denn in dem Augenblick, da die halbe Drehung um mich selbst aus-
geführt ist, so dass das Wirken des Vorstellungsvermögens, das vorher die Initiative des ganzen
Vorgangs besaß, ausgeschaltet wird, verschwindet die Angst, und nur eine Art allgemeiner Müdig-
keit bleibt noch fühlbar. Das Gespenst behält seine Truggestalt nur bei, solange ich meinen Blick
von der Stelle abwende, wo ich es vermute. Sobald ich es wage, diese Stelle fest ins Auge zu fassen,
erkenne ich, dass überhaupt nichts dort ist. Aber all dies kommt nicht einem direkten Heilmittel ge-
gen die Angst gleich. Einer der Hauptirrtümer des Menschen besteht darin, ein direktes Heilmittel
gegen seine Angst zu suchen, das Symptom heilen zu wollen, ohne sich um die Gründe dieses
Symptomes zu kümmern. Das theoretische Verständnis der Mechanismen der Angst ist jedoch der
nicht zeitlichen Verwirklichung dienlich, die allein den Menschen von seinen illusorischen Leiden
befreien kann. Ich kann mich nicht der zur Verwirklichung führenden inneren Arbeit widmen, wenn
ich zunächst nicht den gleichfalls illusorischen Charakter der beiden gefühlsbestimmten Pole „Leid
- Freude“ völlig verstanden habe.

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VI. DIE FÜNF DENKWEISEN DES NOCH NICHT VERWIRKLICHTEN MENSCHEN;
PSYCHOLOGISCHE BEDINGUNGEN DES SATORI

Das Psychologische Bewusstsein des gewöhnlichen Menschen arbeitet gemäß fünf verschiedener
Modalitäten, die sich folgenderweise staffeln:

1. Art: Tiefer, traumloser Schlaf. Der mentale Bereich enthält keinerlei Bild. Eine Art des Funkti-
onsablaufes, die einem Nicht-Funktionsablauf gleichkommt

2. Art: Schlaf mit Träumen.

3. Art: Zustand des Wachens mit Träumerei.

4. Art: Wachzustand mit konkretem Denken, das der wirklich gegenwärtigen


Außenwelt Rechnung trägt

5. Art: Wachzustand mit reinem intellektuellen Denken

Mit Ausnahme des ersten Modus enthält der mentale Bereich stets einen Vorstellungsablauf, der
vom zweiten bis zum fünften Modus jeweils verschieden ist. Der Vorstellungsablauf, welcher Natur
er auch sei, ist einerseits durch die Beschaffenheit seiner Bilder bestimmt: diese können konkret,
auf Einzeldinge bezogen und Nachzeichnungen der konkreten, gegenwärtigen oder nicht gegenwär-
tigen Wirklichkeit sein. Sie können auch abstrakter und allgemeiner Natur sein (dem allgemein
Wirklichen nachgebildet, auf das die Begriffe „gegenwärtig“ oder „nicht-gegenwärtig“ nicht mehr
anwendbar sind). Der Vorstellungsablauf ist andrerseits durch den Stil, der Anordnung seiner Bilder,
das heißt durch deren assoziativen Stil bestimmt. Man kann dabei drei Stile unterscheiden: den
symbolischen, den realistischen und den rein intellektuellen Stil.

Der Vorstellungsablauf, oder um einen einfacheren Begriff zu gebrauchen, das Denken des Schlafes
mit Träumen wird vor allem durch seinen symbolischen Assoziationsstil bestimmt. In diesem sym-
bolischen Stil liegt der Sinn der Vorstellungen nicht in deren Form oder Ausdruck. Der Sinn ruht
hinter der Form, und diese weist nur auf ihn hin. Es besteht eine Trennung zwischen der Form als
bloßem Mittel und der unformalen Substanz, die das Ziel (und zugleich natürlich das Prinzip) dieser
Form ist. Das Denken im Wachzustand mit Träumerei liegt zwischen dem traumhaften Denken und
dem an die äußere, gegenwärtige Wirklichkeit angepassten Denken des Menschen. Es kann sehr in
die Nähe des Traumdenkens rücken, wobei es dessen scheinbare Sinnlosigkeit annimmt. Es kann
auch in nicht-symbolischem, also in realistischem Stil in Erscheinung treten, wie wir bei der Be-
handlung der vierten Denkart sehen werden.

Das realistische und der gegenwärtigen äußeren Wirklichkeit angepasste Denken des Menschen
setzt sich aus Bildern zusammen, die sich nicht mehr darauf beschränken, auf einen Sinn hinzuwei-
sen, ohne dass dieser Sinn in ihnen selbst enthalten wäre. Es handelt sich hierbei um konkrete Bil-
der, die auf einen unmittelbar wirklichen Sinn Anspruch erheben, welcher der konkreten Wirklich-
keit angepasst ist. Der Sinn dieses Denkens liegt weniger hinter seinem Ausdruck, sondern im Ge-
genteil mehr in ihm selbst. Trotzdem kann man nicht sagen, dass der Sinn dieses Denkens über-
haupt nicht mehr hinter seinem Ausdruck läge. Dieser Sinn, welcher die relative Wahrheit dieses
Denkens ist, ist eine Manifestation der uranfänglichen unausdrückbaren Wahrheit, und dieses Den-
ken wäre sinnlos und würde gar nicht bestehen, wenn es nicht einen hinter seiner Form liegenden
Sinn besäße. Nur durch diesen latenten Sinn enthält die Form einen gewissen relativen und offenba-
ren Sinn.

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Das rein intellektuelle Denken des nachdenkenden, meditierenden Menschen bewegt sich nicht
mehr in realistischem, sondern in rein intellektuellem Stil. Diese Bilder sind abstrakt im Gegensatz
zu denen des realistischen Denkens, sie enthalten nichts, was mit den sinnlichen Organen zu erken-
nen ist. Die Hindus betrachten das mentale Denkvermögen als ein 6. Sinnesorgan. Dieser Stand-
punkt ist durchaus vertretbar, insofern das mentale Denken in gleicher Weise wie die Sinnesorgane
uns nur relative Aspekte vermittelt. Im Übrigen aber unterscheidet sich das mentale Denken von
den anderen Sinnesorganen dadurch, dass es allein abstrakte, allgemeine Wahrnehmungen vermit-
telt. Die Bilder dieses Denkens erheben wesentlich mehr Anspruch als diejenigen des realistischen
Denkens. Sie weisen energisch und entschieden die bescheidene Rolle von sich, nur indirekt auf die
Wahrheit hinzudeuten. Sie erheben Anspruch darauf, in sich selbst einen allgemein gültigen Sinn zu
verkörpern. Die formale Ausdrucksfähigkeit ist hier auf ihrer Höhe angelangt, die Substanz-hinter-
der-Form ist dafür sehr gering.

Bei der Betrachtung dieser fünf verschiedenen und reihenartig gestuften Denkarten stellen wir uns
notwendigerweise die Frage, welche Hierarchie unter ihnen herrscht. Üblicherweise will man in der
Reihenfolge von der ersten bis zur fünften Denkart einen Fortschritt sehen. Nach dieser Auffassung
steht der Mensch, der sich mit der wirklich äußeren Welt beschäftigt, über dem schlafenden Men-
schen, und derjenige, der über die allgemein gültigen Gesetze meditiert, wird höher gestellt als je-
ner, der sich mit der konkreten Wirklichkeit befasst.

Teilweise stimmt diese Auffassung. Aber zunächst einmal wollen wir sehen, worin sie falsch ist und
inwiefern die Vedanta mit Recht den Zustand des tiefen Schlafes über den Zustand des Traumschla-
fes stellt und diesen wiederum über den Zustand des Wachens. Vom Nicht-Denken (traumloser
Schlaf) zum rein intellektuellen Denken (Meditation) hin will die Wahrnehmung der unausdrückba-
ren Urwahrheit sich mehr und mehr in mentaler Form verkörpern.

Aber die mentale Form, oder, anders ausgedrückt, die Form der geistigen Vorstellung ist dem a-
chen Durchschnitt eines Volumens vergleichbar. Sicherlich sagt dieser Durchschnitt etwas über das
Volumen aus, doch unterscheidet er sich wesentlich von ihm. Je geschickter und genauer der Durch-
schnitt durchgeführt wird, desto genauer sind zwar die Angaben, die man dadurch über das Volu-
men erhält. Zugleich aber wächst auch damit der Anspruch des Durchschnittes, das Volumen selbst
zu sein. Je genauer folglich die Angaben sind, welche aus dem Schnitt resultieren, desto mehr hin-
tergeht also der Schnitt denjenigen, der ihn in Betracht zieht, das heißt desto weniger unterrichtet er
den Betreffenden in Wirklichkeit. Beim meditierenden Menschen (5, Denkmodus) erreicht daher
der Irrtum seinen Höhepunkt, da dieser Mensch glaubt, dass seine geistigen Vorstellungen einer ob-
jektiven und allgemein gültigen Wirklichkeit in adäquater Weise entsprechen. Bei dem Menschen,
der sich mit der konkreten Wirklichkeit befasst, ist der Irrtum schon geringer, weil er mit seinen
Bildvorstellungen nur eine beschränkte Wirklichkeit erfassen will. Der Mensch, der sich in Träume-
reien ergeht, täuscht sich noch weniger. Er ist noch weniger anspruchsvoll. Er verwechselt sein
„Träumen“ nicht mit der „Wirklichkeit“. Noch geringer wird dann der Irrtum bei demjenigen Men-
schen, der im Schlaf träumt. Seine Bilder sind noch bescheidener, sie wollen nur auf indirekte Wei-
se auf eine Wahrheit hindeuten, die sie als solche nicht in sich selbst enthalten.8 Der Mensch end-
lich, welcher traumlos schläft, täuscht sich überhaupt nicht mehr, weil die Anmaßung seines forma-
len Denkens mit diesem Denken selbst aufgehört hat.

Vom 1. zum 5. Denkmodus wird also in gewisser Hinsicht eine absteigende Linie offenbar, da die
Form immer stärker den Sinn des Denkens sozusagen in sich saugt und die unformale prinzipielle
Substanz hinter dem entstehenden „Bildervorhang“ daher immer mehr verblasst. Die Bilder selbst

8Man beachte, dass die höchsten „esoterischen“ Lehren sich immer und notwendigerweise der Symbole und Mythen
bedient haben.
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entbehren somit immer mehr des tragenden Grundes. Sie gleichen Banknoten, deren Goldwert im-
mer tiefer sinkt.

Diese Bewertung der fünf Denkarten, die also eine absteigende Hierarchie vom ersten zum fünften
Modus hin zu erkennen gibt, wäre die einzig richtige, wenn der Mensch nur vom jeweiligen Augen-
blick her zu beurteilen wäre. Sie ist aber nicht mehr allein gültig, sobald dem Menschen Entwick-
lungsmöglichkeiten innerhalb der Dauer zuerkannt werden. Im jeweiligen Augenblick unterliegt ein
Mensch, der sich in tiefem Schlaf be ndet, tatsächlich weniger der Täuschung als der Mensch, der
meditiert. Zieht man aber die Dauer in Betracht, dann ist wiederum der meditierende Mensch dem
in tiefem Schlaf Befangenen überlegen. Denn indem der Mensch meditiert, wobei er das illusori-
sche Wirken seiner ich-bezogenen, dem Dualismus Subjekt-Objekt unterworfenen Grundsituation
so weit wie möglich treibt, nähert er sich dem Augenblick des Satori. In ihm verschwindet der in
Täuschungen befangene „alte Mensch“, weil der „neue Mensch“ geboren wird, in dessen Innern das
unformale, prinzipielle Denken lebendig ist (dieses Denken, das in Bezug auf die fünf gewöhnli-
chen Denkmodalitäten sowohl immanent als auch transzendent ist.)

Wie wir später sehen werden, kann das Denken der fünften Denkart, das meditative Denken, Satori
nicht von sich aus auslösen. Aber ohne dies meditative Denken käme der Mensch nie zu einem Wis-
sen darüber, wie das Satori ausgelöst werden kann, folglich könnte er es nie erreichen. Nur auf dem
Wege dieses abstrakten, höchst anspruchsvollen und in einer Richtung am meisten irreführenden
Denkens kommt der Mensch zur Erkenntnis, wie nichtig sein ganzes Tun und Treiben hinsichtlich
seiner nicht-zeitlichen Verwirklichung ist. Nur so kann er begreifen, wie er sich verhalten muss, um
zur inneren Entspannung zu gelangen, die den plötzlichen Ausbruch des Satori ermöglicht. So gibt
es innerhalb der Reihe der fünf verschiedenen Denkarten des Durchschnittsmenschen zwei einander
entgegenlaufende Hierarchien. Unter dem Gesichtspunkt des Augenblicks scheint das Denken von
der ersten bis zur fünften Denkweise an Wert zu verlieren. Von der Perspektive der Dauer, der Per-
spektive einer möglichen Verwandlung im Menschen aus betrachtet, scheint das Denken, von der
ersten bis zur fünften Denkweise hin, an Wert zu gewinnen.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die Analogie, welche zwischen der Entwicklung des einzelnen
Menschen und derjenigen der Menschheit besteht. Es gibt Leute, welche an der Idee festhalten, dass
die Menschheit im Laufe der Jahrhunderte „Fortschritte“ mache. Andere wiederum behaupten, dass
diese wissenschaftlichen oder geistigen “Fortschritte“ nur Zeichen einer fortschreitenden Au ösung
seien. Wie immer versöhnt die Wahrheit diese beiden entgegengesetzten Standpunkte. Man kann
vom Absinken der Menschheit insofern sprechen, als die Menschheit mit der Erkenntnis ihren form-
losen Zustand hinter sich gelassen hat, um sich in immer raf nierteren und bestimmteren Formen zu
äußern. Andrerseits darf man von Fortschritt sprechen, da sie in zyklischer Wiederkehr nach einem
Kollektivausbruch hin tendiert, der dem Ausbruch des Satori beim einzelnen Individuum entspricht
(wenn er auch sehr verschieden von diesem ist). Dabei wird die alte Menschheit sterben, wissend,
aber ohne Weisheit, und es wird eine neue Menschheit geboren werden, nicht wissend, aber weise.

Kommen wir auf die fünf Arten unseres individuellen Denkens zurück und betrachten wir sie unter
dem Blickpunkt des Satori, welches wir eines Tages zu erreichen wünschen. Um das Satori auszulö-
sen, muss der Mensch in seinem psychischen Verhaken gewisse günstige Bedingungen herstellen,
auf die wir später eingehen werden. Zunächst einmal muss der Mensch in einem ersten Stadium
mittels geduldiger geistiger Arbeit zu verstehen lernen, welche diese günstigen Bedingungen sind
und wie man sie herstellt. Nur in Bezug auf dies erste Stadium haben die fünf verschiedenen Den-
karten einen verschieden hohen Wert, und nur hier gilt die fünfte Denkform als die höchste. Das
Tier ist nicht fähig, das Satori zu erreichen, weil es nur über die ersten vier Denkarten verfügt, nicht
über die fünfte. Das meditative, abstrakte Denken ist unerlässlich, um die Nichtigkeit aller direkten
Anstrengungen zu begreifen, die der Mensch auf sich nimmt, um den Bestrebungen seiner Natur
völlige und de nitive Befriedigung zu verschaffen. Nur das meditativ-abstrakte Denken besitzt die
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Fähigkeit irgendwelche neue Methoden zu entdecken, die zur Erlangung dieser Befriedigung führen
sollen. Und nur dies Denken kann sich darüber Rechenschaft geben, dass auch diese Methoden
nichtig sind, bis es dann endlich nach einer langen Arbeit des Sonderns und Ausscheidens den ei-
gentlichen Kern des ganzen Problems berührt.

Aber das Primat des meditativen Denkens gilt nur für die erste Stufe der Vorbereitung, welche das
theoretische Verständnis vermitteln soll. Nehmen wir an, der Mensch habe jetzt die inneren Voraus-
setzungen gefunden und in sich entwickelt, die ihn für den Ausbruch des Satori reif machen, so wird
dieser Mensch gleichzeitig zu dem Ergebnis kommen, dass keine seiner fünf Denkweisen als solche
die innerlich nötigen Bedingungen herzustellen vermag. Er hat inzwischen verstanden, dass diese
fünf Denkweisen für das Endstadium der inneren Arbeit gleich unergiebig sind: der traumlose
Schlaf ist unwirksam, weil das Nicht-Ich abwesend ist. Die folgenden vier Denkweisen müssen un-
wirksam sein, weil das „formende“ mentale Denken, sobald es anfängt darauf hinzuarbeiten, die
Wirklichkeit zu erfassen, den Menschen an der unmittelbaren Vereinigung mit der unformalen
Wirklichkeit hindert.

Die notwendige Bedingung für die Auslösung des Satori besteht in einer Auffassung, deren Natur
wir im Folgenden darzustellen versuchen und welche dem gewöhnlichen Menschen nicht natürlich
und spontan erscheint, wie die fünf bekannten Arten seines Denkens.

Um dies zu erklären, bedarf es einiger Umwege. Untersuchen wir zunächst einmal die Bedingungen
eines bestimmten psychologischen Phänomens, das eine Reihe von Menschen sicherlich schon an
sich beobachten konnte; ich sitze irgendwo bequem und bin ganz darin vertieft, ein Buch zu lesen,
das meine ungeteilte Aufmerksamkeit erregt und mich in keiner Weise an mein gegenwärtiges Le-
ben denken lässt. Ich identi ziere mich mit keinem der Helden meines Buches, sondern bin rein be-
trachtender Zuschauer. In Bezug auf mein persönliches Leben be nde ich mich in völliger Ruhe
und Passivität. Furcht und Hoffnung sind aus meinem Geiste gewichen. Das Zwiegespräch, das das
Buch in der Auseinandersetzung mit mir als Leser sein könnte, wird zum reinen Monolog; keine
innere Stimme in mir unterbricht ihn oder sucht ihn zu deuten, keine eigenen Re exionen über mei-
ne persönlichen Befürchtungen und Hoffnungen stören ihn. Mein Körper be ndet, sich in bester
Verfassung und gibt meinem Geiste keinerlei Alarmzeichen. Alles in mir ist ausgewogen und im
Gleichgewicht. Schließlich löst sich die schon vorher geringe und spannungslose Teilnahme an der
Lektüre des Buches völlig. Die Ruhe in mir wird so vollkommen, dass sie ein wirkliches „Aufhö-
ren“ verkörpert, (wir werden gleich sehen, was hierbei aufhört). Plötzlich wird diese innere Ruhe
durch eine Wahrnehmung der Sinne (durch einen Gegenstand, der in mein Gesichtsfeld rückt, oder
durch einen Klang, den ich aufnehme) unterbrochen. Ich sehe nun diesen Gegenstand oder höre die-
sen Ton in einer Weise, wie ich sonst nie höre oder sehe.

Es ist, als ob die Formen und Klänge, welche mir sonst begegnet waren, wie durch einen Bild-
schirm hindurchgegangen wären, der sie entstellt hatte, während sie mir jetzt, in diesem besonderen
Augenblick, auf direkte Weise und in ihrer reinen Wirklichkeit entgegenkommen. Ein ganz beson-
ders bemerkenswerter Umstand ist dabei die Tatsache, dass meine sinnesmäßige Wahrnehmung mir
gleichzeitig eine Erkenntnis der äußeren Welt und meiner selbst verschafft. In einem solchen Au-
genblick emp nde ich keine Trennung mehr zwischen der Welt und mir selbst, obwohl die beiden
Bereiche getrennt sind. Das Nicht-Ich und das Ich bleiben zwei Bereiche, welche zu einer Einheit
verbunden sind. Aber im Verlaufe von wenigen Sekunden, während derer mir der eben beschriebene
Vorgang bewusst wird, geht meine neue Sicht der Dinge vorüber und ich kehre zu meinem gewohn-
ten Zustand zurück. Vergleicht man diese innere Erfahrung mit den Berichten, welche manche
Meister des Zen über ihr Satori hinterlassen haben, so springen uns eine Reihe von gemeinsamen
Punkten ins Auge; Zunächst einmal das Gefühl der großen inneren Ruhe, verbunden mit dem Ein-
druck des „Aufhörens“, wobei der Betreffende sich in einer Verfassung be ndet, die zugleich Wa-
chen und Schlafen sein könnte. Dann das Aufhören jeder geistigen Erregung (der Zen-Mönch sagt,
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dass er dann „wie ein Narr, wie ein Einfaltspinsel sei“), ferner die wesentliche Rolle, welche eine
sinnesmäßige Wahrnehmung für das Auslösungsmoment einer neuen Sicht aller Dinge spielt, au-
ßerdem die Plötzlichkeit dieses inneren Erlebnisses und der Eindruck von Klarheit und Einheit in
dieser neuen Sicht der Dinge. Allerdings besteht auch ein großer Unterschied. Die eben geschilderte
Erfahrung hinterlässt bald nur ein kurzes Erinnern, während das Satori den Beginn eines neuen Le-
bens darstellt, welches endgültig von jeder dualistischen und ich- bezogenen Selbsttäuschung be-
freit ist.

Wie soll man diese Ähnlichkeiten und Unterschiede auffassen? Weshalb bin ich zunächst einmal in
diesen kurzen vorübergehenden Satori geraten? Die Antwort lautet: weil sich eine außergewöhnli-
che Ruhe in meinem Geist verwirklicht hat. Im Verlaufe der Lektüre arbeitet zwar mein Geist wei-
ter, aber nach einem gleichförmigen, regelmäßigen, stetigen Rhythmus, wobei er einen Vorstel-
lungsablauf von leichten, konturlosen Bildern produziert. Schließlich verschwinden diese Bilder
ganz und mein Geist kehrt in sein Zentrum zurück, ohne irgendetwas auf die Ober äche treten zu
lassen. In diesem Moment ist die übliche Verkrampfung aus meinem mentalen Bereich verschwun-
den, obwohl mein Geist arbeitet, denn ich be nde mich nicht im Zustand des tiefen Schlafes. Mein
in dieser Welse entspannter, aber nicht schlafender Geist ist in der Lage, ruhig und reaktionslos die-
se nicht-dualistische Sicht des Daseins zu gewinnen, der er sich gewöhnlich auf Grund seiner Be-
wegtheit und seiner unruhigen Reaktionen verschließt. Das Verhalten dieses Geistes gleicht demje-
nigen eines Menschen, der in einen Raum eingesperrt ist, dessen Türe sich nach innen öffnet. Der
Gefangene rennt üblicherweise gegen diese Tür an, um sie zu öffnen, Je mehr er aber gegen sie an-
rennt, umso weniger öffnet sie sich. Hört er aber einen Augenblick auf, gegen die Tür zu stoßen, so
öffnet sie sich von selbst. Warum hat aber nun mein Satori nicht angedauert? Weil die Bedingungen,
die ihn zustande kommen ließen, künstlicher Natur waren. Die vollkommene Ruhe hat sich meiner
nur bemächtigt, weil ich auf Grund eines augenblicklichen Vergessens meine üblichen, auf mich
selbst bezogenen Vorstellungen beiseite geschoben habe. Zufälligerweise war mir jede Gelegenheit
entzogen worden, mich mit meinem Ego, zu beschäftigen. Stelle ich daraufhin meinen kurzen Satori
bewusst fest, indem ich mir sage, dass mir das widerfahren sei, so tritt hiermit mein ganzes ich-be-
zogenes Leben, welches einen kurzen Augenblick lang außerhalb meines mentalen Bereiches gele-
gen war, wieder auf und unterbricht das Satori, was die üblichen Konsequenzen von Gefühlserre-
gungen und Selbsttäuschungen nach sich zieht. Das endgültige und wahre Satori setzt voraus, dass
sich völlige Ruhe im Geiste eines Menschen eingestellt hat, der sich von den sein Ego berührenden
Lebensumständen nicht nur nicht zurückgezogen hat, sondern diese im Gegenteil in vollem Umfang
auslebt.

Aber wie ist das möglich? Und vor allem: worin besteht diese Ruhe des Geistes? Wir haben gesagt,
etwas hat „aufgehört“, aber was? Es kann sich nicht um das Aufhören des geistigen Vorstellungsab-
laufes handeln, da doch der Betreffende wach ist und nicht schläft. Sein mentales Bewusstsein funk-
tioniert und ist in Bewegung, aber es funktioniert „glatt“, ohne „Gestolper“. Was aufhört, ist also
nicht das mentale Bewusstsein selbst, sondern nur das „Gestolper“, d.h. die Unregelmäßigkeiten
seines Rhythmus. Dies “Gestolper“ entspricht ganz einfach den Gefühlserregungen. Das kurze Sa-
tori Erlebnis der oben erwähnten Erfahrung konnte bei mir auftreten, weil ich seit einer oder seit
zwei Stunden frei von Gefühlserregungen war. Ich hatte jedes Bild, das mein persönliches Leben
betraf, außerhalb meines geistigen Bereiches gelassen, denn mein Buch hatte meine Aufmerksam-
keit in Anspruch genommen, ohne mich im geringsten zu erregen. Auch mein in bequemer Verfas-
sung sich be ndender Körper hatte diese Ruhe nicht gestört. Ich empfand auf diese Weise weder
Freude noch Schmerz. Diese Abwesenheit von Gefühlserregungen war die Voraussetzung für das
nicht „holprige“ Funktionieren meines Geistes und dieses glatte Funktionieren wiederum bedingte
in mir die plötzliche Auslösung des nicht-dualistischen Bewusstseins der Existenz.

Worin aber besteht die Gefühlserregung? Um sie aus unserem psychischen Verhalten ausschalten zu
können, müssen wir zunächst ihr Wesen erkennen. (Wir werden später auf die Gründe zu sprechen
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kommen, weshalb der Durchschnittsmensch sich so heftig gegen die Vorstellung wehrt, die Ge-
fühlserregungen aus seinem psychischen Leben auszuschalten.)

Die Gefühlserregung stellt einen Kurzschluss der vitalen Energie des Menschen dar zwischen sei-
nem instinktiven, negativen und seinem geistigen, positiven Zentrum. Dieser Kurzschluss besteht in
einer Energiedesintegration, die zwischen diesen beiden Zentren entsteht, und zwar in einem Punkt,
den man als drittes Zentrum betrachten kann und den man als „Erregungszentrum“ bezeichnet.

(Nach dem Satori liegt dieser Punkt nicht mehr, den beiden andern Punkten gleichend, auf dersel-
ben Ebene wie diese, sondern entspricht der oberen Spitze des Dreiecks der dreieinheitlichen Syn-
these.} Der Erregungskurzschluss kommt zustande, wenn das intellektuelle Zentrum nicht isoliert
ist. Welchem Faktor entspricht nun dies Fehlen einer Isolierung des intellektuellen Zentrums? Es
entspricht der geistigen Passivität vor dem letzten Problem der menschlichen Grundsituation, so wie
dieses sich im gegenwärtigen Augenblick äußert. Alle inneren und äußeren Bewegungen des Men-
schen haben einen einzigen ursächlichen Motor: das natürliche Bedürfnis des Menschen, als unter-
schiedliches Individuum zu bestehen, d. h. sein natürliches Bedürfnis zu „existieren“. Dieses Be-
dürfnis kommt aus unserem instinktiven Zentrum. Der Mensch aber ist sich dieses Bedürfnisses
nicht bewusst, im Augenblick, wo dieses Bedürfnis wirksam wird und soweit es im gegenwärtigen
Moment fühlbar wird. Auf theoretische Weise kann sich der Mensch dessen bewusst sein, aber nicht
praktisch, wenn dies Bedürfnis im Augenblick sich geltend macht. Alles im Menschen funktioniert
nach dem Grundsatz: „Da es nun einmal Tatsache ist, dass ich existieren muss“. Sein Geist kann
sich aktiv alle Erscheinungen dieses primären Bedürfnisses bewusst machen, aber diese Bewusst-
machung der Erscheinungen schließt das Bewusstsein dessen, was diese Erscheinungen bedeuten,
aus.

Versuchen wir es noch auf eine andere Art klar zu machen. Hinter allem, was der Mensch erlebt,
spielt sich in ihm vor seinem inneren Tribunal der illusorische Prozess seines Seins oder seines
Nicht-Seins ab. Die Aufmerksamkeit des Menschen wird von den jeweiligen Veränderungen dieses
inneren Prozesses in Anspruch genommen und diese erscheinen ihm immerzu wesentlich und neu-
artig. Dabei ist ihm dieser Prozess selbst und die mit ihm verbundene fortgesetzte Monotonie nicht
bewusst. Der Mensch bemerkt zwar die verschiedenen Formen seines jeweiligen psychossomati-
schen Zustandes, er sieht auch ihre qualitativ wechselnden Veränderungen. Aber er sieht hinter den
formalen Änderungen seines augenblicklichen Be ndens nicht die quantitative Veränderung dessen,
was wir das nicht-formale Existenzemp nden nennen. Wenn ich in irgendeinem Augenblick durch
eine innere, intuitive und völlig einfache Geste den nicht formalen Eindruck, mehr oder weniger
intensiv zu existieren, gewinnen will, so kann ich das. Sobald ich aber aufhöre, zu wollen, hört auch
mein Existenzemp nden auf, und meine Aufmerksamkeit wird wieder von neuem durch formale
Wahrnehmungen abgelenkt. Wenn ich willentlich, mein nicht-formales Existenzemp nden wahr-
nehme (welches quantitativ veränderlich ist), wird mein Geist vor der letzten Wirklichkeit meiner
augenblicklich konkret erlebten menschlichen Grundsituation aktiv. Somit wird mein intellektuell-
geistiges Zentrum isoliert und ich erlebe keine Gefühlsbewegung. Sobald ich jedoch diesen willent-
lichen, nicht natürlichen Vorgang unterbreche, verliert mein intellektuelles Zentrum seine Aktivität,
es gibt seine Isoliertheit auf und meine Gefühlserregungen setzen wieder ein.

Mein nicht-formales Existenzemp nden verändert sich quantitativ vom völlig reduzierten bis zum
überdeutlichen Existenzemp nden hin. Ohne eine besondere Anstrengung meinerseits gebe ich dar-
auf nicht acht, obwohl es gerade das ist, um was es sich in meiner augenblicklichen, ich-bezogenen
menschlichen Grundsituation für mich handelt. Ich achte vielmehr nur auf die geistigen Formen,
welche mein völlig reduziertes oder aber deutliches Existenzemp nden jeweils hervorruft.

Die Passivität meines Geistes, der ganz durch die Formen meines Zustands in Anspruch genommen
ist und deren Faszination unterliegt, hat die Nicht-Isolierung des intellektuellen Zentrums im Gefol-

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ge, wodurch emotionale Kurzschlüsse, Unterbrechungen und Beunruhigungen entstehen, (Die Hin-
dus nennen diese Art von innerem Kurzschluss den „verrückten Affen“.)

Der Mensch, welcher den Wunsch hegt, eines Tages den Satori zu erreichen, muss sich fortschrei-
tend dazu erziehen, sein intellektuelles Zentrum zu isolieren, um es vor gefühlsmäßiger Beunruhi-
gung zu schützen. Dabei darf er die äußeren Umstände, die sein Ego betreffen und ihn zu innerer
Erregung verleiten könnten, weder ausschalten noch künstlich verändern. Er muss das natürliche
Leben bejahen, so wie er es jeweils vor ndet. Um sich dem Satori zu nähern, muss er unablässig die
Möglichkeit, die er besitzt, die aber immer wieder einzuschlafen droht, in sich wachhalten, das
nicht-formale, mehr oder weniger negative, bzw. positive Existenzemp nden hinter den Formen
seiner jeweiligen Be ndlichkeit zu gewahren. Diese innere Aufmerksamkeit führt nicht nur zu kei-
nem Verzicht auf ein ich-bezogenes, dualistisches, konkretes Leben, sondern vielmehr dazu, sich
eben in dessen Zentrum zu halten und sein Leben aus diesem inneren unbeweglichen Punkt heraus
zu erfüllen, aus jenem Punkt, an dem der allererste Dualismus, Existieren - Nicht-Existieren, in Er-
scheinung tritt.

Ist die Aufmerksamkeit des Menschen direkt auf die Quelle seiner Beunruhigungen hin gerichtet,
dann beginnt von hier aus, nur von hier aus, die innere Ruhe für ihn. Ist diese innere Ruhe zutiefst
hergestellt, dann werden endlich die inneren Bedingungen für den Ausbruch des Satori erfüllt, die
dualistischen Gegensätze werden versöhnt, und es entsteht eine dreieinheitliche Synthese. Es ist al-
lerdings unmöglich, den Zustand dieser inneren Selbst-Gegenwart zu beschreiben, der in dem un-
mittelbaren Erkennen des Intensitätsgrades der Existenz im Augenblick besteht, da ja der Charakter
dieser Wahrnehmung gerade nicht formaler Art ist. Nehmen wir an, ich frage Sie: „Wie fühlen Sie
sich in diesem Augenblick?“, so würden Sie Ihrerseits wohl antworten; „In welcher Hinsicht? Phy-
sisch oder moralisch gesehen?“ Ich antworte Ihnen darauf: „In jeder Hinsicht zugleich. Wie fühlen
Sie sich?“ Vielleicht schweigen Sie erst zwei Sekunden lang und sagen dann zum Beispiel: „Nicht
gerade schlecht“, oder „Es geht so“, oder „Sehr gut“ oder irgendetwas anderes...

Von den zwei Sekunden, während derer Sie geschwiegen haben, fällt die zweite für unser Interesse
fort, denn Sie haben sie lediglich dazu benutzt, um für die Beschreibung Ihres Gesamtbe ndens
eine verständliche Ausdrucksform zu nden. In dieser zweiten Sekunde haben Sie bereits von der
Wirklichkeit Ihrer inneren Verfassung, die uns allein interessiert, etwas unterdrückt. In der ersten
Sekunde nur haben Sie etwas von dem erkannt, um das es sich unaufhörlich für Sie wirklich handelt
und Ihnen normalerweise nicht bewusst ist, da Ihnen nur die Formen bewusst sind, die dieser unbe-
wussten Wahrnehmung folgen oder auch jene Formen, anlässlich derer diese unbewusste Wahrneh-
mung auftritt. Sollte jemand nach der Lektüre hier den Versuch anstellen, jene nicht-formale Wahr-
nehmung seiner Existenz bei sich zu machen, so möge er nicht voreilig urteilen: man glaubt so
leicht, dass man so weit sei, ohne so weit zu sein. So viele Arten des Irrtums es auch hierbei geben
mag, der Irrtum selbst besteht grundsätzlich in irgendeiner Art von Komplikationen, die mit den
mentalen Formen zusammenhängt. Man ist nicht einfach genug. Die nicht-formale unmittelbare
Wahrnehmung der Existenz ist die einfachste Wahrnehmung, die man sich nur vorstellen kann. Sie
kann inmitten der intensivsten äußeren Tätigkeit in vollkommener und richtiger Weise statt nden,
ohne diese äußere Tätigkeit im Mindesten zu stören. Ich brauche mich .nicht von dem wegzuwen-
den, womit ich gerade beschäftigt bin, sondern ich fühle meine Existenz direkt vom Zentrum der
formalen Welt meines Tuns heraus, sowie durch die Aufmerksamkeit, welche ich diesem Tun zu-
wende. Wir haben schon früher festgestellt, dass der Durchschnittsmensch sich dagegen wehrt, eine
Verminderung seiner Gefühlserregungen ins Auge zu fassen. Er gleicht einer Raupe, die erst dann
zum Schmetterling wird, wenn sie das Stadium der Raupe durchgemacht hat. Die Raupe bewegt
sich nur auf dem Boden, sie kann nicht iegen noch kann sie sich an der Dimension der “Höhe“ er-
freuen. Aber wenigstens kann sie sich bewegen. Verglichen mit dieser Bewegung erscheint ihr der
unbewegliche Zustand der Puppe entsetzlich. Trotzdem würde ihr der zeitweise Verzicht auf eine
unvollkommene Bewegung eine bessere und vollkommenere Bewegung vermitteln. Die Gefühls-
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bewegungen gleichen den Bewegungen der Raupe. Fühlen ist nicht dasselbe wie „Fliegen“, aber es
gleicht ihm und mit Hilfe von etwas Phantasie nimmt man das eine für das andere. Der Mensch legt
so großen Wert auf die glanzvollen Funken seiner inneren Kurzschlüsse, und er muss erst lange und
gründlich nachdenken, um zu verstehen, dass dies bloße Feuerwerk ihn zu nichts führt. Solange
man noch irgendeinen Wert an der Sache sieht, auf die man verzichtet, kann von wirklichem Ver-
zicht nicht die Rede sein.

Wir wollen jetzt noch auf einem andern Weg das Problem behandeln, dem wir uns in diesem Kapi-
tel widmen:

Das, was in der Umgangssprache „körperliche“ und „seelische“ Verfassung heißt, entspricht zwei
Bereichen in uns, die nebeneinander bestehen und uns völlig verschieden erscheinen. Diejenigen
Eindrücke, die mir mein Existenzgefühl vermitteln, gehören entweder meinem „somatischen“ oder
meinem „psychischen“ Leben an. Wenn Ich zum Beispiel ein negatives Lebensgefühl habe, mein
Leben bedroht oder einem Angriff ausgesetzt sehe, kann sich dies in einem physischen Schmerz
oder in einem seelischen Leidensgefühl äußern. Es ist, als ob mein Wesen der Außenwelt zwei Sei-
ten zeige, eine somatische und eine psychische, wobei diese beiden Seiten den aufbauenden wie den
abbauenden Ein üssen der Welt ausgesetzt sind.

Meine Eindrücke werden durch die Außenwelt ausgelöst, aber ich fühle sie in mir selbst entstehen.
Mein physischer Schmerz kann durch einen Faustschlag ausgelöst werden, doch emp nde ich, wie
er sich in meinem Körper bildet. Auch mein moralischer Kummer kann durch irgendein äußeres
Ereignis entstehen, doch fühle ich, wie er in dem, was ich als meine Seele bezeichne, entspringt.
Versuche ich zu erkennen, wo sich in mir diese Eindrücke bilden, so gelingt mir das nicht. Mein
somatisches Schmerzgefühl ist aus einer Quelle in mein Bewusstsein getreten, von der mein Be-
wusstsein nichts weiß. Dasselbe gilt für das moralische Leiden. Ich sehe wohl, dass dieses Leiden
an dieses oder jenes geistige Bild gebunden ist, aber woher ist dies Bild in meinem Bewusstsein ge-
kommen? Auch hier muss ich zugeben: aus einer nicht bewussten Quelle. Es bleibt mir nichts ande-
res übrig, als diese Quelle als die Quelle meines Lebens zu betrachten. Ich sehe in ihr ein einheitli-
ches Prinzip, denn ich habe die intuitive Vorstellung, einheitlicher Natur zu sein. Ich habe die Vor-
stellung von einer einheitlichen Synthese jenseits meiner dualistischen Reaktions-Erscheinungen.
Betrachte ich “ ussaufwärts“ den Strom meines somatischen und psychischen Lebens, so erkenne
ich, dass diese beiden Strömungen sich im Mittelpunkt einer einzigen Quelle vereinen. Damit ver-
stehe ich auch, warum mein Körper und meine „Seele“ unaufhörlich in gegenseitiger Wechselwir-
kung zu stehen scheinen. Ein dritter Begriff, der Begriff vom synthetischen „Sein“ verbindet die
beiden getrennten andern Begriffe. Es wird mir klar, dass ich die gegenseitigen Reaktionen von
„seelischem“ und physischem Be nden bisher falsch verstanden habe. In Wirklichkeit übt die äuße-
re Welt keine direkte Berührung aus, weder auf meinen „Körper“ noch auf meine „Seele“, soweit
sie mir bewusst sind. Die äußere Welt berührt direkt nur diesen zentralen Kreuzungspunkt, von dem
die beiden Ströme meines bewussten Lebens Ausgang nehmen. Sie berührt ihn entweder durch die
somatische Seite, die ich ihr biete oder durch die psychische Seite. Ist dieses Zentrum einmal be-
rührt, so kann ich überall, auf somatischem wie auf psychischem Gebiet, Emp ndungen haben.
Diese Emp ndungen können zwar insbesondere auf dem somatischen oder psychischen Gebiet auf-
treten, durch das mein Zentrum berührt worden ist, sie können aber auch in demjenigen dieser bei-
den Bereiche in Erscheinung treten, durch das mein Zentrum gerade nicht berührt wurde. Diese
Aufteilung der jeweils vorherrschenden Eindrücke auf psychischem oder physischem Gebiet hängt
bis zu einem gewissen Grade mit der Art des Kontaktes zusammen, der mit der Außenwelt stattge-
funden hat, größtenteils aber hängt sie von der Natur des betreffenden Menschen ab. Dem entspricht
auch die Unterscheidung in der Psychiatrie zwischen dem „ Hysteriker “ und dem „Zwangsneuroti-
ker“. Der Zwangsneurotiker hat vor allem psychische, der Hysteriker vor allem somatische Eindrü-
cke. Eine schlechte Verdauung vermittelt oft dem „psychisch labilen“ Menschen keineswegs den
Eindruck von Leibschmerzen, sondern nur „schwarze Gedanken“. Eine schlechte Nachricht wirkt
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sich häu g beim Hysteriker einzig in physischem Übelbe nden aus. Das physische und das psychi-
sche Gebiet sind nicht eigentlich getrennte Bereiche und das Problem ihrer wechselseitigen Wir-
kungen braucht uns nicht länger hier zu beschäftigen. Die Suche nach der Brücke, die diese beiden
Bereiche miteinander verbindet, ist unnütz. Keinerlei Brücke verbindet sie, aber sie haben einen
unmittelbaren Kontakt in dem Punkt, wo sie entstehen, im zentralen unbewussten Kreuzungspunkt
meines Wesens. Diese beiden Arten von Erscheinungen sind die verschiedenen Äußerungen ein und
desselben Urprinzips und haben nicht gegenseitig auf einander zu reagieren. Wenn ich nach dem
Genuss von Alkohol „rosige Vorstellungen“ habe, warum soll ich dabei von einer Wirkung meiner
„Physis“ auf meine „Seele“ sprechen? Das Zentrum in mir hat sich einem bestimmten Ein uss der
äußeren Welt unterzogen, und zwar auf dem Wege über die somatische Seite meines Wesens. Nach
der Berührung mit dem zentralen Kreuzungspunkt in mir wirkt sich dieser Ein uss sowohl auf mein
somatisches Bereich aus (durch allgemeines Wärme- und Leichtigkeitsgefühl meines Körpers) als
auch auf mein psychisches Bereich (durch das Gefühl von Fröhlichkeit). Eine Glücksbotschaft oder
die belebende Wirkung eines freundschaftlichen Zusammenseins können ohne den Genuss von Al-
kohol in mir genau dieselben Erscheinungen hervorrufen. Der äußere Ein uss hat mein inneres Zen-
trum erreicht und obwohl er diesmal über meine psychische Seite in Erscheinung getreten ist, waren
seine Wirkungen dieselben und haben also dieselbe doppelte Wirkung hervorgebracht.

Dieser zentrale Kreuzungspunkt meines „Wesens“ ist, wie wir schon sagten, unbewusst. Aus dem
uranfänglich Unbewussten leitet sich mein Bewusstsein ab. Das Unbewusste darf nicht als einfache
bloße Abwesenheit des Bewusstseins betrachtet werden, sondern vielmehr als das „Absolute Den-
ken“, welches jenseits aller bewussten Erscheinung liegt und aus dem das Bewusstsein entspringt.
Es ist das „Nicht-Mentale“ Prinzip im Zen, aus dem all unsere mentalen und physischen Erschei-
nungen hervorgehen. Hier nden wir wieder die schöpferische Dreieinheitlichkeit vor: Über dem
„Psychischen“ (der positiven Kraft) und über dem „Physischen“ (der negativen Kraft), liegt ein hö-
herer, versöhnender Pol, den wir ob des offensichtlichen Primates der unteren positiven Kraft über
die untere negative Kraft, „absoluten psychischen Pol“ nennen wollen (nicht etwa „Absolute Mate-
rie“), oder wie es im Zen heißt „das Nicht-Mentale“ (und nicht etwa das „Nicht-Körperliche'').

Im Hinblick auf diese wesentlichen Grundbegriffe müssen wir uns danach fragen, welcher Unter-
schied zwischen dem gewöhnlichen und dem „verwirklichten“ Menschen besteht. Beide Menschen
existieren dank des zentralen Kreuzungspunktes, des Sitzes ihres schöpferischen Prinzips. Im Grun-
de herrscht also kein Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Menschen, und dies wird auch
in der Lehre des Zen bestätigt. Das Zen betont, dass diese beiden Menschen dieselben strukturmä-
ßigen Voraussetzungen besitzen und dass dem gewöhnlichen Menschen nichts fehle. Auch hat der
„verwirklichte“ Mensch nichts erworben, was dem gewöhnlichen Menschen etwa fehlte. Aber ob-
wohl diese beiden Menschen identisch sind, unterscheiden sich ihre Lebensäußerungen. Warum?
Soll das heißen, dass der unbewusste zentrale Kreuzungspunkt beim Eintritt des Satori bewusst ge-
worden wäre? Eine solche Annahme entbehrte jeglichen Sinnes, denn das Prinzip des Bewusstseins
ist notwendigerweise immer oberhalb und außerhalb des Bewusstseins, daher unbewusst. Nein, die
richtige Antwort lautet anders. Beim gewöhnlichen Menschen geht alles so vor sich, als ob der zen-
trale Kreuzungspunkt eingeschlafen und passiv sei, und beim „verwirklichten“ Menschen verhält es
sich so, als ob sein Zentrum erweckt und aktiv sei. Es fällt verhältnismäßig leicht, sich den einge-
schlafenen Zentralen Kreuzungspunkt des gewöhnlichen Menschen vorzustellen: es handelt sich
tatsächlich nur um einen! „Kreuzungs“-Punkt, um einen Ort, wo die Ein üsse der äußern Welt zu-
sammentreffen. Über diesen einfachen „Ort“ hinweg erreichen die Ein üsse von draußen die se-
kundären Zentren der somatischen und psychischen Bereiche, welche ihrerseits darauf durch auto-
matische Reaktionen antworten. Der Durchschnittsmensch, dessen zentraler Kreuzungspunkt im
Schlafzustand befangen ist, ist ein Automat. Beim „verwirklichten“ Menschen ist die zentrale Strö-
mungskreuzung nicht eingeschlafen, das Absolute Prinzipielle Denken ist in ihm wirksam (obwohl,
das sei nochmals gesagt, immer nur unbewusst). Dies Absolute, Prinzipielle Denken erhellt das je-
weilige Ein ießen von außen herein. Im Hinblick auf die Gesamtheit der Dinge sieht es den jewei-
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ligen besonderen Ein uss in der Gesamtheit des universellen Zusammenhangs. Es sieht den beson-
deren Ein uss also in seiner Relativität, daher sieht es ihn so, wie er wirklich ist. Nach dieser erhel-
lenden und „erweckten“ Sicht der Dinge (das öffnen des „dritten Auges“ im Zentrum des Unbe-
wussten), und nicht nach einer in Ermangelung von Zusammenhängen verfälschten Sicht der Dinge,
richten sich jetzt die sekundären Zentren in ihren Reaktionen. Ihre jeweilige Reaktion wird der
Wirklichkeit entsprechen. Der gewöhnliche Mensch war eine Maschine, deren Re exe durch den
einen oder anderen besonderen Aspekt der äußeren Welt bestimmt waren. Der „verwirklichte“
Mensch hingegen ist eine Maschine, deren Re exe durch die Gesamtheit des Kosmos bestimmt
sind, die der besondere Aspekt jeweils vermittelt. Der „verwirklichte“ Mensch ist somit identisch
mit dem Kosmischen Prinzip (soweit dieses in Erscheinung tritt) und er äußert sich wie dieses Prin-
zip selbst in jeweils reiner und völlig freier Er ndung.

Dieses absolute, universelle, unbewusste Denken stellt, sobald es im Zentrum des Menschen wirkt,
die Absolute Weisheit dar, mit der natürlich keinerlei formale „Intelligenz“ auch nur im geringsten
vergleichbar ist. Diese Weisheit ist ja nicht formaler Natur, sie steht über allen Formen und ist somit
deren uranfänglicher Grund.

Wir haben behauptet, dass das unbewusste universelle Denken im inneren Zentrum des Durch-
schnittsmenschen schlafe und im Zentrum des „verwirklichten“ Menschen erweckt sei. Beachten
wir weiterhin, dass der Schlafzustand dieses Absoluten Denkens Gradunterschiede aufweist und
diese Gradunterschiede nach der entgegengesetzten Richtung der fünf Denkarten des gewöhnlichen
Menschen gestuft sind. Wenn der Durchschnittsmensch traumlos schläft, ist das Absolute Denken
gleichsam in ihm erweckt (genauer gesagt, es ist „nicht-eingeschlafen“), und dieser Mensch gleicht
völlig dem “verwirklichten“ Menschen. Doch äußert sich dies in keiner Weise in seinem Bewusst-
sein, denn in diesem Zustand ist kein Bewusstsein möglich. Es äußert sich nur im harmonischen
Spiel und in der Regeneration seines vegetativen Lebens. Sobald dieser Mensch zu träumen be-
ginnt, das heißt sobald sein formales geistiges Bewusstsein einsetzt, entspricht das einem gewissen
„Einschlafen“ des Unbewussten, Absoluten Denkens, und der Mensch ist schon weniger „weise“.
Wenn er im üblichen Sinne des Wortes aufwacht, schläft das Absolute Denken noch tiefer ein. Es
„schläft“ umso tiefer, je stärker der formale Geist in rein abstrakter und verallgemeinernder Weise
wirkt. Trotzdem sind diese Momente eines möglichst tiefen „Schlafes“ des Absoluten Denkens der
Anlass dafür, dass ein Mensch, dessen abstrakter Intellekt geübt wird, einer weiteren Entwicklung
fähig ist. Auf das Ganze seines Lebens hin gesehen, wird das Absolute Bewusstsein im Laufe der
Zeit immer weniger im Schlafzustand verbleiben. Ein solcher Mensch wird in wachsendem Maße
nach einer relativen Weisheit leben, gerade als ob das Schlafen des Absoluten Denkens im Augen-
blick auf die Dauer das Wachwerden begünstigen wollte. Schließlich kann man sagen, dass das tat-
sächliche und endgültige Erwachen des Absoluten Denkens (das Satori) gewissermaßen durch einen
Augenblick ausgelöst wird, in welchem der totale Schlafzustand dieses Absoluten Denkens verwirk-
licht worden ist und in dem das mentale Denken die äußerste Grenze seines inneren Dualismus er-
reicht hat.

Um es noch anders auszudrücken: der traumlos schlafende Mensch ist in das Zentrum seiner selbst
zurückgekehrt. Der träumende Mensch hat sich bereits von seinem Zentrum entfernt, Der erwachte
und seinen Wachträumen nachträumende Mensch ist noch „ex-zentrischer“, Der Mensch, der sich
der äußeren Wirklichkeit anpasst und derjenige, welcher meditiert, sind noch weiter von sich selbst
entfernt und noch weiter von ihrem Zentrum weggerückt. Der traumlos schlafende Mensch ist im
Besitz der Wirklichkeit, ohne sich dessen bewusst zu sein. Je mehr er die Stufen des formalen Den-
kens empor klettert, desto ferner rückt diese Wirklichkeit und sie verschwindet in dem Maße, in
dem die Möglichkeiten zunehmen, mit deren Hilfe sie erfasst werden soll. Es ist so, als ob ein
Mensch sich von einem warmen Raum umso mehr entfernte, je mehr seine Wärmeemp ndlichkeit
zunimmt. In den Momenten, die dem Satori vorausgehen, ist der Mensch von seinem wahren Zen-
trum denkbar weit entfernt. Im Augenblick des Eintritts des Satori verkehrt sich die bisherige dis-
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tanzierte Beziehung zum eigenen Zentrum in ihr Gegenteil, und der Mensch be ndet sich plötzlich
in seiner Eigenschaft als „universeller Mensch“ endgültig mitten in seinem Zentrum, obwohl er
gleichzeitig in der Lage ist, sich als „persönlicher Mensch“ von seinem Zentrum zu entfernen, um
sich in die verschiedenen Arten des formalen Denkens zu begeben. Der Mensch erreicht also Satori
dadurch, dass er sich so radikal wie möglich von seinem Zentrum abkehrt, sich bis an die äußersten
Grenzen dieser zentrifugen Richtung hinausbegibt und den Funktionsablauf seines diskursiven
Denkens, welches ihn von der Weisheit entfernt, zu seiner äußersten und klarsten Spitze treibt. Er
muss das formale Denken erfüllen bis zu der Grenze hin, wo die Form dieses Denkens zerbricht.
Um das zu erreichen, muss er alles Gewicht auf das gute Funktionieren seines formal-mentalen
Denkens legen, um jenseits der Grenzen dieses Denkens das Nicht-Formale zu entdecken. Dies ist
ein Unternehmen, das widersinnig an sich erscheint, aber eines Tages das Wunder des Satori bewir-
ken kann. Das Ergebnis darf dann nicht als Erfolg dieser in absurder Weise geleisteten Anstrengun-
gen gewertet werden, sondern nur als deren endgültiges Scheitern, das den Sieg über alle vorherge-
henden Anstrengungen davongetragen hat. Der Mensch wäre jemandem zu vergleichen, der durch
eine Mauer vom Licht getrennt ist und das Licht nicht erreichen könnte, ohne diese Mauer immer
höher zu bauen, bis einmal der Tag kommt, da all seine unnütz erscheinende Anstrengung den Bau
der Mauer so in die Höhe geführt hat, dass diese ihr Gleichgewicht verliert und plötzlich einstürzt,
Diese de nitive Katastrophe bedeutet den Sieg und führt den Menschen dem vollen Lichte zu.

Einer solchen scheinbar sinnlosen, aber notwendigen Anstrengung unterziehen wir uns, wenn wir
uns bemühen, im Laufe der Ereignisse unseres täglichen Lebens unsere nicht-formale Existenz in
ihrer größeren oder geringeren Intensität zu emp nden. Dieser Versuch zu einer nicht-formalen
Wahrnehmung unserer Existenz gleicht keineswegs unseren sonstigen geistigen Re exen, welche in
geistigen Anspannungen bestehen, die Bildvorstellungen erzeugen. Das Gegenteil ist der Fall. Es
handelt sich um den Versuch zur Entspannung, um den üblichen Spannungsre exen aus dem Wege
zu gehen. Es ist der Versuch zu vollkommener Einfachheit, der Versuch, den Verwicklungen zu ent-
gehen, welche wir in die Frage unserer Existenz mit unseren Re exen üblicherweise hineintragen.
Wir bemühen uns dabei zu lernen, nicht irgendetwas Neues zu tun, sondern nichts mehr zu tun, un-
sere üblichen und über üssigen Gemütsbewegungen abzustellen. Wir lehren unseren Geist, nicht
die schwierigsten und anspruchsvollsten Bewegungen auszuführen, sondern jene einfache und reine
Geste zu vollziehen, welche allen anderen Bewegungen zugrunde liegt und schließlich zur unbe-
wegten Ruhe führt. Dieser geistig einfache Funktionsablauf stellt die höchste Stufe der Vollkom-
menheit im Denken des gewöhnlichen Menschen dar; er sprengt den Rahmen der obersten fünften
Denkart, gehört in den Bereich des traumlosen Schlafes ohne Formen und erreicht in einer voll-
kommenen Kreisbewegung das nicht-formale Prinzip; besser gesagt, er erreicht es in der Beschrei-
bung einer spiralförmigen Bewegung, denn derjenige Punkt, der den Kreis beschließt, liegt hoch
über dessen Ausgangspunkt.

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VII. FREIHEIT ALS „TOTALER DETERMINISMUS“

Um das Problem der Freiheit sinnvoll behandeln zu können, müssen wir auf die Grundidee zurück-
kommen, dass der ganze kosmische Bau auf dem streng genauen Gleichgewicht der unteren Prinzi-
pien, des positiven und des negativen Prinzips beruht, und ein höheres versöhnendes Prinzip die
beiden unteren überragt. Von der Perspektive unseres augenblicklichen, noch nicht „verwirklichten“
Zustandes her gesehen hat dies versöhnende Prinzip zwei Aspekte:

Wenn wir die Erscheinungen in ihrer Besonderheit betrachten, sehen wir das versöhnende Prinzip in
einem beschränkten Ausschnitt und können es „versöhnendes zeitliches Prinzip“ nennen. Dann ist
es der Demiurg, der über die unendliche Fülle der besonderen Einzelschöpfungen, über die kon-
struktiven und destruktiven Erscheinungen, über Aufbau und Abbau herrscht, welche dem kosmi-
schen Stoffwechsel entsprechen.

Wenn wir die räumliche und zeitliche Gesamtheit des Kosmos betrachten, gelangen wir zur Er-
kenntnis des nichtzeitlichen oder höchsten oder absoluten versöhnenden Prinzips, das der erschei-
nungsmäßigen Vielheit Einheit verleiht. In dem nichtzeitlichen Prinzip gibt es noch keine dualisti-
sche Erscheinung, und ihm gegenüber spielte das zeitliche versöhnende Prinzip nur eine unterge-
ordnete Rolle.

Dieses Höchste Versöhnende Prinzip ist der uranfängliche Grund, geht jeder Manifestation voraus
und in ihm mündet unser abstraktes Denken, wenn es der universellen Kette von Ursache und Wir-
kung nachgeht.

Die Existenz des Demiurgen zwischen dem uranfänglichen Grund und der Erscheinungswelt führt
uns notwendigerweise dazu, zwei Arten von Determinismus zu unterscheiden:

einen partiellen Determinismus, demzufolge das versöhnende zeitliche Prinzip die Erscheinungen
bestimmt, und einen totalen Determinismus, demzufolge das höchste, versöhnende Prinzip das ver-
söhnende zeitliche Prinzip und mit diesem die Erscheinungen bestimmt.

Jede dieser zwei Arten von Determinismus äußert sich durch Gesetze. Welches sind nun die Unter-
schiede zwischen den Gesetzen des partiellen und des totalen Determinismus?

Die Gesetze des partiellen Determinismus sind nur auf der Ebene des Konkreten, des Räumlichen
und Zeitlichen gültig. Jede besondere Manifestation dieser im Bereich des Gesonderten auftreten-
den Gesetze scheint eines Ordnungsprinzips zu entbehren. Der eine Mensch zum Beispiel hat wäh-
rend seines ganzen Daseins ein unglückliches, der andere ein glückliches Schicksal. Dieser partielle
Determinismus, der in der Erscheinungswelt auftritt, scheint ungerecht, ohne höhere Ordnung, ohne
inneres Gleichgewicht.

Das Gesetz des totalen Determinismus hingegen gilt nicht nur auf der Ebene der besonderen Er-
scheinungen, sondern im Universellen. Innerhalb dieses Determinismus vermögen wir nur voll-
kommene Ordnung zu erkennen. Der Gesamtheit der positiven Erscheinungen entspricht genau eine
Gesamtheit von negativen Erscheinungen. Jede Erscheinung wird in einem Ganzen integriert und
durch ein genau komplementäres Phänomen ausgewogen.

Der partielle, erscheinungsmäßige, scheinbare, sichtbare und ordnungslose Determinismus ist nicht
„wirklich“, da er ja nur ein Teil ist und es Wirklichkeit nur da gibt, wo das Gesamte mit inbegriffen
ist. Aber der unwissende Mensch hält das Sichtbare für das „Wirkliche“. Daher glaubt er an die ein-
zig gültige Wirklichkeit dieses partiellen Determinismus. Das geht schon aus der Bezeichnung „De-
terminismus'' hervor. Im Übrigen besitzt dieser Mensch aber eine gewisse angeborene intuitive Vor-
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stellung von der wahren Wirklichkeit, das heißt vom Höchsten Prinzip, dem er neben anderen Ei-
genschaften die der Freiheit zuerkennt. Da er nur den partiellen Determinismus kennt und nicht dem
auf der Stufe des höchsten Prinzips wirkenden totalen Determinismus Rechnung trägt, setzt er den
ihm allein bekannten Determinismus der Freiheit des Höchsten Prinzips entgegen und gelangt so zu
dem Gegensatz „Determinismus - Freiheit“, In Wirklichkeit beruht dieser Gegensatz auf einer Illu-
sion. Nicht illusorisch hingegen ist die Unterscheidung „partieller Determinismus und totaler De-
terminismus“. Diese Unterscheidung bedeutet keinen Gegensatz, sondern ist der Ausdruck für zwei
verschiedene Betrachtungsweisen ein und derselben kausalen Wirklichkeit, wobei die eine Betrach-
tung auf der Stufe des individuellen Denkens, die andere auf der Stufe des universellen Denkens
ausgeführt wird. Der ich-bezogene Durchschnittsmensch möchte frei und unabhängig von be-
schränkenden Bedingungen sein und zwar als gesondertes Individuum. Ich kann mich sehr wohl als
Einzelindividuum, als psychosomatischen Organismus betrachten, aber ich muss verstehen, dass
meine Befreiung vom partiellen Determinismus über diesen hinausführt und ihn im totalen Deter-
minismus des Höchsten Prinzips erfüllt. Habe ich einmal meine „Verwirklichung“ erreicht, so wird
mein psychosomatischer Organismus nicht mehr nur von den scheinbar Ordnungslosen Gesetzen
des partiellen Determinismus bestimmt, sondern vom allgemein gültigen, totalen Gesetz des univer-
sellen kosmischen Gleichgewichts, jenem streng geordneten Gesetz, welches das Prinzip all jener
scheinbar Ordnungslosen Gesetze des teilweisen Determinismus ist. Stelle ich mich „verwirklicht“
und befreit vor, so darf ich nicht annehmen, dass mein Organismus jedem Determinismus entginge,
sondern dass er bedingt ist durch den totalen Determinismus des Höchsten Prinzips, welcher mein
„eigentliches Selbst“ ist. Ich kann nicht der Erwartung sein, dass mein Organismus nun keiner Kau-
salität mehr unterworfen sei, ich muss wissen, dass er jetzt endlich dem Gesetz des Uranfänglichen
Grundes gehorcht, der seine eigene Wirklichkeit ist. Meine Freiheit besteht nicht in dem Fehlen je-
der Kausalität in Bezug auf meinen Organismus, sondern in der vollkommenen Ausgewogenheit in
mir selbst zwischen dem Verursachten und dem Verursachenden, zwischen dem Bedingten und dem
bedingenden Prinzip. Wenn ich im Augenblick meiner „Verwirklichung“ aufhöre, unter einem
Zwangs-Bewusstsein zu stehen, so nicht deshalb, weil der angebliche Zwang beseitigt ist, sondern
weil er sich unendlich erweitert hat. Dadurch ist er mit der Gesamtheit eins geworden, in der Ich
und Nicht-Ich identisch sind, so dass der Begriff „Zwang“ jeglichen Sinn verloren hat.

Aus mangelndem Verständnis hält der durchschnittliche ich-bezogene Mensch verhängnisvoller


Weise die freie Handlung für grundlos, willkürlich und an nichts gebunden; so gelangt er zu völlig
sinnlosen Begriffen. Diese illusorische Freiheit, welche diesseits des partiellen Determinismus liegt
und nicht über ihn hinausgeht, sondert unser Einzelgefüge vom übrigen Kosmos ab und enthält so-
mit einen inneren Widerspruch, der sie aufhebt. In einem neuerdings erschienenen Buch über das
Zen behauptet ein abendländischer Autor, dass dem durch das Satori befreiten Menschen in jedwe-
der Lage auch jedwede Handlung möglich sei. Diese Behauptung widerspricht jedem wahren Ver-
ständnis. Der durch das Satori befreite Mensch kann in einer gegebenen Situation nur eine einzige
Handlung ausführen, nämlich die der gegebenen Situation vom Ganzen her entsprechende. In der
unmittelbaren, spontanen Ausübung dieser einzig adäquaten Handlung besteht gerade das Spiel der
vollkommenen Freiheit dieses Menschen. Der vom partiellen Determinismus bewegte ich-bezogene
Durchschnittsmensch reagiert in einer gegebenen Situation auf mittelbare Weise gemäß irgendeiner
von zahllosen inadäquaten Möglichkeiten; der verwirklichte, vom totalen Determinismus bestimmte
Mensch hingegen reagiert unfehlbar gemäß der einzigen, vollkommen adäquaten Möglichkeit.

Außerhalb der freien, adäquaten Handlung gibt es eine ganze Hierarchie von mehr oder weniger
inadäquaten Handlungen, je nach der Begrenztheit oder Weite des jeweils vorliegenden partiellen
Determinismus. Ganz unten in dieser Hierarchie steht die reine Re exhandlung, hinter der keinerlei
Re exion, sondern nur Spontanität ohne Überlegung im Spiele ist. Je mehr Überlegung indes die
Handlung bestimmt, umso mehr verschwindet diese untergeordnete Spontanität. Die Handlung ent-
spricht immer mehr den umgebenden Bedingungen. Nach dem Eintreten des Satori ist die Überle-
gung über üssig geworden; das Handeln wird wieder spontan und gleichzeitig wird es der zeitli-
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chen und räumlichen Gesamtheit des erscheinungsmäßigen Universums vollkommen adäquat. Im


Verlaufe dieser Hierarchie besteht eine umgekehrt proportionale Beziehung zwischen der Zwangs-
läu gkeit des Handelns und dem inneren Eindruck von Freiheit, der das Handeln begleitet. Je mehr
der Determinismus an Strenge zunimmt, desto freier wird die Handlung innerlich empfunden. Ver-
langt man zum Beispiel von mir, irgendein Substantiv zu nennen, so entsteht ein Gefühl der Be-
klemmung und Hil osigkeit in mir, wobei ich mir wie ein Gefangener vorkomme. Ich weiß nicht,
was ich sagen soll. Fragt man mich nach dem Namen irgendeines Musikinstrumentes, so fühle ich
mich schon weniger beklemmt und antworte mit größerer Leichtigkeit. Fragt man mich nach dem
kleinsten Instrument eines Streichquartetts, so verschwindet mein Missbehagen ganz. Sobald ich
das Wort „Geige“ ausspreche, entsteht in mir ein Gefühl von innerer Befreiung, das meiner Gewiss-
heit entspringt, adäquat und richtig zu antworten. In dem Maße, wie die Menge an Antwortmög-
lichkeiten abnimmt und damit meine äußere Freiheit, zu antworten, sich verringert, nimmt mein Ge-
fühl der inneren Freiheit zu. Mit anderen Worten, mein Geist ist umso freier, je streng umrissener
und bestimmter meine jeweilige Aufgabe ist.

Die Entwicklung der modernen Kunst ist ein eindrücklicher Beweis für die tiefe Hil osigkeit, in der
sich der Mensch be ndet, wenn er jede Art von Disziplin ausschließt. Der innere Widerstand gegen
jegliche Schranken beraubt den Menschen seines Freiheitsgefühls, welches er indessen innerhalb
frei bejahter Grenzen emp ndet. Mit dem Eindruck von Freiheit verliert er auch das Gefühl von in-
nerem beruhigt sein, dessen er bedarf, um für die Botschaft seiner aus der Tiefe seines Wesens
kommenden Inspiration offen zu bleiben. So schneidet sich der Künstler, der alle äußeren Schran-
ken einer Disziplin ablehnt und sogar stolz darauf ist, sie zu durchbrechen, die .Möglichkeit ab, sich
seiner schöpferischen inneren Quelle zu bedienen, und es gelingt ihm nicht mehr, einen Ausdruck
seiner selbst zu nden. Seine Arbeit wird zu einem Gestammel, und schließlich fühlt er sich ohn-
mächtig und wie der Sklave seiner äußeren Freiheit. Eine selbst auferlegte und spontan bejahte Dis-
ziplin ist somit nötig, damit unser Leben nicht in selbstmörderischem Chaos verläuft. Man darf and-
rerseits nicht vergessen, dass jene Disziplin, deren Nicht-Vorhandensein unser zeitliches Leben ge-
fährdet, zugleich ein Hindernis für unsere Verwirklichung darstellt, weil sie uns den Eindruck von
innerer Freiheit verschafft, obwohl wir vor dem Eintritt des Satori in Wirklichkeit in keiner Weise
frei sind. Somit ist also der Eindruck von Freiheit illusorisch und behelfsmäßig und bildet nur eine
Kompensation für unsere unversöhnt dualistische, menschliche Grundsituation. Die trügerischen
Freuden, welche mit diesem Freiheitsgefühl zusammenhängen, verbrauchen eine vitale Energie, die
wir ihnen nicht entziehen können.

So ist die Disziplin in Bezug auf die nichtzeitliche Verwirklichung sowohl günstig als auch ungüns-
tig. Sie ist indirekt günstig, da sie die zeitliche Verwirklichung begünstigt, ohne die eine nichtzeitli-
che Verwirklichung unmöglich ist. Und sie ist direkt gesehen ungünstig für die nichtzeitliche Ver-
wirklichung, weil sie im Menschen die Illusion entwickelt, dass schon jetzt alles richtig in ihm
funktioniere.

Der Zen-Schüler löst diesen Gegensatz, indem er ihm eine gleichfalls gegensätzliche Methode ge-
genüberstellt: er lehnt jede besondere Disziplin ab (keine „Moral“, keine „Askese“, keine geistigen
Übungen) und nimmt in dem Maße, wie sein Verständnis fortschreitet, die totale Disziplin an, wel-
che eben darin besteht, sich strengstens jede besondere Disziplin zu untersagen. „Hört auf, an euren
Meinungen zu hängen.“ - „Der vollkommene Weg lehnt jede besondere Vorliebe ab,“ - „Erweckt
den Geist, ohne ihn auf irgendeine Sache festzulegen“ etc... Ein solcher Mensch kann nach und
nach der bedrückenden Angst ins Auge blicken, die unausweichlich im Gefolge unbeschränkter
Freiheit steht. Indem er sich unnachgiebig den verführerischen Trug aller „Überzeugungen“ versagt,
führt er selbst bewusst den unserer ichbezogenen Grundsituation innewohnenden Druck und Selbst-
zwang zu letzter Erfüllung. Er bleibt mitten in unserem illusorischen Gefängnis, bis der Höhepunkt
ohnmächtiger Bewegungslosigkeit erreicht ist, auf dem das Satori die Erscheinungswelt vollkom-
men umstößt und die Erscheinungen im neuen Licht wirklicher Freiheit erstehen lässt, einer Frei-
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heit, deren Wesen all ihre besonderen, sowohl rein innerlichen als auch nach außen hin sichtbaren
Aspekte transzendiert.

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VIII. DIE VERSCHIEDENEN ARTEN DER ICH-BEZOGENHEIT

Im Zentrum meines Inneren, in diesem heute noch für mich unbewussten Zentrum, wohnt der ur-
sprüngliche Mensch, der mit dem Prinzip des Universums und durch dieses dem All des Univer-
sums verbunden ist. Dieser ursprüngliche Mensch genügt völlig sich selbst, er ist das prinzipiell
Eine, weder allein noch nicht-allein, weder bejaht noch verneint, er steht außerhalb jedes Dualis-
mus. Das ist das ursprüngliche Sein, welches jeder Art von ich-bezogener „Be ndlichkeit“ zugrun-
deliegt, die es in meinem augenblicklichen Bewusstsein überlagert. Da ich jetzt noch nichts weiß
von der wirklichen Beschaffenheit meiner ich-bezogenen Gemütszustände, bilden diese eine Art
Trennwand, die mich von meinem Zentrum und meinem wirklichen Ich fern hält. Ich bin mir mei-
ner wesenhaften Identität mit dem Ganzen nicht bewusst und betrachte mich nur als Einzelwesen,
das sich vom übrigen Universum unterscheiden will. Das Ego bin also ich selbst, insofern ich mich
als von allem anderen unterschieden betrachte. Aber das Ego ist illusorisch, da ich in Wirklichkeit
nicht als Einzelwesen bin. Ebenso sind alle ich-bezogenen Be ndlichkeiten illusorischer Natur.

Im ich-bezogenen Grundzustand fühle ich mich als ein dem Nicht-Ich entgegengesetztes Ich, als ein
Organismus, dessen „Sein“ sich demjenigen der anderen Organismen entgegenstellt. In diesem
grundsätzlichen Zustand gehöre alles, was nicht meinem eigenen Organismus zugehörig ist, zum
Nicht-Ich. Ich liebe mein Ich, das heißt, ich will meine Existenz, und ich hasse das Nicht-Ich, das
heißt, ich will, dass es verschwindet. Ich verlange nach der Bejahung meines Ich als unterschiedli-
ches Einzelwesen und wünsche die Negierung des Nicht-Ich, soweit es darauf Anspruch macht, un-
abhängig von meinem Einzel-Ich zu bestehen. Innerhalb dieses ich-bezogenen Grundzustandes
heißt “leben“, das Ich bejahen und das Nicht-Ich verneinen; der Sieg kann materieller Natur sein
durch Erwerb materieller Güter, er kann auch immaterieller Natur sein und sich in der Erlangung
von Ansehen äußern (d. h. die Anerkennung des Ich durch das Nicht-Ich, oder aber der Erwerb von
Ruhm, der das Einzel-Ich „unsterblich“ macht.)

Der Grundzustand des Gefühlslebens ist beim gewöhnlichen Menschen also einfach: Dieser
Mensch liebt das Ich im Gegensatz zum Nicht-Ich, und er hasst das Nicht-Ich im Gegensatz zum
Ich.

Auf der Grundlage dieses egoistischen ich-bezogenen Grundverhaltens können sich 5 altruistisch-
ichbezogene Gemütszustände aufbauen, welche alle den Anschein von Nächstenliebe aufweisen.

1.) Scheinbare Nächstenliebe durch Projektion des Ego.

Gemeint ist hiermit die abgöttische Liebe, in der das Ego auf einen anderen Menschen projiziert
wird. Mein Anspruch auf Göttlichkeit, insofern ich ein „unterschiedliches“ Einzelwesen bin, ist von
mir auf den Anderen verlagert worden. Die Gefühlslage gleicht der vorhin beschriebenen, mit dem
Unterschied, dass der Andere meinen Platz innerhalb meiner Werteskala eingenommen hat. Ich will
die Existenz dieses vergötterten Anderen und stemme mich gegen alles, was ihm feindlich sein
könnte. Mich selbst liebe ich nur noch als getreuen Diener dieses vergötterten Idols. Davon abgese-
hen hege ich keine Gefühle mehr für mich selbst, und wenn nötig, kann ich mein Leben für das
Wohl meines Idols hingeben (ich kann meinen eigenen Organismus opfern für das auf das Idol pro-
jizierte Ego; man denke etwa an den Tod des Empedokles, der sich in den Ätna stürzte, um sein Ego
unsterblich zu machen.) Die übrige Welt hasse ich, wenn sie meinem Idol feindlich gesinnt ist. Ist
sie ihm aber freundlich zugetan, bin ich in der Versenkung in mein geliebtes Idol zutiefst glücklich
(d.h. in Wirklichkeit glücklich über meine ichbezogene Selbstbejahung) dann liebe ich auch die
ganze übrige Welt ohne Unterschied. (Wir werden anlässlich der Erörterung der 5. Abart all dieser
scheinbaren Nächstenliebe erkennen, was es mit dieser „weltumfassenden“ Liebe eigentlich auf sich
hat.) Stößt das vergötterte Wesen mich aber zurück und zwar so stark, dass ich dadurch mein nun an

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ihm haftendes Ego überhaupt nicht mehr besitzen kann, so ist es möglich, dass meine scheinbare
Liebe sich in Hass verwandelt.

2.) Scheinbare Nächstenliebe durch örtliche Ausbreitung des Ego.

Beispiele: die hingebende Liebe einer Mutter für ihr Kind, die hingebungsvolle Liebe eines Men-
schen für sein Vaterland etc. In all diesen Fällen handelt es sich um Liebe, die ihr Objekt besitzen
will. Bei der vergötternden Liebe lag zunächst die Projektion des Ego und weiterhin das Bedürfnis
vor, durch materiellen oder geistigen Besitz des Idols auch das auf diesen Abgott projizierte Ego im
Besitz zu bewahren. Nun aber rückt meine Besitzergreifung des Andern an die erste Stelle (es ist ja
nur Zufall, dass dies Kind mein Kind oder dies Land mein Land ist etc.); die daraus sich ergebende
Gefühlslage ist derjenigen der vergötternden Liebe sehr ähnlich, nur sind die Glücksemp ndungen
hier weniger bewusst und oft ist die Furcht vorherrschend, den geliebten Besitz zu verlieren. Die
vergötternde Liebe gibt dem Menschen das, was er “den Sinn“ seines Lebens nennt. Auch die be-
sitzergreifende Liebe tut das, aber der von ihr gemeinte Sinn ist oft weniger positiv und beruht we-
niger in sich selbst.

3.) Scheinbare Nächstenliebe, weil der Andere uns in einer der vorher angegebenen Weisen liebt.

Der Andere liebt sein Ego in mir, aber er erweckt dadurch den Eindruck, als ob er mein Ego liebe.
Ich will daher seine Existenz, wie ich grundsätzlich die Existenz alles dessen will, was meine Exis-
tenz will.

4.) Scheinbare Nächstenliebe, weil mein eigenes Idealbild diese Liebe erfordert, oder weil sie zu
meiner vergötternden Liebe gehört.

Ich liebe andere Menschen, denn um mich selbst lieben zu können, muss ich mein Denken und
Handeln ästhetisch nden, und es ist eben ästhetisch, andere Menschen zu lieben.
Oder ich liebe Andere, weil ich in mystischer Weise« irgendeine Vorstellung von Göttlichkeit liebe,
auf die ich mein Ego projiziert habe, wobei ich glaube, dass dieses göttliche Abbild meine Liebe zu
Anderen will, und ich wiederum alles will, was dieses mit meinem Ego identi zierte Abbild fordert.

5.) Scheinbare Liebe zum Nicht-Ich, weil mein Ego im Augenblick gesättigt ist.

Der Mensch, der im Augenblick von einer intensiven ich-bezogenen Selbstbejahung durchdrungen
ist, liebt das ganze Universum. Diese von Sonderwünschen freie Liebe entspricht nicht einer mo-
mentanen Erscheinung der ursprünglichen universellen Liebe, sondern ist die momentane Verkeh-
rung des grundsätzlichen ich-bezogenen Hasses auf das Nicht-Ich, anlässlich des vorübergehenden
Nachlassens der ich-bezogenen Grundforderung. Dieser Zustand ist übrigens nur von kurzer Dauer.
Er gleicht dem Wonnegefühl, nicht mehr leiden zu müssen. Dies Gefühl von Wonne gilt nur ver-
gleichsweise und hört auf, sobald die Vergleichsbestimmung wegfällt.

Diese fünf Arten scheinbarer Nächstenliebe sind die Ursachen von eben so viel Arten von Freuden,
die mein Ego in Situationen, welche mich als Einzelwesen bekräftigen, emp ndet. Jeder Verminde-
rung dieser Freuden entspricht das Auftreten von Angst und Gegnerschaft.

Je mehr ein Mensch zur nichtzeitlichen Verwirklichung berufen ist, desto stärker emp ndet er das
Bedürfnis, diese Arten der Liebe zu erleben. Und tatsächlich gleichen diese Gefühlslagen mehr oder
weniger der Gefühlslage des verwirklichten Menschen (der alles liebt), da sie ihn mit etwas, was
außerhalb seiner selbst liegt, verbinden.

Je weiter aber der Mensch in der Erkenntnis seiner selbst fortschreitet, desto mehr verlieren in sei-
nen Augen diese Arten von Liebesgefühlen an Wert und damit schwindet ihre ausgleichende Wirk-
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samkeit. Dieser Mensch verliert immer mehr seine „positiven“ und „altruistischen“ Gefühle. Er
durchschaut den gleisnerischen Charakter dieser Trugbilder, und so gelangt er wohl oder übel zu
dem ich-bezogenen Grundzustand zurück, aus welchem heraus er immer das Nicht-Ich gehasst hat,
ein Zustand nächtlicher Einsamkeit. Er emp ndet Angst, weil er sich weigert, das Nicht-Ich zu be-
kämpfen. (Man vergleiche meine Bemerkungen zu den „Mechanismen der Angst“).

Dieser Mensch wird immer mehr und mehr der Möglichkeit beraubt, sich innerlich etwas vorzutäu-
schen, und er wird daher unausweichlich zur Aufgabe der Verwirklichung getrieben. Immer häu ger
wird er sich auf das unparteiische Wirken seines Denkens berufen, um die Rechtmäßigkeit seines
ich-bezogenen Anspruchs in Frage zu stellen, des Anspruchs, als „unterschiedliches Individuum“ zu
„sein“, der Einsamkeit und Furcht nach sich zieht. Die auf unaufhörliches Fordern bezogene Ver-
krampfung des Ego wird in immer klarerer und „ungeschminkterer“ Weise erkennbar, während
gleichzeitig das Ego immer stärker in die letzten „Wille seiner Verteidigungsfestung“ hineingepresst
wird. Dieses Zusammenpressen hat aber eine Grenze, jenseits derer das Ego im Satori wie eine
schillernde Seifenblase zerplatzt. Er löst sich dann in die Gesamtheit des Universums auf, es ver-
lischt, indem es sich erfüllt.

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IX. VOM UNBEWUSSTEN DES ZEN

Das psychologische Bewusstsein des Durchschnittsmenschen enthält beständig zwei verschiedene


Schichten von Wahrnehmungen und richtet seine Aufmerksamkeit auf zwei verschiedene Gattungen
von Dingen. Es ist auf zwei Wahrnehmungsebenen gerichtet, und somit verteilt es sich auf zwei
Ebenen. Zu Unrecht wird behauptet, dass man nur auf eine Sache allein achten könne, denn man
achtet dauernd auf zwei Dinge zugleich, wenn auch, wie wir sehen werden, auf zwei verschiedene
Weisen.

Auf einem ersten Wahrnehmungsfeld wird die Aufmerksamkeit durch diese und jene besonderen
Aspekte der Außenwelt gefesselt, welche entweder tatsächlich vorhanden sind oder durch den Vor-
stellungsablauf vergegenwärtigt werden. Auf dieser Ebene sehe ich innerhalb der Dauer meine be-
sondere und qualitativ unaufhörlich sich verändernde Auseinandersetzung mit dem Nicht-Ich.

Auf einem anderen Wahrnehmungsfeld ist meine Aufmerksamkeit durch die Situation in Anspruch
genommen, die jeweils den Verlauf des Prozesses meines „Seins“ oder „Nicht-Seins“ charakteri-
siert, der sich tief in mir vor meinem inneren „Tribunal“ abspielt. Dieser Prozess bleibt immer der-
selbe, daher hat dieses Wahrnehmungsfeld einen qualitativ monotonen Charakter. Wenn auf dieser
Ebene auch unaufhörlich Veränderungen statt nden, so nur quantitativer Art. Mein „Be nden“ ist
hier mehr oder minder „weiß“ (Eindruck von „Sein“) oder „schwarz“ (Eindruck von „Nicht-Sein“).
Außer diesen Schwankungen zwischen Weiß und Schwarz gibt es quantitative Schwankungen zwi-
schen Ruhe und innerer Erregung. Wir werden später auf diese beiden Arten von Schwankungen
zurückkommen.

Untersuchen wir die Beziehungen, die zwischen diesen beiden Ebenen bestehen. Mein Wahrneh-
mungsfeld aller besonderen Aspekte, das Ober ächen-Wahrnehmungsfeld, hängt, soweit mein Vor-
stellungsvermögen dabei auf die Sicht der äußeren Welt Ein uss hat oder dort die Aspekte der äuße-
ren Welt wiedergibt, von der Ebene der tiefen, allgemeinen Wahrnehmung meines „Be ndens“ ab,
daher von meinem Be nden selbst. Durch ein „weißes“ Be nden belebt sich mein Vorstellungsab-
lauf mit positiven Formen, ein „schwarzes“ Be nden ruft negative Formen hervor. Ein unruhiges
Be nden beschleunigt meinen Vorstellungsablauf, ein ruhiges Be nden verlangsamt ihn. Außerdem
hängt dies Ober ächen-Bewusstsein natürlich auch von äußeren Umständen ab.

Mein Tiefen-Bewusstsein, daher mein Be nden, hängt teilweise von den im Ober ächen-Bewusst-
sein gegenwärtigen Formen ab. Die mich bejahenden bzw. verneinenden Ereignisse, die ich hier
gewahre, haben Ein uss auf mein Be nden. Die unter dem Ein uss meines Be ndens vorgestellten
Formen wirken sich wiederum auf dieses Be nden in einem positiven oder negativen circulus
viciosus aus. Aber mein Be nden hängt auch von meinem physiologischen Zustand ab. Schla osig-
keit, schlechte Verdauung verdunkeln es, Alkohol, Opium hellen es auf.

So bin ich unaufhörlich mit zweierlei Dingen zugleich beschäftigt. Ich beschäftige mich einerseits
mit meinem Dasein in der Außenwelt und schätze andrerseits innerlich die Aussichten auf einen
günstigen bzw. ungünstigen Ausgang des allgemeinen Prozesses meines „Seins“ oder „Nicht-Seins“
ab. Meine Aufmerksamkeit ist in diese zwei Beschäftigungen aufgeteilt. So erklärt es sich, warum
der Neurotiker häu g Konzentrationsstörungen des Ober ächen-Bewusstseins und Störungen des
Wahrnehmungsvermögens der Außenwelt erfährt. Ein großer Teil seiner Aufmerksamkeit ist näm-
lich davon in Anspruch genommen, die Aussichten auf einen günstigen Ausgang seines inneren
„Prozesses“ abzuwägen, so dass ihm für den Kontakt mit der wirklichen oder vorgestellten Außen-
welt nur noch wenig übrig bleibt. Dadurch nimmt die Außenwelt in seinen Augen einen unwirkli-
chen Charakter an und er wird unfähig, sein Ober ächen-Bewusstsein zu lenken.

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Mein weißes oder schwarzes, ruhiges oder unruhiges Be nden ist nichtformaler Natur. Das Licht
erhellt Formen, ist aber selbst formlos. Auch die innere Erregung ist formlos, Formen sind mehr
oder minder bewegt, aber die Bewegung selbst ist formlos. Also ist die ganze Wahrnehmung des
Tiefen-Bewusstseins formlos. Im Gegensatz hierzu ist das Ober ächen-Bewusstsein formal. Mein
Ober ächen-Bewusstsein ist somit evident für mich, während mein Tiefen-Bewusstsein latent in
mir ruht. Ich kann es mir nur wie einen mehr oder weniger angenehmen Zustand bewusst machen;
das Angenehme entspricht dem Weißen und das Unangenehme dem Schwarzen.

Es ist wesentlich, dass diese beiden Arten von Bewusstsein, die den beiden Wahrnehmungsebenen
meiner geteilten Aufmerksamkeit entsprechen, unterschieden und mit verschiedenen Namen ge-
kennzeichnet werden. Nennen wir also das Ober ächen-Bewusstsein „Objekt-Bewusstsein“ und
mein Tiefen-Bewusstsein „Subjekt-Bewusstsein“. Dies sind die beiden unversöhnten Bewusstseins-
arten, zwischen denen mein psychologisches Bewusstsein sich spaltet in meiner ich-bezogenen dua-
listischen Grundsituation, in welcher ich alles unter dem Blickwinkel des Gegensatzes von Objekt
und Subjekt betrachte. Ich sage „Objekt-Bewusstsein“ und „Subjekt-Bewusstsein“, nicht „objekti-
ves“ und „subjektives“ Bewusstsein, weil die beiden letzteren Begriffe den beiden versöhnten As-
pekten des Bewusstseins des verwirklichten Menschen entsprächen.

Mein Objekt-Bewusstsein ist evident oder augenscheinlich, mein Subjekt-Bewusstsein ist latent. Ich
erörtere meine äußeren Probleme und weiß, dass ich sie erörtere; mit meinem inneren Tiefen-Be-
wusstseinsproblem hingegen setze ich mich auseinander, ohne es zu wissen. In den beiden Arten
von Bewusstsein ist die Natur meiner Aufmerksamkeit jeweils verschieden. Ich bin damit einver-
standen, dass äußere Formen meine Aufmerksamkeit erregen. Ich bin für diese Art meiner Auf-
merksamkeit empfänglich und bejahe sie. Aber ich lehne es ab, dass meine Aufmerksamkeit durch
mein inneres „Be nden“ abgelenkt wird. Ich kann sagen, dass meine Aufmerksamkeit durch mein
Objekt-Bewusstsein gefesselt wird, sich aber gegen meinen Willen von meinem Subjekt-Bewusst-
sein fesseln lässt. In zentrifuger Weise bin ich nach außen hin orientiert und blicke nach außen, keh-
re aber meinem eigentlichen „Be nden“ den Rücken. Hinter meinem Rücken wird ein Teil meiner
Aufmerksamkeit von meinem Subjekt-Bewusstsein gefesselt, während ich die Aufmerksamkeit
meines Objekt-Bewusstseins selbst auf die vor meinen Augen liegende äußere Welt der Formen
lenke. Ich gleiche einem Menschen, der im Kino sitzt, den Bildschirm vor seinen Augen und die
Kamera hinter seinem Rücken. Ich sehe mir die Formen auf der Leinwand an, kehre aber der Kame-
ra den Rücken, d. h. in unserem Fall meinem „Be nden“, welches die Formen und Farben auf den
Bildschirm projiziert.

Mein Subjekt-Bewusstsein, dies Bewusstsein, das man in der klassischen Psychologie ignoriert, ist
die latente Seite meines im Dualismus befangenen psychologischen Bewusstseins. Dies Denken,
welches unaufhörlich und in monotoner Weise an der Auseinandersetzung meines „Seins“ mit mei-
nem „Nicht-Sein“ arbeitet, ist nach einer Richtung hin unbewusst. Aber das Unbewusste, um das es
sich hier handelt, ist nicht das prinzipielle Unbewusstsein des Zen. Es stellt die allererste Erschei-
nung des Dualismus dar, sobald das prinzipielle Unbewusste seiner selbst bewusst geworden ist. Es
ist die allererste dualistische Manifestation des prinzipiellen Unbewussten. Es ist zweifelhaft, ob
man es unbewusst oder bewusst nennen darf, da es genau auf der Grenze liegt zwischen dem prin-
zipiellen Unbewussten und dem Bewusstsein. Betrachtet man es vom Bewusstsein her (ein Freud’-
scher Standpunkt), dann sieht man es als unbewusst. Betrachtet man es vom prinzipiellen Unbe-
wussten her, dann sieht man es als Subjekt-Bewusstsein. Von diesem Gesichtspunkt des prinzipiell
Unbewussten her betrachtet es der Meister des Zen, wenn er das Übel eines dualistischen Bewusst-
seins im gewöhnlichen, nicht verwirklichten Menschen bedauert. Der Meister des Zen sagt uns: „Ihr
seid unglücklich, weil ihr tatsächlich im Bewusstsein und nicht im Unbewussten verankert seid.“ Er
betrachtet das Freudsche Unter-Bewusstsein gerade nicht als wirkliches Unbewusstes, sondern als
die tiefste und dunkelste Quelle des diskursiven Bewusstseins, daher als die erste Erscheinungsform
des dualistischen Bewusstseins.
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Wir teilen den Standpunkt des Zen und erachten das Subjekt-Bewusstsein als unser latentes Be-
wusstsein und nicht als unser Unbewusstsein. Wenn auch latent, ist es deshalb nicht weniger wirk-
sam, und zwar zu unserm Unglück. Je mehr es tätig ist, desto mehr erörtern wir unser illusorisches
Problem „Sein - Nichtsein“, desto mehr sind wir in Angst um unser „Sein“, desto weiter sind wir
vom freudigen Glanz des prinzipiellen Lichtes entfernt und desto stärker ist unsere Aufmerksamkeit
auf die dunkle Tiefe gerichtet, ist ein großer Teil unserer Aufmerksamkeit auf diese Weise absor-
biert, so bleibt uns nur wenig, um uns der äußeren Welt einzufügen. Man nennt diesen Zustand
„Sinken der psychologischen Spannung“, womit Konzentrationsunfähigkeit und alle Anzeichen von
„Psychasthenie“ verbunden sind.

Da mein Subjekt-Bewusstsein latent und eine Art von „unbewusstem Bewusstsein“ ist, kann man
sich fragen, wieso wir darüber Bescheid wissen und darüber sprechen können. Die Beobachtung
meines Ober ächen-Bewusstseins und mein Bedürfnis, zu ergründen, warum es so und nicht anders
funktioniert, bringen mich durch mittelbares Nachdenken allmählich dazu, die Existenz und Natur
dieses tiefen Subjekt-Bewusstseins zu begreifen, wo mein „Seins- oder NichtseinsProzess“ vor sich
geht. Das unmittelbare intuitive Erkennen meiner inneren „Be ndlichkeit liefert mir keine Bilder
darüber, aber es gibt mir eine Vorstellung von seinem Helligkeitsgrad (von Weiß bis Schwarz, von
hell zu dunkel) und von seiner Bewegungsstärke (von der Ruhe bis zur Erregtheit).

Diese intuitive Wahrnehmung ist aufschlussreich und gestattet mir, die Beziehungen, zwischen mei-
nem inneren „Be nden“ und meinem Verhalten, meinen Gefühlen und Handlungen zu beobachten.
So wie der Sinn eines Traumes sich in seinem latenten Gehalt und nicht in seinem offenkundigen
Inhalt äußert, liegt der Sinn meines Lebens, dieser andere Traum, in meinem latenten Subjekt-Be-
wusstsein und nicht in meinem offenbaren Objekt-Bewusstsein. Das Denken meines latenten Be-
wusstseins bestimmt mein Verhalten und mein in Erscheinung tretendes Bewusstsein.

In meinem latenten Bewusstsein, wo der Prozess meines „Seins“ und meines Nichtseins'' statt ndet,
wünsche ich freigesprochen zu werden, will ich mein „Sein“ emp nden und zittere vor meinem
Nichtsein, vor meinem Nichts. Beachten wir, wie die beiden erscheinungsmäßigen Dualismen mei-
nes „Be ndens“, nämlich „Licht - Dunkel“ und „Erregung - Ruhe“ mit dem Grunddualismus „Sein
- Nichtsein“ zusammenhängen. Alles geht in mir so vor, als ob „Licht“ mit „Sein“ und „Dunkelheit“
mit „Nichtsein“, „Bewegtheit“ mit „Sein“ und „Bewegungslosigkeit“ mit „Nichtsein“ identisch sei-
en. Das soll beißen, dass meine angeborene Voreingenommenheit für das „Sein“ sich darin äußert,
dass ich einem „lichtvollen und bewegten“ inneren Zustand stets den Vorzug gebe. Man kann meine
Parteinahme sogar noch weiter präzisieren. Die besonderen Erscheinungsformen meines Lebens
und meiner inneren, persönlichen Struktur sind nicht immer so geartet, dass ich „Licht“ und „Be-
wegung“ gleichzeitig haben kann. Manchmal muss ich zwischen beiden wählen. Mein eigenes Ver-
halten zeigt mir dann, dass ich die Erregung dem Lichte vorziehe. Ich kann noch genauer sagen,
indem ich mich negativ ausdrücke, dass, wenn meine tiefe Furcht eine Furcht vor dem Dunkel und
der Unbewegtheit ist, meine Furcht vor der Unbewegtheit noch den Sieg über meine Furcht vor dem
Dunkel davonträgt. Ich unterliege noch stärker dem Angstgefühl nicht zu „sein“ aus Mangel an Be-
wegung meines Subjekt-Bewusstseins als aus dem Gefühl der Dunkelheit dieses Subjekt-Bewusst-
seins.

So wird ein Kind es noch vorziehen, dass es von seiner Mutter geschimpft wird, statt dass diese sich
gar nicht um es bekümmert. Natürlich wäre es ihm lieber, wenn seine Mutter sich mit ihm beschäf-
tigte, indem es ihm Zärtlichkeiten erwiese. Wenn es aber dies nicht erreicht, zieht es das Schimpfen
der Gleichgültigkeit vor. Ebenso liebt der Masochist, dessen Vorliebe, wie diejenige jedes Men-
schen, der beschwingten Freude gilt, da es ihm nicht gelingt, beschwingt freudig zu sein, mehr die
unruhige Bewegtheit des Leidens als bloße Bewegungslosigkeit. Alles verläuft also derart, als
fürchtete ich vor allem andern die Bewegungslosigkeit meines inneren „Be ndens“ und erst in
zweiter Linie die Dunkelheit dieses „Be ndens“. Es sieht so aus, als ob ich mich vor allem davor
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fürchtete, mich nicht lebendig zu fühlen (also in Bewegung zu sein, da die Bewegung das wesentli-
che Kriterium des Lebens ist), und erst in zweiter Linie davor, mich nicht glücklich zu fühlen. Der
Mensch behauptet im Allgemeinen, sich nach „Glück“ zu sehnen. Diese Behauptung entspricht dem
richtigen intuitiven Emp nden, dass das tiefe innere Be nden des verwirklichten Menschen licht-
voll und ruhend sein müsse. Doch steht diese Behauptung mit dem Verhalten des Durchschnitts-
menschen in Missklang. Der Durchschnittsmensch lebt nicht, um glücklich zu sein, er strebt nicht
danach, zu einem lichtvollen und unbewegten „Be nden“ zu gelangen. Er strebt vor allem danach,
zu einem bewegten, und erst in zweiter Linie zu einem lichtvollen „Be nden“ zu gelangen.

Es ist nicht verwunderlich, dass der gewöhnliche Mensch nicht das Glück erreicht, da er nicht ein-
mal zu ihm hinstrebt. Die Tatsache, dass seine Vorliebe für die Bewegung den Sieg über seine Vor-
liebe für das Licht davonträgt, macht die Kurzlebigkeit seiner Freuden begrei ich. Wenn er voll
Freude ist, misst er der Bewegtheit, mittels derer er sich noch mehr Freude erhofft, noch größeren
Wert bei, als der Freude selbst. Dies äußert sich in einem grenzenlosen Anspruch auf Freude, wel-
che schließlich immer über die Tatsache der Begrenztheit der zeitlichen Ebene strauchelt und damit
in sich selbst zusammenstürzt. (Betrachten Sie einen Menschen, dem ein sehr freudiges Ereignis
begegnet. Er will das sofort „feiern“ und dem ersten Gefühl der Freude so viel wie möglich andere
Freuden hinzufügen).

Von den beiden vorhin unterschiedenen Arten von Vorlieben, welche der gewöhnliche Mensch sei-
nem „Be nden“ gegenüber zeigt, ist die Vorliebe für das „Licht“ berechtigt. Aber seine tief verwur-
zelte Vorliebe für die Bewegtheit beruht auf einem Irrtum und ist der Grund all seines Unglücks.
Weil er unaufhörlich das Leben in sich vibrieren fühlen will und sich in dem ich-bezogenen Zu-
stand, in dem er sich noch be ndet, als Einzelwesen bestätigt sehen will, bleibt er im Elend und in
den trostlosen Widersprüchen seines Dualismus befangen. Nur wirkliches Begreifen kann den Men-
schen von dieser sinnlosen Vorliebe befreien. Die Erkenntnis kann ihm offenbaren, dass die innere
Unbewegtheit, die er so fürchtet, nicht nur nicht zu fürchten ist, sondern das Heil bringt. Sicher
kann er in seiner augenblicklichen ich-bezogenen Lage nicht zugleich Licht und Unbewegtheit ha-
ben. Beginnt er denn dank wirklichen Verständnisses tatsächlich die Unbewegtheit vorzuziehen,
also auch zu suchen, so wird er zugleich das Dunkel vor nden. Wenn die „Nacht“ des heiligen Jo-
hannes vom Kreuze unbewegt ist, ist sie zugleich auch dunkel. Aber ich kann diese Nacht recht gut
ertragen, wenn ich mich in den Zustand der inneren Unbewegtheit füge, die ich dann nicht mehr
fürchte, sondern auf die ich im Gegenteil all meine Hoffnung setze. Dieses innere Bemühen besteht
nicht darin, irgendetwas Neues zu „tun“. Es besteht nur darin, dass man sich, weil man verstanden
hat, spontan an die Nichtigkeit der Hoffnungen, die wir mechanisch und natürlicherweise auf unsere
innere Bewegtheit setzen, erinnert, und sich die törichte Sinnlosigkeit dieser Bewegtheit vergegen-
wärtigt. Jedesmal, wenn ich diesen nicht natürlichen, offenbarten Gedanken ins Auge fasse, ver-
schwindet meine innere Bewegtheit fast vollständig. Ich gebe den Anspruch auf, meinen inneren
Prozess zwischen „Sein“ und „Nichtsein“ zu entscheiden und setze mein Vertrauen ausschließlich in
mein Prinzip, um die Gespenster dieses sinnlosen Prozesses zu vertreiben. Ich „tue“ nicht mehr,
sondern ich lasse mein unsichtbares Prinzip wirken, an das ich glaube, ohne es zu sehen. Meiner-
seits habe ich nur durch aufrichtiges geistiges Bemühen mein Verständnis wachzuhalten und zu be-
reichern, wodurch auch die spontanen Wirkungen dieses Verständnisses sich bereichern werden.

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X. DIE „METAPHYSISCHE“ ANGST

Was geht in mir vor, wenn irgendein Umstand meines Lebens in mir Angst hervorruft? Meine Angst
ist die Folge meiner Begegnung mit dem Nicht-Ich; sie ist Ausdruck meiner Furcht, in dieser Be-
gegnung den Kürzeren zu ziehen. Zwischen meinem „Sein“ und meinem „Nicht-Sein“ ndet an-
lässlich meiner jeweils besonderen Lebensumstände eine unaufhörliche Auseinandersetzung statt,
und in diesem Vorgang ist die Angst Ausdruck meiner Furcht, zum „Nicht-Sein“ verdammt zu sein.
Ich habe versucht, das Nicht-Ich zu besiegen, fürchte aber nun, dass mir dies misslingt und dass in
diesem Scheitern mein Sein in Frage gestellt wird.

Ich hätte jedoch nicht den Versuch gemacht, das Nicht-Ich zu besiegen und meinen Seins Prozess zu
gewinnen, wenn dieser innere Streit nicht schon vorher im Grunde meiner selbst gelegen hätte und
ein Zweifel in Bezug auf mein Sein sich nicht schon vorher meiner bemächtigt hätte. Es muss folg-
lich hinter der Angst, die ich im augenblicklichen Scheitern meines Seins-Prozesses empfunden
habe, eine andere Angst, eine dauernde Angst vorhanden sein, welche meinem Seins-Prozess selbst
zugrunde liegt. Hinter der erscheinungsmäßigen oder „physischen“ Angst, die auf der Ebene der
Erscheinungsformen zutage tritt, steht also eine seinsmäßige oder „metaphysische“ Angst, die jen-
seits meiner Erscheinungsformen liegt.

Diese „metaphysische“ Angst ist die prinzipielle oder primäre Angst und sie bedingt meine gewöhn-
liche, sekundäre Angst. Versuchen wir, ihr Wesen naher zu bestimmen.

Zunächst einmal ist sie unbewusst. Dem nicht-verwirklichten Menschen sind nur Erscheinungsfor-
men bewusst, so dass er von einer Angst nichts wissen kann, die jenseits dieser Erscheinungsformen
liegt. Achten wir zum Beispiel auf das, was sich in uns abspielt, wenn wir fröhlich sind: ich bin
fröhlich, weil ich mich in dem Antagonismus Ich-Nicht-Ich bestätigt fühle, weil mein innerer Seins
-Prozess in einer günstigen Lage erscheint und eine Befreiung erhoffen lässt. Hinter dieser Freude,
die mit der günstigen Wendung meines Seins-Prozesses zusammenhängt, liegt aber immer noch die-
ser innere Widerstreit, dieser Zweifel an meinem Sein, das heißt die „metaphysische“ Angst. Diese
Angst liegt an der Wurzel meiner bewussten Freuden und Leiden und steht auch unbewusst dahin-
ter.

Die „metaphysische“, unbewusste Angst ist somit auch durch ihre anhaltende Dauer bestimmt. Sie
ist immer da, immer dieselbe, steht hinter allen Äußerungen unseres Gefühlslebens und seinem
Dualismus von Freude und Leid.

Andrerseits werden wir den Beweis bringen, dass sie unwirklich und illusorisch und überhaupt
nicht eigentlich „ist“, (obwohl es uns noch, ebenso erschien, als ob sie seinsmäßig vorhanden wäre),
sondern dass nur die Gesamtheit unseres Gefühlslebens sich so abspielt, als ob es sie gäbe.

Beachten wir, dass die Angst, zusammen mit Freude und Leid, welche sie bedingt, das uns schon
bekannte Dreieck bildet, dessen obere Spitze das versöhnende Prinzip darstellt und dessen untere
Spitzen dem positiven und negativen Prinzip entsprechen.

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Jedoch hat dieses Dreieck etwas Verblüffendes an sich: im


Gegensatz zu allen andern Fällen, die wir bis jetzt betrachtet
haben, trägt das Obere Prinzip hier eine negative Bezeich-
nung. Wieso? Es hängt mit dem Umstand zusammen, dass
sich der Glaube beim nicht-verwirklichten Menschen im
Schlafzustand be ndet und dieser Mensch, dessen Vertrauen
in sein Prinzip nicht erweckt ist, seine Buddha-Natur nicht
erkennen kann. Alles verläuft in ihm, als ob er dieser Buddha-
Natur, die doch seine eigene Natur ist, ermangle. Da im Innern
des Menschen das Sein nicht erweckt ist, spielt sich in seinem
Innern alles so ab, als ob hier ein Nichts herrsche, was gerade
widerlegt werden soll. Weil die vollkommene existentielle
Glückseligkeit im Zentrum des Menschen nicht erweckt ist, verläuft alles derart, als sei dieses Zen-
trum von einer uranfänglichen Angst überlagert. Aber diese uranfängliche Angst „ist“ nicht. So ver-
stehen wir, dass unser eben aufgezeichnetes Dreieck falsch war. Es ist richtiger, es so zu zeichnen:

Das ist ein aus Nichtwissen illusorische Freude geworde-


nes und auf den Kopf gestelltes Dreieck.

Bei dem durch das Satori erweckten Menschen steht das Dreieck wieder auf seiner Basis und sieht
folgendermaßen aus:

Die „metaphysische“ Angst kann nicht bewusst sein, weil


sie völlig illusorischer Natur ist. Der Mensch kann sich ihrer
nicht bewusst werden, ohne sie zu zerstören. Man kann nicht
einmal behaupten, dass das Satori sich aus der Bewusstma-
chung der „metaphysischen“ Angst ergibt. Besser ist es zu
sagen, dass das Satori eintritt, wenn das Zentrum des Men-
schen erwacht, dieses Zentrum, in dem die „metaphysische“
Angst angeblich herrschte, solange es sich im Schlafzustand
befand.

Alle Ängste, welche der Mensch bewusst erleben kann, sind Ängste sekundärer Natur. Keine unter
ihnen verdient die Bezeichnung „metaphysische“ Angst oder Urangst. Manchmal ist der Mensch
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von Angst heimgesucht angesichts der großen philosophischen Probleme seines Daseins, das heißt,
er ist von „metaphysischen“ Fragen zutiefst beunruhigt. Dieser Mensch jedoch ist von geistigen
Bildern und verschiedensten Erscheinungsformen gequält. Er leidet auf der Ebene des Erschei-
nungsmäßigen, das heißt, auf der physischen und nicht „metaphysischen“ Ebene. Ein anderer ist
von Angst verfolgt bei der Vorstellung, auf irgendwelche illusorische Kompensationen verzichten
zu müssen. So kann er des Glaubens sein, dass die Angst, seine eigene Persönlichkeit zu verlieren
und im Universellen aufzugehen, den Namen der „metaphysischen“ Angst verdiene. Ein solcher
Mensch hat aber eine falsche Vorstellung vom Wesen des Verzichts. Er weiß nicht, dass wirklicher
Verzicht darin besteht, das durch die Deutung unserer Erfahrung Entwertete zu überwinden. Der
Mensch ist nicht, wie er glaubt, durch das Universelle geängstigt, sondern durch die Einzel-Werte,
an denen er noch hängt und die durch eine falsche Auffassung von der Verwirklichung bedroht wer-
den. Keine Form von bewusst empfundener Angst kann als „metaphysisch“ bezeichnet werden; auf
der Stufe des Prinzips, auf der Stufe unserer schöpferischen Quelle kann es Angst nicht geben.

Wiederholen wir aber nochmals, dass es keinerlei bewusst empfundene Angst geben kann, deren
Wurzel nicht die „metaphysische“, unbewusste Angst, und damit das unbewusste, umgekehrte Bild
der im Schlafzustand be ndlichen existentiellen Glückseligkeit wäre. Dies trügerische unbewusste
Bild ist die eigentlich wirksame Ursache all unserer „moralischen“ Leiden. Die Lebensumstände,
die unser Leiden veranlassen, sind im Gegensatz zu unsern üblichen Ansichten nur die auslösenden
Ursachen dieses moralischen Leidens. Eine Mutter, die ihr Kind verlor, leidet nicht, wie sie glaubt,
unter der Tatsache, dass ihr Kind gestorben ist. Sie leidet nur anlässlich dieses Todes, weil sie sich
von ihrem Urprinzip verlassen fühlt, sie leidet, weil dies Ereignis in ihr selbst den tiefen Eindruck
ausgelöst hat, nicht zu „sein“.

Wenn auch keine unserer Ängste die „metaphysische“ Urangst sein kann, ist es doch wesentlich zu
wissen, dass unsere sekundären Ängste mehr oder minder weit von der trügerischen primären Angst
entfernt sind. Unsere Ängste staffeln sich in einer qualitativen Hierarchie, je nach dem Grade der
Tiefe unseres Verständnisses. Meine Angst ist am weitesten von der Quelle meines Seins entfernt,
wenn mein Verständnis für mein Innenleben gleich null ist, wenn ich völlig davon überzeugt bin,
dass meine konkreten, besonderen Sorgen der wirkliche Grund meines Leidens sind. Je tiefer mein
richtiges Verständnis des Innenlebens dringt, desto mehr entgehe ich diesem Irrtum. Ich glaube im-
mer weniger an die kausale Rolle der besonderen und zufälligen Umstände. Ich versuche in stei-
gendem Maße, mein Leiden nicht mehr durch meine persönlichen Erlebnisse, sondern aus der uni-
versellen menschlichen Grundsituation heraus zu erklären, die ich mit allen menschlichen Wesen
teile. In dem Maße, wie diese Auffassung tatsächlich in mir vorherrschend wird, besänftigt sich der
innere „Prozess“, bei dem es um mein persönliches Sein, bzw. Nichtsein geht. Das heißt, in dem
Maße, in dem die Gründe meiner Angst in meiner Auffassung allgemeinen Charakter annehmen,
höre ich auf zu leiden. Je mehr meine geistigen Bildvorstellungen an faszinierender Dichtigkeit ver-
lieren, desto gegenstandsloser wird meine Angst, sie nähert sich damit ihrer Quelle und verliert im-
mer mehr an Substanz. So kann man beobachten, wie wirkliches Verständnis den Menschen immer
mehr von Angst befreit. Je tiefer ich begreife, dass meine Angst durch eine Grundsituation bedingt
wird, die mir in keiner Weise allein eigentümlich ist, desto mehr verwischt sich in mir jener unsin-
nige Prozess „Sein oder Nichtsein“, aus dem all meine Ängste herrührten. Das Verständnis führt
diesen Prozess nicht zu etwaiger Freisprechung, sondern es verscheucht die Gespenster dieses illu-
sorischen Prozesses und dämpft fortschreitend alle Gefühlserregungen, die aus dieser „Gespenster-
höhle“ stiegen. So sind wir auf dem Wege zum Satori. Nach den Beschreibungen der Meister des
Zen ist der innere Zustand, der die Auslösung des Satori ankündigt und ihr vorausgeht, ein Zustand
von Gelassenheit, d. h. gefühlsmäßiger Neutralität. Das Bewusstsein des Menschen hat sich hier
immer mehr dem Zentrum genähert, seinem Zentrum, wo angeblich vorher die „metaphysische“
Angst gewohnt hatte, die Mutter aller Ängste. Je mehr er sich seinem Zentrum nähert, desto aufge-
lockerter wird seine Angst, sie wird so durchsichtig, dass sie in den letzten dem Satori vorangehen-
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den Augenblicken ganz verschwindet. Je mehr dieser Mensch sich dem Punkt nähert, wo angeblich
die „metaphysische“ Angst saß, desto mehr muss er feststellen, dass er sie nicht wahrnehmen kann.
So gewinnt er die innere Gewissheit, dass sie nie vorhanden war. Der schmerzhafte, illusorische alte
„Glaube“ - seine alte „Überzeugung“ - verliert sich im Gefühl heiterer Gelassenheit, und mit diesem
falschen Glauben verliert sich auch die innere Verkrampftheit, welche das „dritte Auge“ verschlos-
sen hielt und darum dem Menschen das Bewusstsein der vollkommenen Seins-Freude vorenthalten
hatte.

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XI. DIE SCHAU UNSERES UREIGENEN WESENS; DER ZUSCHAUER DES SCHAUSPIELS

Wir wollen auf die psychologischen Bedingungen des Satori und auf die Notwendigkeit zurück-
kommen, uns innerlich darauf einzuspielen, jenseits aller Form die Emp ndungen unseres Mehr-
oder Weniger-Existierens wahrzunehmen. Hier ist der Kernpunkt unserer konkreten inneren Bemü-
hungen zu unserer Verwandlung.

Das Zen sagt uns: „Schaut unmittelbar in euer eigenes Wesen hinein“. Gewiss, aber ich muss mir
als gewöhnlicher, d. h. nicht verwirklichter Mensch sagen, dass mir das nicht gelingt. Dieses Schau-
en hängt vom „öffnen des dritten Auges“ ab und es spielt sich alles so in mir ab, als ob dies „dritte
Auge“ auf immer verschlossen bliebe. Ich habe zwar verstanden, dass es dies dritte Auge in mir gibt
und dass keine Hornhaut es verdeckt. Es ist nicht krank, man muss es nicht heilen. Aber es ist daran
gewohnt, geschlossen zu bleiben, und ich muss etwas tun, um diese Gewohnheit abzustellen. So
frage ich mich, auf welche Weise ich jene Gewohnheit ablegen könnte, welche die Ursache all mei-
ner Leiden ist. Ich habe verstanden, dass es eine bestimmte Weise der Betrachtung geben muss, mit
meinen beiden gewohnten Augen, d. h. mit meiner üblichen Aufmerksamkeit, allmählich die Ver-
krampftheit des “dritten Auges“ zu lösen, damit ich eines Tages plötzlich und endgültig mein urei-
genes Wesen zu erschauen vermag. So frage ich mich, welches diese Weise ist. Welcher Art ist die-
ser Blick, der mir schon heute möglich, aber von sich aus unfähig ist. mir die „Schau meines urei-
genen Wesens“ zu verschaffen, der andrerseits aber in der Lage ist. mein ganzes Dasein so zu ver-
ändern, dass es aufhört, sich dem „öffnen des dritten Auges“ zu widersetzen? Ich weiß, dass die nö-
tige Bemühung nicht in Verkrampfung. sondern im Versuch zur Entspannung liegen muss. Trotz-
dem frage ich mich: „Was ist denn nun genau dieser Entspannungsversuch, welcher als solcher un-
fruchtbar ist - eine untergeordnete Erscheinung kann nie die Ursache einer übergeordneten sein -,
mich aber doch empfänglich macht für das direkte Wirken der nichtzeitlichen Wirklichkeit?“

Dieser Entspannungsversuch entspricht einer bestimmten inneren Blickweise. Wir haben schon ge-
sagt, dass dieser innere Blick sich auf das Zentrum meines ganzen Wesens richtet, wenn ich auf die
Frage antworten soll: „Wie fühlen Sie ich im jetzigen Augenblick im Gesamt Ihres Be ndens?“
Frage man mich: „Wie fühlen Sie sich in diesem Moment physisch“, so schaue ich auf eine Weise
in mich, die mich meine Emp ndungssgesamtheit erblicken lässt, das, was ich hier physische Emp-
ndungsgesamtheit nennen will. Fragt man mich: „Wie fühlen Sie sich im Moment in “moralischer
Hinsicht?“, so schaue ich auf eine Weise in mich, die mich meine psychische Emp ndungsgesamt-
heit erkennen lässt, das, was man auch als „Seelenverfassung“ oder als mein „Gestimmt-Sein“ be-
zeichnet. Fragt man mich: „Wie fühlen Sie sich im Augenblick in jeder Hinsicht zugleich?“, so
schaue ich auf eine Weise in mich, die mich das gewahren lässt, was ich meine totale Emp ndungs-
gesamtheit nennen möchte. In diesem letzteren Blick in mich selbst beruht der wesentliche Willens-
aufwand, der mir eines Tages die „plötzliche“ Auslösung der „Schau in mein ureigenes Wesen“, der
Selbstschau, verschaffen wird.

Um diese besondere innere Wahrnehmung dieser totalen Emp ndungsgesamtheit zu untersuchen,


müssen wir die Ähnlichkeiten heranziehen, die zwischen der totalen und der physischen Emp n-
dungsgesamtheit bestehen. Achten wir besonders auf zwei Punkte dabei. Die Emp ndungsgesamt-
heit ist zunächst einmal eine Wahrnehmung, welche durch Lösung des Verkrampfungszustandes
gewonnen wird. Ich kann zum Beispiel kein Emp nden von meinem rechten Arm, daher von der
Existenz meines rechten Armes haben, so dass ich ihn von innen heraus emp nde, wenn dieser Arm
verkrampft ist. Im Zustand der Verkrampfung beschränkt sich das Emp ndungsvermögen meines
Armes auf seine Ober äche. Ich muss meinen Arm entspannen, um ihn in seiner Mittelachse zu
emp nden, gleichsam als ob sein Emp ndungsvermögen sich in sein Knochenmark zurückzöge.
Andrerseits ist das Emp ndungsvermögen nichtformaler Natur. Wenn mein Arm verkrampft ist,
fühle ich seine Form. Ist er hingegen seit einigen Minuten so weitgehend wie möglich entspannt, ist
sein Emp ndungsvermögen völlig in seine zentrale Achse zurückgekehrt, so emp nde ich diesen
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Arm, sicherlich; ich emp nde sein Dasein (das entspricht dem schmerzlosen Emp nden eines Am-
putierten für ein nicht mehr vorhandenes Glied seines Körpers), aber ich emp nde nicht mehr seine
Form. Denke ich an ihn im räumlichen Sinne, dann kommt er mir so groß wie das ganze Universum
vor, gleichsam als ob seine Form ausgebrochen sei und sich in die Gesamtheit des Raumes aufge-
löst habe. So habe ich von ihm eine nichtformale Vorstellung gewonnen.

Diese beiden Punkte, das Moment der Entspannung und das Moment des Nicht-Formalen, haben
alle drei Arten der Emp ndungsgesamtheit gemein. Aber die physische Emp ndungsgesamtheit un-
terscheidet sich von den beiden andern wesentlich durch den Gesichtspunkt der „Zeit“. Die Wahr-
nehmung meiner physischen Existenz kann innerhalb der Dauer kontinuierlich sein. Ich kann mei-
nen Arm (oder meinen ganzen physischen Körper) während einer gewissen fortgesetzten Zeit „in-
nerlich“ fühlen. Vergegenwärtige ich mir hingegen meine totale Emp ndungsgesamtheit, das heißt,
fühle ich mich innerlich als psychosomatische Gesamtheit, so geschieht dies nur in einem plötzli-
chen Au euchten meines Bewusstseins, dem ich nicht die geringste zeitliche Kontinuität verleihen
kann. Im selben Augenblick, wie ich diese Wahrnehmung mache, ent ieht sie mir schon wieder. Sie
entzieht sich mir in ihrer nicht-formalen ausgesprochenen Deutlichkeit und zieht sich sofort hinter
formale Wahrnehmungen zurück. Ich fühle mich zum Beispiel einen Augenblick, lang „nicht be-
sonders gut'“, ohne dass dies Gefühl des Unbehagens eine spezielle Form annähme. Sofort hinterher
fühle ich die jeweilige Bestimmtheit (Modalität) meines Missbehagens, die Art und Weise, auf die
ich mich nicht wohl fühle. Dann emp nde ich, warum ich mich meiner Ansicht nach so fühle.
Schließlich überlege ich, wie ich dem abhelfen könnte und so weiter.

So hat letzten Endes meine ganze Bemühung, in klarer Weise meine Gesamtbe ndlichkeit wahrzu-
nehmen, nur dahin geführt, meinen jetzigen und augenblicksbedingten Zustand meines Daseins zu
erkennen. Daher ist der Blick, der mich dies wahrnehmen lässt, zugleich ein sehender und ein nicht-
sehender Blick. Er sieht etwas von dem, was er betrachtet, da er einen plötzlichen Aspekt gewahrt,
der der Wirklichkeit nicht ganz entbehrt, aber er sieht nicht das, was er betrachtet, in jener bewegli-
chen Wirklichkeit, die all seine augenblicklichen Aspekte umfasst. Es fehlt die Dimension der Zeit.
Diese Dimension der Zeit muss erreicht werden, wenn die Wahrnehmung meines Existierens ein
wirkliches subjektives Bewusstsein, ein Bewusstsein meiner selbst sein soll. Dieser Unterschied,
welcher meine totale Emp ndungsgesamtheit von meiner somatischen Emp ndungsgesamtheit
trennt, ist zugleich der Grund einer anderen Verschiedenheit zwischen diesen beiden Wahrnehmun-
gen. Wenn nämlich die Gesamt-Wahrnehmung meines Existierens doch einen gewissen Grad an
Wirklichkeit besitzt, so geschieht das in dem Maße, in dem diese blitzhafte Wahrnehmung sich von
einer vorherigen Wahrnehmung abhebt, das heißt in dem Maße, in dem ich mich mehr oder weniger
existierend fühle als noch kurz vorher. Entziehe ich mich absichtlich den Erregungen der Außen-
welt, um mich um wiederholte Wahrnehmungen meiner jeweiligen Emp ndungsgesamtheit zu be-
mühen, so müssen diese Versuche über kurz oder lang fehlschlagen: weil ich mich den äußeren Ein-
drücken gegenüber verschließe, ist nämlich der jeweilige augenblickliche Zustand mit dem vorher-
gehenden inneren Be nden identisch und hebt sich daher von ihm nicht ab. Der Faktor „Zeit“, wel-
cher gerade durch dieses gegenseitige Sich-Voneinander abheben der jeweiligen aufeinanderfolgen-
den Augenblicke in der Erinnerung gegenwärtig war, die ich vom jetzigen zum vorhergehenden Au-
genblick bewahrte, ist hier verschwunden und mit ihm jede nicht-formale Wahrnehmung der Exis-
tenz. Wenn - wie wir gesagt haben - dem diesbezüglichen Bewusstsein des noch nicht verwirklich-
ten Menschen die Dimension „Zeit“ fehlt, so ist es doch wenigstens nötig, dass die Zeit indirekt
mittels des vergleichenden Gedächtnisses eingeführt wird und anlässlich der Veränderungen meiner
jeweiligen Daseinsbe ndlichkeit ihren Ausdruck ndet, damit eine gewisse Wahrnehmung meiner
Existenz überhaupt möglich wird. Natürlich kann eine solche Wahrnehmung immer nur eine relati-
ve sein. In meinem Dasein als noch nicht verwirklichter Mensch kann ich mich nicht „schlechthin“
existierend fühlen, ich kann in nicht-formaler Weise eine Vorstellung nur davon haben, mehr oder
weniger da zu sein als vorhin. Mit meiner physischen Emp ndungsgesamtheit verhält es sich an-
ders; eben weil die Wahrnehmung vom physischen Vorhandensein meines Arms am Absoluten, am
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Nicht-zeitlichen teilhat, kann z. B. ein Amputierter noch die Existenz seines nicht mehr vorhande-
nen Armes emp nden.

Meine Existenzwahrnehmung, der allein ich vorläu g fähig bin, ist somit eine auf den Augenblick
beschränkte Wahrnehmung und sie ist relativ. Sie ist nur die momentane Wahrnehmung, mehr oder
weniger als im vorhergehenden Augenblick zu existieren. Meine Daseinseindrücke wandeln sich
fortgesetzt je nach den Wandlungen meiner Beziehungen zur Außenwelt, sie gleichen einer Wasser-
puppe, diesem Spielzeug, welches im Inneren einer Glaskugel steigt oder fällt. Je nachdem, ob ich
mich durch die Außenwelt bestätigt oder negiert sehe, steigt bzw. fällt meine „Wasserpuppe“. Meine
Wahrnehmung, mehr oder weniger zu existieren, besteht in der blitzhaften Beobachtung des augen-
blicklichen Standes dieser „Wasserpuppe“ im Vergleich zu der Stellung, die sie vorhin eingenom-
men hatte.

Ich beobachte die verschiedenen Lagen der Wasserpuppe in ihren gegenseitigen Beziehungen unter-
einander, das heißt, ich sehe sie höher oder tiefer liegen als noch eben vorher. Doch kann ich heute
ihre Bewegung selbst noch nicht erkennen. Nur indirekt sehe ich ihre veränderte Bewegung, indem
ich die Niveauunterschiede meiner aufeinanderfolgenden, im Augenblick gemachten Beobachtun-
gen vergleiche. Direkt kann ich die Bewegung nicht erkennen. Diese veränderten Lagen der „Was-
serpuppe“, diese jeweiligen Modi kationen meiner Be ndlichkeit entsprechen der tief innersten
Bewegung meines Lebens und sind als erste erscheinungsmäßige Manifestation meiner seinsmäßi-
gen Existenz, meines Prinzips, d. h. des Höchsten Universellen Prinzips, dessen, was die Vedanta
das Selbst nennt, zu bezeichnen. Ich kann augenblickliche, verschiedene und gegensätzliche Be nd-
lichkeiten der Manifestation meines Prinzips erkennen, aber nicht die Manifestation selbst in ihrer
Kontinuität. Nur das Prinzip selbst kann seine Manifestation in der kontinuierlichen Dauer erken-
nen. Mein Bewusstsein kann sich der Identität mit seinem Prinzip erst dann erfreuen, wenn es in
seiner Kontinuität diese Manifestation erblicken wird, die das „Schauspiel“ meines fortdauernden
Geschaffenwerdens ist, das heißt, wie es auch die Vedanta sagt, wenn ich der Zuschauer meines ei-
genen Schauspiels sein werde.

Der Begriff „Zuschauer des Schauspiels“ ist häu g missverstanden worden. Viele glauben, dass das
Schauspiel, von dem hier die Rede ist, unseren inneren formalen Erscheinungsvorgängen entspre-
che, was bedeuten würde, dass dieses Schauspiel der Vorstellungsablauf unserer Ideen und Gefühle
wäre. Das ist ein schwerer Irrtum, der uns nur zur üblichen Selbstbeobachtung führt und uns mehr
und mehr zum Sklaven unserer Vorstellungswelt macht. Wenn das Problem auf dieser niederen Stu-
fe in Angriff genommen wird, so ist es unlösbar. Wir können nicht aktiver Zuschauer in unserem
Vorstellungsablauf sein, denn wir sehen ihn nur, wenn wir nicht aktiv zuschauen. Jeder aktive Blick
bringt den Vorstellungsablauf zum Stillstand. Das Schauspiel, dessen Zuschauer wir werden sollen,
spielt sich auf einer Ebene ab, die höher liegt als der Vorstellungsablauf. Es liegt auf der Ebene un-
serer ersten Bewegung, jener nicht-formalen, aus der Tiefe unseres Bewusstseins kommenden Be-
wegung, aus der sich dann weiterhin all unsere formalen inneren Bewegungen ableiten. Und diese
ursprüngliche, erste Bewegung entspricht dem Bewegungsablauf der „Wasserpuppe“. Sie äußert
sich durch Lageveränderungen unseres inneren Gesamtbe ndens nach oben oder unten hin und ist
Synthese wie Quelle unseres somatischen und psychischen Verhaltens. Um das Satori zu erreichen,
müssen wir also zur Verwandlung der augenblicksbedingten Wahrnehmungen unseres „Mehr-oder-
Weniger-als-vorhin- Existierens“ in eine kontinuierliche Wahrnehmung gelangen, d. h. die Wahr-
nehmung unseres Existierens schlechthin. Das kann der Mensch erreichen, indem er sich Übung
darin erwirbt, immer mehr und mehr zu diesen Augenblickswahrnehmungen zu gelangen. Ein Ver-
gleich mag dienlich sein, diesen Vorgang begreifbar zu machen: nehmen wir an, dass ein Kurz lm
gedreht wird, und zwar wird zunächst alle 10 Sekunden, ein Bild auf die Leinwand projiziert. Wir
sehen jedes Bild deutlich. Nehmen wir ferner an, dass die Projektion fortlaufend verschnellert wird.
Eine gewisse Zeit lang erkennen wir noch die Bilder ganz klar in ihrer jeweils unterbrochenen Kon-
tinuität. Dann wird ein Augenblick kommen, wo wir sie nicht mehr in ihrer Diskontinuität erbli-
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cken, wo wir aber den Film als solchen noch nicht klar in seiner Kontinuität erkennen können.
Schließlich wird die Projektion einen Schnelligkeitsgrad erreichen, der uns erlaubt, den Film deut-
lich in seinem fortlaufenden Zusammenhang zu erkennen. Das Zen beschreibt sehr genau jenes
Zwischenstadium, welches die klare, jedoch statische Sicht (das übliche Bewusstsein) vom deutli-
chen und lebendigen Sehen trennt (Bewusstsein nach dem Satori). Auf seinem Höhepunkt erhält
dies Zwischenstadium vom Zen den Namen „Tai-i“ („Großer Zweifel“) und wird uns als ein völlig
formloser Zustand der Verwischung aller geistigen Formen beschrieben. Diese „Verwischung“ ist so
vollständig und so bar aller Formen, dass sie in keiner Weise einem Chaos gleichkommt, sondern
vielmehr die transparente Reinheit eines riesigen Kristalls erreicht, hinter dem noch nichts er-
scheint. Die Vorstellung von diesen drei aufeinander folgenden Stadien, von denen hier die Rede ist,
ndet sich auch in einem Zen-Zitat: „Bevor der Mensch das Zen studiert, sind für ihn die Berge
Berge und die Wasser Wasser. Hat er aber dank der Unterweisung eines guten Lehrers eine be-
stimmte innere Schau von der Wahrheit des Zen verwirklicht, dann sind ihm die Berge nicht mehr
Berge und die Wasser nicht mehr Wasser. Gelangt er später wirklich zum Heim der Ruhe, so sind
die Berge wieder Berge und die Wasser wieder Wasser.“

Kommen wir jetzt auf die praktische Seite dieser inneren Bemühung zu sprechen, so wie wir sie in
diesem Zusammenhang verstehen. Über das „Wie“ dieser Arbeit können wir nicht mehr sagen, als
wir schon festgestellt haben. Wir können nur wiederholen, dass die Schwierigkeit dieser inneren
Schau in ihrer Einfachheit liegt. Gelingt es irgendwie nicht, richtig zu sehen, so deshalb, weil man
irrtümlicherweise Komplikationen sucht und innerlich „manipuliert“. Es handelt sich ganz einfach
darum, ob man sich im Ganzen betrachtet besser oder schlechter fühlt, ob die „Wasserpuppe“' ge-
stiegen oder gesunken ist.

Wir machen ausdrücklich darauf aufmerksam, dass diese Schau nur sinnvoll ist, wenn der Mensch,
der sich zu ihr hin erzieht, mit wirklicher geistiger Klarheit und aus der Tiefe seines Wesens heraus
verstanden hat, dass die Erlangung des Satori die einzige Lösung für sein augenblickliches Dasein
der Angst bedeutet und es dabei völlig unwesentlich ist, ob die „Wasserpuppe“ sich oben oder unten
be ndet. Das einzig Wesentliche ist, eine kontinuierliche Sicht seines eigenen Bewegungsablaufes
zu gewinnen, unabhängig davon, ob man glücklich oder unglücklich, voller Schrecken oder ver-
trauensvoll gestimmt ist, etc. Jenseits aller gefühlsmäßigen Neigungen, die natürlich bestehen blei-
ben, muss es einen festen Standpunkt unparteilichen geistigen Verständnisses geben. Es ist in die-
sem Zusammenhang ganz selbstverständlich, dass die hier gemeinte Schau auch die Erkenntnis vor-
aussetzt von der gleichgültigen Wesenlosigkeit der Formen unseres gesamten Triebwerkes. Auf ei-
ner anfänglichen Stufe hat der Mensch die Aufgabe, sein Triebwerk zu analysieren, um das Wesen,
seines inneren Getriebes kennenzulernen. Die konkrete innere Arbeit hingegen setzt voraus, dass
diese Aufgabe bereits gelöst ist und die eigenen „Komplexe“ aufgehört haben, uns zu interessieren.
Das theoretische Verständnis muss vorhanden und dies in ausreichendem Maße sein, bevor die kon-
krete innere Arbeit in Angriff genommen werden kann.

Aber wir haben noch eine wichtige Frage zu untersuchen: Ich besitze wie jeder Durchschnitts-
mensch fünf verschiedene Denkarten. Welche dieser verschiedener. Denkarten liegt psychologisch
gesehen am günstigsten für meine Bemühungen um eine „Selbstschau''? Die Antwort ist einfach: es
gibt nur eine einzige Denkart. die mit diesem Blick in mein ureigenes Wesen, in mein Selbst, ver-
einbar wäre, und das ist die vierte Denkweise, diejenige des Menschen, der sich der realen Außen-
welt anpasst. Wenn meine jeweils veränderliche Existenzlage von der nicht-wirklichen und nicht-
gegenwärtigen Welt meiner Vorstellung, das heißt von dem Vorstellungsablauf, den ich außerhalb
des wirklich Gegenwärtigen mit dem Vorrat meiner Bildformen produziere, abhängt, dann ist mein
geistiger Apparat in diesem Augenblick vollständig mit der Einstellung meines Vorstellungsablaufes
beschäftigt und hat keinen Raum mehr für eine aktive Wahrnehmung. Ich kann meine verschiede-
nen Existenzbe ndlichkeiten aktiv nur wahrnehmen, wenn diese jeweiligen Veränderungen nicht
von meiner eigenen Aktivität abhängen, sondern von einer außerhalb meiner selbst gelegenen Akti-
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vität, das heißt von der Aktivität des Nicht-Ich, der real gegenwärtigen Außenwelt. Die Aktivität
dieser wirklich gegenwärtigen äußeren Welt betrifft mich psychisch nur im Verlaufe der Zeit, wo
ich mich mit dieser Welt auseinandersetzen und mich in das Wirkliche fügen muss. Man könnte
einwenden, dass auch in diesem Augenblick meine jeweils verschiedene Gesamtbe ndlichkeit von
einer bestimmten Aktivität meines mentalen Bereiches abhängt. Sicherlich, aber dann handelt es
sich um eine Reaktionstätigkeit meines Geistes, um ein Reaktionsverhalten und nicht um wirkliche
Aktivität. Bei dem Vorgang meiner inneren Anpassung an die wirkliche äußere Welt bleibt die In-
itiative zur Auslösung meiner psychischen Mechanismen, deren Tätigkeit meine Gefühlszustände
erzeugt, außerhalb meiner und nicht in mir selbst, und nur dies allein ist dabei entscheidend. Sobald
aber diese Initiative außerhalb meiner selbst liegt, kann ich über meine eigene Initiative zur Ver-
wirklichung einer aktiven Schau verfügen.

Die Erfahrung beweist besser als alle Überlegungen das eben Gesagte. Will ich mein Daseinsbe n-
den in einem Augenblick der nachdenklichen Träumerei oder der Meditation wahrnehmen, so muss
ich, um dies zu erreichen, meine Aktivität ausschalten. Ich muss das, was in mir augenblicklich
„Leben“ ist, auslöschen, ich muss aufhören zu leben. Wenn ich hingegen mein Daseinsbe nden in
einem Augenblick erkennen will, wo ich in konkreter Weise wirklich beschäftigt bin, so komme ich
zu dem Ergebnis, dass ich dazu fähig bin, ohne in meinem Handeln innezuhalten, ja sogar, wenn ich
intensiv aktiv beschäftigt bin. Der Vorstellungsablauf innerhalb meines geistigen Bereiches bewegt
sich, sobald ich meine Aufmerksamkeit auf die äußere gegenwärtige Welt lenke, im Rahmen dieser
Welt. Er ist eine Reaktion auf die äußere Welt und diese hat hierbei die Initiative. Dieser reaktive
Vorstellungsablauf hindert nicht mein Wahrnehmungsvermögen in Bezug auf meine Daseinsbe nd-
lichkeit. Er gleicht einem Rad, das sich nach dem regelmäßigen Rhythmus des Kosmos dreht und in
dessen Achse meine Aufmerksamkeit sich auf die Wahrnehmung meiner augenblicklichen Exis-
tenzbe ndlichkeit richten kann. Jeder aktive Vorstellungsablauf hingegen, den mein Geist ohne den
Kontakt mit der gegenwärtigen äußeren Welt produziert, verbietet mir die Wahrnehmung meiner
Existenzbe ndlichkeit. Die innere Arbeit ist somit unvereinbar mit dem Schlaf, dem Träumen und
der Meditation. Sie ist nur vereinbar mit einem Leben, das der gegenwärtigen konkreten Welt ange-
passt ist.

So begreifen wir auch, warum die Meister des Zen immer wieder hervorgehoben haben: „Das Tao
ist unser tägliches Leben“. Ein Mönch bat eines Tages seinen Lehrer, ihn im Zen zu unterrichten.
Der Lehrer sagte ihm: „Hast du gefrühstückt oder nicht?“ „Ich habe gefrühstückt“, antwortete der
Mönch. „Nun gut, dann spüle dein Essgeschirr.“ Ferner sagt das Zen: „Wenn wir Hunger verspüren,
lasst uns essen. Wenn wir müde sind, lasst uns schlafen. Was hat all das mit Endlichkeit oder Un-
endlichkeit zu tun? Erst wenn der nichts als Unruhe erzeugende menschliche Geist dazwischenfährt
und alles durcheinanderwirft, hören wir auf, wirklich zu leben und erst dann reden wir uns ein, dass
uns etwas fehlt.“

Unsere innere Arbeit besteht in der Bemühung, uns zu entspannen, im Versuch, „nichts-zu-tun“,
was im Gegensatz steht zu unserer unwillkürlichen inneren Bewegtheit. Das bedeutet Einfachheit
im Gegensatz zu unserer natürlichen Uneinfachheit. Das Zen kommt immer wieder auf diese Ein-
fachheit, auf diese Entspannung zurück. So könnten wir manchmal geradezu denken, dass diese in-
nere Arbeit leicht sein müsste, dass es dazu keiner Anstrengung bedürfe. Da wir vom „Nicht-Han-
deln“ nichts wissen, nehmen wir an, dass nur das „Handeln“ anstrengend sei. Versuchen wir aber
nur einmal fünf Minuten lang unsern Körper zu entspannen und diesen Entspannungszustand beizu-
behalten! Wir werden sehen, wie schwer es uns fällt, wachsam zu bleiben, ohne dass die eine oder
die andere Muskelgruppe wieder in Spannung gerät. Aus diesem Grunde sagt das Zen, wenn die
Sprache auf die Einfachheit der inneren Arbeit kommt: “Der innere Friede kann erst nach einem
harten Kampf gegen unsere eigene Persönlichkeit errungen werden... Der Kampf muss mit ganzer
Wucht und Manneskraft ausgetragen werden. Ist dies nicht der Fall, so ist der Friede, welcher wal-
tet, nur ein Scheinfriede.“ Dieser Kampf gegen die eigene Persönlichkeit ndet nicht auf der forma-
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len Ebene statt, es ist zum Beispiel nicht der Kampf gegen die eigenen „Fehler“. Es ist der Kampf
gegen die geistige Trägheit, die all unsere formbedingten inneren Erregungen hervorbringt. Es ist
der Kampf gegen den üblichen Strom unseres Ichs, gegen den wir so lange angehen müssen, immer
weiter zurück, immer höher hinauf, bis unser Bewusstsein wieder in die unformale Quelle unseres
Seins reintegriert ist.

Wir müssen hier noch unsere Bemerkungen über die Vereinbarkeit oder Nichtvereinbarkeit zwi-
schen der Bemühung unserer „Selbstschau“ und unseren fünf verschiedenen Denkarten ergänzen.
Wir müssen den Unterschied noch weiter vertiefen, den wir zwischen dem „reaktiven Vorstellungs-
ablauf“, der sich auf die gegenwärtige äußere Welt bezieht, und dem „aktiven Vorstellungsablauf“
den mein Geist mit dem Vorrat seiner Bildformen produziert, festgestellt haben. Dieser Unterschied
entspricht einem andern, den wir bei der Beobachtung unseres konkreten psychologischen Lebens
machen können: wir leben zugleich auf verschiedenen Ebenen, auf der Ebene der Emp ndung und
auf der Ebene der Vorstellung. Zum Beispiel wünschen sich die meisten Menschen Reichtum und
Luxus und erwarten hiervon eine Bestätigung ihrer selbst. Tatsächlich verhilft dem Reichen sein
Reichtum zu vielfachen Selbstbestätigungen. Aber all diese Selbstbestätigungen gliedern sich in
zwei Arten: Mein Reichtum stellt eine Bejahung und Bestätigung meiner selbst dar auf der Ebene
der Emp ndung, indem er mein organisches Leben fördert (gute Ernährung, Erholung, sinnliche
Eindrücke der Entspannung etc.), wie auf der Ebene der Vorstellung (ich habe das Gefühl „Jemand
zu sein“, weil ich all diese Möglichkeiten habe). Die Ebene der Emp ndung entspricht der physi-
schen Emp ndungsgesamtheit, die Ebene der Vorstellung der psychischen Emp ndungsgesamtheit.
Beachten wir gleichzeitig, dass die Ebene der Emp ndung wirklich ist, während die Ebene der Vor-
stellung illusorischen Charakter hat: In der Tat entspricht die Ebene der Emp ndung dem Men-
schen, insofern er ein Mensch wie alle anderen, das heißt ein universeller Mensch ist. Die Ebene der
Vorstellung hingegen entspricht dem Menschen, der sich als Einzelwesen, als gesondertes Wesen
sehen will, somit dem persönlichen und ich-bezogenen Menschen, der ein illusorisches Bild von
sich selbst hat. (illusorisch insofern, als ein Mensch sich vom andern nur in formaler Hinsicht unter-
scheidet, nicht aber in seiner spezi schen menschlichen Grundsituation.) Ausgenommen im tiefen
Schlaf, lebt der Durchschnittsmensch nie allein auf einer der beiden Ebenen. Er lebt immer auf bei-
den Ebenen zugleich. Sein Geist beschränkt sich nie darauf, nur entweder einen reaktiven Vorstel-
lungsablauf (Ebene der Emp ndung) oder einen aktiven Vorstellungsablauf (Ebene der Vorstellun-
gen) zu entwickeln.

Der Mensch entwickelt unaufhörlich zwei Vorstellungsabläufe, einen reaktiven und einen aktiven.
Seine Aufmerksamkeit geht zwar von einem Vorstellungsablauf zum andern und be ndet sich im
jeweiligen Augenblick immer nur bei einem; beide aber werden fortlaufend und parallel produziert.
Zunächst einmal ist es leicht, einzusehen, dass ich nicht auf der Ebene der Emp ndung lebe, ohne
zugleich auch auf der Ebene der Vorstellung zu leben: mein innerer „Prozess“ um Sein oder Nicht-
Sein spielt sich pausenlos in mir ab und wird von allem, was mir auf der Ebene der Emp ndung wi-
derfährt, beein usst. Je nachdem, ob ich mich physisch wohl oder übel fühle, hege ich Zweifel oder
Vertrauen zu mir selbst etc. Allerdings scheint es manchmal so, als ob ich ausschließlich in der Welt
der Vorstellungen lebte. Wir werden sehen, dass dies nicht der Fall ist und erkennen, dass die Ebene
der Vorstellung auf der Ebene der Emp ndung beruht, von ihr abhängt, daher eine Folge von ihr ist.
Betrachten wir zum Beispiel einen Fall, wo das Spiel auf der Ebene der Vorstellung bis zum Äu-
ßersten getrieben ist: ein reicher Finanzmann macht Bankrott und nimmt sich das Leben, um einem
„unwürdigen“ Leben zu entgehen, in dem er nicht mehr „jemand“ sein könnte. Dieser Mensch tötet
seinen Körper, um das Bild, die Vorstellung seiner selbst zu bewahren. Es sieht wirklich so aus, als
ob diese Handlung sich einzig auf der Ebene der Vorstellung abgespielt hätte und die Ebene der
Vorstellung hier den Vorrang gegenüber der Ebene der Emp ndung habe. Betrachten wir aber den
Fall genauer: dieser Mann nimmt sich das Leben, um der Missachtung zu entgehen. Aber der Ge-
danke der Missachtung ist ihm nur deshalb unerträglich, weil er für ihn den Verlust eines Ansehens
bedeutet, dem er höchsten Wert beimaß. Er maß dieser Selbstachtung durch die anderen nur höchs-
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ten Wert bei, weil diese Achtung und Selbstbestätigung vonseiten der anderen in seinen Augen im
Zusammenhang stand mit seinem Kampf gegen das Nicht-Ich und damit einen Schutz seiner Ge-
samtperson gegen den Tod für ihn bedeutete. So paradox dies auch erscheinen mag, dieser Mensch
tötet sich, um das zu erhalten, was ihn virtuell vor dem Tode schützt. Anhand dieses Beispiels kann
ich begreifen, dass die Ebene der Vorstellungen eine Art illusorischer Bau ist, den mein „aktives“
geistiges Vorstellungsvermögen auf der Ebene der Emp ndung errichtet. Alles, was ich auf der
Ebene der Vorstellung liebe, d.h. alles, was mich auf dieser Ebene bestätigt, scheint mich in meinen
Augen zu bestätigen, weil ich es letzten Endes für meine Gesamtperson zuträglich halte. Ich sage
„letzten Endes“, weil die Selbstbestätigung in meiner Vorstellung nicht unmittelbar mit der organi-
schen Selbstbestätigung, aus der sie stammt, übereinstimmt. Man stelle sich z.B. einen ein ussrei-
chen Geschäftsmann vor, der ohne Unterlass arbeitet und viel Geld erwirbt. Die tägliche Unruhe
seines Lebens stellt eine Negation dar auf der Ebene der Emp ndung. Dieser Mann führt, wenn ich
mich volkstümlich ausdrücken darf, ein „Hundeleben“. Wenn er aber auf seine Position solchen
Wert legt, so deshalb, weil die damit verbundene Machtstellung eben einen virtuellen Schutz seiner
Gesamtperson gegen den Tod für ihn bedeutet. Auch dieser Mann bringt sich um, wenn auch nur
„allmählich“, damit er das unterhält und vermehrt, was ihn vor dem Tode schützen könnte. Zwi-
schen der Selbstbestätigung, die dieser Mann vorstellungsmäßig erhält, und der Selbstbestätigung,
die ihm sein Reichtum möglicherweise auf der Ebene der Emp ndung verschaffen kann, herrscht
keine unmittelbare Übereinstimmung. Trotzdem gibt letztere, so latent sie sein mag, den Ausschlag
für die erstere und stellt ihre Basis dar.

Der Durchschnittsmensch lebt also fortgesetzt auf beiden Ebenen zugleich. Die beiden Ebenen ent-
sprechen dem somatischen und psychischen Bereich des Menschen, welche wir in einem früheren
Kapitel untersucht haben. Halten wir fest, dass jedes Ereignis unseres Lebens sich letzten Endes
durch gleichzeitige Reaktionen in beiden Bereichen äußert, dass aber der jeweilige Kontakt mit der
Außenwelt, welcher diese Reaktionen in den beiden Bereichen zugleich auslöst, nur innerhalb des
einen oder des andern Bereiches statt ndet, Ich bin durch die Außenweit entweder auf der Ebene
der Emp ndung (tatsächlich gegenwärtige Außenwelt), oder auf der Ebene der Vorstellung (wieder
ins Gedächtnis gerufene Außenwelt) berührt, aber ich erfahre jede dieser beiden Berührungen zu-
gleich auf beiden Ebenen.

Wir haben darauf hingewiesen, dass der Durchschnittsmensch, der unaufhörlich auf zwei Ebenen
zugleich lebt, im einzelnen Augenblick jeweils nur auf eine der beiden Ebenen wacht. Solange der
Mensch träumt, im Wachzustand träumt oder meditiert, ist seine Aufmerksamkeit nur auf die Vor-
stellungsebene gerichtet, auf den aktiven Vorstellungsablauf. Sein reaktiver Vorstellungsablauf ent-
wickelt sich gleichzeitig, obwohl er nicht beachtet wird. Nur wenn der Mensch sich der gegenwärti-
gen Außenwelt anpasst, erfährt er sein Leben - dank des raschen Hin und Her seiner Aufmerksam-
keit - sowohl auf der Ebene der Emp ndung als auf der der Vorstellung. Beobachte ich mich genau,
so merke ich, dass ich immer irgendwie, meistens sogar ausgesprochen, im Wachzustand träume,
gleichzeitig mich aber der realen Wirklichkeit anpasse, indem ich mich auf die Außenwelt abstimme
und mit ihr fertig zu werden trachte. Unter dieser Voraussetzung wird uns genauer verständlich,
wieso die vierte Denkart mit der inneren Arbeit am besten vereinbar ist. Theoretisch gesehen, ist
diese Vereinbarkeit sogar eine vollständige. Aber konkret betrachtet geht alles so vor sich, als ob sie
nicht vollständig sei, weil ich mich nie innerhalb der vierten Denkart ausschließlich bewege. Meine
Aufmerksamkeit teilt sich unaufhörlich in die vierte oder dritte Denkart, und so schwanke ich zwi-
schen diesen beiden Denkarten. Das Ziel meiner inneren Arbeit besteht aber gerade darin, mich ei-
nes Tages durch das Satori in der reinen Form der vierten Denkart zu verwurzeln, mich so wirklich
der Außenwelt anzupassen und durch endgültige Überwindung des Träumens die absolute Wirk-
lichkeit zu erreichen.

Die Erfahrung zeigt es mir. Sobald ich mich anschicke, ausdrückliche Versuche zu unternehmen,
um meine augenblickliche Existenzbe ndlichkeit zu erkennen, bemerke ich, dass eben diese Versu-
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che den aktiven Vorstellungsablauf eindämmen, da er sich mit diesen Bemühungen nicht verträgt.
Genauer gesagt, die Bemühungen dieser Art haben eine au ösende Wirkung für meinen illusori-
schen Vorstellungsablauf, weil sie meine Aufmerksamkeit ablenken und auf den wirklichen reakti-
ven Vorstellungsablauf hinführen. Schließlich tragen also meine Bemühungen dazu bei, mein Leben
auf der Ebene der Bildvorstellungen aufzuheben und mein Leben auf der Ebene des Emp ndens zu
reinigen. Dank meiner inneren Bemühung wird meine illusorische psychische Emp ndungsgesamt-
heit aus meiner wirklichen physischen Emp ndungsgesamtheit ausgeschaltet. Der ich-bezogene,
illusorische Teil meiner selbst wird aus meinem organischen wirklichen Leben ausgeschieden. Es
wird mir klar, dass sich in mir selbst eine wirkliche „Erde“, ein organisches Leben nämlich mit den
reaktiven Wahrnehmungen des augenblicklich Wirklichen, und ein illusorischer „Himmel“ be n-
den, der Himmel meines aktiven Lebens der Vorstellung. Auf Grund dieses illusorischen „Him-
mels“ aber bin ich jetzt im Besitz weder meiner „Erde“ noch des „Himmels“. Die innere Arbeit, die
darin besteht, meinen illusorischen „Himmel“ zu vernichten, wird mich meiner „Erde“ zurückgeben
und diese Rückgabe an die „Erde“ wird mir auch gleichzeitig das Glück des wirklichen „Himmels“
gewähren. Dies ist der Sinn des Zen-Wortes: „Die Erde ist das Paradies“.

Eine solche Auffassung, welche meinem organischen Leben neuen Wert verleiht und mein imagina-
tives Leben entwertet, birgt die Gefahr in sich, dass wir uns in direkter Weise zu organischen Beob-
achtungen unserer selbst zwingen, das heißt zur Beobachtung unserer organischen Gefühlsgesamt-
heit. Eine solche innere Arbeit wäre unfruchtbar und kann sogar gefährlich sein. Es ist unmöglich,
auf künstliche Weise unser imaginatives Leben zu unterdrücken und das würde auch nur zu einer
sinnlosen Scheinwirklichkeit führen.

Der subtile Destillationsprozess, der die Illusion beseitigt, kann keinesfalls auf der dualistischen
Ebene, wo Wirkliches und Illusorisches in Erscheinung treten, vor sich gehen. Unsere inneren Ma-
nipulationen formaler Natur sind hier machtlos. Einzig unser Urprinzip kann diese „alchimistische''
Destillation, diese innere Reinigung bewirken. Wir müssen unsererseits nur aufhören, uns der Akti-
on unseres Prinzips zu widersetzen. Nur durch die vollständige innere augenblickliche Entspan-
nung, von der wir gesprochen haben, können wir es lernen, unsern gewohnten inneren Widerstand
aufzugeben.

Die fortschreitende Au ösung unseres Lebens auf der Ebene der Bildvorstellungen nähert uns der
Befreiung, unserer Geburt in die absolute Wirklichkeit hinein. Vom Standpunkt der Situation vor
dem Satori aus betrachtet, stellt diese Au ösung die mühsame Agonie des „alten Menschen“ dar. So
stellt also die innere Arbeit, um zur „Selbstschau“ zu gelangen, die wahre „Askese“ dar (deren äu-
ßere Formen nur Scheinformen sind), die wahre „Reinigung“ und die wahre .Abtötung“. (Wir
möchten betonen, dass diese wirkliche Askese keinerlei Änderung unseres äußeren Lebens erfor-
dert). Es ist von entscheidender Wichtigkeit, das riesige Ausmaß dessen, was wir nach unserer au-
genblicklichen Betrachtung der Dinge aufgeben müssen, wie auch gleichzeitig die schmerzlose Na-
tur dieses Aufgebens, zu begreifen. Die Ebene des Bildes, welche ich verlieren muss, ist heute noch
riesenhaft in meinen Augen, sie bedeutet für mich alles. Sie ist das Salz meines Daseins und verleiht
ihm erst seinen Sinn. Sie ist die Ursache meiner Angst wie meines Entzückens, meiner Leiden-
schaft, meiner Rührung wie all meiner Hoffnung. Vorstellen kann sich der gewöhnliche Mensch das
Verschwinden seines Lebens der „Gefühle“, das Verschwinden der dualistischen Emp ndsamkeit
seiner „Seele“ nur als den Tod seines Daseins. Der illusorische „Himmel“, mit seinen Stürmen und
seinen Sonnenblicken, erscheint ihm wertvoller als alles, insbesondere wertvoller als seine „Erde“,
sein Körper. Nun bedeutet aber die Au ösung jenes Lebens auf der Ebene der Bildvorstellung den
endgültigen Verzicht auf diesen illusorischen “Himmel“, auf alles, was wir für „heilig“ und „über-
natürlich“ in unserem augenblicklichen Dasein halten.

Trotzdem ist dieser Verzicht völlig schmerzlos. Die Agonie des „alten Menschen“ ist mühsam (sie
ist gerade „der verbissene Kampf gegen unsere eigene Persönlichkeit“), aber nicht schmerzhaft.
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Dieser Verzicht gelingt auch nur in dem Maße, in dem es mir gelingt - ohne irgendetwas von dem,
was ich von meinem jetzigen Standpunkt aus für wertvoll erachte, gewaltsam zu unterdrücken -
meine Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was in mir die Ebene der Emp ndung begünstigt, und so
die Trugbilder zu zerstreuen, die in meinen Augen den Dingen Werte verliehen, welche sie nicht
besitzen. Die Ebene der Bildvorstellungen wird mir nicht entrissen - das wäre verhängnisvoll -, ich
selbst verlasse sie nur. Ich kann kein Bedauern darüber emp nden, sie zu verlassen, denn die Ebene
der Bildvorstellungen existiert nur illusorisch in mir, solange ich mich auf ihr bewege. Eine
schmerzhafte innere Anstrengung ist falsch ausgeführt, sie greift direkt die Gefühlsbewegungen an.
Die richtige innere Bemühung, der Versuch der „Selbstschau“ hingegen, wirkt in unserem Innern an
demjenigen Punkt, an dem die Gefühlserregungen überhaupt erst auftauchen. Wie sollte ich
schmerzhaft davon bewegt sein, gar nicht bewegt zu sein? Nichts können uns die Formen anhaben
im Verlaufe unserer richtigen Bemühungen zum Nicht-Formalen hin. Indem das Licht den Grund-
schatten zerstreut, verjagt es überhaupt jeglichen Schatten.

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XII. DIE PRAKTISCHE HANDHABUNG DER INNEREN ARBEIT AN SICH SELBST NACH
DER LEHRE DES ZEN

Es ist schwierig zu begreifen, worin praktisch die innere Selbstarbeit nach der Lehre des Zen be-
steht, jene innere Arbeit, die uns eines Tages den Zugang zum Satori verschaffen soll. Wenn die
Lehrer des Zen tatsächlich positiv über diese Frage sprechen, sagen sie Allgemeinheiten, die uns
leicht etwas ironisch erscheinen mögen: „Es genügt, dass ihr in euer eigenes Wesen schaut“. Oder:
„Seid völlig von allen Dingen losgelöst“. Oder: „Ihr seid alle Buddhas und folglich braucht ihr nicht
Buddha zu werden, sondern nur wie Buddha zu handeln“ etc. Richtig, denkt der Schüler, aber in der
Handhabung meines inneren Lebens bringt mich das nicht weiter. Er stellt sich sodann nach seinem
Vermögen diesen oder jenen praktischen Weg vor, der ihn tatsächlich dem Satori näher bringen
könnte und legt seinem Lehrer seine entsprechende Idee vor. Von diesem erfährt er dann mögli-
cherweise nur entschiedene Zurückweisungen. Hat er sich vorgenommen, gute Taten zu vollbrin-
gen, so versichert ihm der Lehrer, dass ihm dies nichts nutzen könne. Hat er sich vorgenommen,
über „heilige“ Texte zu meditieren, so sag: ihm der Lehrer: „Lass dich nicht durch die Sutra verblüf-
fen, stelle besser die Sutra selbst auf den Kopf.“ Hat er sich vorgenommen, sich in der geistigen
Leere zu üben, so zeigt ihm der Lehrer, dass dies nichts als langsamer Selbstmord sei. Hat er sich
geduldige und tiefschürfende intellektuelle Arbeit vorgenommen, so erklärt ihm der Meister: „Dis-
kursives Überlegen und Denken führt zu nichts. Es gleicht einer Lampe, die am hellen Mittag ange-
zündet wird. Kein Lichtschein kommt aus ihr hervor.“ Fragt der unglückliche Schüler schließlich
bescheiden nach einer Aufklärung über das „Geheimnis“ des Zen, so antwortet ihm der Lehrer: „Es
ist der schwerste Irrtum, dem viele unterliegen, sich vorzustellen, das Zen sei geheimnisvoll.... Wir
sollen den Widerspruch nicht vermeiden, sondern wir müssen ihn ausleben.“
Fraglos haben die Lehrer des Zen recht, nicht den Versuch zu unternehmen, das Unaussprechliche
auszusprechen, wenn sie erklären, dass dies Unaussprechliche in keiner Weise geheimnisvoll sei.
Sicher tun sie gut daran, die Vermutungen ihrer Schüler nur mit Verneinungen zu beantworten und
sie von einem Irrtum in den andern zu treiben bis zu einer Art freiwillig angenommener und daher
trauerlosen Verzwei ung, in der ihr ganzes Wesen sich entspannt und sich der Wirklichkeit öffnet.
Trotzdem wollen wir versuchen, was die Lehrer des Zen nicht tun, nämlich positiv und in einer dem
Geist des Zen gemäßen Weise über die innere Arbeit an sich selbst zu sprechen, ohne darum nur bei
abstrakten Allgemeinheiten zu verbleiben.

Das Zen lässt uns begreifen, dass die richtige innere Arbeit nicht in einem „Tun“, sondern in einem
„Nicht-Tun“ besteht. Aber diese Erkenntnis würde uns nur entmutigen, wenn wir es nicht lernten,
zu verstehen, dass das, was „Nicht-Tun“ auf einer Ebene ist, uns als „Tun“ auf einer anderen Ebene
erscheint und wir damit die Möglichkeit besitzen, diese andere Ebene aufzu nden, auf welcher un-
sere innere Arbeit einen positiven Aspekt aufweist. Um das eben Gesagte verständlich zu machen,
bedienen wir uns eines Vergleiches aus dem Bereich des Funktionsablaufes unseres Körpers. Im
Verlaufe unserer Bewegungen wird die Zusammenziehung unserer Muskelfasern durch die Aktivität
einer Nervenzelle, der sog. Medullarzelle, welche im Rückenmark liegt, bewirkt. Es ist die Funktion
dieser Zelle, dass sich der Muskel zusammenzieht, und dieser Muskel bliebe, wenn nichts ihn hin-
derte, dauernd zusammengezogen. Die Medullarzelle ist jedoch nicht in der Lage, fortwährend tätig
zu sein. Eine andere, im Hirn be ndliche Nervenzelle, wirkt mittels einer langen Faser auf die Me-
dullarzelle ein, so dass also die Gehirnzelle, wenn sie aktiv ist, die Aktivität der Medullarzelle ver-
hindert. Ist unser Muskel somit im Zustand der Ruhe entspannt, so entspricht diese Ruhe in Hinsicht
auf die Medullarzelle einem „Nicht-Tun“, da der Muskel sich zusammenzieht, sobald die Medullar-
zelle tätig ist. Das „Nichts-Tun“ der Medullarzelle hingegen entspricht dem „Tun“ der Gehirnzelle,
da die Aktivität dieser übergeordneten Zelle darin besteht, die Aktivität der untergeordneten Zelle
aufzuheben. Die Muskelentspannung, welche auf einer unteren Ebene ein „Nicht- Tun“ ist, bedeutet
gleichzeitig ein „Tun“ auf einer höheren Ebene.

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Sehen wir nun, wie sich die vitale Energie in der Gesamtheit unseres Seins abspielt, wie wir auch
hier zwei Ebenen erkennen können, so dass die Nicht-Aktivität einer unteren Ebene der Aktivität
einer höheren Ebene entspricht. Nur so wird es verständlich, warum das Zen uns versichert, dass
wir nichts zu „tun“ haben und im übrigen sagt, dass die innere Arbeit eine aufmerksame intensive
Aktivität erfordere, „als ob unser Kopf in Flammen stünde“.

Unser Organismus birgt in sich Energie. Das ist offensichtlich, da wir unaufhörlich in uns Kräfte am
Werk sehen, die uns bewegen, die uns denken und handeln lassen. Von der Quelle dieser Kräfte ha-
ben wir keine direkte Vorstellung, aber die Beobachtung aller Erscheinungen in uns lässt uns induk-
tiv erkennen, dass eine energetische Quelle unserem ganzen Sein zugrunde liegt. Wir können diese
Quelle nur als eine Art Reservoir betrachten, ohne feste Grenzen, in welchem latent, bewegungslos,
unsichtbar, nicht greifbar eine potentielle vitale Energie ruht. Diese Quelle, deren Aktivität sich in
meiner gesonderter Einzelperson kundtut, darf indes nicht als individuelle Erscheinung beurteilt
werden. Dieses potentielle, noch nicht in Erscheinung getretene Energiereservoir muss als univer-
sell betrachtet werden, da die besondere Individualität erst mit dem, was in Erscheinung tritt, be-
ginnt. Diese Quelle ist also das Prinzip des Universums und zugleich ist sie mein Prinzip. Sie ent-
spricht dem, was im Zen „der Kosmische Geist“ oder „das Unbewusste“ heißt. Aus dieser Quelle
kommen in mir unter Ein uss der Erregungen der Außenwelt Kräfte hervor. Erregungen kann ich
auf physischem wie auf psychischem Wege erhalten. Jedenfalls besteht die Erregung immer in einer
zweipoligen Spannung zwischen der Außenwelt und mir. Zum Beispiel: Wenn ich Alkohol trinke
oder Brot esse, besteht zwischen dem, was ich konsumiere und meiner eigenen Substanz eine bipo-
lare Spannung. Oder wenn ich mich in Todesgefahr sehe, entsteht zwischen dem äußeren Bild und
der von mir entworfenen Unsterblichkeitsidee eine bipolare Spannung, etc.

Das Entstehen einer vitalen Kraft in mir als Reaktion auf die Erregung der Außenwelt stellt in Be-
zug auf die Potentialenergie meiner inneren Kraftquelle eine erste Desintegration dar, (wir werden
sehen, dass es noch eine zweite Desintegration gibt), welche einer Atomzertrümmerung gleicht.
Bergson hatte sehr treffend das Vorhandensein solcher „Explosivstoffe“ in uns beschrieben. Sein
Irrtum bestand nur darin, dieses Explodieren auf den psychischen Bereich zu beschränken, wo es
doch jenseits dieser beiden Bereiche, des physischen und des psychischen statt ndet, nämlich schon
beim Austreten der Energie aus der zentralen und beiden Bereichen gemeinsamen Quelle.

Im Augenblick, wo diese Kraft aus der Quelle hervor strömt, entwickelt sie eine bestimmte rohe,
reine, noch nicht differenzierte und ungeformte Menge von vitaler Energie. Genauer noch, sie ist
ein Mittelding zwischen dem Gestaltlosen und der Form. Sie liegt zwischen der Quelle selbst und
meinen Erscheinungsformen, so wie das positive und das negative Prinzip der Schöpfung zwischen
dem Höchsten Prinzip und der Welt der Erscheinungen liegen. Der Mikrokosmos ist so wie der Ma-
krokosmos konstruiert. So kann auch diese vitale, aus der Quelle entspringende Kraft zwei Aspekte
haben, einen positiven und einen negativen. Wird die Erregung der Außenwelt von mir als Selbstbe-
stätigung empfunden, so ist die entstehende Kraft eine positive. Ich emp nde sie dann als einen
Überschuss an Lebensenergie, als einen „Druck“, welcher einen Drang zum Nicht-Ich mit sich
bringt (begehrende oder wohlwollende Liebe). Wird die Erregung der Außenwelt von mir als Nega-
tion meines Ichs empfunden, so ist die hervor strömende Kraft negativer Natur. Ich emp nde sie als
Einbuße an Leben, als Leere, als De zit, als niederdrückend und es verbindet sich mit ihr ein Ge-
fühl der Abneigung gegen das Nicht-Ich (Fluchtgedanken, Ekel oder Aggressionslust). Obwohl die-
se primitive Vitalenergie somit einen Plus- und einen Minusaspekt aufweist, obwohl sie dadurch
schon den Abdruck der äußersten Grenze der Formenwelt aufweist, steht sie doch noch jenseits die-
ser formalen Welt und muss als nicht-formal angesprochen werden. Ebenso mussten ja auch das po-
sitive und das negative Schöpfungsprinzip als nichtzeitlich betrachtet werden, obwohl sie die Gren-
zen der zeitlichen Welt berühren.

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Diese vitale Kraft, welche bei ihrem Entstehen nicht-formaler Natur ist, können wir auf direktem,
intuitivem Wege wahrnehmen. Da sie nicht-formal ist, können wie sie zwar nicht beschreiben, aber
wir können sie wahrnehmen. Wenn ich eine gute Nachricht erfahre, kann ich zum Beispiel jeden
Gedanken, der das glückliche Ereignis selbst betrifft, ausschalten und direkt in meinem Innern ein
überwallendes Lebensgefühl feststellen. Auch wenn mich ein Unglück betrifft, kann ich jeden Ge-
danken über das Unglück selbst verscheuchen und in direkter Weise ein Gefühl der Leere emp n-
den, eine Art Saugströmung, die mich zum Nichts zu treiben droht. Es ist mir also möglich, meine
Aufmerksamkeit ganz auf meine zentrale Quelle zu lenken, bis auf den Punkt hin, wo diese Quelle
beginnt, in Erscheinung zu treten, d. h. meine Aufmerksamkeit kann das Niveau der nicht-formalen
Ebene erreichen, deren Aktivität, deren „Tun“, wie wir sehen werden, einer Nicht-Aktivität, einem
„Nicht-Tun“ auf der formalen Ebene meiner psychosomatischen Erscheinungswelt entspricht.

Das eben Gesagte ist völlig konkret. Habe ich zum Beispiel Geld verloren und lenke meine Auf-
merksamkeit wie gewohnt auf die formale Ebene der Erscheinungen, so unterziehe ich mich einer
lebhaften Aktivität meines Vorstellungsvermögens und rufe mir meine augenblicklichen und zu-
künftigen Sorgen in meine Vorstellungswelt. Richte ich aber in diesem Augenblick meine Aufmerk-
samkeit, wie eben erwähnt, auf die intuitive Wahrnehmung meines Verlustes an Vitalkraft (welche
ich hier mit Namen bezeichnen muss, obwohl sie ja in Wirklichkeit formlos ist), dann kann ich das
Nachlassen meiner vorstellungsbedingten Erregtheit beobachten. Das ist eine Erfahrungstatsache,
die jeder bei sich nachprüfen kann. Meine Aktivität auf der nicht-formalen Ebene hat also meine
Nicht-Aktivität auf der formalen Ebene zur Folge. Ist meine Aufmerksamkeit auf die nicht-formale
Ebene gerichtet, so übt diese Ebene gewissermaßen eine Bremswirkung gegenüber der formalen
Ebene aus.

Die Richtung, welcher meine Aufmerksamkeit folgt, sei es in natürlicher Weise auf die formale
Ebene hin oder willentlich auf die nicht-formale Ebene hin, bestimmt das Geschick der vitalen En-
ergie. Das Natürliche ist es, dass der Mensch aus seiner durchschnittlich unwissenden Grundsituati-
on heraus seine Aufmerksamkeit praktisch auf die untere formale Ebene beschränkt. Er unterliegt
der Faszination der Erscheinungen, die sich außerhalb seiner und in ihm selbst abspielen. Ist die
Aufmerksamkeit dorthin gerichtet, so führt die Vitalenergie, sobald sie der Quelle entspringt, ihre
Desintegration aus, indem sie das menschliche Triebwerk in Bewegung setzt, das heißt, indem sie in
energetischen Erscheinungen somatischer und psychischer Natur Form annimmt. Im Augenblick,
wo die hervorkommende nicht-formale Energie Form anzunehmen und zu strömen beginnt, wobei
sie sich auf der Ebene der Erscheinungen selbst tilgt, wird sie zur Emotion oder Gefühlserregung.
Diese ist also eine primäre innere Erscheinung, die als solche noch keinen spezi sch somatischen
oder psychischen Charakter trägt, jedoch die Ursache physikalisch-chemischer Vorgänge sowie
geistiger Vorstellungen wird. Liegt die Aufmerksamkeit auf dieser formalen Ebene, so beginnt not-
wendigerweise ein circulus viciosus. Die Vorstellungen, die aus diesem Prozess hervorgehen, wir-
ken sich dann als Erregungen aus, lassen neue Kräfte entstehen, deren Schicksal das gleiche ist wie
dasjenige der ersten Kraft etc.

Wird meine Aufmerksamkeit, welche zunächst auf die erregende Außenwelt gerichtet ist, hingegen
auf das Innere und auf die nicht- formale Kraft bis zu ihrem anfänglichen Quellpunkt gelenkt und
verbleibt sie hier einen Augenblick, so entgeht die vitale Energie während dieses Augenblickes dem
desintegrierenden Eingreifen der Formen und entwickelt keine Bewegungen innerhalb meines Or-
ganismus, weder Handlungen noch Gedanken. Andrerseits kehrt sie nicht zu ihrer Quelle zurück,
denn die erste Desintegration, die ihr zu ihrem Entstehen verholfen hat, ist nicht mehr rückgängig
zu machen. Was wird dann aus ihr? Nach der Auffassung einiger Lehren, welche nicht genügend
von der Faszination der Form befreit sind, soll sich diese Kraft in der gesamten Form des Organis-
mus zusammenballen. Sie ist aber verschieden von jener Kraft, die wir kennen, subtiler, und sie
stellt innerhalb des ersten grobförmigen Körpers allmählich einen zweiten feinstof icheren Körper
dar (die illusorische Theorie vom „Astralleib“). Das Zen, welches übrigens an nichts „glaubt“, lehnt
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diese Theorie ab. Wie müssen wir uns also im Lichte des Zen-Denkens das Geschick dieser reinen
Vitalenergie vorstellen, welche von der erscheinungsmäßigen Desintegration befreit ist? Es ist mög-
lich, zu denken, dass diese Energie sich tatsächlich in uns aufhäuft, aber nicht nach irgendeinem
Formprinzip, so subtil dieses auch sein mag. Sie häuft sich in formloser Weise auf, in der Ebene der
zwei unteren schöpferischen Prinzipien, dem positiven und dem negativen Prinzip, welche an sich,
und obwohl sie alle Formen hervorbringen, formlos sind. Die Energie häuft sich hier, und man kann
sie als „potentielle aktualisierte“ Energie quali zieren. Als potentielle Energie wirkt sie erschei-
nungsmäßig nicht mehr als die potentielle Energie, die in der Quelle ruht. Als aktualisierte Energie
häuft sie sich an, um später zu wirken. Dieses spätere Wirken ist das Satori. Die Vitalenergie gleicht
einem explosiven Pulver, welches ohne die innere Arbeit sich im Kleinen verausgabt und als faden-
scheiniges Feuerwerk verbrennt, das unfähig ist, unsere Seins-Struktur zu verändern. (Diesem Feu-
erwerk entsprechen die Erregungen und deren psychosomatische Wirkungen). Dank unserer inneren
Arbeit wird von Zeit zu Zeit eine gewisse Menge dieses Explosionsstoffes aufbewahrt und zurück-
gelegt, wodurch eine Art Zeitzündungsbombe entsteht. Diese Bombe kann erst explodieren, wenn
ein genügender Vorrat Pulver angehäuft ist. Jedoch hat diese aufgeschobene Explosion nichts mit
dem Feuerwerk emotionaler Art zu tun. Während die Gefühlserregungen den menschlichen Orga-
nismus aufzehren, weil diese kleinen Explosionen innerhalb der Form dieses Organismus entstehen,
wird die ungeheure Explosion des Satori nicht eine einzige Zelle des menschlichen Organismus in
Mitleidenschaft ziehen. Sie wird sich im nicht-formalen Bereich vollziehen, und ihre Einwirkung
auf der Ebene der formalen Erscheinungen kann mit einer Katalyse verglichen werden, welche den
zeitlichen Dualismus au öst und versöhnt und darum endgültig jede innere Spannung der Angst be-
seitigt. Während des Zeitraumes, wo die nicht-formale Energie sich vor dem Eintreten des Satori
sammelt, wird bei dem betreffenden Menschen ein relativer Zustand von Weisheit, oder, genauer
gesprochen, eine relative Verminderung seiner gewohnten Verblendung fühlbar. Wenn manche
Menschen mit zunehmendem Alter weiser werden, so in dem Maße, wie sie ihre illusorischen An-
nahmen im Verlaufe ihrer praktischen Erfahrungen verlieren, den äußeren und inneren “Formen“
weniger Wert beimessen und so unwissentlich ihre Aufmerksamkeit vom Formalen zum Nicht-
Formalen hinlenken. Menschen dieser Art arbeiten innerlich an sich, ohne es zu wissen. Aber weil
sie es nicht wissen, tun sie nicht genug dafür, dass sich in ihnen jene große Anhäufung nicht-forma-
ler Energie bilde, welche das Satori erfordert.

Kommen wir auf diese Verlagerung der inneren Aufmerksamkeit zurück. Um dies verständlich zu
machen, haben wir auf die intuitive Wahrnehmung aufmerksam gemacht, auf welche unsere Auf-
merksamkeit sich richten muss. Es gibt kein anderes Verfahren als dieses, denn wir können nicht
unsere Aufmerksamkeit von einem Punkt ablenken, ohne den andern Punkt zu kennen, auf den wir
sie richten müssen. Doch wäre es falsch zu glauben, dass diese intuitive nicht-formelle Wahrneh-
mung, auf die wir willentlich unsere Aufmerksamkeit lenken, im positiven Sinne von irgendeinem
Interesse sei (es ist eine illusorische Auffassung, die „geistigen Güter“ im Gegensatz zu den „zeitli-
chen Gütern“ zu sehen). Sie ist nichts als ein Orientierungspunkt und das einfache Mittel, um unse-
re Energie vor der formalen Energieverschwendung zu bewahren. Die Verlagerung der Aufmerk-
samkeit, das heißt die innere Arbeit, bedeutet also keineswegs irgendetwas zu „tun“, was man so-
wieso üblicherweise nicht tun würde, sie ist ein „Nichts-Tun“ oder noch genauer, sie ist der Ver-
such, aktiv alles formal beschreibbare „Tun“ zu verhindern. Diese Unterscheidung zwischen der
formalen und der nicht-formalen Ebene, wobei das „Tun“ der letzteren Ebene dem „Nicht-Tun“ der
ersteren entspricht, lässt uns die tatsächlich positive Natur der negativen Begriffe verstehen, deren
sich das Zen gerne bedient, z.B. „nicht-geistig“, „ohne Form“, „Nicht-Geburt“, „Leere“, „Nichtig-
keit“, „Unbewusstes“ etc.

So wird auch die Ausübung des „Kōan“ verständlich. Die geheimnisvolle Formel, auf welche der
Zen-Mönch unaufhörlich seine Aufmerksamkeit lenkt, ist zwar sicherlich eine Form. Aber sie ist
solcher Natur, dass infolge ihrer scheinbaren Sinnlosigkeit sie schnell aufhört, noch wahrnehmbar
zu sein. Lenkt der Zen-Mönch seine Aufmerksamkeit auf sein „Kōan“, so ist das „Kōan“ selbst für
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ihn bedeutungslos; wirksam und wichtig an ihm ist einzig die Tatsache, dass es die Aufmerksamkeit
von der formalen Ebene ablenkt. Die Verlagerung der Aufmerksamkeit, in welcher die innere Arbeit
besteht, muss wirklich eine Verlagerung sein, das heißt ein Kommen und Gehen der Aufmerksam-
keit zwischen dem formalen und nicht-formalen Bereich. Es wäre unmöglich, ausschließlich seine
Aufmerksamkeit auf das Nicht-Formale zu lenken, wie man sie ja in starrer Weise auch auf keiner-
lei besondere Form richten kann. Zunächst einmal würde das dem Selbstmord gleichkommen. Aber
vor allem ist die Erregung durch die Außenwelt unbedingt nötig, damit die nicht- formale Energie
aus ihrer zentralen Quelle schießt. Die innere Arbeit muss folglich notwendigerweise mit Unterbre-
chungen vor sich gehen und entspricht hierin dem Gesetz der Wechselseitigkeit, welches die ganze
Schöpfung beherrscht (Tag und Nacht, Sommer und Winter, Ausatmen und Einatmen etc.)

Es handelt sich auch nicht darum, unsere ganze Vitalenergie vor der erscheinungsmäßigen Desinte-
gration bewahren zu wollen. Unaufhörlich an die Möglichkeit eines Energieverlustes zu denken,
hieße in den beängstigenden Irrtum des als „P icht“ aufgefassten Strebens zum „Heil“ zurückfallen.
Das würde wieder zur Verkrampfung und nicht zur Entspannung führen. Nur wenn ich mich um
meine mögliche Verkrampfung nicht mehr unnötig kümmere, kann ich mich entspannen.

Die Meister des Zen sagen: „Ihr dürft auf keinen Fall den Lauf eures Lebens hindern oder stören.“
Die innere Arbeit wird im Verlaufe des Lebens vollbracht, stört dieses aber nicht, weil sie mit die-
sem parallel läuft, nicht in ihm sich vollzieht. Sie beschäftigt sich nicht mit Formen und Modalitä-
ten des Lebens, versucht auch nicht, diese zu verändern. Die Aufmerksamkeit verlässt die Ebene der
Formen und begnügt sich damit, sie außer Acht zu lassen. Der Mensch, der im Sinne des Zen an
sich arbeitet, wird mehr und mehr seinen Handlungen, Vorstellungen und Gefühlen gegenüber
gleichgültig. Denn all dies ist ja gerade das wahre Zahnradgetriebe von Formen, vor dessen Zugriff
er seine Energie bewahren will. Ein solcher Mensch kann den ganzen Tag an sich innerlich arbeiten
in jener wechselnden Weise, die wir beschrieben haben, ohne dass diese Arbeit auch nur im mindes-
ten geistige „Übungen“, willentlich Gegensätze aufstellendes Nachdenken, moralische Verhal-
tungsmaßregeln oder etwa die Absicht verkörperte, das „Gute“ zu tun. Indem er das Sichtbare mit
all seinen schönen oder hässlichen Phantasmen außer Acht lässt, häuft er im Unsichtbaren jene en-
ergetische Ladung auf, die eines Tages in seinem Innern die ganze „Höhle der Gespenster“ sprengen
und ihm die wahre Fülle und Erfülltheit seines alltäglichen Lebens offenbaren wird.

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XIII. DER GEHORSAM GEGENÜBER DER NATUR DER DINGE

Nach dem Zen besitzt der Mensch die Buddha-Natur. Er ist vollkommen, und nichts fehlt ihm.
Doch ist ihm dies nicht bewusst, weil er von der Welt seiner geistigen Vorstellungen in Beschlag
genommen wird. Alles geht so vor sich, als ob auf Grund seiner imaginativen Aktivität, welche dua-
listisch funktioniert, ein Bildschirm zwischen ihm selbst und der Wirklichkeit läge.

Das aktive geistige Vorstellungsvermögen ist dem Menschen zu Beginn seines Lebens nützlich, so-
lange das Triebwerk seines Organismus noch nicht fertig entwickelt und solange seine abstrakte
Denkfähigkeit noch nicht völlig ausgebildet ist. Während der ersten Epoche seines Daseins stellt sie
eine Ergänzung dar, ohne die der Mensch seine begrenzte Grundsituation nicht ertragen könnte. Ist
aber das menschliche Triebwerk voll entwickelt, dann bleibt zwar sein Vorstellungsvermögen aus
Gründen, auf die wir später eingehen, in bestimmter Hinsicht nützlich, schadet ihm aber im Ganzen
gesehen im Laufe der Zeit, da es jene Energieverschwendung im Gefolge hat, ohne welche er diese
seine Energie bis zum Kristallisationspunkt der intuitiven nicht-dualistischen Erkenntnis (dem Sato-
ri) konzentrieren und steigern könnte.

Das Unglück besteht darin, dass der Mensch die Erleichterung, welche ihm sein Vorstellungsver-
mögen verschaffen kann, für eine wirkliche Verbesserung seiner Grundbe ndlichkeit hält. Er hält
die augenblickliche Erleichterung seiner Angstzustände für einen Fortschritt in Richtung der end-
gültigen Aufhebung jener Angst hin. In Wirklichkeit aber bedeutet diese augenblickliche Erleichte-
rung eine fortschreitende Erschwerung seiner Grundsituation, die er sich ja gerade erleichtern
möchte. Aber das weiß er nicht und so hängt er einer „Meinung“ an, in der die „Überzeugung“ von
der Nützlichkeit seiner imaginativen Aktivität, dieses Wahren „geistigen Wiederkäuens“ steckt.

Es scheint, als müsste die Erfahrung früher oder später einer so irrigen Annahme ein Ende setzen.
Meist ist das aber nicht der Fall. Warum aber glaubt der Mensch überhaupt so fest an die Nützlich-
keit seines eberhaften Tun und Treibens, obwohl ihn die Erfahrung das Gegenteil lehrt?

Der Mensch glaubt an die Nützlichkeit seiner rastlosen Unruhe, weil er sich für nichts anderes hält
als dieses persönliche „ich“, das er in dualistischer Form wahrnimmt. Er weiß nicht, dass es in ihm
noch etwas anderes gibt als dieses persönliche und sichtbare „ich“, etwas Unsichtbares, das für ihn
im Dunklen arbeitet. Während er sich mit seinen von ihm wahrnehmbaren Erscheinungsformen,
insbesondere mit seinem geistigen Vorstellungsvermögen identi ziert ist er der Annahme, nichts
anderes darüber hinaus zu sein. Es spielt sich so ab, als ob er sich sagte: „Wer sollte schon für mich
arbeiten außer ich selbst?“ Da er kein anderes „Ich-selbst“ als das imaginative Denken und die da-
mit verbundenen Gefühle und Handlungen an sich selbst erkennt, greift er auf dieses sein imagina-
tives Denken zurück, um sich von der Angst zu befreien. Erblickt man nämlich nur ein einziges Ret-
tungsmittel, so glaubt man daran, weil man zwangsläu g daran glauben will.

Betrachte ich indes das Leben meines Körpers, so muss ich feststellen, dass sich hier eine ganze
Reihe von wunderbaren Vorgängen spontan verwirklicht, gänzlich ohne Hilfe dessen, was ich als
mein „Ich“ bezeichne. Mein Körper erhält sich auf Grund einer Summe von komplexen Vorgängen,
die unser Vorstellungsvermögen in wunderbarer Weise übertreffen. Nach einer Verwundung stellt er
sich wieder neu und ganz her. Wieso und durch wen? Ganz von selbst stellt sich bei mir der Begriff
eines unermüdlichen und freundlichen Prinzips ein, das mich stetig aus seiner eigenen Initiative
heraus in unaufhörlicher Neuschöpfung forterhält.

Meine Organe sind spontan in Erscheinung getreten und haben sich spontan entwickelt. Dann ist
mein mittelbares dualistisches Erkenntnisvermögen aufgetreten und hat sich auch seinerseits spon-
tan weiterentwickelt. Könnte nicht auch mein unmittelbares, nicht-dualistisches Bewusstsein spon-
tan auftreten? Auf diese Frage antwortet das Zen bejahend. Nach ihm führt die normale spontane

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Entwicklung des Menschen zum Satori. Das Prinzip arbeitet in mir unaufhörlich auf das Aufbrechen
des Satori hin, genauso wie dieses selbe Prinzip in der Tulpenzwiebel auf das Aufspringen der Blüte
hinarbeitet. Aber meine imaginative Aktivität steht diesem tiefen inneren Werdegang im Wege, sie
vergeudet jene Energie, welche das Prinzip erzeugt und welche sich bis zur Auslösung des Satori
aufhäufen könnte. So sagt auch ein alter Meister des Zen: „Wer steht der Verwirklichung im Wege?
Nur ich selbst.“ Es ist mir nicht bewusst, dass mein wesentlichster Wunsch - nämlich aus dem Dua-
lismus und seiner Angst befreit zu werden - in mir selbst durch etwas anderes verwirklicht wird als
durch mein persönliches und gesondertes „Ich“. Ich habe den Eindruck, auf niemanden als mich
selbst zählen zu können. So glaube ich die Verp ichtung in mir zu tragen, etwas zu tun. Ich verfalle
in Schrecken, weil ich mir einbilde, allein und von allen verlassen zu sein. Notwendigerweise werde
ich dann unruhig und mein unruhiges Tun hebt jeweils den Gewinn der unsichtbar in meiner Tiefe
wirkenden Kräfte wieder auf. Im Zen wird dies folgendermaßen ausgedrückt: „Die Menschen wis-
sen nicht, wie nahe die Wahrheit liegt und darum suchen sie sie in der Ferne... Wie schade!“ Diese
Art, das spontane Wirken der Tiefenschicht zu stören, ist das Ergebnis mechanischer Re exe. Diese
Re exe werden automatisch ausgelöst, wenn ich meinem unsichtbaren Prinzip und seiner befreien-
den Tätigkeit nicht vertraue. Mit anderen Worten, das spontane Werden in meiner Tiefe macht in
mir jedes Mal dann Fortschritte, wenn ich mich meinem Prinzip und der steten Spontanität seines
befreienden Wirkens anvertraue. Dieses Vertrauen, dieser Glaube versetzt keine Berge, aber er er-
möglicht es, dass die Berge durch das Universelle Prinzip versetzt werden. Mein Teil zur Errei-
chung des Satori besteht also in der Aktivität meines Vertrauens. Es besteht im Fassen des gegen-
wärtig hier und jetzt wirkenden Gedankens, dass mein höchstes Gut im Begriff ist, auf spontane
Weise verwirklicht zu werden.

Es wird deutlich, inwieweit das Zen ein quietistisches Denken ist und inwieweit nicht. Es ist quie-
tistisch insofern, als es sagt: „Ihr braucht euch nicht zu befreien.“ Es ist aber nicht quietistisch, in-
dem wir zwar nicht direkt an unserer Befreiung arbeiten können, aber dazu beitragen müssen, in-
dem wir unsere Aufmerksamkeit willentlich auf das befreiende Werden in unserer Tiefe richten. Al-
lerdings ist dies in keiner Weise ein Denken, das uns naturgemäß gegeben ist. Die äußere Welt trägt
fortgesetzt dazu bei, uns glauben zu lassen, dass unser wirkliches Heil in irgendeinem formalen Er-
folg bestünde, welcher all unsere Unruhe rechtfertigt. Die Außenwelt zerstreut uns, das heißt sie
nimmt unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Eine intensive und geduldige Gedankenarbeit ist daher
nötig, um mit unserem befreienden Prinzip zusammenzuwirken.

Ist unser Verständnis soweit gediehen, so müssen wir uns noch auf eine Falle gefasst machen. Wir
könnten leicht des Glaubens sein, dass unsere Aufmerksamkeit das Leben selbst vernachlässigen
müsse. Wir könnten der Meinung verfallen, es für gut zu heißen, im wirklichen Leben wie Schlaf-
wandler einherzugehen, mit der „ xen Idee“ in unserm Ober ächen Bewusstsein, dass ja das Ur-
prinzip in uns arbeite. Eine solche Einstellung führt indes nur zu geistiger Verwirrung.

Man muss anders vorgehen. In Momenten, wo die äußeren und inneren Bedingungen günstig sind,
bemühen wir uns um das Verständnis unserer spontanen Befreiung, denken wir gründlich und so
konkret wie möglich an das grenzenlose Wunder, das sich in uns vollzieht und eines Tages all unse-
re Ängste, all unsere Gier beseitigen wird. In solchen Augenblicken legen wir Samenkorn um Sa-
menkorn in das Saatfeld unseres Vertrauens. Langsam gelingt es uns, dieses bisher schlafende Ver-
trauen, diesen Glauben zu erwecken, welcher von Hoffnung und Liebe begleitet ist. Und dann,
wenn wir zum Leben zurückkehren, leben wir weiter wie gewöhnlich. Weil wir wenigstens einen
Augenblick lang in richtiger Weise gedacht haben, bleibt ein Teil unserer Aufmerksamkeit an dieser
Ebene des Denkens haften, obwohl diese Ebene dann in die Tiefen unseres Inneren zurücktritt und
unsichtbar wird. Ein Teil unserer Aufmerksamkeit bleibt hier zurück, während alles übrige sich zum
gewohnten Denken wendet. Ein Mann, der eine Frau geliebt hat oder aber im Begriff ist, ein Werk
auszuführen, versteht, was wir hiermit sagen wollen. Solange dieser Mann seinen üblichen Beschäf-
tigungen nachgeht, kann es vorkommen, dass er mit seinem Bewusstsein nicht mehr bei der Frau
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ist, die er liebt, fast, als ob er sie vergessen hatte. Kehrt sein Denken, aber zu dem beglückenden
Bild zurück, dann weiß er, dass es ihm nie völlig entschwunden war, dass er dieser Frau in der Tie-
fenschicht seines Bewusstseins wie in einer „Verdoppelung“ immer nahe geblieben war.

Handelt es sich um die Teilnahme an unserer Befreiung, so wird diese „Verdoppelung“ nicht um-
sonst gegeben. Wir müssen sie durch besondere Überlegungsvorgänge gewinnen und zwar außer-
halb unseres üblichen praktischen Lebens. Trotzdem sind es nicht die dazu nötigen Momente, die
wirklich zählen. Was tatsächlich wirkkräftig ist, ereignet sich, wenn wir uns wieder in unserem All-
tagsleben be nden und wenn unser Glaube, schon mehr oder weniger erweckt und wachsam auf der
Ebene des unterirdischen Bewusstseins, einen Teil unserer Aufmerksamkeit und damit einen Teil
unserer Energie der Außenwelt siegreich abringt.

In dem Maße, wie diese zweite unterirdische Aufmerksamkeit sich entwickelt, haben wir ein weni-
ger stark zwingendes Interesse an den Erscheinungen der Außenwelt. Unserer Furcht und unserer
Sehnsucht ist die Spitze abgebrochen. Wir lernen allmählich, abwartend und aktionslos unserer In-
nenwelt gegenüber zu werden und sind so in der Lage, die Lehre des Zen zu verwirklichen, welche
heißt: „Lasset los, lasset die Dinge wie sie einmal sind ... Gehorchet der Natur der Dinge und ihr
werdet mit dem Wege im Einklang stehen.“

Beachten wir, dass der Durchschnittsmensch manchmal das richtige, abwartende und nicht-han-
delnde Verhalten an den Tag legt, und zwar im tiefen Schlaf. Hier hört er auf, sich zu beunruhigen
unter dem Vorwand, zu seinem Besten zu handeln. Hier lischt er aus, hier “lässt er los“ und hier
„belässt er die Dinge, wie sie nun einmal sind“. Hier überlässt er sich seinem Prinzip und lässt es
handeln, ohne selbst dazwischenzutreten. Weil der Mensch in diesem Zustand sich völlig hand-
lungsfrei verhält, hat der Schlaf eine so wunderbare, neu belebende Wirkung auf ihn.

Aber der schlafende Mensch verhält sich nur so weise dank einer Art Ohnmachtszustand seines
Geistes. Der ich-bezogene unheilvolle Vorstellungsablauf ist nur unterbrochen, weil auch der auf
die wirkliche, gegenwärtige Außenwelt abgestimmte Vorstellungsablauf unterbrochen ist. Der ver-
hängnisvolle Teil des mentalen Bereiches ist nur unterbrochen, weil auch der gesunde Teil dieses
selben Bereiches (jener, welcher die gegenwärtigen Dinge direkt wahrnimmt) unterbrochen ist. Aus
diesem Grund kann der Schlaf nicht zur Verwirklichung führen. Wir können jedoch weise werden,
ohne das die Ganzheit unseres mentalen Bereiches unterbrochen wird. Jeder Fortschritt auf der
Ebene unseres Glaubens in das befreiende Prinzip schwächt unseren ich-bezogenen Vorstellungsab-
lauf ab, ohne indes den auf die wirkliche Gegenwart abgestimmten Vorstellungsablauf zu vermin-
dern. Das Vorhandensein und Wachsen unseres Glaubens bringt von sich aus eine Unterscheidung
unserer beiden verschiedenen Vorstellungsabläufe mit sich. So gehen wir allmählich einem Zustand
entgegen, wo sich Tiefschlaf und Wachen versöhnen. Und diese erstaunliche Versöhnung, - dies sei
betont -, stellt sich ganz von selbst her. Unsere inneren Manipulationen haben keinerlei Macht, auch
nur die geringste wirkliche Harmonie in uns herzustellen. Aber es genügt richtig, oder besser ge-
sagt, nicht mehr falsch zu denken, damit unser Prinzip in uns wirksam wird, denn dieses ist allein
befähigt zur Vollbringung dieses großen Werkes.

Um das Vorhergehende besser zu verstehen, bedienen wir uns einer symbolischen Erläuterung. Der
Mensch ist in seinem Entwicklungsgang etwa einem Gummitier vergleichbar, das die Kinder zum
Spielen aufblasen. Bei seiner Geburt ist der Mensch wie ein wenig angeschwollenes Gummitier,
ohne besondere formale Kennzeichen, eine kleine kugelförmige Masse. Dann bläst das Prinzip das
„Gummitier“ auf und es nimmt an Umfang zu. Zugleich entfernt sich seine Form immer mehr von
der einfachen Kugelform. Erhebungen und Vertiefungen treten auf und es bildet sich eine Gestalt,
deren Struktur in ihren Einzelheiten einen einmalig besonderen Charakter trägt. Diese Entwicklung
entspricht eben dem, was wir unter „Charakter“, „Persönlichkeit“ und all dem verstehen, worin ich

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„ich“ und kein anderer bin. Das entspricht der Entwicklung des menschlichen Triebwerks, seinem
Körper und seiner Psyche.

Wenn die Unwissenheit des Menschen diese normale Entwicklung nicht stören würde, träte folgen-
des ein. Das „Gummitier“ ist in dem Augenblick, wo das menschliche Triebwerk sich voll entwi-
ckelt hat (etwa zur Zeit der Pubertät, wenn der somatische Organismus durch das Auftreten der Se-
xualfunktion vollendet und der psychische Organismus durch das Auftreten des unparteiischen, abs-
trakten und verallgemeinernden Denkens vervollständigt ist), ganz angeschwollen und seine Ober-
äche besitzt die größtmögliche Ausdehnung. Das Prinzip bläst jedoch weiter hinein und erzeugt so
gewissermaßen einen Überdruck. Unter dem Ein uss dieser überstarken Spannung deformiert sich
die Ober äche, die nicht mehr weiter dehnbar ist, um ihre Fassungskraft zu vermehren. Sie entfaltet
sich, vermindert ihre Erhebungen und Vertiefungen und nähert sich immer mehr der Kugel, da diese
einfache Form der Kugel der größten Fassungskraft einer gegebenen Ober äche entspricht. Allmäh-
lich verlieren sich die Unebenheiten des „Gummitieres“. Schließlich ist die vollkommen kugelartige
Form erreicht und die Fassungskraft kann nicht mehr erhöht werden. Das Prinzip bläst aber weiter
und die Kugel platzt. Im Verlaufe dieser normalen Entwicklung kann man drei Phasen unterschei-
den. Der ursprünglich kleinen Kugel, dieser kugelförmigen Masse eines noch nicht aufgeblasenen
Gummitiers entspricht jene Phase, die vor der zeitlichen Verwirklichung des Menschen, vor der
Entwicklung seines Ego, seiner Persönlichkeit liegt. Man kann sagen, dass das Kleinkind noch in
diesem kugelförmigen Zustand sich be ndet. Die zweite Phase, diejenige der ausentwickelten Per-
sönlichkeit, entspricht der mit persönlichen, komplexen Sonderformen ausgestatteten Gestalt des
Gummitieres. In der dritten Phase, welche dem endgültigen Zerplatzen vorausgeht werden die Un-
regelmäßigkeiten geringer, die Persönlichkeit wird verwischt in dem Maße, wie das Denken eine
universelle Stufe erreicht oder besser gesagt inwieweit es sich aus seiner Begrenztheit löst und von
der Starrheit seiner persönlichen Gesichtspunkte Abstand nimmt. Der Mensch kehrt zu seiner ur-
sprünglichen Kugelform zurück, aber diesmal jenseits seiner zeitlichen Verwirklichung. Diese letz-
tere Phase gleicht somit der ersteren, obwohl sie gewissermaßen in entgegengesetzter Richtung ver-
läuft, (man denke an die Worte Jesu: „Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht wie die Kinder wer-
det, könnt ihr in das Reich Gottes nicht eingehen.“) Beachten wir, dass diese dritte Phase uns not-
wendigerweise zugleich wie ein Fortschritt und wie ein Rückschritt anmutet: Vom universellen
Standpunkt aus ist sie ein Fortschritt, da das „Gummitier“ sein Fassungsvermögen erhöht und sich
dem Zerplatzen nähert, das es mit der riesenhaften kosmischen Sphäre eins werden lässt. Vom Ge-
sichtspunkt der Sonderformen her gesehen aber ist sie ein Rückschritt: das, was einen solchen Men-
schen von den anderer, unterschied, wird immer geringer; er wird mehr und mehr zum Durch-
schnittsmenschen. Seine Umrisse verwischen sich. Der „alte“ Mensch verkümmert und stirbt in
dem Maße dahin, wie mit dem Aufplatzen des „Gummitieres“ sich die Geburt des „neuen Men-
schen“ ankündigt. (So kann man das Wort Johannes' des Täufers verstehen: „Bereitet den Weg des
Herrn. Ebnet seine Pfade. Alle Täler werden zugeschüttet werden, jeder Berg und jeder Hügel wird
eingeebnet werden.“)

Das Ende der dritten Phase, nämlich das Platzen des „Gummitieres“, ist die Explosion des Satori,
jener Augenblick, wo jede Begrenzung verschwindet und der Mensch sieh mit dem All vereint.

Wir haben gesagt, dass die Unwissenheit des Menschen dieser normalen Entwicklung entgegen-
steht. Tatsächlich sieht der Mensch ohne besonderen Hinweis darauf keine Wirklichkeit im Gehalt
seines „Gummitieres“, er misst einzig der Ober äche und den besonderen Formen dieser Ober ä-
che unbestreitbaren Wert bei. In seiner Unwissenheit drückt sich sein Daseinswille nur in dem Wil-
len aus, ein „gesondertes Einzelindividuum“ zu sein. Dieses unwissende „Gummitier“ weigert sich
dagegen, sein unterscheidendes Relief vermindert zu sehen. Es versteift sich darauf, eine besondere
Form zu sein und wehrt sich gegen die Möglichkeit seiner eigenen Entfaltung, welche sein Fas-
sungsvermögen vergrößern könnte und es der Kugelform annähern würde. Da die übergroße Span-
nung sich nicht auf normale Weise entladen kann, muss sie sich auf andere Weise lösen. Hier tritt
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dann die Gefühls- und vorstellungsbestimmte Aktivität des Menschen auf, welche einer Art Sicher-
heitsventil gleicht, mittels dessen der Überdruck entweicht, den das unaufhörliche Blasen des Prin-
zips hervorruft. Dieser Vorgang entspricht der Energievergeudung, von der wir gesprochen haben,
statt das diese Energie sich für eine spätere Explosion zentriert.

Jeder Mensch, der sich selbst beobachtet, muss feststellen dass er sich dauernd mehr oder minder in
einer inneren „Über-Spannung“ be ndet. Das merkt er an der unruhigen Bewegtheit seiner jeweili-
gen Gefühlsverfassung. Gleichgültig, ob diese positiv oder negativ, exaltiert oder depressiv ist, je-
denfalls entsprechen die verschiedenen Gemütsverfassungen dem unbewussten Widerstand seiner
selbst gegen die Entfaltung und Ausdehnung seiner „persönlichen Form“. Aber wenn es auch leicht
ist, die innere Beziehung zwischen unserer „Über-Spannung“ und unserer konkreten Psychologie zu
sehen, so ist es doch weniger leicht zu erkennen, worin die normale innere Entspannung dieser
Spannung besteht. Diese Entspannung kommt in dem Augenblick zustande, wo mir meine Span-
nung bewusst wird und ich die jeweiligen Umstände außer Acht lasse, anlässlich derer sie aufgetre-
ten ist; meine Entspannung kommt in dem Augenblick zustande, wo ich die Spannung innerlich an-
nehme.

In dem Maße, wie ich aus meiner Unwissenheit heraustrete, in dem Maße, wie ich begriffen habe,
dass die Wirklichkeit keineswegs in den äußeren Formen, welche den Gegenstand meiner Furcht
und meiner Wünsche bilden, sondern in dem vitalen Hochspannungsdruck selbst liegt, verlässt mei-
ne Aufmerksamkeit die Formenwelt und wendet sich hinzu ihrem Zentrum, ihrer Quelle, zu jenem
Punkt, wo die vitale Lebensspannung entsteht. Dazu bin ich imstande, wenn ich begriffen habe,
dass mein Prinzip mich zu meiner wahren Erfüllung hinführt und ich mir diesbezüglich keine Sor-
gen zu machen brauche. Einen Moment lang hört dann meine gefühlsbestimmte und vorstellungs-
mäßige Aktivität auf und ich fühle, dass meine Über-Spannung nachlässt. Das ist alles, was ich
emp nde, aber ich weiß im Übrigen, dass der Inhalt meines „Gummitieres“ sich etwas vergrößert
durch eine Vereinfachung seiner Form. Natürlich ist die Aufgeschlossenheit für dieses verwirkli-
chende „Glätten der Falten“ vorübergehend, augenblicksbedingt, und so ist es nötig, das „Loslas-
sen“ mit Ausdauer und so oft es nötig ist, immer von neuem zu wiederholen.

Der Vergleich, den wir angewandt haben, hinkt wie jeder Vergleich. Doch kann er uns dazu verhel-
fen, die Art und Weise unseres normalen Wachstums und insbesondere die wesentliche Tatsache zu
verstehen, dass dies Wachstum sich von selbst bis zu einem gewissen Grad der Vollendung entwi-
ckelt. Vertrauen wir darauf, so hören wir auf, uns mit unserer inneren Unruhe und aller möglichen
inneren Manipulationen dagegen zu stemmen.

Kommen wir auf den Gedanken zurück, dass es dem Menschen im Zustand der Unwissenheit an
Glauben mangelt und folglich auch Hoffnung und Liebe ihm fehlen. Wir werden zeigen, dass, so-
lange dieser Glaube mangelt, alles beim Menschen in einer dem Normalen entgegengesetzten Rich-
tung verläuft. Die normale Richtung geht von oben nach unten: wenn der Mensch aus der Unwis-
senheit tritt, erwacht seine Erkenntnis (die von Ewigkeit her vorhanden war, aber unbewusst in ihm
schlief) in seinem geistigen Zentrum. Bei den „drei theologischen Tugenden“ steht der Glaube, das
Vertrauen an erster Stelle, das ist das intuitive Erfassen des Absoluten Prinzips und die Gewissheit,
dass es „mein“ Prinzip ist. Die Erweckung des Glaubens zieht die Erweckung der Hoffnung nach
sich. Nichts ist mehr zu befürchten, alles zu hoffen, da doch das Absolute Prinzip „mein“ Prinzip
ist. So tritt das, was in meinem geistigen Zentrum begonnen hat, auch in das Gefühlszentrum.
Schließlich bringt die Erweckung des Glaubens und der Hoffnung auch das Erwachen der Liebe mit
sich. Zu Unrecht wird die Liebe häu g als Gefühl betrachtet, als gefühlsmäßige Anbetung. Sie ist in
Wirklichkeit Begehren, Verlangen unserer ganzen Person nach einer Existenz, welche die dunklen
Schreckbilder unseres Dualismus nicht mehr beschatten. Sie ist das dauernde Verlangen nach allen
Aspekten des Daseins. So gelangt das, was im geistigen Zentrum begonnen und sich im Gefühls-

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zentrum fortgesetzt hat, in das animalische oder instinktive Zentrum. Was im Kopf begonnen hat, ist
über das Herz in die Lenden herabgestiegen.

Solange der Mensch sich im Zustand der Unwissenheit be ndet, ist die Aufeinanderfolge eine um-
gekehrte. Es fängt bei ihm mit der Daseinslust an, mit dem Wunsch, sich als Einzelwesen zu bestä-
tigen, mit dem Wunsch nach nur positiven Aspekten des Daseins. Das natürliche Erwachen des
Existenzwillens bringt das Erwachen aller möglichen „Erwartungen“ mit sich (welche das Gegen-
teil der wirklichen Hoffnung sind), Erwartungen auf diesen oder jenen Erfolg auf der Ebene der Er-
scheinungen. Das, was im animalischen Zentrum begann, greift über auf das Gefühlszentrum.
Schließlich hat das Erwachen des Existenzwillens und der Erwartungen das Auftreten von „Mei-
nungen“ im Gefolge (die dem Glauben entgegengesetzt sind), welche die falschen Werte, die Ziele
derer die Erwartungen bedürfen, und die nötigen Idolvorstellungen erwecken, die nötig sind, um
den inneren Aufschwung aus der Tiefe des eigenen Wesens zu polarisieren. Das, was seinen Anfang
im animalischen Zentrum nahm, dann in das Gefühlszentrum einging, gelangt so zum intellektuel-
len Zentrum. Das, was in den Lenden seinen Ausgang nahm, ist zum Herzen hinauf und schließlich
zum Kopf gestiegen.

Man sieht den völligen Gegensatz zwischen diesen beiden „Richtungen“ des menschlichen Lebens.
Die „natürliche“ Richtung verläuft von unten nach oben: Verlangen nach positiven Lebensaspekten,
Erwartungen und schließlich Meinungen. Die „normale“ Richtung geht von oben nach unten: Glau-
be, Hoffnung und schließlich Liebe oder Verlangen nach allen Aspekten der menschlichen Existenz.

Nur die „natürliche“ Richtung herrscht zu Beginn des Lebens. Die Verwirklichung besteht aber im
Erscheinen der „normalen“ Richtung und ihres endgültigen Sieges. Der endgültige Sieg ist das Sa-
tori. Vor dem Satori muss die normale“ Richtung im Gegensatz zur gegenwärtigen, „natürlichen“
Richtung erscheinen und immer mehr auf Kosten dieser „natürlichen“ Richtung wirken. („Es ist nö-
tig, dass er wachse und ich selbst kleiner werde.“)

Bei der Beschäftigung mit der Frage der Verwirklichung stoßen wir immer wieder auf alle mögli-
chen scheinbaren Widersprüche. So heißt es auch im Evangelium: „Derjenige, welcher sein Leben
verliert, wird es gewinnen.“ Aber diese Widersprüche stören uns nicht mehr, wenn wir uns verge-
genwärtigen, dass zwei Lebensströme in uns sind. Der eine naturgegebene, „natürliche“, der von
unten nach oben steigt, und der andere „normale“, der uns durchaus erreichbar ist und von oben
nach unten strebt. Das „natürliche Leben“ kann auch als Leben des “alten Menschen“, das „normale
Leben“ als „Leben des neuen Menschen“ bezeichnet werden. („Man muss sterben um wiedergebo-
ren zu werden.“)

Der neue Strom muss in Erscheinung treten, während der alte natürliche Strom noch wirksam ist.
Der neue Strom beginnt da, wo der natürliche Strom endet, das heißt im intellektuellen Zentrum.
Das Leben des neuen Menschen geht von der “Freien Intelligenz“ aus, vom reinen Denken, von der
geistigen Intuition, die dem Ein uss des Gefühlslebens nicht unterworfen ist.

Die Arbeit der Freien Intelligenz zerstört allmählich alle „Meinungen“ und „Überzeugungen“, wel-
che die natürliche, von unten nach oben steigende Strömung polarisieren und ohne die dieser Strom
überhaupt nicht entstehen könnte. Im Maße, wie der Mensch „aufhört an seinen Meinungen zu hän-
gen“, wie es im Zen heißt, gebietet er kategorisch diesen natürlichen Strom in sich Einhalt. Dann
wächst sein Glauben an das Urprinzip in eben dem Maße, in dem seine illusorischen Überzeugun-
gen an Kraft verlieren.

Aber auf der Ebene des Gefühlslebens können wir diese umgekehrte Entwicklung besonders gut
beobachten. Hier können wir noch besser den Sinn des Zen Begriffes “Loslassen“ verstehen. Eben-
so wie der Glaube, der seit Urbeginn, wenn auch schlafend in uns vorhanden war, in dem Maße er-
weckt wird, in dem die „Meinungen“ verschwinden, ebenso erwacht die Hoffnung, welche eben-
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falls seit Urbeginn, wenn auch schlafend, in uns ruht, in dem Maße, in dem die „Erwartungen“ als
Gesamtheit zerstört werden. Der „Sonnenaufgang“ des neuen Lebens ist der „Sonnenuntergang“ des
alten. Das Satori kann vom „alten Menschen“ nur als das schrecklichste aller Dinge betrachtet wer-
den.

Beobachte ich mich, so stelle ich fest, dass ich instinktiv darum kämpfe. Erfolg zu haben. Ob meine
Unternehmungen egoistischer Natur (Geld verdienen, genießen, mich bewundern lassen etc.) oder
altruistisch gedacht sind (andern zu helfen, „besser“ zu werden, meine „Fehler“ auszurotten), in-
stinktiv kämpfe ich unaufhörlich darum, mein Unterfangen zu gutem Ende zu führen, somit kämpfe
ich unaufhörlich darum, mich „aufzuschwingen“. Alles in mir ist in dauernder Anspannung, damit
ich endlich „hochkomme“. Ich bin wie ein Vogel, der dauernd seine Flügel benutzt, um hochzu ie-
gen, oder um gegen einen absteigenden Wind anzukämpfen, der ihn zu Boden drücken möchte. Ich
verhalte mich so, als ob meine „Erwartungen“ berechtigt wären, als ob das wahre Gut, dessen ich
bedarf, (die Verwirklichung, das Satori) in der Erfüllung meiner Erwartungen beruhen würde. Rich-
tig ist aber genau das Gegenteil. Meine .Erwartungen“ betrügen mich, sie gehören einem infernalen
circulus viciosus an, in dem ich kostbare Kräfte vergeude. All mein Ringen, hochzukommen, alle
anderen Menschen möglichst zu überragen, ist nur unbewusster Widerstand gegen jene spontane
glückliche Verwandlung, die mein Prinzip jederzeit bereit ist, in mir zu verwirklichen. Die voll-
kommene Glückseligkeit erwartet mich nicht oben, sondern unten. Sie erwartet mich nicht in dem,
was ich augenblicklich noch als Sieg betrachte, sondern in dem, was mir jetzt noch als Unheil er-
scheint. Meine vollkommene Freude erwartet mich nach der totalen Zerstörung meiner Erwartun-
gen.

Man muss sich natürlich klar machen, dass jenes totale Unheil, an dessen Grunde uns das Satori er-
wartet, nicht notwendigerweise mit einem äußeren, praktischen Unheil identisch ist. Das Unheil,
das uns der Verwirklichung nahebringt, das „Satori-Unheil“, beruht in der Einsicht, in der intuitiven
Erkenntnis von der völligen Widersinnigkeit unseres „natürlichen“ Stromes, der nach aufwärts
steigt, somit in der klaren Erkenntnis des Nichts, welches am Ende unserer Erwartungen steht. Die
Verzwei ung, welche uns der Verwirklichung nahebringt, besteht nicht im praktischen Scheitern
von Erwartungen, die dann ja noch weiter in uns fortbestehen könnten (das führt zum Selbstmord,
nicht zum Satori), sondern in der Überwindung der Erwartungen selbst. Der Mensch, den man ge-
meinhin als „verzweifelt“ bezeichnet, ist nämlich gar nicht verzweifelt. Er ist vielmehr von Erwar-
tungen erfüllt, denen die Welt ein Nein entgegensetzt, und deshalb ist er unglücklich. Der Mensch
hingegen, dem es gelungen ist, wirklich verzweifelt zu sein, das heißt nichts mehr von der Welt der
Erscheinungen zu erwarten, ist von der vollkommenen Freude erfüllt, der er sich endlich nicht mehr
widersetzt. Praktisch kann ich auf folgende Weise hinsichtlich der Zerstörung meiner widersinnigen
und kläglichen „Erwartungen“ Fortschritte machen. Ich brauche nichts zu tun, um das Scheitern
meiner Unternehmungen in Gang zu setzen, ich brauche nicht zu hoffen, endlich meinen Ruin zu
erleben statt darauf zu hoffen, mich zu bereichern. Solche Versuche würden zu nichts führen. Im
Gegenteil, ich lebe mein Instinkt- und Gefühlsleben weiter wie bisher. Nur mein Verständnis, wel-
ches nun für die Wirklichkeit der Dinge aufgeschlossen ist, soll parallel neben meinem übrigen Le-
ben tätig sein. Jedes Mal, wenn ich darunter leide, dass meine Erwartungen auf Widerstand der Welt
stoßen, erinnere ich mich daran, dass meine früheren „Erfolge“ mir ja auch nie jene absolute Erfül-
lung gebracht haben, die ich von ihnen erwartet hatte. Alles, was mir in meinem Ober ächen-Be-
wusstsein, manchmal sogar in intensivster Weise als Genugtuung erschienen war, hatte sich in der
Tiefe meines Wesens, das heißt, in Wirklichkeit, ja stets als Enttäuschung erwiesen. Gestärkt durch
diese richtige Deutung meiner trügerischen „Erfolge“ kann ich nun in richtiger Weise an etwaige
neue Erfolge denken, die mir erstrebenswert erscheinen: ich kann mir ihre konkrete Verwirklichung
vorstellen, um von neuem ihre Nichtigkeit schon im Voraus zu erfühlen. Die „schlechten
Momente“, die Augenblicke der Angst, sind dieser inneren Arbeit besonders zuträglich. Das Leiden,
welches von meinem Gesamtorganismus empfunden wird, schränkt jene Illusionen ein, welche das
Satori an den entgegengesetzten Punkt, wo es uns wirklich erwartet, verlegen. Vorausgesetzt, dass
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unsere wesentlichen früheren Erwartungen in der Vergangenheit mehr oder weniger erfüllt wurden,
ist unsere jeweilige neue Erwartung, die uns immer wieder in die Illusionen stürzen möchte, umso
leichter zu zerstören, je mehr sie dem Widerstand der Außenwelt begegnet. Ich kann leichter „los-
lassen“, wenn meine Muskeln bereits müde sind. Das Zen sagt: „Das Satori kommt über euch von
ungefähr, dann, wenn ihr alle in euch liegenden Möglichkeiten erschöpft habt.“ Das eben Gesagte
soll indes keineswegs etwa als masochistisches Verlangen nach Angst verstanden werden.

Der Mensch, der im Sinne des Zen arbeitet, liebt nicht das Leiden. Aber er ist damit einverstanden,
das Leid über ihn kommt, was keineswegs dasselbe ist; denn diese Momente helfen ihm innerlich
dazu „loszulassen“. Sie verhelfen ihm zu jener inneren Bewegungslosigkeit und Stille, zu jener dis-
kreten Haltung seinem eigenen Innern gegenüber, dank derer das aktive Wirken des Prinzips in der
Tiefe seines Wesens ihn seiner Verwirklichung immer näher bringt.

Man sieht, wie sehr die Lehren der „stufenweisen“ Verwirklichung, welche dem Menschen eine
aufsteigende Hierarchie seiner Bewusstseinsbe ndlichkeiten predigen und den vollkommenen Men-
schen mehr oder minder als einen „Übermenschen“ hinstellen, der Wahrheit den Rücken kehren und
sich nur darauf beschränken, die Form unserer „Erwartungen“ zu verändern. Das Zen hingegen er-
muntert uns zu einer Arbeit, die, abgesehen vom Satori selbst, uns nur wie ein Absteigen erscheinen
kann. In einer Hinsicht wird alles allmählich immer schlechter, bis zu dem Augenblick, wo ein
Tiefpunkt erreicht ist und es nicht noch schlechter gehen kann, wo aber alles erlangt wird, weil alles
verloren ist. Wir haben keinerlei Vorstellung von der Verwandlung, die das Satori bewirkt. Wir lau-
fen Gefahr, uns einer neuen Illusion hinzugeben, wenn wir uns irgendwelche Vorstellungen darüber
machen. Von dem Punkt aus, an dem wir uns jetzt be nden, können wir uns die richtige Entwick-
lung nur als fortschreitende Zen-Tötung all dessen denken, was wir „Erfolg“ nennen. Wir können
den verwirklichten Menschen nur als einen Menschen betrachten, der „in absoluter Weise ganz
durchschnittlich“ geworden ist. Nur derjenige, der das Satori erreicht hat, kann sagen: „Ein irrender
Hund, der um Nahrung und Mitleid bettelte und der von Straßenkindern unbarmherzig verjagt wur-
de, ist zum Löwen mit goldener Mähne geworden, dessen Brüllen alle schwachen Geister mit Ent-
setzen erfüllt''

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XIV. GEFÜHLSERREGUNG UND ERREGUNGSZUSTAND

Bei der Untersuchung der Erregbarkeit des Gefühls p egt die klassische Psychologie eine für die
innere Entwicklung des Menschen äußerst wichtige Unterscheidung zu übersehen. Zwar beschreib:
sie genau jene „Seelenbewegung“, die bei einem Reiz aus der Außenwelt als Antwort auf ein be-
wusst wahrgenommenes Bild entsteht, z. B. Regungen des Zornes, der Liebe, der Reue usw. Doch
das Spiel unserer Gefühlserregbarkeit beschränkt sich nicht allein hierauf. Oftmals fühle ich das
Vorhandensein eines fortdauernden Erregungs-„Zustandes“, der, wie ich eindeutig erkennen kann,
nicht von den Bildern, die mir gerade vorschweben, ausgelöst wird. Z. B. kann ich mehr oder weni-
ger „verstimmt“ sein und dabei gleichzeitig an tausenderlei harmlose Dinge denken. Wenn ich nun
anfange zu suchen, auf Grund welcher Vorstellungen ich in diesen Zustand geraten bin, so kann es
vorkommen, dass ich nichts nde. Manchmal nde ich auch unter den Gedankenassoziationen der
Ober ächenschicht meines Bewusstseins den Kummer, der meine düstere Verfassung auslöst. So-
lange ich nicht „daran dachte“, ruhte dieser Kummer bewegungslos in meinem Innern („ xe Idee“),
und löste einen andauernden, gleichsam bewegungslosen Erregungszustand aus. Jetzt, da ich an
meinen Kummer denke, d. h., da ich im Zusammenhang mit ihm einen Vorstellungsablauf wachru-
fe, entstehen Gefühlsbewegungen in mir gleich jenen, von denen wir anfangs sprachen. Doch fühle
ich unter jenen Bewegungen den bewegungslosen Erregungs-„Zustand“ fortdauern und emp nde,
dass dieser Zustand in einer bestimmten Beziehung zu dem Kummer gestanden hat, den ich bis in
die Ober ächenschicht meines Bewusstseins empor geführt habe.

Die innere Erfahrung zeigt mir also, dass unter der dynamischen eine statische Gefühlserregung
vorhanden ist. Wie aber sollen wir diese letztere verstehen? Schon die Benennung scheint paradox.
Da eine „Erregung“ doch stets „Bewegung“ in sich schließt - wie kann da von „statischer“ Bewe-
gung gesprochen werden? Um diesen Widerspruch aufzuheben und um zu zeigen, wie der gefühls-
mäßige Erregungs-„Zustand“ gleichzeitig Bewegung und Bewegungslosigkeit sein kann, genügt es,
die „Bewegungen der Seele“, die wir Gefühlserregungen nennen, den Bewegungen des Körpers, d.
h. dem Spiel der Muskeln zu vergleichen. Ein Muskel kann sich bekanntlich sowohl zu einer dyna-
mischen Anspannung als auch zu einer statischen Verkrampfung zusammenziehen. Gefühlserregun-
gen, die mit bewussten Vorstellungen in Verbindung stehen, sind psychische Anspannungen, wäh-
rend der Erregungszustand, der mit Unter-Bewussten Vorstellungen zusammenhängt, eine psychi-
sche Verkrampfung darstellt. Um das Verständnis der eben aufgestellten Unterscheidung zu erleich-
tern, haben wir diese zunächst nur mit annähernder Genauigkeit ausgedrückt. Jetzt können wir je-
doch präziser werden. Das Phänomen der „Gefühlserregung“ ist Ausdruck einer Art Kurzschluss
zwischen dem psychischen und dem somatischen Pol unseres Organismus. Man darf also bei der
Gefühlserregbarkeit nicht von rein „psychischer“ Anspannung (bzw. Verkrampfung) sprechen, son-
dern von einer Anspannung (bzw. Verkrampfung) des psychosomatischen Gesamtorganismus. Der
Sitz der Gefühlserregbarkeit be ndet sich genau zwischen dem der intellektuellen (bzw. psychi-
schen oder subtilen) Kräfte und dem des instinktiven (bzw. somatischen oder stof ichen) Lebens.
Wenn wir daher anfangs von Gefühlserregungen bzw. von einem Erregungszustand sprachen, die
durch Bilder, d. h. durch psychische, subtile Reizeinwirkungen ausgelöst werden, so dürfen wir
doch nicht vergessen, dass unsere Erregbarkeit ebenso gut durch stof iche, somatische Einwirkun-
gen ausgelöst werden kann. Ein körperliches Übelbe nden z. B. kann die auslösende Ursache mei-
ner „Verstimmung“, d. h. der affektiven Verkrampfung meines psychosomatischen Organismus
sein. Mag die auslösende Ursache seelischer oder körperlicher Natur gewesen sein, die ausgelöste
Verkrampfung zieht immer sowohl Seele als auch Körper in Mitleidenschaft, so dass also stets ir-
gendeine Muskelverkrampfung (der glatten oder auch der Streifenmuskulatur) meine an einem un-
ter bewussten Bild haftende psychische Verkrampfung begleitet, und umgekehrt.

Kehren wir nun zu dem Gedanken zurück, dass die Gefühlserregbarkeit im allgemeinen einen ener-
getischen Kurzschluss zwischen dem intellektuellen und dem instinktiven Pol erkennen lässt, und
fragen wir uns, wie sich von diesem Gesichtspunkt aus die dynamische Gefühlserregung (von nun
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an werden wir kurz „Gefühlserregung“ sagen) von dem statischen Erregungszustand (oder kurz „Er-
regungszustand“) unterscheidet. Zu einem Vergleich aus der Elektrizität greifend, könnte man sa-
gen, dass die Gefühlserregung einen, die beiden Pole verbindenden, Funken darstellt. Dieser Funke
kann zwar eine gewisse Dauer aufweisen, doch ist er keineswegs statisch. Der Kontakt, den er zwi-
schen den zwei voneinander getrennten Polen herstellt, be ndet sich gewissermaßen in ständigem
Umbruch, besitzt also sozusagen einen mobilen Charakter. Der Funke bewegt sich nicht nur von
einem Pol zum andern, sondern auch nach den Seiten. Hingegen kann der Erregungszustand einem
direkten Energieübergang verglichen werden, der dann zwischen den beiden Polen entsteht, wenn
diese sich auf einer mehr oder weniger ausgedehnten Fläche unmittelbar berühren.

Dieser Vergleich macht schon einen der Faktoren sichtbar, die dem Erregungszustand eine größere
Gefährlichkeit verleihen als der Gefühlserregung. Diese, da in Bewegung, ist sichtbar, ist bewusst;
der Träger wird durch seine innere Sensibilität von ihr in Kenntnis gesetzt. Daher treten sofort ver-
schiedene Abwehrmechanismen in Tätigkeit, denen es vielleicht gelingt, den energieverzehrenden
Kurzschluss abzuschwächen und schließlich zu unterbrechen. Der Erregungszustand hingegen ap-
pelliert nicht so rasch an die Abwehrmechanismen, sondern erst verspätet, wenn seine schädlichen
Folgen bereits in Erscheinung getreten sind. Die Abwehrprozesse, die dann notwendig werden, ha-
ben einen sehr unangenehmen Aspekt: sie sind „neurotisch“ (in weitesten Sinne des Wortes), d.h.
sie schwächen den Kontakt zwischen den Polen durch eine gewisse Zerstörung der Pole selbst. Die
Gefühlserregung ist auch einer sichtbaren Blutung vergleichbar, die den Kranken beunruhigt und zu
Heilmaßnahmen anregt; dagegen ähnelt der Erregungszustand einer fortgesetzten, inneren Blutung,
die den Kranken schwächt. Dieser wird sich zwar eines Tages auch um seine Heilung kümmern,
dann aber wird das Heilverfahren viel schwerer wirksam werden.

Diese etwas groben Vergleiche lassen jedoch die wichtigsten Erwägungen außer Acht. Wir haben
nämlich bei diesen Vergleichen angenommen, dass der Energieverbrauch im elektrischen Funken
dem Energieabbau beim direkten Kontakt der beiden Pole gleichkäme. In Wirklichkeit verhält es
sich jedoch anders, und es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen beiden Erscheinungen.
Bei der Gefühlserregung sind beide Pole voneinander entfernt, und der überspringende Funke ist
genau genommen kein Kurzschluss. In diesem Funken verbrennt die Energie; sie wird „frei“ und
produziert etwas Neues. Beim Erregungszustand hingegen berühren sich beide Pole, und es kommt
zu einem echten Kurzschluss: die Energie ießt unmittelbar von einem Pol zum andern über. Die
Gesamtenergie des Subjektes - eine Energie, die mit dem Spannungsunterschied zwischen den bei-
den Polen zusammenhängt - wird abgebaut, da der Spannungsunterschied nachlässt, und sie wird
abgebaut, ohne dass etwas anderes dafür aufgebaut würde. Die Gefühlserregung ist ein Teil der Er-
scheinungswelt, des Lebens, das dem „Sein“ Gestalt verleiht, und daher kann sie auch „normal“ ge-
nannt werden. Der Erregungszustand hingegen hat kein „Leben“, er ist zerstörerisch ohne Gegen-
gewichte zu besitzen. Die Energie, die dabei verbraucht wird, kann nicht zur inneren Befreiung
verwendet werden. Da er nicht normalisierend wirken kann, sollte er als „anormal“ bezeichnet wer-
den.

Ein weiterer Vergleich wird helfen, dies alles noch verständlicher zu machen. Stellen wir uns ein
waagrecht liegendes, sich drehendes Rad vor, dessen Rotationszentrum nicht mit dem geometri-
schen Zentrum zusammenfällt; seine Rotationen sind also „exzentrisch“. Dieses Rad wird von zwei
verschiedenartigen Kräften bewegt: einmal von einer Umdrehungs- oder dynamischen Kraft, zum
andern von einer Zentrifugalkraft, die es von seinem Rotationszentrum zu entfernen strebt. Diese
nicht in Erscheinung tretende Kraft kann „statisch“ genannt werden. Die Rotationsbewegung, die in
unserem Beispiel der Gefühlserregung gleichzusetzen ist, ist verwendbar: wenn ich an dem Rad ei-
nen Riemen anbringe, wird es imstande sein, Maschinen anzutreiben. Die statische Kraft hingegen,
die vergeblich versucht, das Rad aus seinem Rotationszentrum zu schleudern, ist nicht nutzbar. Sie
ist ein Abbild der bewegungslosen Verkrampfung des Erregungszustandes.

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Der Mensch, der absolute Verwirklichung im Satori erlangt, wäre etwa einem Rad vergleichbar,
dessen Rotationszentrum mit dem geometrischen Zentrum zusammenfällt; solch ein Mensch hätte
nur Gefühlserregungen, jedoch keinerlei Erregungszustand mehr. Der Mensch, der Satori noch nicht
erlangte, ist unserm aus dem geometrischen Zentrum gerückten Rad vergleichbar. Das Bild des aus
seinem Mittelpunkt gerückten Rades ermöglicht es uns, einige wichtige Erscheinungsformen unse-
res Gefühlslebens aufzuzeigen. Es vollzieht sich in uns alles, als ob zwischen dem Rotations- und
dem geometrischen Zentrum des Rades ein elastisches Band sich befände, das beide Zentren zu-
sammenzubringen sucht. Wenn unser Rad sich langsam dreht, d. h. wenn wir wenig erregt sind, ist
die Zentrifugalkraft schwach, und das „Gummiband“ kann das Rotationszentrum nahe beim geome-
trischen Mittelpunkt halten. Doch wenn heftige Gefühlserregungen auftreten, so beginnt das Rad,
sich schnell zu drehen. Die Zentrifugalkraft nimmt zu, und trotz des „Gummibandes“ entfernt sich
das Rotationszentrum von dem geometrischen Mittelpunkt. Dies zeigt uns, wie Gefühlserregungen
das Auftreten eines Erregungszustandes bedingen. Wenn ich durch heftige Gefühlserregungen hin-
durchgegangen bin, fühle ich mich anschließend „ganz außer mir“, wie „aus der Bahn geworfen“,
innerlich „ohne Boden unter den Füßen“. Eine gewisse Zeit ist notwendig, ehe das „Gummiband“
wieder seine Funktion ausübt und die beiden Zentren einander nähert.

Ohne Satori fallen die beiden Zentren niemals zusammen. Bei einem Menschen, der innerlich nicht
in der richtigen Weise an sich arbeitet, fallen die Gefühlserregungen nie ganz weg, wenn sie auch
zuweilen wenig intensiv sein mögen. Manchmal dreht sich das Rad langsam, aber es dreht sich im-
mer, und es ist also ständig eine gewisse Zentrifugalkraft da, die das elastische Band daran hindert,
die beiden Zentren zu vereinen. Das Satori entspricht dem Augenblick, in dem das Rad vollkommen
aufhört, sich zu drehen. Es ist ein „Augenblick“ ohne Dauer (sonst müsste der Mensch sterben),
doch genügt dieser Augenblick, um die beiden Zentren zur Deckung zu bringen. Sobald sie sich
einmal -- und sei es nur für einen Augenblick - gedeckt haben, werden sie sich nie mehr voneinan-
der entfernen können. So schnell sich das Rad nun auch drehen mag, sein Rotieren kann nicht mehr
das Auftreten einer Zentrifugalkraft zur Folge haben. Nach dem Augenblick des Satori, einem Au-
genblick ohne Gefühlserregung noch Erregungszustand, wird es möglicherweise von neuem Ge-
fühlsregungen geben, doch nie mehr einen Erregungszustand. Das „Gummiband“ unseres Bildes
entspricht der tiefen Sehnsucht des Menschen nach Satori. Jedoch wird diese Sehnsucht nicht unbe-
dingt als Sehnsucht nach Satori empfunden, da ja der Mensch im allgemeinen keinerlei Vorstellung
von diesem Erlebnis haben kann (sie wird vielmehr empfunden als Sehnsucht nach irgendwelchen
vergänglichen Dingen oder nach einem falschen Bild, das wir uns vom Satori machen), doch ist sie
deswegen nicht weniger Sehnsucht nach Satori.

Je entfernter ein Mensch bei seinen Erregungszuständen vom Satori ist, desto stärker ist das
„Gummiband“ angespannt, d. h. desto intensiver fühlt er die Sehnsucht nach Erfüllung (worin auch
immer er sie sehen mag). Je mehr ein Mensch sich Satori nähert, desto mehr entspannt sich das
„Gummiband“, desto weniger Sehnsucht nach Erfüllung spürt er. Unmittelbar vor Satori, in den
vorausgehenden Augenblicken, verschwindet jede Sehnsucht nach Erfüllung. Wer Satori erlangt,
erlebt es nicht als Erfüllung, da es ja keine Sehnsucht mehr gibt. Mit Hui-Neng wird er sagen: „Es
gibt weder Erfüllung noch Befreiung“, da es Befreiung nur in den Augen dessen geben kann, der
noch nicht befreit ist. In unserm Bild ist Befreiung die vollkommene Entspannung des Gummiban-
des, doch beim Satori verschwindet dieses Band überhaupt, und von seiner Entspannung kann daher
gar nicht mehr gesprochen werden.

Der Mensch, der Satori nicht kennt, kann sich unter einem Menschen, der Satori erlangte, nichts
Bestimmtes vorstellen. Er wird nun annehmen, dass die nach Satori erlebten Gefühlserregungen
völlig verschieden sein werden von den zuvor erlebten, da sie nun nicht mehr jenen Erregungszu-
stand, jene innere Verkrampfung auslösen, die recht eigentlich unsere Angst erzeugt hatte. Dies
führt uns eher zu neuem Verständnis der Unterscheidung „Gefühlserregung- Erregungszustand“, bei
deren Untersuchung wir gerade sind. Gefühlserregungen können positiver oder negativer Art sein,
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Freuden oder Leiden, ein Erregungszustand jedoch ist immer negativer Art. Um bei unserm Bilde
zu bleiben: das Rad kann sich in der einen oder anderen Richtung drehen, doch bleibt in allen Fähen
die Zentrifugalkraft, was sie ist. Eine Untersuchung unseres Gefühlslebens zeigt folgendes: Wenn
mir ein überaus freudiges Ereignis zustößt und in mir heftige Erregungen der Freude auslöst, so
vollzieht sich die gleiche Verlagerung des Gleichgewichtes, das gleiche Aus-der-Bahn-Geworfen
werden wie bei heftigen Erregungen negativer Art. Angst taucht hinter den freudigen Bildern auf,
eine Angst, die psychologisch entweder an die Befürchtung gebunden ist, das mir zuteil gewordene
Erlebnis könne wieder verlorengehen, oder an die nicht erfüllbare Forderung, dass dieses Erlebnis
sich endlos steigern müsse bis zu jener absoluten Erfüllung meiner selbst, die ich tief in meinem
Innern stets erwarte.

Der Erregungszustand bzw. die Erregbarkeit der Tiefenschicht (im Gegensatz zu der sich in der
Ober ächenschicht meines Bewusstseins abspielenden Erregbarkeit, aus der die Gefühlserregungen
stammen), betrifft jene tiefe oder unter bewusste psychische Ebene, in der sich vor meinem inneren
„Gericht“ der „Prozess“ meines Ichs abspielt bezüglich der Situationen, in die ich mich der Außen-
welt gegenüber gestellt sehe. Der Erregungszustand ist immer mit einem Zweifel an meinem „Sein“
verbunden; jener Zweifel, jenes Dilemma „Sein oder Nicht-sein“ droht mir unaufhörlich, und der
innere Prozess geht weiter in der nie realisierbaren Hoffnung auf eine endgültige zeitliche Absoluti-
on.

Bestimmte „euphorische“ Menschen scheinen ständig von einem positiven Erregungszustand er-
fasst zu sein, eine Tatsache, die mit dem, was wir gerade sagten, im Widerspruch zu stehen scheint.
Das Studium des sogenannten „Glücks“ des Durchschnittsmenschen ist recht interessant, da es uns
helfen kann, den “Erregungszustand“ besser zu verstehen. Wenn ich mich regelmäßig beobachte,
stelle ich fest, dass ich manchmal euphorisch bin, und dass dieser Zustand sich in einem Augenblick
einstellt, in dem meine Zweifel an mir selbst vorübergehend eingeschlafen sind. Eine halbwegs po-
sitive und einigermaßen stabil erscheinende äußere Situation, verbunden mit einem guten Gesamt-
zustand, bringt meinen inneren Prozess zum zeitweisen Ruhen. Richter und Zeugen schlafen man-
gels „gerichtlicher Vorfälle“ ein. Die Unter-Bewusste psychische Ebene ist fühllos geworden, und
ich be nde mich daher in einem angenehmen „Zustand“. Doch dieser angenehme Zustand ent-
spricht nicht etwa dem positiven Charakter des wirkenden Erregungszustandes, sondern vielmehr
seiner augenblicklichen Nicht-Aktivität. Er bedeutet nicht einen letzten Endes günstigen Ausgang
meines inneren Prozesses, sondern nur eine vorübergehende Pause, nicht das Ende meiner falschen
Überzeugung, dass mir etwas fehle, sondern nur ihre vorübergehende Nicht-Aktivität. Wie ist das
möglich? Wie kann der Prozess des Ich, das doch ständig da ist, in dieser Weise unterbrochen wer-
den?

Eine Analyse des im Allgemeinen euphorischen Menschen wird uns darüber unterrichten. Bei ei-
nem solchen Menschen ist der Hunger nach dem Absoluten schwach, ja oft gleich Null. Hat sein
Verlangen nach Ich-Bejahung sich eine gewisse Befriedigung gesichert, ist es gestillt und verlangt
nichts mehr. Beruhigungsmechanismen haben sich in ihm entwickelt: Er vermag sich seine Situati-
on gegenüber der Außenwelt in einer Weise vor Augen zu führen, die ihn nur die positiven und
nicht die negativen Seiten erkennen lässt. An die Stelle des inneren Prozesses in der Tiefenschicht
ist an die Ober ächenschicht des Bewusstseins eine monotone Selbstverteidigung getreten, und der
Prozess ruht. Interessant ist es zu beobachten, dass ein solcher Mensch besonders wenig „emp nd-
lich“ ist, dass man ihn, ohne seine Eigenliebe zu verletzen, scharf kritisieren kann. Diese Unemp-
ndlichkeit der Eigenliebe erklärt sich eben aus dem Schlummer des Prozesses, jener Mensch
scheint gewissermaßen ohne Ego zu sein. Das Ego existiert zwar, jedoch behalten die in diesem
Menschen aufgebauten Kompensationen infolge seines schwachen Verlangens nach dem Absoluten
ihre volle Wirksamkeit, sobald von ihnen Gebrauch gemacht wird. Der Zweifel an sich selbst um-
gibt sich mit einer Schutzmauer, der die Zeit nichts anhaben kann; ein solcher Mensch wird der Hal-
tung (d. h. der Kompensationen), die er vor der Außenwelt annimmt, nicht müde. Doch das schein-
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bar Positive seiner Erregungszustände ist nur der Ausdruck ihrer Ausschaltung, ihrer Unterdrü-
ckung, denn der Erregungszustand ist ja seiner Natur nach negativ. Jener Mensch erlebt viele Freu-
den, doch ist der Hintergrund, auf dem sie sich abspielen, ein Schlummern, ein Abwesend sein. Die-
ser Hintergrund, der die Bedingungen der Freuden schafft, ist keine tiefe, echte Gelöstheit (oder
Entspannung des Erregungszustandes), sondern bloße Unbewusstheit. Da bei ihm die Verkrampfung
der Tiefenschicht nicht wirksam wird, ist dieser Mensch sich ihrer einfach nicht bewusst (dies ist
dem „Mut“ des Menschen, der die Gefahr nicht sieht, vergleichbar). Diese Dinge sind möglich
durch die angeborene Schwäche des Bedürfnisses nach dem Absoluten, wodurch die Kompensatio-
nen ausreichend und unabnützbar werden.

Bei dem Menschen hingegen, bei dem das Verlangen nach dem Absoluten intensiv ist, sind Kom-
pensationen selten von großer Wirksamkeit (dieser Mensch ist zu anspruchsvoll, sein Hunger nach
Ich-Bejahung stellt zu große Forderungen in Quantität und Qualität), und wenn sie sich dennoch
aufbauen, so sind sie kaum von großem Nutzen. Daher ruht der „Prozess“ selten oder nie. Je mehr
das Leben eines solchen Menschen fortschreitet, desto mehr verschwinden unaufhaltsam alle Kom-
pensationen; sein Prozess kennt keinen Stillstand. Mehr und mehr lernt er, alles, was ihm begegnet,
alle Situationen gegenüber dem Nicht-Ich, unter dem Gesichtswinkel des Zweifels an sich selbst zu
sehen. In seinem nie schlummernden Unter-Bewusstsein lebt er unaufhörlich in der Erwartung ir-
gendeines illusorischen Urteilsspruches, von dem er seine endgültige Freisprechung der Verdam-
mung abhängig glaubt. Seine Eigenliebe ist im einen oder andern Sinne unaufhörlich wach, er ist
„emp ndlich“, und diese ständige Gereiztheit entspricht der ununterbrochenen Aktivität des Unter-
Bewussten Erregungszustandes, der sogenannten „Nervosität“. Während der Mensch, den es wenig
nach dem Absoluten hungert, innerlich ruhig ist, ist ein Mensch, der großes Verlangen danach trägt,
übererregbar, überspannt. Alles wird bei ihm auf sein Ego bezogen, alles, was er wahrnimmt, be-
trachtet er vom einzigen Blickpunkt seiner Eigenliebe aus.

Wir können diesen Abschnitt mit der Behauptung abschließen, dass ein Erregungszustand nur nega-
tiver Art, nur angstvolle Verkrampfung sein kann, und dass die Aktivität des Unter-Bewussten, in
dem dieser Erregungszustand verankert ist, in Beziehung steht zu dem Verlangen nach dem Absolu-
ten und folglich auch zu dem Verlangen nach nichtzeitlicher Verwirklichung. Angst und Bedürfnis
nach Satori stehen bei jedem Menschen in enger Verbindung miteinander.

Wenn der Mensch, der Satori erlangte, überhaupt noch Gefühlserregungen kennt, dann erlebt er sie
nicht mehr vor dem Hintergrund einer ständigen Beklemmung. Diese Veränderung des Hintergrun-
des ist eine so einschneidende, so grundlegende Umformung unseres gesamten Gefühlslebens, dass
wir uns von den Gefühlserregungen des Menschen, der Satori erlangte, keinerlei richtige Vorstel-
lung machen können.

Die innere Arbeit im Hinblick auf Satori muss jenen völlig emotionsfreien Augenblick zum Ziele
haben, dessen Notwendigkeit wir eingesehen haben. Jener innere Einsatz, der unsere Gefühlserreg-
barkeit dämpfen soll, kann nicht richtig verstanden werden, solange der Unterschied zwischen Ge-
fühlserregung und Erregungszustand nicht klar verstanden ist. Nur der Erregungszustand ist anor-
mal und wirkt Satori entgegen, die Gefühlserregung hingegen ist durchaus normal und steht zu Sa-
tori nicht im Gegensatz. Es ist jedoch viel einfacher, Gefühlserregungen wahrzunehmen als das
Vorhandensein eines Erregungszustandes. Der Mensch neigt daher dazu anzunehmen, dass es gut
sei, die Gefühlserregungen zu zügeln. Doch ist diese Mühe vergeblich, da sie in eine falsche Rich-
tung geht. Die richtige Bemühung geht dahin, den Erregungszustand abzuschwächen und wird nie-
mals die Aufhebung der Anspannung unseres psychosomatischen Gesamtorganismus anstreben, als
die wir die Gefühlserregungen erkannt haben, sondern die Lösung der Verkrampfung dieses Orga-
nismus'. Mit dem Gesamtorganismus verhält es sich genauso wie mit seiner rein körperlichen Seite:
der Klaviervirtuose etwa hat mit der Zeit gelernt, nicht die Anspannung der Muskeln als solche zu

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unterdrücken, sondern nur deren Verkrampfung, die am Beginn seiner Lehrzeit der störende Unter-
grund aller seiner Muskelanspannungen war.

Wie soll man aber die Lösung des Erregungszustandes, jener angstvollen Verkrampfung, erreichen,
die den Untergrund unseres gesamten Gefühlslebens ausmacht? Dies auf direktem Wege anzustre-
ben, wäre vergeblich. Vielleicht könnte es jemand für nützlich halten, willentliche Entspannungs-
versuche der Muskeln durchzuführen, in der Hoffnung, dass diese Teilentspannung automatisch
eine Gesamtentspannung nach sich zieht. Derartige Versuche, auf ein einzelnes Objekt gerichtet,
sind in Wirklichkeit kaum imstande, auf unser Gesamtwesen einzuwirken. Mein Bemühen, ein Teil
von mir zu entspannen, wird daher notwendigerweise von einer zentralen Verkrampfung begleitet.
Man könnte versuchen, die Gefühlserregungen, da sie den Erregungszustand auslösen, zu bekämp-
fen, doch hieße das unserem Leben selbst Schaden zuzufügen. Das Problem besteht darin, den Er-
regungszustand zur Entspannung zu bringen, ohne dabei an die Gefühlserregungen oder überhaupt
an etwas Einzelnes zu rühren.

Ohne vom Gesetz der Drei Gebrauch zu machen, können wir keinerlei Umformung unseres Ge-
samtorganismus erreichen. Daher ist auch in dieser Hinsicht jeder Versuch unwirksam, der unmit-
telbar etwas in uns zu reduzieren strebt. Wir müssen im Gegenteil auch das, was wir beklagenswert
an uns nden, als gegeben anerkennen und dann hierzu ein ergänzendes Element einsetzen. Die
Au ösung des unerwünschten Elementes folgt sodann dank des Inkrafttretens des versöhnenden
Prinzips. Es wird wieder ins Ganze zurückintegriert und verschwindet, indem es seine vermeintliche
Selbständigkeit verliert.

Sehen wir nun, wie dieses Gesetz sich hier anwenden lässt. Wiewohl die Verkrampfung der Tiefen-
schicht meinen Gesamtorganismus als Ganzes in Mitleidenschaft zieht, ist sie nicht total, nicht ab-
solut. Sie kann zwar mehr oder weniger intensiv sein, ist jedoch immer partiell, d. h., dass jeweils
nur ein Teil der überhaupt möglichen Verkrampfung zur Auswirkung kommt, während der Rest
nicht in Erscheinung tritt. Die auf die Tiefenschichten gelenkte Aufmerksamkeit richtet sich natürli-
cherweise immer auf den manifest gewordenen Teil meiner möglichen Verkrampfung. Der Gleich-
gewichtsverlust liegt gerade in dieser zwar ganz natürlichen, aber doch „parteiischen“ Haltung, de-
rentwegen ich nur auf den sichtbar gewordenen Teil meiner Verkrampfung achte. Um das nötige
Gleichgewicht wiederherzustellen, muss ich meine Aufmerksamkeit gleichzeitig ebenso auf den
nicht in Erscheinung getretenen wie auf den schon offenbar gewordenen Teil meiner Verkrampfung
richten. Mit anderen Worten: Während meine Aufmerksamkeit auf irgendein besonderes Interesse
gerichtet ist, darf ich gleichzeitig meine Gleichgültigkeit allen übrigen Dingen gegenüber nicht ver-
lieren.

Auch diesmal wieder setzt die uns so vertraute Verlockung zu direktem Handeln ein; ich bin ver-
sucht, eine willentliche Anstrengung zu machen, durch die ich meine Gleichgültigkeit gegenüber all
dem, was mich nicht augenblicklich beschäftigt, erfassen könnte. Doch ist das unmöglich, da ja die
Indifferenz, die es anzustreben gilt, nicht sichtbar in Erscheinung tritt. Sobald ich bewusst daran
denken will, dass ich gleichgültig bin, nehme ich die manifest gewordene Idee „Indifferenz“ wahr
und nicht diese Indifferenz selbst, die ja nicht manifest geworden ist. Alles, was nicht in Erschei-
nung getreten ist, entzieht sich natürlicher- weise meinem dualistischen Bewusstsein, das nur ein
wahrnehmendes Subjekt und ein wahrgenommenes Objekt zulässt, die beide durchaus greifbar sind.

Nun, da das Lockmittel einer letzten Versuchung zum direkten Handeln zurückgewiesen ist, stoße
ich wieder auf das Grundgesetz der zur nichtzeitlichen Verwirklichung führenden Entwicklung: Nur
das aus dem reinen Intellekt hervorgehende Verstehen ist wirksam. Aus einem erzwungenen Vorge-
hen, so bestechend es auch erscheinen mag, kann keine wirksame Veränderung meiner inneren Vor-
gänge entstehen.

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Jede wirksame Veränderung im Hinblick auf die nichtzeitliche Verwirklichung muss aus unserem
Absoluten Prinzip hervorgehen. Unsere intellektuelle Intuition hat hierfür die Voraussetzungen ge-
schaffen, indem sie das sonst undurchdringliche Dickicht unserer Unwissenheit gelichtet hat. Jede
erkenntnismäßige „Offenbarung“, die uns bei der Frage unserer absoluten Verwirklichung zuteil-
wird, bedeutet eine Lichtung im Dickicht der Unwissenheit. Über diese Lichtung geht dann, ohne
dass wir uns darum zu bemühen hätten, unser Verwandlungsprozess vor sich. In dem uns vorliegen-
den Falle wäre die Offenbarung, die uns zuteilwerden müsste, folgende: Wir täuschen uns grundle-
gend über die Erregbarkeit unserer Tiefenschicht. Wir glauben an die Existenz eines Erregungszu-
standes, einer Verkrampfung. Wir glauben also an die Erregbarkeit unserer Tiefenschicht nur, sofern
sie durch eine Verkrampfung in Erscheinung tritt, sofern sie „lebt“. Alles Übrige erkennen wir nicht
an, z. B. eine Erregbarkeit, insoweit sie nicht in Erscheinung tritt, nicht „lebt“. Und doch ist unsere
Erregbarkeit, wenn sie ins Leben tritt, eine begrenzte, während sie, sofern sie kein Leben besitzt,
unbegrenzt ist. Das einzige, was in meinem Gefühlsleben in jedem Augenblick Wirklichkeit besitzt,
das einzige, worum es sich also in Wahrheit für mich handelt, ist nicht mein Erregungszustand,
meine Verkrampfung, mein Partei ergreifen für etwas, sondern hinter all diesen Erscheinungen mei-
ne vollkommene Gleichgültigkeit, mein Nicht-Verkrampft sein, mein Nicht-Partei ergreifen. Was
für mich als sensibles Wesen von Gewicht ist, ist nicht, was ich jeweils fühle, sondern die unendli-
che Fülle dessen, was ich jeweils nicht fühle. Kurz gesagt: der jeweils in Erscheinung tretende Er-
regungszustand ist in Wirklichkeit ohne jedes Interesse für mich selbst.

Diese klare geistige Erkenntnis ist, einmal erreicht, eine Offenbarung, die die Gesamtschau meines
Innenlebens auf den Kopf stellt. Diese „Schau“ verhindert zwar das gefühlsmäßige Partei ergreifen
für meine in Erscheinung tretenden Erregungen nicht unmittelbar, sie schafft vielmehr in meinem
Innern eine ausgleichende intellektuelle Gewissheit, welche die nicht in Erscheinung tretenden Er-
regungen, die entspannte Ruhe bejaht, die nicht Gestalt gewinnt. Dank jener neuen intellektuellen
Gewissheit entwickelt sich bei mir ein Aufmerken auf die grenzenlose Uninteressiertheit, die hinter
den begrenzten Interessen in meinem Innern wohnt. Dieses Aufmerken spielt sich im Unbewussten
ab, es erzeugt keinerlei dualistische „Wahrnehmung“, kommt jedoch deswegen nicht weniger zur
Auswirkung (je mehr ich „verstehe“). Dieses unsichtbare Spiel macht sich im Sichtbaren auf die
Dauer durch eine fortschreitende Abnahme der Intensität meiner Erregungszustände bemerkbar. So
ist es mir möglich, mich auf die Suche zu machen nach jenem erregungslosen Zustand, der eine
Voraussetzung für die Auslösung des Satori bildet.

Das richtige Funktionieren unserer auf die Tiefenschichten gelenkten Aufmerksamkeit macht sich
auf die Dauer, d. h. in unserer Gesamtentwicklung, durch eine Abnahme der Erregungszustände
bemerkbar. Doch bringt diese Entwicklung Übergangsperioden mit sich, während derer die Ver-
krampfung sich steigert. Den Grund hierfür werden wir im Folgenden sehen.

Bei dem Menschen, welcher den Unterschied zwischen Erregung und Erregungszustand noch nicht
begriffen hat, arbeitet die innere Aufmerksamkeit folgendermaßen: die Aufmerksamkeit der Ober-
ächenschicht, der sogenannten „ bewussten“ Schicht, ist an die Erregungen gebunden (oder genau-
er: an die Bilder des Erregungsablaufs). Die Aufmerksamkeit der Tiefenschicht, der sogenannten
„unter-bewussten“ Schicht, ist an den Erregungszustand gebunden. Der gewöhnliche Durch-
schnittsmensch ist sich seines Erregungszustandes nicht bewusst (daher kommt es auch, dass die
klassische Psychologie diesen Zustand zu ignorieren p egt). Er hat nur ein „Unter-Bewusstsein“
von ihm, und nur durch induktive Überlegungen kommt er manchmal zu dem Schluss: „Ich bin heu-
te sehr nervös“. Er ist sich seiner Nervosität nicht unmittelbar bewusst, sondern nur der Bilder, die
sich auf dem Hintergrund dieser Nervosität herauskristallisieren.

Das Verstehen der Unterscheidung „Gefühlserregung - Erregungszustand“ bringt je nach dem Grad,
den es erreicht, eine Vertiefung der durch die Aufmerksamkeit geleisteten Arbeit hervor.

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Die Aufmerksamkeit der Ober ächenschicht, die in der bewussten Schicht des Vorstellungsablaufs
spielte, wird nun die Tendenz bekommen, in der bisher Unter-Bewussten Schicht des Erregungszu-
standes zu wirken (d. h. dass solch ein Mensch dank seines Verständnisses fähig wird, die Aufmerk-
samkeit auf den Erregungszustand zu lenken), während die Aufmerksamkeit der Tiefenschicht die
Tendenz bekommt, sich im Unbewussten auszuwirken, diesem unbegrenzten unveränderlichen Be-
reich, aus dem sich die verschiedenen Erscheinungsformen des Erregungszustandes herauskristalli-
sieren.

Wenn das Verständnis gleich zu Anfang ein vollkommenes wäre, so würde die Verlagerung der in-
neren Aufmerksamkeit unmittelbar, ganz und für immer verwirklicht werden können, jene Auf-
merksamkeit würde ins Unbewusste (oder Selbst, oder „unser ureigenes Wesen“, wie es die Zenleh-
re nennt) zurückintegriert, und Satori könnte verwirklicht werden. Aber das Verständnis ist zu An-
fang nicht vollkommen. Zwischen dem ersten Augenblick, wo es theoretisch konzipiert wird und
dem Augenblick, wo es in Verbindung mit der Erfahrung die ganze dritte Dimension erobert hat, die
ihm anfangs noch fehlte, muss eine mehr oder weniger lange Zeit der Reifung liegen. Das theoreti-
sche Verständnis fegt nicht mit einem Schlage alle trügerischen „Überzeugungen“ weg, die vorher
da waren, und die durch wirksame Gefühls- und Verhaltensautomatismen gestützt werden. Wahre
Erkenntnis und falsche „Überzeugungen“ werden mehr oder weniger lang nebeneinander bestehen.
Die Reifung des Verständnisses liegt in einer fortschreitenden Unterhöhlung der Irrtümer, die
schließlich die Wahrheit herbeiführt. Das gute Korn erstickt nach und nach die Dornen.

Im Verlauf dieser Reifung zeigt sich also ein Antagonismus zwischen dem Vergehen, bzw. der dar-
aus erwachsenden Gewissheit und den Gefühlsautomatismen, die die Täuschung aufrechterhalten.
Dieses Verstehen führt den Menschen zur Erkenntnis seines in der Tiefe verankerten Erregungszu-
standes. Doch richten jene Automatismen das Hindernis der Angst auf zwischen dem bewussten
Blick und dem Erregungszustand, welcher der Sitz der dauernden angstvollen Verkrampfung ist. Je
besser der Erregungszustand erfasst wird, desto mehr wird er von dem Gift der Angst verlieren.
Doch solange die Automatismen mich noch hindern, zu sehen, während mein Verstehen schon den
Blick auf den Erregungszustand richtet, d. h. solange das intuitive Erfassen des Erregungszustands
erfolglos angestrebt wird, solange nimmt der Erregungszustand noch zu. Auf dem Wege zur Ent-
spannung tritt also eine kritische Verschlimmerung des Erregungszustandes ein (die Drachen vor
der Schatzhöhle). Darüber sollte der Mensch unterrichtet sein, um sich nicht erschrecken oder ent-
mutigen zu lassen. Wenn er Bescheid weiß, wird er ununterbrochen am Fortschreiten seines Ver-
ständnisses weiterarbeiten, selbst wenn seine Lage sich zu verschlimmern scheint. Wenn das Be-
wusstsein dann endlich in die zuvor Unter-Bewusste Schicht des Erregungszustandes mutig vorge-
drungen ist, dann wird auch ein Eindringen der inneren Aufmerksamkeit ins Unbewusste statt n-
den, in den Bereich der absoluten Bejahung, die jede Angst zerstreut.

Wir haben daran erinnert, dass nur das aus dem reinen Intellekt erwachsende Verstehen wirksam ist,
und dass kein erzwungenes Vorgehen unsere inneren Erscheinungen in einer für das Satori fruchtba-
ren Richtung modi zieren kann. Es ist wesentlich, auf diesem Punkte besonders zu verharren und
alle Auffassungen zurückzuweisen, nach denen wir persönlich unsere metaphysische Verwandlung
glauben bewerkstelligen zu können. Indem wir dies als gegeben voraussetzen, zeigen wir nun, wie
zu einem bestimmten Zeitpunkt in der befreienden inneren Entwicklung eine willentliche innere
Geste dazukommen muss, die helfen soll, den Erregungszustand wahrzunehmen.

Wenn mein Verständnis einen gewissen Grad erreicht und meine hauptsächlichen Kompensationen
im Wesentlichen überwunden hat, nimmt die innere Verkrampfung vorläu g zu. Mein Verständnis
wird nun, wie ich schon sagte, bemüht sein, den Funktionsablauf der Aufmerksamkeit in die Tiefen-
schichten zu verlagern, d. h. mir wird die Nützlichkeit eines inneren Einsatzes deutlich, der nicht
naturgegeben und nicht automatisch ist und der auf die bewusste Wahrnehmung des bisher Unter-
Bewussten Zustandes hinzielt (er zeigt mir, wie nützlich es ist, vor der Angst nicht zu iehen, wie
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ich es bisher tat, sondern ihr mit „forschendem Auge“ standzuhalten). Der Entschluss zu dieser in-
neren Geste entspringt spontan aus dem Verständnis und nicht etwa aus einer gefühlsmäßigen, göt-
zendienerischen Einstellung („P icht“ zum “Heil“, „geistige“ Ambition), die sich mir aufzwingen
möchte, indem sie andere Tendenzen verdrängen würde. Der Entschluss, diese Geste zu vollziehen,
entsteht spontan, sobald ich mit aller Deutlichkeit seine Nützlichkeit erkenne. Erst dann, nach die-
sem anhaltenden Bemühen um das notwendige Verständnis bin ich imstande, jene Geste auszufüh-
ren, deren Nützlichkeit mir deutlich geworden ist. Vor jenem Augenblick ist jeder Versuch eines
Vollzugs verfrüht und daher vergeblich. Wenn wir nun annehmen können, dass das erforderliche
geistige Verständnis erreicht ist und der Entschluss zu der zweckmäßigen Geste einzig und allein
einer vollkommenen Gewissheit entspringt, wenn wir also annehmen können, dass wir endlich im-
stande seien, diesen Einsatz zu leisten, so werden wir gewahr werden, dass die Ausführung nicht
spontan aus dem Verständnis allein hervorgehen kann. Der Entschluss zu jenem Einsatz wird in der
Sphäre der reinen geistigen Intuition gefasst, während er geleistet wird im Bereich des konkreten
inneren Lebens, in dem alle automatischen Mechanismen ablaufen. Dieser nicht naturgegebene Ein-
satz wird also im Bereich der natürlichen Mechanismen vollzogen und wirkt so allem Automati-
schen entgegen, das meine Aufmerksamkeit unablässig auf die Bilder zu lenken bestrebt ist.

Dieser so wesentliche Punkt musste scharf herausgearbeitet werden, und gleichzeitig mussten wir
daran erinnern, dass jede innere Arbeit, zu der wir uns durch Beein ussung unseres irrationalen Ge-
fühlslebens entschlossen haben, vom Satori her gesehen zwecklos sein muss. Nun, da wir auf die
hier auftretenden Gefahren deutlich hingewiesen haben, können wir von der praktischen inneren
Arbeit sprechen, soweit sie für unsere Studie in Frage kommt.

Diese Bemühung besteht darin, dass wir, so oft wir können, eine innere Geste ausführen, die auf die
Wahrnehmung des „Erregungszustandes“ hinzielt. Doch werden wir gleich erkennen, wie viel Para-
doxes in dieser Wahrnehmung enthalten ist. Der Erregungszustand macht mir, macht meinen psy-
chosomatischen Organismus als Ganzem zu schaffen. Er kann also nicht Gegenstand einer dualisti-
schen Wahrnehmung sein, die ein Objekt und ein Subjekt voraussetzt. Scheinbar ist er objektiv, so-
lange ich nichts dazu tue, ihn wahrzunehmen, doch je mehr ich dies tue, desto mehr zeigt er die
Tendenz, sich aufzulösen. Die befreiende innere Geste hat die Wahrnehmung des Erregungszustan-
des zum Ziel, kann diese aber nicht unmittelbar erreichen. Sie führt über den Erregungszustand, der
das Ich überdeckte und verborgen hielt, während er doch gleichzeitig die Richtung zu ihm wies, zu
einer bestimmten Wahrnehmung meines Gesamtorganismus'. Diese Geste führt also zu einem Au-
genblick echter innerer Bewusstheit, die über die teilweise Auslöschung des Erregungszustandes
erreicht wird (Selbstschau). Der Durchschnittsmensch glaubt, dass er seinen Erregungszustand ohne
jeden inneren Einsatz wahrnehmen könne. Wenn er jedoch zu der Feststellung gelangt, er sei „ner-
vös“, so nimmt er nur ein vom Intellekt für die vermeintliche Objektivität des Erregungszustandes
geschaffenes Bild wahr. Alle Re exe, alle Mechanismen sind bedingt durch den Erregungszustand,
dessen Bedeutung also eine ungeheuer große ist. Doch wird diese Bedeutung als solche nie heraus-
gelöst, sie bleibt unter-bewusst, und der Erregungszustand, von dem aus der Mensch alles beurteilt,
ndet selbst keine bewusste Beachtung. Der Durchschnittsmensch lebt nur als Funktion seines Ich
und stellt sich keine Fragen über dieses Ich. So spielt der Erregungszustand im Funktionsablauf des
Menschen die Rolle eines festen Punktes, um den sich alles dreht. Anders gesagt: der gewöhnliche
Mensch ist um sein Unter-Bewusstes zentriert (Rotationszentrum), während doch sein eigentliches
(oder geometrisches) Zentrum das Unbewusste ist.

In Wirklichkeit ist der Erregungszustand kein fester Punkt, und seine vermeintliche Unbeweglich-
keit bildet überhaupt erst die Voraussetzung für die Illusionen unseres ichbezogenen Lebens. Wenn
ich meine Aufmerksamkeit freiwillig auf meinen Erregungszustand lenke, (d. h. auf die Gesamtheit
meiner Emp ndungen, also eigentlich auf mein Ego unter jener Gesamtheit der Emp ndungen), so
erkenne ich, dass „es“ nicht fest ist, dass „es“ sich bewegt, und ich fühle intuitiv den Pulsschlag
meines Lebens (es ist also nicht „Noumenon“ sondern „Phänomenon“, das Ego kann, da es sich
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bewegt, nicht das Absolute sein). Diese partielle Aufhebung der vermeintlichen Unbeweglichkeit
des Erregungszustandes nähert mein Rotationszentrum dem geometrischen, und ich beginne, „nor-
mal zu werden“.

Die Erkenntnis, dass im Mittelpunkt meines erscheinungsmäßigen Daseins „es sich bewegt“, ist der
Erkenntnis, dass ein geschleuderter Stein sich bewegt, nicht gleichzusetzen. Beim Innewerden, dass
„es sich bewegt“ in meinem Innern, existieren weder Raum noch Zeit noch Formen, es bewegt sich
auf der Stelle und ohne sich zu verändern. Hier rühren wir an die Ewigkeit des Augenblicks.

In der Praxis muss die innere Arbeit wiederholte, aber kurze und leichte Ansätze vollziehen. Es geht
nicht darum, es sich schwer zu machen, als gäbe es etwas zu „erfassen“. Es gibt nichts zu
„erfassen“. Es geht nur darum, dass ich durch einen spontanen, ganz einfach inneren Blick bewusst
feststelle, dass ich mich in dieser Sekunde „in meiner Ganzheit erfühle“ (der Weg dahin führt über
die Bemühung, festzustellen wie ich mich jeweils fühle). Dazu gelangt man spontan oder gar nicht;
sollte man es nicht erreichen, muss man später von neuem beginnen (das kann schon einige Sekun-
den später sein), doch muss dieser Schritt total und plötzlich vollzogen werden. Ich bin daran inter-
essiert, diesen Einsatz so oft wie möglich zu leisten, doch mit Zartgefühl und Takt und ohne den
Ablauf meines dualistischen Innenlebens allzusehr zu stören. Das Bewusstsein, welches ich durch
Gewöhnung von meinem dualistisch angelegten Innenleben gewonnen habe, muss durch einen rein-
lichen, freien und spontanen Schnitt unterbrochen werden, ohne dass dabei etwas geschieht, was es
unmittelbar verändern würde. Die „normalisierende“ Veränderung wird vom Absoluten Prinzip
vollzogen über jene „Schnitte“, die das innere Bemühen schafft.

Die Unterscheidung zwischen „Erregung“ und „Erregungszustand“ macht es möglich, die Art der
Wahrnehmung, die der Mensch von seinem Gefühlsleben hat, näher zu kennzeichnen. Was man ein
„Gefühl“ nennt, ist eine komplexe Erscheinung, die sowohl einen Vorstellungsablauf als auch eine
ganze Reihe von Erregungsabwandlungen einschließt.

Wenn ich zunächst den Vorstellungsablauf ins Auge fasse, so stelle ich fest, dass ich ihn ganz unbe-
streitbar bewusst wahrnehmen kann. Die Bilder, die vor meinem Geist ablaufen, sind durch mein
Gedächtnis xiert und häufen sich in meinem Innern. Sie bilden ein sehr subtiles „Formenmaterial“,
das ich heraufrufen, vor meinem aufmerksamen Blick hin- und her wenden, nach Belieben untersu-
chen und durch Worte beschreiben kann. Über seine Bilder hat der Mensch Macht, er beherrscht sie,
geht mit ihnen um, er erfasst sie durch einen aktiven Wahrnehmungsvorgang, bei welchem das Be-
wusstsein als Subjekt das Bild als Objekt erfasst.

Wenn ich nun die Erregungsskala, d. h. mein eigentliches Gefühl ins Auge fasse, so ist die Situation
eine ganz andere. In einer Hinsicht habe ich wohl eine gewisse Möglichkeit des Wahrnehmens, und
in der Tat, wenn mein Gefühl ein trauriges ist und wenn ich gefragt werde: „Bist du vergnügt?“,
kann ich mit Sicherheit antworten: „Nein, ich bin traurig.“ Könnte ich meine Traurigkeit überhaupt
nicht erkennen, würde ich nicht in dieser Weise antworten. Wenn ich jedoch versuche, meine Trau-
rigkeit genauer zu erforschen, sie zu untersuchen und zu erkennen, werde ich mir klar darüber, dass
das, was sich meiner Analyse darstellt, immer ein Ablauf von traurigen oder betrüblichen Bildern
ist, doch nie meine Traurigkeit selbst in ihrer Unteilbarkeit. Ich scheitere vollständig, wollte ich die
Traurigkeit durch den gleichen aktiven Wahrnehmungsvorgang erfassen, wie es mir bei den Bildern
möglich ist. Es ist mir einfach ganz unmöglich, mein Gefühl durch eine gedankliche „Erfassung“ zu
„greifen“, es zu „erkennen“, wie ich das bei den Bildern tun kann. Diese konnte ich greifen, konnte
ihre ursprüngliche Gestalt in Teilformen zerlegen, sie „analysieren“ und erkennen, auf welche Ele-
mente sie sich zurückführen ließen. Mit meinem Gefühl kann ich jedoch durchaus nicht das Gleiche
tun; wohl merke ich, dass es in mir da ist (ich bin also nicht ganz ohne irgendeine Kenntnis von
ihm), doch kann ich durch eine ähnliche Analyse „es“ nicht erkennen.

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Wenn ich aber dennoch in bestimmter Weise mein Gefühl wahrnehmen kann, dann wohl darum,
weil zwischen ihm und der Ober ächenschicht meines Bewusstseins eine gewisse Verbindung be-
steht. Doch ist diese Verbindung offensichtlich nicht von der gleicher. Art wie jene, die zwischen
meinem Bewusstsein und den Bildern besteht, da sie mir keinerlei „Erfassung“ meines Gefühls
möglich macht. In der Verbindung zwischen Bewusstsein und Vorstellungen ist mein Bewusstsein
aktiv und meine Vorstellungen sind passiv. In der Verbindung zwischen Gefühl und Bewusstsein ist
mein Gefühl aktiv und mein Bewusstsein passiv. Eine Verbildlichung wird uns zum Verständnis
dienen: Nehmen wir an. wir ergreifen im Dunkel einen Gegenstand und wenden ihn in der Hand hin
und her. Auf diese Weise nehmen wir den Gegenstand aktiv wahr und erhalten Auskunft über ihn.
Nehmen wir hingegen an, dass im Dunkel ein gewaltiger Riese uns in seine Hand nimmt, uns dreht
und wendet und betastet: wir geben uns Rechenschaft über die Existenz dieses Riesen, nden ihn, je
nachdem ob er uns streichelt oder zermalmt, mehr oder weniger sympathisch, doch dabei bleibt es
auch. Wir erhalten keinerlei Aufklärung über den Riesen selbst, und es ist unmöglich für uns, ihn
etwa zu beschreiben.

Im Verlauf irgendeines Gefühles, das ich gerade durchlebe, kann ich also sagen, dass ich die Vor-
stellungen, die einen Teil jenes Erregungsvorgangs ausmachen, erfasse, dass ich aber meinerseits
wieder erfasst werde von diesem Vorgang, von dem die Vorstellungen nur ein Teil sind. In Bezug
auf die Vorstellungen ist mein Bewusstsein ein erfassendes, in Bezug auf das Gefühl ein erfasstes.
Es ist, als hätte ich ein Bewusstsein der Bilder, die einen Teil meines Gefühls ausmachen, und als
besäße umgekehrt mein Gefühl ein Bewusstsein meiner selbst. Doch entspricht diese Anschauungs-
form der illusorischen Sehweise des Durchschnittsmenschen, einer Sehweise, der zufolge der
Mensch die Ober ächenschicht seines Bewusstseins als das maßgebende, als sein eigentliches „Ich“
betrachtet. In Wahrheit aber ist die Ober ächenschicht des Bewusstseins nicht das „Ich“, sie bildet
nicht das Prinzip aller Vorgänge, die meinen psychosomatischen Organismus aufbauen, das einzige
Prinzip, welches allein „Ich“ genannt werden darf. Sie vertritt nur eine bestimmte Schicht jener
Vorgänge, in denen sich mein Prinzip manifestiert. Anstatt zu sagen, dass mein Gefühl mein Be-
wusstsein erfasst, muss ich vielmehr feststellen, dass mein Unter-Bewusstsein mein „Ober ächen-
Bewusstsein erfasst. Aber auch mein Unter-Bewusstsein ist noch „Ich“, Wenn ich also die Erfas-
sung meines Bewusstseins durch mein Unter-Bewusstsein als Veräußerung meiner Freiheit emp n-
de, so nicht, weil das, was mein Bewusstsein erfasst, (und was ja noch Ich ist), mir fremd wäre,
sondern weil es gewissermaßen schlummert, und weil eben deswegen mein Unter-Bewusstsein ganz
unter Bestimmung der Außenwelt arbeitet. Was mein Gefühl angeht, verhält sich alles so, als würde
ich von der Außenwelt erfasst. In Wirklichkeit beschränkt sich aber die Außenwelt darauf, die blo-
ßen Verlaufsformen meines schlummernden Unter-Bewusstseins zu bestimmen, doch die eigentlich
treibende Kraft dieses Ablaufs ist mir keineswegs fremd, sie ist mein eigenes Prinzip, ist mein
„Ich“. Innerhalb des Gefühlsbereiches unterstehe ich natürlich passiv äußeren Einwirkungen, doch
nur weil mein gegenwärtiger Schlummerzustand diese zulässt. Auf dieser Stufe des Verständnisses
angelangt, werde ich mir darüber klar, dass das, was ich bisher mein „Unter-Bewusstsein“ nannte,
nur eine Illusion, nur ein Teil des Traumes ist, den ich im „Schlummer“ vor dem Satori erlebe. Was
mein Ober ächen-Bewusstsein ergreift und bewegt, ist meine erste und einzige treibende Kraft,
mein Prinzip, das Absolute Prinzip, das mich bewegt, wie es alle geschaffenen Dinge bewegt. Die-
ses Prinzip, das vor jedem Bewusstsein da war, da es ja jedes Bewusstsein, indem es sich darin ma-
nifestiert, erst erzeugt, dieses Prinzip wollen wir hier das Prinzipielle Unbewusste nennen (das
„Nicht-Geistige“, oder das Kosmisch-Geistige des Zen). Was wir bisher unser Unter-Bewusstsein
genannt haben, ist nichts als die aus einer Illusion geborene Form, unter der ich mir bildhaft die
Wirkung vorstelle, die das schlummernde Zentrum meines Geistes auf die in meinem jetzigen Zu-
stand allein wachen Erscheinungen eben dieses Geistes, ausübt, d. h. die Wirkung des Unbewussten
auf das Bewusstsein der Ober ächenschicht. Das Unter-Bewusstsein, dieses „Zwischenstockwerk“,
besitzt im Grunde gar keine Realität. Das Unbewusste (als Noumenon) besitzt absolute Wirklich-
keit. Das Wach-Bewusstsein als solches (Vorstellungsablauf) besitzt eine relative Wirklichkeit (als
Phänomenon). Dem Unter-Bewusstsein jedoch eignet nur eine vermeintliche Realität, es ist nichts
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als eine aufgeblasene Hilfskonstruktion, die von der „Aktivität“ her betrachtet das bewegende Un-
bewusste ist und von der „Passivität“ her gesehen das bewegte Wach-Bewusstsein. Der Mensch, der
Satori verwirklichte, wird also nicht die Fähigkeit erlangt haben, das Gefühl zu „erfassen“, das der
Mensch vor dem Satori zu erfassen nicht imstande war. Denn das Satori oder das Erwachen des
prinzipiellen Geistes in uns zerstreut die trügerische Vorstellung, die wir „Gefühl“ nennen. Die
fruchtlose Bemühung, das ungreifbare „Gefühl“ erfassen zu wollen, ist es ja gerade, die zum Erwa-
chen des Prinzipiellen Geistigen in uns führt. Für den Menschen nach dem Satori gibt es kein „Ge-
fühl“ mehr. Sein Wach Bewusstsein wird unmittelbar vom Prinzipiellen Geistigen gelenkt in einer
im kosmischen Sinne harmonischen Antwort auf die Reize der Außenwelt. Diese Reaktion trägt
zwar den besonderen äußeren Umständen Rechnung, doch wird sie keineswegs von diesen be-
stimmt oder „geformt“

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XV. EMPFINDUNG UND GEFÜHL

In jedem Augenblick der Erregung ist, wie wir schon sagten, eine Beziehung da zwischen den Bil-
dern, die vor unserm Geist ablaufen und einer hinter diesen Bildern sich verbergenden Gefühlser-
regbarkeit. Diese Beziehung ist komplexer Art. Es ist interessant, sie näher zu untersuchen, denn es
liegen gewisse verführerische und sehr subtile Lockungen in ihr, die uns daran hindern könnten, auf
unsere Gefühlserregbarkeit zu achten. Zunächst muss einmal an den grundlegenden Unterschied
zwischen dem Bilderablauf, der ein genaues Abbild der Wirklichkeit ist, und dem frei erfundenen
Bilderablauf erinnert werden. Wenn ich einen beliebigen Vorgang in der Außenwelt beobachte, so
geschieht dies durch die Vermittlung eines Ablaufs von Bildern, der den äußerer Vorgang teilweise
reproduziert; eines Ablaufs also, der ein genaues Abbild äußerer Formen ist, die meine Aufmerk-
samkeit erfasst. Wenn ich aber müßig oder bei irgendeiner Tätigkeit vor mich hin träume, nehme
ich einen in meinem Innern frei erfundenen Bilderablauf wahr. Die Gefühlserregbarkeit ist in sehr
verschiedener Weise mit diesen beiden Möglichkeiten des Bilderablaufs verknüpft. Wir wollen die
beiden vorkommenden Möglichkeiten untersuchen und dabei folgende Begriffe einführen: Den der
Außenwelt entnommenen Ablauf wollen wir den wirklichen oder Wahrnehmungsablauf nennen (da
er ein Abbild von Erscheinungen ist, die, wenn sie auch ohne absolute Wirklichkeit sind, immerhin
eine relative Wirklichkeit besitzen), den frei erfundenen Bilderablauf wollen wir Vorstellungsablauf
nennen.

Wenn es sich um einen Wahrnehmungsablauf handelt, so ist die Verknüpfung dieses Ablaufs mit der
Gefühlserregbarkeit recht einfach: die Gefühlserregbarkeit zeigt Variationen (und zwar quantitative
Variationen von Spannung und Entspannung), die den negativen oder positiven Bildern des Ablaufs
entsprechen. Bilder, die mit einer Bedrohung meiner Person zusammenhängen, rufen eine Anspan-
nung der Gefühlserregbarkeit hervor, solche, die die Erhaltung meines Lebens begünstigen, eine
Verminderung dieser Anspannung, d. h. eine relative Entspannung. Diese Reaktionen der Gefühlser-
regbarkeit auf die Bilder des Wahrnehmungsablaufs schafft eine einfache, eindeutige Beziehung:
die Form der bildlichen Erscheinungen bestimmt die Form der Erregungserscheinungen. Vom For-
malen her gesehen erscheint die Außenwelt aktiv, mein Inneres passiv. Es gibt da nichts Unbewegli-
ches, die sichtbaren Erscheinungen sind in unablässiger Veränderung begriffen, und unablässig ver-
ändert sich meine darauf reagierende Gefühlserregbarkeit. Auch gibt es da keine Gefühlserregbar-
keit, die bewegungslos wäre, sondern nur Anspannungen ohne jegliche Verkrampfung, keinen Erre-
gungszustand, nur Erregungen.

Wenn es sich jedoch um einen Vorstellungsablauf handelt, wird alles viel komplizierter. Die Verbin-
dung mit der Erregbarkeit des Gefühls ist dann nicht länger eine einfache, sondern eine doppelte.
Sie ist zunächst einmal in der gleichen Form vorhanden, wie beim eben dargestellten Fall: sie re-
agiert also auf die Bilder der Vorstellung, wie sie auf die Bilder der konkreten Wahrnehmung re-
agiert hatte (die Erregbarkeit macht zwischen diesen beiden Arten von Bildern keinen Unterschied).
Ein Eifersüchtiger, der sich lebhaft eine Szene vorstellt, in der seine Frau ihn betrügt, ist genau so
erregt, als spielte sich diese Szene in Wirklichkeit ab. Andrerseits aber wirkt sich der Erregungszu-
stand auf die Hervorbringung der Vorstellungen aus: wenn mir ein wirkliches Unglück zugestoßen
ist und mich verdüstert hat, so beginne ich, mir tausend andere Unglücksfälle auszumalen und alles
Übrige ebenfalls in unheilvollem Lichte zu sehen. So stellt sich also ein circulus viciosus mit dop-
pelter Reaktion her.

Doch kommt zu der Beziehung zwischen Gefühlserregbarkeit und Vorstellungsablauf noch ein
wichtiger Faktor hinzu: der Vorstellungsablauf gleicht nämlich bis zu einem gewissen Grade dem
Wahrnehmungsablauf. Die Bilder, die ich „er nde“, bauen sich notwendigerweise aus Elementen
auf, die ich der Außenwelt entnommen habe. Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied zwi-
schen beiden Arten von Abläufen: Der Wahrnehmungsablauf ist sozusagen vom Kosmos erfunden,
sein Ursprung ist auch der Ursprung des Kosmos, der Urgrund des Universums. Daher ist jeder
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Wahrnehmungsablauf harmonisch, er be ndet sich in Übereinstimmung mit dem All. Sein festes
Zentrum ist das Noumenon, und es wäre bei diesem Ablauf auch keine Starrheit der Phänomene
denkbar, er ist nichts als reine Bewegung. Der Vorstellungsablauf hingegen hat sein Zentrum in
meinem Ego, in meinem „Ich“, das als individuelles Einzelwesen Anspruch auf absolutes Sein er-
hebt. Sein Ursprung, sein Zentrum ist nicht das unverrückbare Noumenon-Zentrum des Kosmos,
sondern ein falscher, in Wirklichkeit exzentrischer Mittelpunkt. Daher ndet sich innerhalb dieses
Ablaufs neben einer ständigen Bewegtheit eine gewisse Erstarrung der Vorgänge, die eben durch
das Pseudo-Zentrum dieser Phänomene bedingt ist. Das zeigt sich in der Tatsache, dass meine
Träume zwar aus sich bewegenden Bildern bestehen, dass diese Bilder aber stets mehr oder weniger
um eine „ xe Idee“ kreisen. Mehr oder weniger sind wir immer von ihnen „besessen“. Die in mei-
ner Vorstellung sich abspielenden Szenen gruppieren sich in Form von „Konstellationen“, bzw.
„Komplexen“, die nur einen künstlichen, außerhalb des kosmischen Ganzen stehenden Zusammen-
hang besitzen.

Der Starrheit der Vorgänge entspricht eine Starrheit der Gefühlsreaktionen, das heißt eine
Gefühls„Verkrampfung“, ein „Erregungszustand“.

Die Gefühlsreaktion auf die konkrete Wahrnehmung (eine Reaktion, bei der keine Starrheit möglich
ist), ist normal und gesund, da sie eine Reaktion auf die normale, relative Wirklichkeit der kosmi-
schen Erscheinungen ist. Die Gefühlsreaktion auf den Vorstellungsablauf (eine Reaktion, die stets
eine gewisse „Verkrampfung“ in sich schließt), ist anormal oder ungesund. Sie ist ja auch eine Re-
aktion auf gewissermaßen anormale Bilder, da das hervorbringende Zentrum dieser Bilder nicht der
echte Mittelpunkt des Universums ist.

Wir haben jetzt den Unterschied zwischen den beiden Formen der Gefühlsreaktion - auf den Vor-
stellungsablauf einerseits und auf den Wahrnehmungsablauf andrerseits - genau herausgearbeitet.
Nun aber reagiert bei jedem menschlichen Wesen, das der ersten Kindheit entwachsen ist, die Er-
regbarkeit nie auf einen bloßen Wahrnehmungsablauf: ein Vorstellungsablauf verbindet sich gleich-
zeitig damit. Die Erregungen als solche sind nie „unvermischt“, immer handelt es sich gleichzeitig
auch um „Erregungszustände“, und zwar umso mehr, je stärker bei dem betreffenden Menschen das
Bedürfnis nach dem Absoluten, das Verlangen nach „Sein“, nach „Idealismus“ ausgebildet sind.
Das kleine Kind, das noch außerstande ist, einen Ablauf von Vorstellungen frei zu er nden, weil
seine geistigen Funktionen erst ungenügend entwickelt sind, besitzt eine Erregbarkeit, die noch
ganz unvermischt in steter Bewegung, ohne Verkrampfung, noch nicht stabil geworden ist. Doch
mit der fortschreitenden Entwicklung des Intellektes nehmen auch die „Erregungszustände“ zu. Bei
Erwachsenen, die ein starkes Verlangen nach dem Absoluten in sich tragen, zeigt die Erregbarkeit
unter den oftmals sehr labilen Gefühlserregungen, Verkrampfungen mit langsamem Rhythmus. Ver-
steht nun ein solcher Mensch sich selbst genau zu beobachten, so stellt er eine Spaltung im Rhyth-
mus seiner Gefühlserregbarkeit fest. Es kommt ihm so vor, als besäße er zwei voneinander ver-
schiedene Erregbarkeiten, die eine mit der Tendenz, sich rasch vorwärts zu bewegen, die andere mit
der Tendenz, an der Stelle zu haften (Träume spielen oft auf diesen Sachverhalt an: z. B. möchte ich
laufen, ja müsste es unbedingt, und doch komme ich nicht von der Stelle, auf der ich mich gerade
be nde).

Es gibt also zweierlei Arten von Vorstellungsabläufen, zweierlei Gefühlsreaktionen darauf und ge-
nau genommen, zweierlei Gefühlserregbarkeiten im Bereich der inneren Erscheinungen: eine echte
Erregbarkeit als Reaktion auf den Wahrnehmungsablauf und eine verfälschte als Reaktion auf den
Vorstellungsablauf. Der ursprünglichen echten Erregbarkeit entspricht die Ebene der Emp ndung
(die Wahrnehmung der Außenwelt durch die Sinne), der verfälschten Erregbarkeit die Ebene des
Bildes (Wahrnehmung der Vorstellungen). Die ursprüngliche Erregbarkeit, nämlich jene des Kindes,
läuft nach einem beweglichen, nicht konstanten Rhythmus ab und ist durchaus irrational (d. h. sie
ist ohne jede Beziehung zu der Bedeutung, die unsere „Vernunft“ nach einer bestimmten „Wertska-
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la“ den Bildern zugesteht). Die verfälschte Erregbarkeit jedoch läuft nach einem langsamen Rhyth-
mus ab (mit einigem Vorbehalt, was diesen Punkt betrifft, denn in Augenblicken der Ermüdung lässt
sich auch hier eine gewisse Unbeständigkeit beobachten; doch entspringt diese Unbeständigkeit
nicht einem gesunden Verschwinden der Starrheit, sie ist nur das Schwächerwerden einer sich er-
schöpfenden Verkrampfung) und ist mehr oder weniger rational. Diese Erregbarkeit steht in enger
Verbindung mit dem Idealbild, das ich mir von der Welt und mir selbst mache durch meinen
Wunsch, mich in einer „schönen - wahren - guten“ Haltung zu sehen, und durch die Furcht, mich in
einer „hässlich - bösen - falschen“ Haltung entdecken zu müssen. Die echte Reaktion auf einen be-
liebigen Umstand spottet des „Ideals“ und ist einzig und allein von der Sicht der Außenwelt abhän-
gig. Meine verfälschte Gefühlsreaktion jedoch kann grundverschieden sein, denn sie ist abhängig
von dem Idealbild, das ich von mir selbst habe. Sie setzt sich aus Gefühlen zusammen, die ich nicht
etwa hinsichtlich der Außenwelt, sondern hinsichtlich meiner eigenen Haltung dieser Außenwelt
gegenüber hege. Daher kommt es auch, dass ich (in meiner falschen Erregbarkeit) sehr wohl in un-
echter Weise vergnügt sein kann, während mein echtes Gefühl ein trauriges ist (in meiner ursprüng-
lichen Erregbarkeit) und umgekehrt.

Z. B. freue ich mich schon Monate vorher auf meine jährlichen Ferien. Die Vorstellung „ich freue
mich darauf, Florenz zu sehen“, hat sich in meinem Geiste immer stärker herausgebildet. Wenn ich
nun „Idealist“ und stark „ich-bezogen“ bin, wenn mich nach „absolutem Sein“ dürstet, wird die
Verwirklichung dieser Vorstellung Gegenstand eines heftigen Bedürfnisses. Schließlich in Florenz
angelangt, bin ich aber müde und deprimiert, mein wahrer Gefühlszustand, der des Idealbildes mei-
ner selbst spottet, ist verkrampft, und ich bin im tiefsten Innern unglücklich. Doch wünsche ich so
lebhaft, dass die Vorstellung „Ich freue mich, in Florenz zu sein“ Wirklichkeit werden möge, dass
ich mir nicht erlaube, mir selbst einzugestehen, wie unglücklich ich bin. Fragt mich nun irgendje-
mand: „Nun, wie war es in Florenz?“, so antworte ich: „Herrlich! Die vielen Museen sind zwar et-
was ermüdend, aber was heißt das schon bei so viel Schönheit überall!“ Wenn ich dann meine Auf-
merksamkeit mit aufrichtigem Erkenntnisdrang auf meine Gefühlserregbarkeit lenke, so sehe ich
die nackte Wahrheit: Ich bin unglücklich, unglücklicher als ich es für gewöhnlich in der Metro bin,
die mich an meine Arbeitsstelle bringt. Und ich sehe weiter, dass ich ohne besondere Bemühung
nicht einmal imstande war, mir darüber klar zu werden. Vielleicht habe ich zwar meine Traurigkeit
wahrgenommen, sie aber fälschlicherweise einem Vorstellungsablauf zugeschrieben, der nur ihre
Auswirkung war.

Ein anderes Beispiel: Nehmen wir an, ein Sohn wurde Jahre hindurch von einem egoistischen Vater
tyrannisiert, er war gedemütigt, gehemmt worden bei allem, was er unternehmen wollte, dauernd
negiert durch eine sadistische, angebliche fromme Erziehung. Wenn nun dieser Vater stirbt, so ist
die echte Gefühlsreaktion des Sohnes eine ungeheurere Erleichterung. Wenn dieser Sohn jedoch
sehr „idealistisch“ ist, wird sein Bedürfnis, sich selbst traurig zu sehen, so stark sein, dass ihm dies,
jeder Augenscheinlichkeit zum Trotz, auch gelingen wird. Die Traurigkeit seiner Vorstellungen kann
dann die Entspannung der Tiefenschicht größtenteils oder vollkommen verhindern.

Dieser Missklang zwischen den Gefühls-„Erregungen“ und den aus dem Vorstellungsablauf entste-
henden Erregungs-„Zuständen“ ist vom folgenden Gesichtspunkt her besonders auffallend: Mein
absolutes, mein göttliches Idealbild schließt neben anderer, „göttlichen“ Eigenschaften auch die
“Beständigkeit“, die „Unveränderlichkeit“ mit ein. Das Absolute Prinzip, das Prinzipielle Eine, aus
dem alles ießt, ist unveränderlich, steht über der Zeit und ihrem Wechsel. Daher ist auch eines der
wesentlichsten Attribute meines eigenen Wunschbildes die „Ausgeglichenheit der Stimmungen“, d.
h. die Beständigkeit des Erregungszustands. Und weiter ergibt sich daraus, dass das Bild, das ich
mir im Lauf des Tages von meinen Erregungszuständen mache, von mir zugunsten der Stabilität
stark verfälscht wird. Sobald ich beginne, mit aufrichtigem Erkenntnisdrang die Spielarten meiner
ursprünglichen Gefühlserregbarkeit zu beobachten, werde ich gewahr, dass solche Wandlungen
weitaus häu ger und ausgeprägter sind, als ich annahm. Ein an mich gerichtetes Wort, ein Bild, das
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mir ins Auge fällt, ein Magenkrampf oder auch der Genuss von etwas Tee oder Kaffee genügen
vollkommen, damit sich, auf der Tabula rasa meiner Erregbarkeit Höhepunkte und Tiefpunkte ein-
gravieren. Andrerseits liegt es an diesem Idealbild meiner selbst, dass meine gefühlsmäßigen Reak-
tionen rationalen Charakter annehmen sollen; ich erhebe nämlich Anspruch darauf, dass nur „große
Dinge“ mich wirklich erregen können, dass zwischen der Intensität meiner Gefühlsschwankungen
und der Bedeutung, die meine „Vernunft“ den mich betreffenden Ereignissen beimisst, ein bestimm-
ter Parallelismus bestehe. Wenn ich ein kleines Kind beobachte, so beeindruckt mich die Unbestän-
digkeit (es geht oft unmittelbar vom Lachen zum Weinen über) und die Irrationalität seiner Ge-
fühlserregungen (es gibt Zeichen eines heftigen Angstzustandes, wenn man ihm sein Spielzeug
wegnehmen will); dies lässt mich an den gewaltigen Unterschied denken, der zwischen der Erreg-
barkeit dieses Kindes und der meinigen sich zeigt (die so “Viel stabiler und rationaler ist). In Wirk-
lichkeit besteht dieser Unterschied nur zwischen meiner unechten Erregbarkeit und der Erregbarkeit
des Kindes, und dieser Unterschied hängt an der ungeheuerlichen Lüge, welche durch die Ausfor-
mung meiner unechten Erregbarkeit entsteht. Nach und nach hat das Bedürfnis, mein eigenes Ideal-
bild verwirklicht zu sehen, meine Gefühlserregbarkeit gefälscht. Sobald ich die ehrliche Anstren-
gung mache, die Spielarten meiner Gefühle zu sehen, wie sie sind, so sehe ich nur noch den Wech-
sel meiner echten Gefühle, und erkenne, dass zwischen mir und jenem kleinen Kind gar kein Unter-
schied besteht, denn meine wahre Gefühlserregbarkeit ist ebenso labil und irrational wie die seine.

Die Arbeit an uns selbst, von der wir im Augenblick sprechen, (nämlich die Bemühung um unmit-
telbares Erfassen unserer momentanen Gefühlssituation), lässt einen intuitiven, unmittelbaren inne-
ren Blick erwachen, der durch die falsche Erregbarkeit hindurchgeht, ohne bei ihr haltzumachen.
Die einzige Gefühlserregbarkeit, die vor diesem Blick nicht dahinschwindet, ist die echte und ur-
sprüngliche, jene die der Ebene der Emp ndung oder der animalischen Ebene entspricht. Die Ebene
des Bildes bzw. die „engelhafte“, “ideale“ Ebene wird zunichte. Es ist eine eigentümliche Enthül-
lung, die alleinige Wirklichkeit unserer irrationalen Gefühlsbewegungen festzustellen und zu erken-
nen, wie hartnäckig wir uns in Bezug auf sie belogen haben. Wir erkennen, dass unterhalb der von
der Vorstellung aufgebauten „Engel-Bildungen“ das Tier in unverminderter Weise in uns fortbe-
standen hat, und dass schließlich dieses Tier alles ist, was sich bis jetzt von unserm Gesamtwesen
“verwirklicht“ ndet; alles andere ist unwirklich. Zu dieser Tierstufe müssen wir ganz bescheiden
zurückkehren, um in ihrem Zentrum das Erwachen des immanenten und transzendenten Prinzips zu
erfahren.

Der intuitive innere Blick geht durch die falsche Erregbarkeit hindurch ohne bei ihr haltzumachen,
d.h. er löst beim Hindurchgehen die Bilder des Vorstellungsablaufs auf. Doch wenn er auch diesen
Ablauf au öst, so kann er doch nicht die Verkrampfung der Tiefenschicht in ihrer eigentlichen Ur-
sächlichkeit au ösen. Theoretisch begreife ich bereits: um das Unter-Bewusstsein selbst auszuschal-
ten, genügt es nicht, den vorübergehend an das Unter-Bewusstsein gebundenen Vorstellungsablauf
aufzulösen. Die Praxis liefert mir den handgrei ichen Beweis für das Fortbestehen der Verkramp-
fung in meiner Tiefenschicht. Und dieses Faktum führt mich dazu, noch intensiver nachzudenken
und zu erkennen, dass die Verkrampfung, die ich als „anormal“ bezeichnet habe, sich auf dem Wege
ndet, der zum Satori führt.

In der Verkrampfung unseres Gesamtorganismus ist ein sicher sehr gesundes Element der „Bewe-
gungslosigkeit“ enthalten. Unsere spontane Entwicklung würde auf das Satori zulaufen, wenn wir
„der Natur der Dinge“ gehorchten, wenn wir aufhörten, irgendeinen „Satori-Ersatz“ anzustreben.
„Das Nichtstun“, d. h. die Bewegungslosigkeit unseres Gesamtorganismus, die Bewegungslosigkeit
seines Erscheinungszentrums erlaubt das Reifen des Satori. Es ist also an der Verkrampfung der
Tiefenschicht etwas Richtiges und Normalisierendes. Sie ist heilsam, insofern sie die Tendenz hat,
unser Zentrum bewegungslos zu machen. Wenn sie für uns bisher tatsächlich nicht normalisierend
wirkte, so deshalb, weil wir uns in einem Re ex gegen diese Unbeweglichmachung gewehrt haben.
Erinnern wir uns an die doppelte Verknüpfung zwischen der Erregbarkeit und dem Vorstellungsab-
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lauf: Erst lösen die Bilder die Verkrampfung aus, und dann löst der Verkrampfungszustand Bilder
aus. Es ist unvermeidlich und nicht einmal ungünstig, dass die Bilder eine Verkrampfung auslösen,
da dies zu der erwünschten Bewegungslosigkeit führt. Dagegen ungünstig und auch vermeidbar ist
die Tatsache, dass der Verkrampfungszustand Bilder auslöst und dadurch fortgesetzte Verände-
rungserscheinungen der Verkrampfung zur Folge hat, Veränderungserscheinungen, die mich daran
hindern, mir die als Möglichkeit in der Verkrampfung enthaltene Bewegungslosigkeit zu Nutze zu
machen.

Warum aber wird durch die Verkrampfung, oder vielmehr in Verbindung mit ihr, ein neuer Vorstel-
lungsablauf ausgelöst, der mich daran hindert, bewegungslos zu werden? Weil ich beherrscht bin
von einer falschen Vorstellung, der zufolge die Bewegungslosigkeit unheilvoll, ja tödlich ist. Da es
mir an wahrem Vertrauen in mein Prinzip fehlt, bin ich der Überzeugung, dass ich selbst mein „Heil
erwirken“, dass ich durch persönliches Handeln meine endgültige Vollendung herbeiführen müsse.
Solange diese Vorstellung in mir lebendig ist, lässt es sich nicht vermeiden, dass mein Verkramp-
fungszustand einen neuen Vorstellungsablauf, also einen circulus viciosus ständiger Bewegung aus-
löst.

Um Schmetterling zu werden, muss die Raupe sich verpuppen. Wenn ich mich nun in dem circulus
viciosus der Erregungszustände und Vorstellungsabläufe umherjagen lasse, so könnte man mich ei-
ner Raupe vergleichen, die den Prozess ihrer Verpuppung herannahen fühlt und sich nun hartnäckig
gegen diese von ihr als Gefahr empfundene Unbeweglichkeit wehrt.

Wenn ich jedoch begreife, wie absurd es ist, diese Unbeweglichkeit zu fürchten, wenn ich begreife,
dass die Verkrampfung meiner Tiefenschicht nicht etwa Vernichtung, sondern nur scheinbaren Tod
für mich bedeutet (Puppe), um mir dadurch erst zu wirklichem Leben zu verhelfen (Schmetterling),
so werde ich gewahr werden, dass die Auslösung eines Vorstellungsablaufs durch den Erregungszu-
stand durchaus nicht unvermeidlich zu sein braucht. Durch mein Verständnis und durch die daraus
erwachsende Gewissheit komme ich zu der Einsicht, dass ich ohne weiteres in der Lage bin, mich
mühelos in meine Angst, meine Trauer oder meinen Kummer zu „schmiegen“, ohne dass dabei ir-
gendein angsterregendes, trauriges oder kummervolles Bild entstehen müsste. Nach einer gewissen
Zeit hört meine Traurigkeit auf, wirklich Traurigkeit zu sein und verwandelt sich in farblose Bewe-
gungslosigkeit. Dann bin ich fühllos, emp ndungslos, einem Stück Holze ähnlich, in gewissem
Sinne „verdummt“, jedoch durchaus fähig, sinnvoll zu handeln und wie ein in tadellosem Zustand
be ndlicher Roboter korrekt auf die Umwelt zu reagieren.

Zu welch paradoxen Schlüssen gelangt doch unsere Untersuchung! Unsere anfänglichen Feststel-
lungen verurteilten den Verkrampfungszustand und ößten uns Sehnsucht nach der dynamischen
Gefühlserregbarkeit der frühen Kindheit ein. Doch es gibt keine Rückkehr, und darüber hinaus ist
die innere Verfassung des Kindes dem Satori genau entgegengesetzt. Wir müssen also vorwärts-
dringen. Das Bedauerliche an den Folgen unserer geistigen Entwicklung war nur darauf zurückzu-
führen, dass unser Intellekt nicht genügend aufgeklärt war und wir durch diese Unwissenheit der
inneren Stilllegung Widerstand entgegensetzten. Dieser Widerstand gegen die Stilllegung rief im-
mer neue Verkrampfungserscheinungen, wahre Wirbel der Angst hervor, und wir rieben uns dabei
wund an den Fesseln, die uns umschlossen. Aber das Heilmittel ist genau da, wo wir das Übel zu
sehen meinten: die Fesseln waren uns nur solange feindlich, als wir ihnen widerstrebten. Die Ver-
krampfung war nur solange sie noch emotional, d. h. in Bewegung war, zerstörerisch. Sobald wir
aufhören, die Bewegungslosigkeit zu fürchten, befreien wir uns von dem vermeintlichen Zwang des
Vorstellungsablaufs, der aus der Verkrampfung hervorgeht. Sobald die Verkrampfung nicht mehr
emotionaler Natur ist, ist sie überhaupt keine Verkrampfung mehr, ist sie nur noch leidensfreie Be-
wegungslosigkeit. Dann wird die Reifung des Satori möglich.

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Immer gelangt unser Geist, in dem Augenblick, wo These und Antithese sich in einer Synthese lö-
sen, schließlich zu dem Paradoxen, vor dem wir hier stehen: Anfangs waren wir von der völlig irra-
tionalen Überzeugung durchdrungen, dass der Verkrampfungszustand unser eigentliches Leben sei
(These); nun führt unser Nachdenken uns zu der diametral entgegengesetzten Überzeugung, dass
unsere zentrale Verkrampfung unser Tod sei (Antithese); plötzlich erkennen wir durch eine geistige
Intuition, dass ein bewusstes Festhalten am Verkrampfungszustand uns von ihm freimacht, d. h.
dass dieses Festhalten Tod und Leben, Starrheit und Bewegung, Verkrampfung und Gelöstheit ver-
söhnt. Das Paradoxon besteht nur dem Scheine nach, nur auf der formalen Ebene; hinter diesem
Schein liegt die Versöhnung der Gegensätze.

Unser Vergleich zwischen der Gefühlserregbarkeit und dem Muskel ermöglicht es uns übrigens, ge-
nauer zu bestimmen, welche neue Formmöglichkeit der Entspannung auftauchen wird, wenn wir
aufhören, gegen die Stilllegung der Verkrampfung anzukämpfen. Dieser Vergleich bietet sich uns,
wie wir gleich sehen werden, in einem Augenblick dar, wo er sich eigentlich nicht mehr anwenden
lässt. Wenn mein Muskel sich zusammenzieht, so verkürzt er sich, wenn er sich dehnt, erreicht er
wieder seine natürliche Länge und ist für eine neue, verkürzende Zusammenziehung bereit. Wenn
ich nun keinerlei eigentliche innere Arbeit leiste, so setzt schließlich auch eine Abschwächung mei-
ner zentralen Verkrampfung ein. Wie beim Muskel versetzt mich dieser Zustand dann in eine Ent-
spannung, die eine neue Verkrampfung ermöglicht; bis hierhin lässt der Vergleich sich durchführen.
Wenn ich mich jedoch bewusst meiner Verkrampfung anschmiege, so kommt es dadurch zu einer
Erscheinung, die im physiologischen Bereich niemals auftritt: nämlich ein Muskel, der sich ent-
spannen könnte, ohne länger zu werden, der sich entkrampfte, ohne seine ursprüngliche Länge wie-
derzugewinnen, der also gleichzeitig verkürzt und völlig entspannt wäre. Nehmen wir einmal an,
dass irgendein Misserfolg mich in die Verkrampfung einer Demütigung versetzt. Wenn ich nun kei-
nerlei eigentliche innere Arbeit leiste, wird dieses Gefühl der Demütigung mehr oder weniger
schnell vorübergehen, und irgendwann werde ich wieder aus diesem Zustand herausgekommen
sein. Dann werde ich mich zwar nicht gedemütigt fühlen, jedoch werde ich auf meinen gewohnten
Anspruch zurückkommen und daher von neuem einer Demütigung ausgesetzt sein. Wenn ich dage-
gen in dem gedemütigten Zustand mich bewusst an meine Verkrampfung anschmiege, dann ver-
schwindet diese Demütigung, ohne dass der falsche Anspruch wieder auftauchte. Mein zentraler
Muskel (im Gegensatz zu allem was sich bei meinen organischen Muskeln beobachten lässt) ent-
spannt sich, ohne seine Verkürzung aufzugeben; die Demütigung verwandelt sich in Demut.

Der Vergleich mit dem Muskel (in seinen Dehnungs- und Zusammenziehungsphasen) erweist sich
als richtig. Wenn ein Erfolg mich schwellt, so fühle ich in der Tat mein Volumen verdoppelt, ja ver-
zehnfacht. Sogar körperlich fühle ich wie meine Brust sich dehnt und freier atmet, wie meine Be-
wegungen ausladender werden. Drückt dagegen ein Misserfolg mich nieder, fühle ich mich klein,
zusammengeschrumpft, „reduziert“; es liegt mir ein „Stein auf der Brust“ und meine Bewegungen
werden zaghafter.

Die innere Arbeit, von der hier die Rede ist, besteht also darin, sich „guten Willens“ in dieses redu-
zierte Volumen zu ergeben. Es entsteht dabei eine Art Kondensierung des Ego, das zwar hinsichtlich
seines Volumens verneint, in seiner neuen Verdichtung jedoch bejaht wird. Ein solcher Prozess ist
dem Vorgang vergleichbar, bei dem Kohle in Diamant verwandelt wird; das Ziel dieses Prozesses ist
nicht etwa die Vernichtung, sondern die Verwandlung, das Transzendent werden des Ego. Durch die
bewusste Hinnahme wird es möglich, dass die immer dichtere, also schwärzere und undurchsichti-
gere Kohle unmittelbar und plötzlich in einen durchsichtigen Diamanten sich verwandelt.

Selbstverständlich können wir diese innere Geste des völligen Sichhineinschmiegens in die uns be-
schränkende Verkrampfung bei den ersten Versuchen nicht wirklich zur Durchführung bringen.
Denn alle unsere früheren Automatismen treiben uns zu den genau entgegengesetzten Bewegungen.
Die innere Arbeit besteht also darin, diesen nützlichen, inneren Schritt mit Beharrlichkeit immer
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wieder von neuem annäherungsweise zu vollziehen. Dies verleiht uns schon eine gewisse Ruhe, die
fortschreitend zunehmen wird. So gehe ich auf die vollkommene Ruhe zu, die eines Tages die Aus-
lösung des Satori möglich machen wird. Dabei lerne ich unter dem Vorstellungsablauf, durch den
mein Zentrum mehr oder weniger verdeckt wird, das Unbehagen meines Innern ganz unmittelbar zu
fühlen. Die Erwerbung dieser neuen inneren Emp ndung ist die Voraussetzung für jedes weitere
Bemühen. Schließlich wird meine Aufmerksamkeit sich plötzlich von dem Bilderablauf abwenden,
um bis zu jenem tiefen Unbehagen, das ich in seiner Wesenseinheit schon vorausgefühlt habe, hin-
abzusinken und dort bewegungslos zu verharren. Und nun schmiege ich mich in dieses Unbehagen,
das ich bisher immer oh (der einzige Ort, an dem der Löwe mir nicht mehr gefährlich werden
kann, ist in unserm Falle sein eigener Rachen), oder bemühe mich wenigstens, so gut ich kann,
mich hineinzuschmiegen. Wir haben aber schon erfasst, dass unser Unbehagen abnehmen wird, je
näher wir uns zum Ziele durcharbeiten, und wir beginnen nun zu begreifen, dass wir bis zu unserm
eigenen Mittelpunkt (dorthin, wo unsere vermeintliche Angst zu sitzen schien) vorgedrungen sind.

Da wir lange Zeit hindurch nur teilweise Erfolg hatten, vermag unsere Aufmerksamkeit unser Zen-
trum noch nicht in gleichbleibender Weise zu erreichen: sie erreicht es nur für kurze Augenblicke.
Das Verschwinden meines Unbehagens beraubt nämlich die Aufmerksamkeit jeden Gegenstandes,
so dass sie von neuem wieder durch Bilder eingefangen werden kann. So beginnt unter Umständen
alles wieder von vorn, und unser „Erkenntnisdrang“ muss große Ausdauer entwickeln.

Diese innere Arbeit aber verbürgt die echte „Verzwei ung“, aus der die Hoffnung quillt. Bisher hat-
te ich noch gehofft, dass die Konvulsionen des Vorstellungsablaufs eines Tages meine Verkramp-
fung beseitigen würden. Wenn ich irgendeinen Kummer hatte, so unterwarf ich mich der Zwangsar-
beit fruchtlosen „Wiederkäuens“ (und zwar, weil ich sie für nützlich hielt), und so geriet ich in eine
Art Gefängnis, in das mein sinnloses Vertrauen in meine eigene Einbildungskraft mich geworfen
hatte. Nun aber erkenne ich diese Einbildungskraft als das, was sie ist: eine fruchtlose Täuschung.
Die falsche Hoffnung, die ich auf ihr Wirken gesetzt hatte, verwandelt sich jetzt in die echte Hoff-
nung, die ich auf ihr Nicht-Wirken setze, und so öffnet sich das Tor meines Gefängnisses. Endlich
darf ich leiden ohne schmerzhaftes “Wiederkäuen“, das heißt, ohne meinem eigenen Leiden Dauer
zu verleihen. Endlich habe ich das Recht, aus der zum Wesen meines Leidens gehörenden Unbe-
ständigkeit Nutzen zu ziehen, und mir von meinem Prinzip Linderung gewähren zu lassen ohne ei-
genes Dazutun. Ich “opfere“ mein Leiden, indem ich mich nicht mehr zwinge, für ein Nichts zu lei-
den, und ich speichere die Lebensenergie, die ich bis jetzt vergeudet hatte, für meine Verwandlung
auf. Zweifellos wäre die Beschreibung der inneren Geste, von der wir sprechen, für uns von beson-
derem Interesse. Leider versagt sich aber die Sprache einer Darstellung der ganz „innerlichen“ Din-
ge; sie verliert ihre Kraft, sobald wir uns den Grenzen nähern, die die Welt der Erscheinungen und
Formen umschließen. Vielleicht könnte man sagen, dass das, was unter dem Vorstellungsablauf
wahrzunehmen wäre, etwa die Emp ndung eines Krampfes in der Tiefe, einer lähmenden Umar-
mung, einer starrmachenden Kälte wäre (so wie die Kälte den Fluss durch das Gefrieren erstarren
lässt), und dass gerade auf dieses harte, kalte und starre Lager unsere Aufmerksamkeit gebettet blei-
ben soll. Es ist, als ob wir unsern Körper ganz ruhig auf einem harten aber freundschaftlich gesinn-
ten Felsen ausstreckten, der genau nach unsern Formen gebildet wäre. Doch hat eine solche Darstel-
lung nur hinweisenden Wert. Jeder muss in sich selbst jene Erfahrung machen im Lichte des Ver-
ständnisses, das sich ihm erschlossen hat.

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XVI. ÜBER DAS GEFÜHLSLEBEN

Nunmehr können wir die vorausgegangenen Studien vertiefen, indem wir die Gesamtheit des be-
wussten Gefühlslebens, d. h. die Gesamtheit aller jener inneren Vorgänge, durch welche wir Lust
oder Unlust bei der Berührung mit der Außenwelt erfahren, näher ins Auge fassen. Da jene beiden
Pole: Lust und Unlust in Verbindung stehen mit den quantitativen Veränderung ein- und derselben
Sache, nämlich des Bewusstseins, als individuelles Einzelwesen zu „sein“, können wir unsere Dar-
legungen vereinfachen, indem wir nur von den Erscheinungen der Unlust sprechen; denn was für
die Unlust gilt, wird auch für die Lust Geltung besitzen.

Zunächst sieht es so aus, als gäbe es zwei Arten von Sensibilität: die physische (physischer
Schmerz) und die psychische (seelischer Schmerz). Ich kann den Schmerz, den ein Abszess mir
verursacht, nicht in einem Atem nennen mit dem Leid, das der Tod eines geliebten Menschen mir
zufügt. Diese zweierlei Emp ndungsweisen scheinen einerseits dem Stof ichen (oder Körperli-
chen) in mir zu entsprechen, andrerseits dem Unstof ichen (oder Geistig-Seelischen). Die physi-
sche Sensibilität lässt Emp ndungen zu, die angenehmer oder unangenehmer Art sein können, die
psychische Sensibilität hat es mit Gefühlen zu tun, die ebenfalls angenehm oder unangenehm sein
können. Notwendigerweise unterscheiden wir in der praktischen Psychologie scharf zwischen die-
sen beiden Bereichen der Sensibilität.

Doch diese „leib-seelische“ Zweiheit bezeichnet nur zwei verschiedene Aspekte ein- und derselben
Sache: nämlich unseres psychosomatischen Gesammtorganismus. Es handelt sich also nur um
zweierlei Aspekte (die sich nur für den außenstehenden Beobachter unterscheiden) des einen We-
sens, das ich „Ich“ nenne, jenes Mikrokosmos, der synthetischer Natur und in sich geschlossen ist,
und der eine Teiläußerung des Absoluten Prinzips darstellt. Wenn ich ein Stück Karton senkrecht
vor mein linkes Auge halte, so sieht mein linkes Auge dieses Blatt als gerade Linie, während das
rechte Auge es als Fläche sieht. Dennoch ist das Kartonblatt nur eines. Man könnte also sagen, dass
es gleichzeitig Linie und Fläche sei, könnte jedoch ebenso gut sagen, es sei weder Linie noch Flä-
che. In jedem Falle handelt es sich immer nur um ein- und dasselbe Stück Karton.

Sind also auch Leib und Seele nur zwei verschiedene Aspekte ein- und derselben Erscheinung, so
sind notwendig auch die physische und die psychische Sensibilität nur zweierlei Aspekte ein- und
derselben Sensibilität. In Wirklichkeit gibt es nur einen Organismus unter zweierlei Aspekten.
Ebenso gibt es in Wirklichkeit nur eine Sensibilität mit zwei verschiedenen Aspekten.

Nun, da ich hinter den verschiedenartigen Aspekten des Gefühls und der Emp ndung eine Wesens-
einheit erkenne, bin ich versucht, den Schluss zu ziehen, dass nur einer dieser Aspekte wirklich, der
andere aber unwirklich sei.

So werde ich z. B. versuchen, alle Äußerungen meiner Sensibilität auf die Emp ndung zurückzu-
führen. Es gibt nur Emp ndungen, werde ich denken. Der physische Schmerz ist eine Emp ndung,
die den Körper nur teilweise trifft, d. h. insoweit er ein Aggregat von Organen ist. Der psychische
Schmerz ist dann eine Emp ndung, die den Körper als Ganzes in Mitleidenschaft zieht, was durch
die Vorstellung von mir selbst als eines umfassenden Ganzen ermöglicht wird. Doch alle diese klug
ersonnenen Versuche werden scheitern müssen. Wenn ich meinen Körper als eine Anhäufung von
Organen zu betrachten geneigt bin, so habe ich damit wieder nur einen durch meine Analyse künst-
lich herausgelösten Aspekt, bei dem das versöhnende Prinzip, das diese Zusammensetzung von Or-
ganen einst zu einem Ganzen macht, außer Acht gelassen wird. Mit dem Begriff eines Aggregates
von Organen ist mein Soma also nicht de niert. Wenn ich andrerseits mein Soma als geschlossene
Ganzheit betrachte, so kann ich auch dies nur durch einen analytischen Kunstgriff vollziehen. Mein
Leib existiert ja nur kraft seiner Verbindungen zu dem übrigen Kosmos, nur als ein Teil des kosmi-
schen Ganzen. Auch der Begriff einer in sich geschlossenen Wesenheit kann also meinen Körper

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nicht de nieren. Da es mir nicht gelingt, einen genauen Begriff für meinen Körper zu nden, so
kann ich ihn auch nicht zum Kriterium für eine einzige Art von Sensibilität nehmen, die nur aus
Emp ndungen bestünde.

Nach dem Scheitern des „materialistischen“ Versuchs lockte mich nun der entgegengesetzte, der
„idealistische“. Diesmal werde ich denken, es gebe nur „Gefühle“, es gebe keinen „physischen“
Schmerz, da ich ja allein über mein Gehirn, über ein vorgestelltes Bild, etwas Unangenehmes wahr-
zunehmen imstande bin. Letzten Endes ist also jedes unangenehme Gefühl psychischer Herkunft, es
gibt also nur „seelische“ Leiden. Bin ich zuvor daran gescheitert, meinen Leib als eine in sich ge-
schlossene Wesenheit zu begreifen, die ich zum Kriterium nehmen könnte, so scheitere ich jetzt
daran - und in gewisser Hinsicht noch endgültiger - die Welt meiner inneren Vorstellungen als ge-
schlossene Wesenheit zu begreifen. Wenn ich nicht durch mein Soma de niert werden konnte, so
kann ich noch weniger durch meine Psyche de niert werden.

Es gelingt mir also nicht, meine Sensibilität auf einen ihrer beiden Aspekte zu beschränken, wie es
mir auch nicht gelingen konnte, meinen psychosomatischen Gesamtorganismus auf einen seiner
beiden Aspekte zurückzuführen. Ich bin Soma und Psyche zugleich und ebenso auch weder das eine
noch das andere. Auch meine Sensibilität ist physisch und psychisch zugleich und ebenso gut keines
von beiden. Soweit es sich um meinen psychosomatischen Gesamtorganismus handelt, gelange ich
zum Begriff des „Selbst“ oder des Absoluten Prinzips, insofern es in mir Gestalt wird, und dieser
Begriff allein ist imstande, den psychosomatischen Dualismus aufzulösen. Wie aber nun den Dua-
lismus innerhalb meiner Sensibilität lösen? Was ist denn diese meine Sensibilität mit ihren beiden
Aspekten in Wirklichkeit? Da ich den Sitz dieser Sensibilität weder im stof ichen Bereich
(Organe), noch im unstof ichen Bereich (Bilder) zu erkennen vermochte - wo ist dieser Sitz also zu
suchen? Solange die Untersuchung der Sensibilität auf der Unterscheidung Soma-Psyche basierte,
hatte sie einen ungeeigneten Ausgangspunkt. Sie ging dabei nämlich von einer künstlichen Unter-
scheidung aus und es ist nicht erstaunlich, wenn sie nicht zum Ziele führen konnte. Wir müssen sie
von neuem in anderer Weise anpacken, in einer Weise, die sowohl unsere physische als auch unsere
psychische Sensibilität umschließt.

Anstatt die Phänomene der Sensibilität nach ihrem Entstehen zu untersuchen, wollen wir dieses
allmähliche Zustandekommen selbst unter die Lupe nehmen. Zu diesem Zweck gehen wir von einer
alltäglichen Erfahrung aus: Eines Tages spüre ich in meinem Arm einen rheumatischen Schmerz
von mittlerer Stärke. Ein Freund kommt mich besuchen, verwickelt mich in ein Gespräch und ver-
lässt mich dann wieder. Nach seinem Weggang spüre ich meinen Schmerz von neuem und merke
erst jetzt, dass ich ihn während des Gesprächs gar nicht mehr gefühlt hatte. Ich sage mir nun, dass
während des Gesprächs mein Schmerz sicher auch da war, und das trifft auch durchaus zu. Doch
hatte ich kein Gefühl mehr dafür, weil ich abgelenkt war. Wenn ich nun anstelle des rheumatischen
einen „seelischen“ Schmerz von mittlerer Stärke fühle, irgendeine Widerwärtigkeit, die mich ver-
stimmte, bevor mein Freund kam, so wird die gleiche Erscheinung auftreten. Die Unterscheidung,
die hier in Frage kommt, muss also nicht getroffen werden zwischen zwei verschiedenen Arten von
Schmerzen, sondern zwischen zwei Stadien der Entstehung des Schmerzes, ganz gleich, ob dieser
Schmerz nun körperlich oder seelisch ist. Was ging vor, während ich abgelenkt war? Darf ich wirk-
lich annehmen, mein Schmerz sei zwar vorhanden, mir aber nicht bewusst gewesen? Sicherlich
nicht. Ich kann doch nicht einfach behaupten, dass ein Schmerz da sei, wenn ich ihn nicht fühle.
Dennoch kann es kein Irrtum sein, wenn ich annehme, dass während meines Abgelenktseins „ir-
gendetwas“ weiterging, was mir dann den Schmerz wieder zurückgab. Doch was ist dieses „etwas“?
Ich werde dazu geführt, eine Unterscheidung aufzustellen, durch die meine vorher erwähnte Erfah-
rung verständlich wird. Es ist die Unterscheidung zwischen dem schmerzhaften Reiz und dem Be-
wusstsein des Schmerzes. Während meines Abgelenktseins dauerte der Schmerz an, doch das
SchmerzBewusstsein hörte auf. Nun, da diese Unterscheidung aufgestellt ist, erkenne ich auch, wie
man in entsprechender Weise wieder zur psychosomatischen Unterscheidung zurück nden kann;
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denn der Schmerzreiz ist ein somatisches, das SchmerzBewusstsein ein psychisches Phänomen.
Jetzt können auch die „materialistischen“ und die „idealistischen“ Deutungsversuche, die wir vorhin
scheitern sahen, zu etwas Gültigem führen. Der Schmerzreiz ist eine Erscheinung, die mein Soma
betrifft, und zwar entweder partiell, insoweit dieses ein Aggregat von Organen ist (physischer
Schmerzreiz), oder aber total, insoweit mein Soma eine Ganzheit ist (sogen. „psychischer“
Schmerzreiz, der durch meine eigene Vorstellung von mir als einem Ganzen, die Ganzheit des So-
mas in Mitleidenschaft zieht). Der Schmerzreiz kann vom stof ichen (Ebene der Emp ndung) oder
vom subtilen (Ebene des Gefühls oder Bildes) Bereich ausgehend uns erreichen. Die „materialisti-
sche“ These lässt sich also vom Schmerzreiz her gesehen durchaus anwenden; denn mein Körper ist
immer schmerzhaft gereizt, sei es als Teil oder als Ganzheit.

Die „idealistische“ These lässt sich anwenden, wenn wir nun zum Gegenpol, nämlich zum
„SchmerzBewusstsein“ kommen: Immer ist sich unser Geist des Schmerzes bewusst, ob nun der
Schmerzreiz den Körper als Teil oder als Ganzes betroffen hat.

Fassen wir nun die beiden Pole „Schmerzreiz - SchmerzBewusstsein“ näher ins Auge und fragen
uns, in welchem dieser Pole der Schmerz seinen eigentlichen Sitz hat. Von neuem beginnen Schwie-
rigkeiten: Es ist mir nicht möglich, den Schmerz in den Bereich des Schmerzreizes zu verweisen
und das SchmerzBewusstsein dabei außer Acht zu lassen; noch weniger aber kann ich mir einen
Schmerz vorstellen, der reines Bewusstsein ohne Schmerzreiz wäre. Wo also ist der Ort des
Schmerzes? Die Frage nach dem „Ort“ ist nach unserer „Raum-Zeit“ Perspektive die Form, in der
die andere Frage: „Was ist die „Wirklichkeit“ des Schmerzes?“ ihren Ausdruck ndet, oder besser:
„Was ist die Ursache des Schmerzes?“, denn die Ursache ist die Wirklichkeit der Wirkung. In Bezug
auf mein SchmerzBewusstsein ist der Schmerzreiz ursächlich: das Bewusstsein ist betroffen, weil
der Körper betroffen ist. Doch ist das Betroffensein des Körpers selbst wieder Wirkung einer Ursa-
che. Diese Ursache ist nicht, wie man zunächst annehmen möchte, die Außenwelt. Tatsächlich ist
das Angegriffensein meines Körpers eine Reaktion auf die Aktion der Außenwelt. Nun kann die Ak-
tion der Außenwelt zwar auslösende, aber keinesfalls bewirkende Ursache genannt werden. Die be-
wirkende oder wirkliche Ursache der Reaktion meines Körpers liegt in meinem Körper und nicht
außerhalb. Sie liegt in meinem Lebensprinzip, im Kern meiner Gestaltwerdung, d. h. im Absoluten
Prinzip, insoweit es in mir in Erscheinung tritt. Wir nden also bei der Entstehung des bewussten
Schmerzes drei Stufen: zuerst das Absolute Prinzip, dann mein Soma, das, vom Absoluten Prinzip
bewegt, das hervorbringt, was wir „Schmerzreiz“ genannt haben, und schließlich mein „psychi-
scher“ Bereich, der, vom Schmerzreiz bewegt, das SchmerzBewusstsein entstehen lässt. Das Abso-
lute Prinzip entspricht dem prinzipiellen UnBewusstsein, der Schmerzreiz dem „Unter-
Bewussten“ (der Schmerz war, während ich abgelenkt war, Unter-Bewusst), das SchmerzBewusst-
sein dem Bewussten.

Wir erkennen also, dass der Schmerz als Ganzes genommen, ein ununterbrochener Energiestrom ist,
der sich vom universalen Zentrum kommend nach der Peripherie hin au öst. Die Wirklichkeit oder
der Urgrund dieser Strömung ruht im prinzipiellen Unbewussten. Das bedeutet, dass die Wirklich-
keit des bewussten Schmerzes unbewusst ist. Das bedeutet, dass wir uns einer Täuschung hingeben,
wenn wir unsere bewusste, in Erscheinung tretende Sensibilität als eine sich selbst genügende We-
senheit betrachten, nach der wir unser Leben einrichten können. Vielleicht könnte man entgegnen:
„Zweifellos sind die Erscheinungen der Sensibilität, wie alle Erscheinungen, nicht die Absolute
Wirklichkeit, immerhin eignet ihnen aber die relative Wirklichkeit der Erscheinungswelt“. Doch
trifft dies nicht zu, denn der energetische Zersetzungsprozess, der durch das Phänomen des Gefühls
dargestellt wird, geht unaufhaltsam von Unendlich zu Null, ohne auch nur für einen Augenblick
sich in einer Form zu integrieren. Die Organe besitzen eine relative Wirklichkeit, weil sie eine Inte-
grierung der Energie in stof icher Form sind. Die geistigen Vorstellungen besitzen eine relative
Wirklichkeit, weil sie eine Integrierung der prinzipiellen Energie in subtiler Form sind. Doch Lust
und Schmerz, Freud und Leid, sind keine Integrierung in Formen, weder stof icher noch subtiler
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Art. Das schmerzhafte Betroffensein meines Körpers hat stof iche Form, das schmerzhafte Betrof-
fensein des Bewusstseins, das darauf reagiert, hat subtile Form. Das bedeutet, dass die rein stof i-
che Erscheinung des Schmerzes, ebenso wie die subtile, eine Form hat. Doch der Schmerz selbst,
der solcherart in zweierlei Formen in Erscheinung tritt, entzieht sich jeder Form, ebenso wie das
Absolute Prinzip, das seine einzige Wirklichkeit ist. Wir dürfen uns daher nicht wundern, dass wir
wegen des Fehlens jeglicher Form unseren Schmerz nie werden greifen können.

Weiter oben haben wir behauptet, dass jede Bemühung, die Traurigkeit zu erfassen, damit ende,
traurige Bilder zu erfassen, und dass die Traurigkeit selbst jedoch sich uns entziehe. Genauso ver-
hält es sich beim physischen Schmerz. Wenn der Arm mir weh tut und wenn ich versuche, diesen
Schmerz zu erfassen, so gelingt es mir lediglich, in einem aktiven Wahrnehmungsvorgang meinen
leidenden Arm, nicht aber meinen eigentlichen Schmerz zu erfassen. Dieser entzieht sich meinem
Zugriff; er kann mich, nicht aber ich ihn erfassen. Diese Beobachtungen werden sich erhellen, so-
bald wir sie von anderer Seit her angehen. Die körperliche Schmerzreaktion auf den Reiz aus der
Außenwelt, eine Reaktion, die dann mein SchmerzBewusstsein bedingt, entsteht mir kraft des mir
innewohnenden „Lebensbedürfnisses“. Dieser Verteidigungsmechanismus setzt voraus, dass mein
Dasein verteidigt werden soll; die Vorstellung, dass das, was meine Existenz bedroht, mich bedroht,
gehört zu seinem Wesen. Doch fühle ich mich durch das, was meinen Körper bedroht, immer nur in
dem Maße selbst bedroht, in dem ich mich ausschließlich mit diesem meinen Körper identi ziere.
Dieser Gleichsetzung wegen ndet der zeitlose Wille zum „Sein“, das eines der Attribute des „prin-
zipiellen Seins“ ist, in meinem Körper durch den Willen, im Dasein zu verharren, also durch das
Lebensbedürfnis, seinen Ausdruck. Die Verwechslung von Ich und Selbst (anders ausgedrückt die
ausschließliche Identi zierung mit meinem Körper, oder auch der Glaube an die absolute Wirklich-
keit unseres Daseins in der Welt der Erscheinungen), diese trügerische Verwechslung verleiht der
Außenwelt die Macht, meine Energie aus ihrem innersten Quell emporsteigen zu lassen und sie da-
mit der Zersetzung durch den Schmerz auszuliefern. Wenn ich nicht unwissend wäre, wenn ich
mich nicht mit meinem Organismus identi zierte, wenn ich, wie Sokrates, imstande wäre zu sagen:
„Meine Feinde können mich töten, aber schaden können sie mir nicht“, so würde ich, was meinen
Organismus bedroht, nicht als wirkliche Bedrohung meines Ich emp nden. Ich würde nicht leiden;
ich würde zwar merken, dass mein Körper bedroht ist, ich würde mir darüber klar sein, dass das
glühende Eisen, das mich brennt, mich tatsächlich brennt, ich könnte mich also dieser Berührung
entziehen, sofern es mein vernünftiger Wille wäre, am Leben zu bleiben. Aber ich würde nicht lei-
den, ich würde keinem inneren Zwang erliegen, mein Leben zu verteidigen. In voller Freiheit würde
ich entscheiden, mein Leben den Umständen gemäß zu verteidigen oder nicht zu verteidigen. Ich
könnte mich retten, wäre aber nicht durch den Schmerz gezwungen, es zu tun.

Alle Affekte haben ihren Grund in der Unwissenheit, in den stillschweigenden trügerischen Über-
zeugungen, die das Schlummern meines Vertrauens in die Einzige Wirklichkeit, das Schlummern
des Kosmischen Geistes in mir darstellen. Es ist keine Illusion, wenn ich den aggressiven Reiz der
Außenwelt wahrnehme, denn so erhalte ich genaue Auskunft über die Erscheinungen, die meinen
Organismus angreifen. Doch falsch ist das Gefühlshafte an meinen Wahrnehmungen, sei es ange-
nehmer oder unangenehmer Art, da es auf falschen Voraussetzungen beruht. Ich täusche mich zwar
nicht, wenn ich das, was mir begegnet, als günstig oder ungünstig für mein Dasein beurteile; doch
verfalle ich einem Irrtum, wenn ich den Maßstab des „Guten“ oder „Bösen“ anlege, d. h. sobald ich
es gefühlsmäßig beurteile. Die Emp ndung des Gebranntwerdens ist kein Trug, dagegen aber der
Schmerz bei der Verbrennung. Meine Wahrnehmungen sind in Ordnung, insofern sie mich über et-
was unterrichten, sie sind trügerisch, insofern sie mich gefühlsmäßig berühren.

Während mein Absolutes Prinzip „ist“ und mein Organismus „existiert“, das Noumenon „ist“ und
die Phänomene „existieren“, eignet meinen Gefühlen weder Sein noch Existenz. Jede Erscheinung
meines Gefühlslebens ist die aus meiner Unwissenheit entstandene verfälschende Interpretation an

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sich vollkommen neutraler Phänomene. Unser gesamtes Gefühlsleben ist ein aus falschen Überzeu-
gungen hervorgegangenes Delirium.

Im Übrigen bin ich in jedem Augenblick, in welchem ich gefühlsmäßig auf irgendetwas reagiere,
jeweils für die ganze übrige Welt unemp ndlich. Doch solange Glaube und Vertrauen durch das Sa-
tori noch nicht erwacht sind, lässt meine Aufmerksamkeit sich von den irreführenden Gefühlen ganz
gefangen nehmen und wendet sich von allem ab, was nicht unmittelbar zum Gefühlsbereich gehört.
Die Arbeit an sich selbst belässt die Dinge in diesem augenblicklichen Zustand, sie lässt die Auf-
merksamkeit sich ruhig auf die Pseudo-Phänomene der Gefühle richten. Ja, sie tut noch mehr: Sie
lässt nicht nur passiv die Aufmerksamkeit jene Richtung einschlagen, sie treibt sie sogar aktiv in
diese Richtung hinein. Und so werfe ich meine aktive Aufmerksamkeit nun dahin, wo ich von etwas
Unbegrei ichem betroffen wurde und wo dieses Betroffensein im Leiden seinen Ausdruck fand, um
zu erfassen, was mich erfasste, um zu erfassen, was ich mein Leiden nenne. Nun, da mein Verstehen
die Angst ihres Stachels beraubt hat, habe ich den Mut, mich mit echter Wissbegierde nach jenen
hypothetischen Flammen umzuwenden, die meine Flucht nur geschürt hatte. Die innere Bemühung,
nun selbst das zu erfassen, was zuvor mich erfasst hatte, bringt meinem Schmerz Linderung. In die-
sem Sinne müssen wir auch das „Loslassen“ der Zenlehre verstehen. Diese innere Geste vermag die
Energie, die „gezwängt“ war, zu befreien, vermag aufzulösen, was „geronnen“ war. Sie versetzt
mich in einen Zustand der Fühllosigkeit, der nicht bloße Abwesenheit von Gefühlen ist, sondern das
„Nicht-Fühlen“ selbst, das bewegungslose Prinzip aller Gefühlsregungen. Er bereitet die Explosion
des Satori vor, indem er die Parteilichkeit der Gefühle aufhebt, er heilt die „Krankheit des Geistes“,
die nach der Lehre des Zen darin besteht, dass wir das, was wir lieben, dem, was wir nicht lieben,
entgegensetzen.

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XVII. REITER UND PFERD

Der Dualismus zwischen Yin und Yang, der Dank der Versöhnung des Tao die Welt regiert, ist im
Menschen wie in jedem geschaffenen Ding zu nden. Der Mensch ist sich dieses Dualismus be-
wusst, und dieses Bewusstsein ndet seinen Ausdruck in der Überzeugung, dass er aus zwei selb-
ständigen Teilen zusammengesetzt sei, die er “Körper und Seele“, „Stoff und Geist“, „Instinkt und
Vernunft“ oder anders nennt. Der Glaube an eine solche zweigeteilte Konstitution zeigt sich in allen
möglichen Redewendungen, wie z. B. „Ich bin Herr meiner selbst“, „Ich kann mich nicht
enthalten ...“, „Ich bin mit mir zufrieden“, „Ich bin mir böse“ usw.

Doch wir wissen, dass der Glaube an die Autonomie jener beiden Bereiche eine Täuschung ist. Es
gibt keine zwei verschiedenen „Teile“ beim Menschen, sondern nur zwei verschiedene Seiten eines
einzigen Wesens. In Wirklichkeit ist ja der Mensch ein Individuum, das nur durch die irreführenden
Erklärungsversuche der analytischen Betrachtungsweise künstlich geteilt wird. Der Irrtum der dua-
listischen Auffassung besteht nun nicht darin, dass wir zweierlei Aspekte bei uns unterscheiden -
denn es gibt zwei verschiedene Aspekte -, sondern darin, dass wir diese zwei verschiedenen Aspekte
als zwei verschiedene Wesenheiten betrachten, von denen die eine vergänglich, die andere aber
ewig wäre. Im Übrigen aber zeigt uns die Beobachtung gar nicht das Vorhandensein von zwei ge-
trennten Bereichen, sie zeigt vielmehr, dass alles abläuft, als gäbe es diese zwei, durch eine Tren-
nungslinie streng voneinander geschiedenen Bereiche. Nur unser unbelehrter Intellekt macht fälsch-
licherweise den Sprung von der Feststellung, „alles läuft ab, als ob“ zu der irrigen Behauptung, dass
es in uns tatsächlich zwei voneinander getrennte Bereiche gäbe.

In Wirklichkeit läuft alles so ab, weil wir daran glauben, dass es so sei, oder genauer, weil unser
universales Bewusstsein im Schlummer liegt, welches allein imstande ist, uns unsere wahre innere
Einheit zu offenbaren. Ein Bild wird uns helfen, diese Frage zu verstehen. Von seinen beiden „Tei-
len“ sieht der Mensch den einen als niedrig, triebhaft, affektbestimmt, motorisch, irrational an, den
andern als überlegen, vernünftig, führend und fähig zu bestimmen, was der niedrige Teil ausführen
soll. Das bedeutet, dass er sich als einen Reiter sieht, der auf einem Pferd sitzt.

In Wirklichkeit jedoch - und daran erinnert uns das Zen - sind wir nicht Reiter und Pferd, getrennt
durch eine Linie. Das wahre symbolische Bild des Menschen wäre der Kentaur, jenes einzigartige
Wesen, das zweierlei Aspekte zulässt, die durch keine Trennungslinie geteilt sind. Wir sind Kentaur,
und doch läuft alles ab, als wären wir Reiter und Pferd, eben weil wir an die Trennungslinie zwi-
schen beiden glauben, oder genauer, weil wir die Einheit nicht erkennen, die jene beiden Aspekte
umfasst.

Wir wollen nun näher zu de nieren versuchen, was wir bei unserer konkreten Struktur als Pferd und
was als Reiter zu betrachten p egen, um dadurch zu verstehen, warum wir dieses abwegige Bild
von uns selbst haben. Vom morphologischen Gesichtspunkt ausgehend, sind wir zunächst versucht,
die Grenze zwischen dem Pferd und dem Reiter zu ziehen. Das Pferd entspräche dann unserer kör-
perlichen Gestaltwerdung oder dem Soma, der Reiter unserer subtilen Gestaltwerdung oder der
Psyche.

Doch dieser morphologische Ausgangspunkt stimmt nicht zu dem Gesichtswinkel, unter welchem
wir momentan den Menschen betrachten. Wir untersuchen ja nicht nur die verschiedenen Erschei-
nungsformen beim Ablauf des menschlichen Mechanismus, sondern die Frage nach der Bestim-
mung dieses Ablaufs. Über die Frage nach dem Ablauf unseres Lebens hinausgehend, untersuchen
wir jetzt die Richtung dieses Ablaufs. Von dieser höheren Warte aus gesehen sind die beiden „Teile“
des Menschen nicht mehr zwei Erscheinungsformen von teils physiologischen teils psychologi-
schen Vorgängen, sondern zwei Seinsformen, zwei Stile, zwei verschiedene Rhythmen der Gestalt-
werdung unseres Seins. Das Pferd verkörpert eine Seinsform, bei der mein Denken nicht unabhän-

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gig und unparteiisch funktioniert. Es ist mein persönliches, ich bezogenes, parteiergreifendes Le-
ben, mein Leben das ich lebe, wenn mein Intellekt mit meinen Wünschen und Befürchtungen, mit
meinem Affektleben überhaupt gekoppelt ist. Es ist mein Leben, wenn in mir nur das niedrige Prin-
zip der Versöhnung wirkt, der Demiurg, der nur über den Wechselvorgängen der zeitlichen Ebene
thront.

Es ist die Natur, die in mir sich will und die durch mich hindurch ihre Zwecke erfüllt. Es ist mein
Ich, insoweit ich mich abgrenzen will, insoweit ich neben dem Nicht-Ich und gegen das Nicht-Ich,
Ich sein will.

Der Reiter ist die Verkörperung einer Seinsform, bei der mein Denken, befreit von der Verkoppe-
lung mit dem Affektleben, unabhängig und unparteiisch arbeitet. Er verkörpert meine freie Einsicht,
meine unparteiische Vernunft, mein reines, objektives oder universales Denken. Er ist Ich, insoweit
ich denke, ohne mich abgrenzen zu wollen, insoweit ich außerhalb jedes Gegensatzes zwischen Ich
und Nicht-Ich stehe.

So verstanden ist der Reiter nicht eigentlich ein Motor. Er ist zwar das Richtungsprinzip für die
Bewegung des inneren Triebwerkes, aber er ist nicht der Motor. Obwohl er das Prinzip meines
„Handelns“ ist, ist er selbst „Nicht-Handeln“. Wenn also Reiter und Pferd beide eine Seinsform dar-
stellen, so ist allein das Pferd auch eine Lebensform; der Reiter ist keine Lebensform - da Leben,
die Bewegung einbegreift und der Reiter Nicht-Handeln ist -; er ist eine Denkform ohne Rücksicht
auf mein Leben. Notwendigerweise ist mein Leben in jeder aktuellen Situation ichbezogen, partei-
isch, natürlich und gefühlsgebunden. Sobald mein Denken unabhängig von meinen Affekten ein-
setzt, ist es auch nicht mehr an mein persönliches Leben, ja an mein Leben überhaupt gebunden.
Anders ausgedrückt bedeutet das Pferd mein Leben, das von einem Partei ergreifenden Denken sei-
ne Ausrichtung erfährt. Der Reiter entspricht dem reinen, handlungsfreien Denken. Wenn meine
Aufmerksamkeit ganz durch mein Leben in Anspruch genommen wird, bin ich Pferd, wenn sie die-
ser Haft entkommt und meine freie Einsicht aktiviert, bin ich Reiter. Die bewusste Aufmerksamkeit,
die unteilbar ist, kann niemals gleichzeitig auf das Leben und auf das reine Denken über diesem
Leben gerichtet sein; notwendigerweise ist sie auf den einen oder den andern dieser beiden Aspekte
meines Wesens gerichtet. Die Augenblicke, in denen ich mich durch die Ausrichtung meiner Auf-
merksamkeit mit dem Pferd (wenn ich fühle oder handle) oder mit dem Reiter (wenn ich denke)
identi ziere, wechseln einander ab. Die Tatsache, dass allein das Bewusstsein der Ober ächen-
schicht meines Wesens jeweils in mir wach ist — und dass ich daher immer nur abwechselnd Pferd
oder Reiter sein kann —, ist der Grund dafür, dass ich an jene Trennungslinie zwischen den beiden
„Bereichen“ glaube, obgleich in Wirklichkeit diese Linie nicht existiert. Die vermeintliche Tren-
nungslinie zwischen Pferd und Reiter bedeutet keine Trennung zwischen zwei zu gleicher Zeit wir-
kenden Teilen, sie ist nur die abwegige Ausdeutung der Tatsache, dass ich mir nicht gleichzeitig
meines einseitig festgelegten Lebens und meiner über alles Parteiergreifen erhabenen Vernunft be-
wusst sein kann. Wenn ich nämlich kein Erinnerungsvermögen hätte, käme es nicht zu dieser An-
sicht der Dinge. Es gibt diese Erklärung, eben weil ich ein Erinnerungsvermögen besitze und weil
meine Vorstellungskraft dank dieser Fähigkeit beide Seinsformen gleichzeitig hervorrufen kann,
deren ich mir jedoch nie gleichzeitig bewusst bin.

In der Erinnerung evoziere ich zur selben Zeit das Bild des Pferdes und des Reiters, und so habe ich
das Bild dieser beiden Aspekte gleichzeitig vor Augen, die für das Bewusstsein der Ober ächen-
schicht nie nebeneinander existieren können.

Da nun das Pferd und der Reiter, die wir als zwei verschiedene Seinsformen de niert haben, nie
gleichzeitig in mein Bewusstsein treten können, kann das Pferd nie eigentlich gelenkt werden. Wir
wollen damit sagen, dass der Reiter die Bewegung des Pferdes dann nicht lenkt, wenn diese Bewe-
gung gerade ausgeführt wird. Trotzdem übt das Tun des Reiters auf das Verhalten des Pferdes einen

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lenkenden Ein uss aus, doch ist dieser Ein uss indirekt und zeitlich unabhängig. In dem Augen-
blick, da der Reiter erwacht (da also die erwachte Aufmerksamkeit nicht mehr auf das Pferd gerich-
tet sein kann), erkennt er dank seines Erinnerungsvermögens, wie das Pferd noch einen Augenblick
zuvor funktioniert hat und misst dieses Verhalten an der nach seiner Auffassung idealen Norm. Die-
ses günstige oder ungünstige Urteil führt jeweils zu einem bejahenden oder verneinenden Bild, das
dem Pferde schmeichelt oder es in seinem Bedürfnis nach IchBestätigung vernichtet. Wenn nun die
Aufmerksamkeit wieder zu dem Pferde zurückkehrt, wird dieses die Nachwirkungen des Urteils,
nämlich die Liebkosungen oder die Schläge, die das Urteil darstellte, zu spüren bekommen. Die Er-
innerung daran, die ihm als eine Zurechtbiegung seiner ursprünglichen Re exe erscheint, bleibt in
ihm zurück. Das bedeutet, dass infolge des Umstandes, dass Reiter und Pferd nie gleichzeitig ne-
beneinander wirken können, die einzig lenkende Wirkung, die der Reiter auf das Pferd ausüben
kann, eine Dressurwirkung sein muss, also eine Ausbildung von Automatismen. Es ist eine mittel-
bare Einwirkung, die Folge der vermeintlichen Trennungslinie. Man kann diesen Vorgang durchaus
mit dem vergleichen, was geschieht, wenn ein Mensch ein wirkliches Pferd dressiert: er bestimmt
dabei durch Liebkosungen oder leichte Peitschenhiebe die automatischen Reaktionen des Pferdes.
Und doch führt das Pferd jede Bewegung ganz alleine aus; es hängt also mittelbar vom Menschen
ab, jedoch unmittelbar durchaus nicht.

So kann also in dem Zustand, in dem ich mich vor dem Satori be nde, mein „Leben“ nur ein Zu-
sammenspiel bedingter Re exe sein, doch nicht gelenkte Bewegung. Die freie Intelligenz kann also
mein Leben nicht eigentlich lenken, sondern mir einen mittelbaren, relativen und begrenzten Ein-
uss darauf ausüben. Im gegenwärtigen Zustand muss jede Selbstlenkung Dressur sein, d. h. eine
Ausarbeitung irgendwelcher Automatismen. Wer von Automatismen spricht, spricht von festgeleg-
ten, stereotypen Bewegungen. So zahlreich und vielgestaltig diese Automatismen sein mögen, die
ihnen eigene Starrheit verhindert doch, dass ein automatisches Verhalten der Umwelt wirklich an-
gepasst sein könnte. Es verhält sich wie bei einer gebrochenen Linie: So oft sie auch gebrochen sein
mag, sie kann sich doch immer nur in approximativer Form mit einer Kurve decken, niemals mit ihr
zusammenfallen. Solange ich glaube, Reiter und Pferd zu sein und daher alles abläuft, als sei es tat-
sächlich so, solange kann ich das Pferd nur dressieren, ohne dabei eine echte Anpassung an die
Umwelt zu vollziehen.

Aber die echte Verwirklichung des Menschen ist etwas anderes als Dressur. Sie vollzieht sich durch
ein Bewusstwerden des Kentauren, durch welches die trügerische Trennungslinie zwischen Reiter
und Pferd wegfällt. Dann gibt es keinen Dressierenden und keinen Dressierten mehr und kein Re-
ektieren, bei dem „ich“ „mich“ betrachte (Subjekt und Objekt). Das „ich lebe“ und “ich denke“
versöhnen sich in einem einzigen „ich bin“.

Die Mehrzahl der Menschen fassen diese Verwirklichung und damit das Hinfällig werden der Tren-
nungslinie nicht einmal ins Auge. Daher sehen sie in der Verwirklichung ein Gelingen der Dressur
und das bedeutet, dass sie nichtzeitliche und zeitliche Verwirklichung verwechseln. Wie absurd es
wäre, die Dressur ganz verdammen zu wollen, werden wir zwar gleich sehen, und sogar ihre Not-
wendigkeit bei der Wegbereitung des Satori erkennen. Im Augenblick jedoch geht es uns darum,
den Irrtum aufzuzeigen, der darin besteht, die Verwirklichung als stufenweise Steigerung und als
das endliche Gelingen der Dressur zu betrachten. Wenn auch zeitlich die Verwirklichung auf ir-
gendwelche Dressurmaßnahmen folgen mag, so darf sie doch in keiner Weise so gesehen werden,
als sei sie von diesen hervorgebracht oder verursacht. Wenn es auch richtig sein mag, dass das Sato-
ri nach oder als Folge bestimmter Vorgänge eintritt, so kann es doch nicht unmittelbar durch einen
Vorgang ausgelöst oder verursacht werden.

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In der stark ausgeprägten Neigung vieler Menschen zu systematischen Methoden nimmt der Irrtum,
die Verwirklichung als den Sieg einer Dressur zu sehen, konkrete Gestalt an: sie verschreiben sich
dann irgendeinem „Ideal“, verschiedenartigen Yogaübungen, „Moralauffassungen“, die lehren, ein
bestimmter Automatismus müsse eingeführt, ein anderer dagegen bekämpft werden, kurz jeder Art
von Disziplin, der sie eine bestimmte Wirksamkeit hinsichtlich des Satori zutrauen. Der Irrtum be-
steht also nicht darin, das zu tun und zu erfahren, was durch solche Methoden möglich wird, also
nicht darin, dass wir jenen Methoden folgen. Er besteht vielmehr in der Annahme, jene Methoden
seien geeignet durch sich selbst zum Satori zu führen, wie etwa Straßen zum Ziel einer Reise füh-
ren. Keine Dressur ist imstande, die vermeintliche Trennungslinie aufzuheben, da sie ja gerade diese
Linie zwischen Dressierendem und Dressierten zur Voraussetzung hat. Die Verwirklichung kann
aber nur in der restlosen Zerstörung dieser Illusion bestehen.

Ein ebenfalls häu g begangener Fehler, der sich unmittelbar aus dem vorhergehenden ableiten lässt,
besteht darin, die Stufe, auf der ein Mensch sich hinsichtlich der Verwirklichung be ndet, beurteilen
zu wollen, indem man sich dabei auf den Grad der durch die Dressur erreichten Harmonie beruft.
Allein der Grad des Verständnisses kann uns hierüber unterrichten und nicht der Grad der Harmonie
der Dressur. Jeder beliebige Mensch kann für mich ein Lehrer werden, wenn ich in ihm ein Verste-
hen spüre, welches das meine zu bereichern vermag. Die möglicherweise erst mittelmäßige Dressur
seines Pferdes ist dabei nicht von Gewicht. Eben so wenig brauche ich mich um meiner selbst wil-
len zu beunruhigen, wenn mein Pferd äußerst unharmonische Reaktionen an den Tag legt, vielleicht
sogar unharmonischere als zu einer Zeit, da meine Einsicht geringer war. Denn wenn die Dressur
auch hinsichtlich des inneren Haltes viel bedeuten mag, so zählt doch hinsichtlich der Verwirkli-
chung allein das Verständnis.

Wir haben gesehen, dass jede Dressur grundsätzlich darin besteht, dass wir unser Leben abschätzen,
dass wir es für gut oder schlecht be nden. Jede Bewertung äußerer und innerer Vorgänge ist eine
Liebkosung oder ein Hieb für unser Pferd.

Das Zen erinnert uns eindringlich daran, wie wesentlich es sei, über eine solche Parteinahme hin-
auszukommen: „Sobald Ihr zwischen Gut und Böse unterscheidet, folgt Verwirrung und der Geist
ist verloren.“ Zen lehrt uns, dass gerade die Dressur und das Bewerten jenes verhängnisvolle innere
Handeln bilden, an das wir gewöhnt sind und dessen wir uns entwöhnen müssen: Gerade hier haben
wir es mit dem bedauerlichen „Handeln“ zu tun, auf welches das Zen anspielt, wenn es uns sagen
will, dass wir nichts zu tun hätten, dass wir lernen müssten, nicht mehr zu handeln.

Es wäre aber ein Irrtum, darin eine Ablehnung der Dressur sehen zu wollen; denn die Ablehnung
hilft nicht, uns von der Bewertung freizumachen. Sie führt lediglich zu einer Umkehrung der Dres-
sur, und wir würden uns nur dazu dressieren, uns nicht mehr zu dressieren, was an der Sache nichts
ändern würde. Ohne meinen Irrtum abzulegen, würde ich alsbald an die Wirksamkeit einer „Ge-
gendressur“ glauben, die immer noch Dressur bleiben würde. Zen lehrt uns, nicht an dem Leben zu
rühren: „Lasst die Dinge, wie sie ihrem Wesen nach sind.“ Es besteht für uns keine Möglichkeit, in
unsere Gewohnheit des „Uns-selbst-Dressierens“ unmittelbar verändernd einzugreifen. Nur mittel-
bar kann ich bewirken, dass jene Gewohnheit verschwindet, dank der immer tieferen Einsicht in die
Tatsache, dass jenen Dressurversuchen, die ich weiterhin betreibe, keinerlei verwirklichungsfähige
Kraft innewohnt. Kurz gesagt geht es darum, die Entwertung der durch meine Dressurversuche dar-
gestellten Kompensationen zu erreichen. Diese Entwertung macht das Scheitern jener Versuche und
die entsprechende Ausdeutung jenes Scheiterns notwendig. Um das Scheitern selbst brauche ich
mich nicht zu kümmern, das wird aus dem Wesen der Dinge selbst hervorgehen, doch befassen
muss ich mich mit der richtigen Deutung dieses Scheiterns. Solange ich an die innere Wirksamkeit
einer Disziplin glaube, schiebe ich ihr Versagen allen möglichen Umständen, doch nie der Disziplin
selbst in die Schuhe; sie verliert also ihren Wert für mich nicht. Wenn ich dagegen einmal die dieser
Disziplin eigene Wirkungsunfähigkeit begriffen habe, mir jedoch nicht verbiete, bei Bedarf von ihr
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Gebrauch zu machen, wird sich in mir nach und nach eine tiefe Ermüdung herausbilden, die mich
durch ein echtes Darüber-Hinauswachsen von dieser Disziplin lösen wird. Ich kann und soll mir die
allzu direkten Eingriffe in mein Inneres nicht versagen, die auszuüben mir im jetzigen Lebensau-
genblick selbstverständlich sind. Doch wenn ich einmal ihre Unfruchtbarkeit eingesehen habe, wird
sich auch die gefühlsmäßige Überzeugung von ihrer Nützlichkeit im Laufe weiterer Erfahrungen
verlieren. Die Überzeugungen sind mit Rädern zu vergleichen, die in raschen Gang versetzt worden
sind. Wenn der Intellekt es unterlässt, sie von neuem in Schwung zu versetzen, indem er sie bejaht,
werden sie eines Tages schließlich zum Stillstand kommen.

Wie wir wissen, ist das Satori nicht die Krönung eines letzten Sieges, sondern eines letzten Schei-
terns. Wenn wir aus Anstrengungen, alle Übungen, die wir fähig glaubten, uns zu befreien, er-
schöpft haben, taucht das Bewusstsein in uns auf, immer frei gewesen zu sein. Wenn auch die ver-
schiedenen Disziplinen keine „Wege“ sind, die schließlich in das Satori münden, so will das noch
nicht beißen, dass es nicht Wege wären, denen man folgen sollte. Es sind Wege, die in Sackgassen
enden, und diese Sackgassen wieder enden alle in der einzigen endgültigen Sackgasse. Und doch
muss man ihnen folgen, gerade weil das Satori nicht erreicht werden kann, ohne dass wir in jener
endgültigen Sackgasse gelandet wären. Man muss ihnen folgen mit der theoretischen Einsicht, dass
sie nirgendwohin führen, so dass dann die Erfahrung diese theoretische Einsicht in eine durchgän-
gige verwandeln kann, in jene klare Erkenntnis, durch welche die Ankunft in jener letzten Sackgas-
se bezeichnet wird und die uns dem Satori zu öffnen vermag.

Es ist hier der Augenblick, ein Zwiegespräch zwischen einem Zen-Mönch und seinem Meister wie-
derzugeben. Der Mönch Tsou-shin hat gerade das Satori-Erlebnis erfahren. Tsou-shin ging zum
Meister Houei-nen, und als er seine Verbeugungen machen wollte, lächelte der Meister und sagte:
„Du bist jetzt in mein Zimmer eingetreten“. Darüber freute sich Tsou-shin sehr und sprach: „Wenn
das, was ich jetzt besitze, die Wahrheit des Zen ist, warum willst du dann, dass wir in all die alten
Geschichten eindringen und uns abmühen, ihren Sinn zu erfassen?“ Der Meister antwortete: „Ich
bin sicher, dass Ihr jede Möglichkeit, euch selbst zu nden, verlieren würdet, wenn ich euch nicht
auf jede erdenkliche Weise darum ringen ließe, den Sinn zu nden, um euch schließlich auf die Stu-
fe der Kamp osigkeit und Mühelosigkeit zu führen, auf der ihr mit euren eigenen Augen erkennen
könnt.“

Ich kann mich also ruhig als Reiter auf einem Pferde sehen und ruhig die Aktivität des Reiters, der
sein Pferd dressiert, entfalten. Aber trotz dieser Illusion darf ich nicht vergessen, dass ich in Wirk-
lichkeit Kentaur bin und dass jede Dressur, bei der die vermeintliche Trennungslinie „Reiter-Pferd“
fortbesteht, mich von meinem wahren Selbst entfernt hält. In Wirklichkeit kommt es wenig darauf
an, dass mein Pferd auf einen „Heiligen“ hin dressiert wird oder auf einen Yogi mit imponierenden
Kräften oder etwa darauf, innere Zustände als „transzendierend“ zu erfahren. Mein wahres Selbst ist
nicht dort zu nden, es besteht einzig und allein in der Einswerdung mit meinem Pferde. Dann wird
das geringste Tun an der Wirklichkeit teilhaben, mögen wir es für noch so banal halten. Doch in
dem Augenblick, da die vermeintliche Trennungslinie verschwindet, verschwindet auch der Ken-
taur, jenes Formsymbol, das vor der Verwirklichung für mein Verständnis nötig war. „Wenn es keine
Zweiheit gibt“, sagt das Zen, „ist alles das gleiche, und alles Existierende ist darin eingeschlossen.“
Reiter und Pferd werden eins, doch werden sie eins in einem All, das keine Formen kenne, so dass
es weder Reiter noch Pferde mehr gibt und der Kentaur, sobald er erreicht ist, auch schon überwun-
den ist. Dies kommt in dem meisterhaften Text der Zenlehre, der den Titel trägt: „Die zehn Stufen
der Dressur der Kuh“ zum Ausdruck. Hier hebt die Zenlehre hervor, dass es zwar notwendig sei,
durch die Dressur hindurchzugehen, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass eine „dressierte Kuh“
nicht das letzte Ziel sein kann. „Auf der Kuh kehrt der Mensch endlich zu sich selbst zurück. Aber
auf einmal ist keine Kuh mehr da, und mit welcher Heiterkeit sitzt er nun ganz alleine da!“

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Dann verschwindet auch der Mensch: „Alles ist leer geworden, es gibt keine Peitsche mehr, kein
Seil, keinen Menschen, keine Kuh. Wer hat je die Unendlichkeit des Himmels beschaut? Auf den
weißglühenden Ofen kann nicht eine einzige Schnee ocke fallen. Wenn man hier angelangt ist, ist
der Geist des alten Meisters offenbar geworden.

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XVIII. DER GRUNDIRRTUM ODER DIE „ERBSÜNDE“

In der vorangegangenen Studie haben wir von der “ Disziplin“ oder der “Dressur unseres Pferdes“
gesprochen und haben in diesen Begriff alle besonderen Erscheinungsformen der Dressur mit ein-
geschlossen. Von diesem Gesichtspunkt aus haben wir den Menschen vor der Verwirklichung des
Satori, bei dem es notwendig Dressur geben musste, und den Menschen nach seiner Verwirklichung
unterschieden, bei dem es keine Dressur mehr gibt.

Für mich als Menschen-vor-dem-Satori ist es nun interessant zu sehen, dass es verschiedene Stufen
der Dressur gibt und dass diese verschiedenen Stufen, wie alles, was Erscheinung ist, sich in meinen
Augen als Hierarchie aufbauen, wobei sie vom Stof ichsten zum Unstof ichsten gehen. Diese
Hierarchie ist offensichtlich nicht absolut, denn die Erscheinungen als solche haben ja auch nicht
mehr oder weniger teil an der Absoluten Realität, die erwähnte Hierarchie existiert relativ in Bezug
auf meine Affektgebundenheit. Sie darf nicht durch eine schräg geneigte Leiter symbolisiert wer-
den, wie es mir durch mein Gefühlsleben nahegelegt wird, sondern durch einen Weg, der auf der
waagrechten Ebene zu dem Punkt führt, von wo die senkrechte Achse aufsteigt. Sie steht in Verbin-
dung mit der gesamten inneren Arbeit, durch die der Mensch sich chronologisch dem Satori nähert,
die ihn aber nicht wirklich näher führen kann, da ja keine Kreatur sich ihrem Prinzip nähern kann,
weil sie niemals außerhalb desselben war. Dieser horizontalen Hierarchie der Disziplinen entspricht
eine Abstufung des Wirkens unserer freien Intelligenz. Wir müssen hierbei einen Unterschied ma-
chen zwischen dem Prinzip unseres reinen Denkens, einem Prinzip, das unendliche Weisheit, objek-
tives Bewusstsein, das Buddhi der Vedanta ist, und dem relativen, begrenzten Wirken jener unbe-
grenzten Einsicht. Wir wollen uns dafür eines konkreten psychologischen Beispiels bedienen: eines
Tages bin ich zornig und manifestiere diesen Zorn impulsiv, ein andermal bin ich ebenso zornig,
doch verzichte ich auf die Äußerung, weil ich mir eines Idealbildes meiner selbst bewusst bin, das
ich verwirklichen möchte und zu dem die Kontrolle meiner Äußerungen gehört (weil diese Haltung
ästhetischer ist, oder zweckdienlicher, oder für meine Pläne und die allgemeine Führung meines
Lebens günstiger, oder weil ich von dieser verdienstvollen Haltung eine „geistige“ Belohnung er-
warte). Im ersten Falle ist mein geistiges Bewusstsein mit der unmittelbarsten Gefühlsregung ge-
koppelt, mit den auf diesen Augenblick beschränkten Affekten, mit meinem Augenblicks“wert“. Im
zweiten Falle ist diese Koppelung aufgehoben, aber nun ist mein Bewusstsein mit meiner Liebe zu
einem Ideal gekoppelt, d. h. mit einer komplexen Gefühlsbewegung, die Dauer hat und die über der
einzelnen und geringfügigeren Regung des Augenblicks steht, Ich bin damit zwar vorn Gefühlswert
des Augenblicks unabhängig geworden, dafür aber einem „Wert“ unterworfen, der an der vierten
Dimension, der Zeit, teilhat, und der sich in gewisser Hinsicht über eine Vielzahl von Augenblicken
erhebt. In diesem zweiten Falle handelt es sich um die „Befreite Einsicht“, denn ich bin frei vom
„Wert“ des Augenblicks; doch ist auch dieses Inkrafttreten der „Befreiten (oder Freien) Einsicht“
nur ein unvollkommenes, da ich dabei nicht frei bin von einem neuen „Wert“, einem Werte, der
Dauer besitzt. Das Teilhaben an der vierten Dimension bedeutet Befreiung von den Grenzen der
dritten, doch gleichzeitig Unterwerfung unter die Beschränkung der vierten.

Was aber ist diese freie Einsicht, die an der absoluten Unparteilichkeit, an der objektiven oder gött-
lichen Vernunft, also am Unendlichen teilhat, und die wir doch in unserem Beispiel als eine unvoll-
kommene, beschränkte und relative erkennen müssen? Die offensichtliche Schwierigkeit dieses
Problems rührt daher, dass wir so oft geneigt sind, ein Prinzip mit den Manifestationen desselben
Prinzips zu verwechseln. So sind wir bei dem Ausdruck „Freie Einsicht“ versucht, das Buddhi und
die Manifestationen dieses Buddhi miteinander zu verwechseln. Es liegt in mir eine Möglichkeit,
durchaus mit vollkommener Unparteilichkeit zu denken. Diese Möglichkeit ist das Buddhi oder das
Prinzip der Freien Einsicht, die jedoch vor dem Satori nicht restlos verwirklicht werden kann. Sie
kommt nur in einer „relativen Unparteilichkeit“ zum Ausdruck, und diese „relative Unparteilich-
keit“ ist in Wirklichkeit nur die relative Erscheinungsform der absoluten Unparteilichkeit; es gibt in
Wirklichkeit kein unvollkommenes Buddhi, nur unvollkommene Verkörperungen des vollkomme-
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nen Buddhi, meine freie Einsicht, wie sie in diesem Lebensaugenblick nun einmal beschaffen ist,
hat zweierlei Aspekte, die ich nicht miteinander verwechseln darf: es waltet in ihr das Buddhi, ihr
Prinzip (Immanenz des Buddhi), und dadurch hat sie teil am Wesen des Buddhi; und doch ist vor
dem Satori meine Freie Einsteht nicht das Buddhi (Transzendenz des Prinzips). Sobald mein Be-
wusstsein sich von der Gefühlsbewegung des Augenblicks auch nur etwas freizuhalten vermag (d.
h. sobald ein gewisser Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen sich vollzieht), manifestiert
sich das Buddhi in diesem meinem Bewusstsein; und doch wäre es ein Irrtum, dieses Phänomen mit
dem Buddhi selbst oder der „Schau der Dinge, wie sie sind“ gleichsetzen zu wollen. Die Freie Ein-
sicht macht eine Loslösung des Gefühlslebens vom Bewusstsein möglich, doch vollzieht sich die
Verwirklichung dieser Loslösung nur stufenweise. Was die Loslösung selbst angeht, so eignet ihr
wohl Vollkommenheit, doch könnte man sagen, dass die qualitativ vollkommene Loslösung quanti-
tativ nur unvollkommen durchgeführt werden kann. Von dieser quantitativen Abstufung des Wir-
kens der freien Einsicht leitet sich die ganze horizontale Hierarchie der Disziplin her, von der wir
weiter oben gesprochen haben; diese quantitative Stufung ist die Voraussetzung für eine qualitative
Stufung der Dressuren, von den gröbsten bis zu den feinsten. Es kann hier nicht unsere Sache sein,
die ganze Hierarchie selbst zu untersuchen, sondern nur ihren Gipfelpunkt. Es kommt darauf an, die
am schwersten zu fassende Erscheinungsform der Freien Einsicht zu studieren, die „Urdressur“, aus
der alle anderen niedrigeren Dressuren hervorgehen, um in ihr die ursprünglich angelegte Unzu-
länglichkeit jeder Manifestation des Buddhi in uns zu erkennen. Und dies ist der letzte Irrtum, den
wir bei unserer Rückkehr zum Ursprung zu überwinden haben.

Wir haben gesehen, dass jede Dressur in einem Bewerten, einem Beurteilen der Funktionsübungen
unseres Pferdes besteht, und dass das Urteil auf eine vom Reiter konzipierte ideale Norm zurückzu-
führen ist. Jeder Mensch hat jeweils eine bestimmte Vorstellung davon, wie seiner Ansicht nach das
Pferd sich bewegen sollte, und diese Vorstellung kommt in einem Bild zum Ausdruck. Je speziali-
sierter, je handgrei icher dieses Bild ist, desto “niedriger“ in der Hierarchie der Dressuren wird die
zugehörige Dressur empfunden; je allgemeiner, je subtiler das Bild ist, desto subtiler oder „erhabe-
ner“ wird die entsprechende Dressur empfunden.

Doch mit wachsendem und genauer werdendem Verständnis zerstreut unsere geistige Klarheit sol-
che Götzenverehrung, und das bedeutet, dass das Idealbild meiner selbst zusammenschrumpft und
sich verwischt. Schließlich begreife ich, dass die Wirklichkeit über jeder Form steht und dass daher
auch jedes Idealbild nur eine Illusion sein kann. Ich habe nun keinen theoretischen Grund mehr,
eine bestimmte Verhaltensweise meines Pferdes einer andern vorzuziehen.

Man könnte nun auf den Gedanken kommen, dass das Zurücktreten jeden Idealbildes auch das Ur-
teil über mich selbst zurücktreten ließe, das ja aus einem Idealbild hervorgeht. Das Urteil bestünde
dann nicht mehr, da ja ein Kriterium fehlte, auf das es sich beziehen könnte, und so würde ich all-
mählich das Urteilen über mich selbst ganz einstellen. Eine totale Unparteilichkeit würde dadurch in
mir herrschen und ich wäre also der Mensch des Satori.

Dies träfe zu, wenn das Idealbild die Ursache des Urteils wäre, d. h, wenn ich nach einem bereits
vorhandenen Ideal mein Urteil fällte. Doch ist das Gegenteil der Fall: ich konstruiere nämlich ein
Idealbild, um ein Urteil fällen zu können, für das ich schon zuvor ein Bedürfnis fühle. Das Leiden
an meiner Begrenztheit durch die Zeit weckt in mir einen Zweifel an meinem „Sein“ und löst das
Bedürfnis aus, mich zu bewerten, mich zu beurteilen. Als nächstes löst nun dieses Bedürfnis nach
einem Urteilsspruch die Konstruktion eines Idealbildes als Kriterium aus, dem ich dann nachstreben
kann, um so meinen Freispruch zu erlangen. Mein Leiden an der Begrenztheit durch die Zeit war
selbst schon eine Folge des tief in mir wurzelnden Glaubens, dass ich eigentlich nicht durch die Zeit
begrenzt sein sollte. Und in dieser Überzeugung ndet die durch ihre Verlagerung auf die Ebene der
Erscheinungen verfälschte Erklärung der ursprünglichen, unbewussten und richtigen Intuition ihren
Ausdruck, dass ich „vom Wesen Buddhas“ sei. Diese ganze innere Entstehung lässt sich wie folgt
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zusammenfassen; im prinzipiellen Unbewussten (im Quellgrund des Universums), weiß ich, dass
ich Buddha bin; In meinem Unter-Bewussten (erste persönliche Schicht), erhebe ich Anspruch auf
die Nicht-Begrenzung in der Zeit, darauf, dass ich nie von einem Nicht-Ich negiert werden dürfe;
im Bewussten zwei e ich schmerzlich an meinem Unter-Bewussten Anspruch, ich fühle das Be-
dürfnis, ein Urteil über mich auszusprechen in der Hoffnung, meinen Zweifel zu zerstreuen, und ich
konstruiere ein Idealbild, dem ich nachstreben kann, um meine Absolution zu erlangen.

Wenn ich daher auch zu einem Verständnis gelange, das genügt, jedes Götzenbild aufzulösen, ver-
schwindet doch nicht mein Bedürfnis, über mich ein Urteil zu fällen. Es dauert fort, weil mein
Zweifel an mir selbst fortdauert, und jener Zweifel dauert fort, weil seine tie iegenden Ursachen
fortdauern. Jedes besondere Idealbild, auf das sich eine besondere Dressur stützen könnte, ver-
schwindet, doch die angeborene allgemeine Vorstellung, die alle besonderen Bilder entstehen lässt,
dauert fort (die ursprüngliche Vorstellung, dass „ich niemals negiert werden dürfe“), und sie be-
stimmt weiterhin eine Dressur, die ursprüngliche Dressur mit der Tendenz, von meinem Pferd zu
erreichen, dass es niemals negiert werde, d. h, dass es immer und vollständig über das Nicht-Ich tri-
umphiere.

Man versteht nun, dass meine innere Situation immer ernster wird, je mehr mein Verständnis jedes
besondere Formideal in mir abbaut. Solange ich ein besonderes Formideal hatte, fand ich darin eine
bestätigende Zu ucht. Bisher konnte irgendeine Verneinung in Form eines Versagens oder eines
drohenden Scheiterns aus der Außenwelt auf mich zukommen: ich war imstande, den Schlag zu
überwinden, ihn zu kompensieren, ja „überzukompensieren“ durch die Nachahmung meines Ideals,
Es gab für mich einen „Ort“, wo ich durch eigene Anstrengung, durch den auf mich selbst ausgeüb-
ten Zwang, mir so viel Bestätigung holen konnte wie mir nötig war, um die Verneinung der Außen-
welt wirkungslos zu machen. Mit der Fortentwicklung meines Verständnisses wird dieses tröstliche
Kunststück für mich unmöglich. So mündet das Verschwinden der speziellen Disziplin nicht im
Ausfall jeder Disziplin, sondern in der allgemeinen und ursprünglichen Disziplin, die mich ohne
schonenden Betrug zwingt, dem Antagonismus des Nicht-Ich ins Gesicht zu sehen, d. h. der Schau
meiner persönlichen Nicht-Göttlichkeit. Und diese letzte Disziplin wird nicht so leicht zu überwin-
den sein, wie es die speziellen Disziplinen waren. Das Ideal, das sie mit sich bringt, ist nicht mehr
eine bewusste, von meinem Bewusstsein gewertete Form, die darin nach Belieben immer wieder
hervorgerufen werden kann. Es ist eine Unter-Bewusste, gleichsam unterirdische Form, die ich
nicht greifen und nicht unmittelbar entwerten kann. Ich muss ihre langsame Entwertung mit „bren-
nender Geduld“, mit wachsamer Unparteilichkeit erwarten, indem ich wahrhaft die Idee des Zen
lebe: „Lasst los, lasst die Dinge, wie sie ihrem Wesen nach sind!“

Wir wollen nun genau untersuchen, was diese ursprüngliche Disziplin und das Unter-Bewusste Ide-
albild ist, auf das sie sich gründet. Erinnern wir uns an das, was wir eben gesagt haben: Im prinzipi-
ellen, universalen Unbewussten weiß ich, dass ich Buddha bin; im Unter-Bewussten oder der ersten
persönlichen Schicht möchte ich Buddha sein, indem ich mich abgrenze, insoweit ich im Ich gegen-
über dem Nicht-Ich bin. Ich erhebe also den Anspruch, dass ich nie vom Nicht-Ich verneint werden
dürfe, dass ich immer und vollständig über die Außenwelt triumphieren müsse. Im Bewusstsein
zwei e ich an der Legitimität meines Unter-Bewussten Anspruchs und ich erlebe die Angst vor dem
furchtbaren Nicht-Ich (es ist begrei ich, dass mit jedem Scheitern ein „Schuldgefühl“ verbunden
ist). Solange ich ein besonderes Ideal hatte, entzog ich mich der Unter-Bewussten Verp ichtung,
immer und vollständig Erfolg haben zu müssen. Ein Ausschnitt wurde gewählt, um das Ganze zu
vertreten, und mein Erfolg in diesem Wahlreich machte mich unemp ndlich gegen jede Ablehnung
von anderer Seite. Doch kaum hat mein Verständnis jeder bewussten Idealform den Wert genom-
men, fällt mir schon die ursprüngliche Verp ichtung wieder zu, immer und vollkommen über das
Nicht-Ich zu triumphieren. Diese ursprüngliche Verp ichtung ist aber Unter-Bewusst, und daher
fällt mein Urteil über mich selbst wieder ins Dunkel zurück. Mein bewusster Blick ist nicht mehr
wertend auf mich selbst gerichtet, sondern auf die Außenwelt, auf die Episoden des Lebens- und
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Erfolgskampfes, er heischt Bestätigung und weist jede Ablehnung zurück. Meine positiven oder ne-
gativen, bejahten oder verneinten „Seelenzustände“ sind nicht mehr von der Form meiner Mecha-
nismen abhängig (einer schönen oder hässlichen Form, je nachdem ob sie einer besonderen Ideal-
form gleicht oder nicht), sie sind abhängig von meinen psychosomatischen Schwankungen, d. h.
von meinem Erfolg oder meinem Scheitern in der Außenwelt und dem angenehmen oder unange-
nehmen Gesamtzustand meiner Emp ndungen. Je nach den Umständen, die meinen psychosomati-
schen Organismus betreffen, bin ich vor dem Nicht-Ich anmaßend oder kleinlaut, doch ohne in einer
dieser Haltungen bewusst ein Urteil über mich selbst zu fühlen. In meinem Bewusstsein habe ich
den Eindruck, dass ich nichts mehr von mir selbst fordere, dass alle meine Forderungen einzig und
allein auf die Außenwelt gerichtet sind. Und doch sind wir uns klar darüber, dass die Forderung, die
Außenwelt solle sich nach mir richten, nur der Ausdruck meiner ursprünglichen und unterirdischen
Forderung nach dem Triumphieren über die Außenwelt ist. Und hierin liegt der fundamentale An-
spruch, die erste persönliche Erscheinungsform meiner universalen Identität mit dem Absoluten
Prinzip, also der erste dualistische und ich-bezogene Irrtum, die „Erbsünde“. Die Bedeutung des
hier berührten Punktes wird ersichtlich: wir be nden uns an der eigentlichen Wurzel jener Unwis-
senheit, aus der all unsere sinnlose Angst ießt.

Analysieren wir nun im Einzelnen die Situation jener „ursprünglichen Dressur“. Das Pferd hat den
Wunsch, sich in seinem Gegensatz zur Außenwelt bestätigt zu sehen, der Reiter fordert vom Pferde,
dass es ihm gelinge, sich immer bestätigt zu fühlen. Zunächst will es erscheinen, als strebten Pferd
und Reiter so dem gleichen Ziele zu. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall: Wesen und Richtung
ihrer Strebungen sind bei beiden einander genau entgegengesetzt.

Das Wesen der Tendenz des Pferdes ist relativ; das Pferd gehört zu den Manifestationen, zu der re-
lativen Welt der Erscheinungen. Es möchte sich so viel als möglich bestätigt sehen, doch nicht un-
begrenzt, denn das „unbegrenzt“ gehört nicht zu seinem Bereich; es zieht die Bejahung vor, doch
erträgt es auch die Verneinung und passt sich an, so gut es kann. Andrerseits ist der Wunsch des
Pferdes auf die Außenwelt gerichtet, das Pferd wünscht irgendein Objekt aus der Außenwelt.

Das Wesen der Tendenz des Reiters ist absolut. Meine im Unbewussten ruhende Identität mit Bud-
dha, dem Absoluten, erzeugt im Unter-Bewussten nicht den relativen Wunsch, dass mein Ich über
das Nicht-Ich triumphiere, sondern die absolute Forderung, dass es so sei. Der Reiter vertritt das
Selbst, das Absolute Prinzip meines Wesens. So belehrt mein Bewusstsein auch sein mag, der Reiter
vertritt darum nicht weniger mein Absolutes Selbst. So unvollkommen die Freiheit meiner Einsicht
auch in Erscheinung treten mag. sie ist darum nicht weniger absolut. Der Reiter, unmittelbar aus
dem Absoluten hervorgegangen und dessen Stellvertreter, bildet auf der zeitlichen Ebene ein ma-
thematisches Unendlich, das alles mit einem unbegrenzten Koef zienten multipliziert. Die absolute
Forderung des Reiters dem Pferde gegenüber zeigt sich in einem unbegrenzten Anspruch, d. h. sie
hat die Fähigkeit, in meinem Organismus jeweils alle zur Verfügung stehenden Kräfte In Bewegung
zu setzen. So steht die wesenhaft absolute Tendenz des Reiters vollkommen im Gegensatz zu der
wesenhaft relativen Tendenz des Pferdes.

Andrerseits ist der Reiter nicht auf die Außenweit, sondern auf das Pferd ausgerichtet. Er bean-
sprucht selbst kein Objekt aus dem Bereich des Nicht-Ich, fordert aber, dass das Pferd ein solches
Objekt erhalte (der landläu ge Ausdruck hierfür heißt: Es geht nicht um die Sache, sondern um das
Prinzip). Der Reiter misst dem, was das Interesse des Pferdes ausmache, durchaus keinen Wert bei.
Das Pferd interessiert ihn nicht als solches. (Das wird am deutlichsten beim Selbstmord. Sobald der
Reiter sieht, dass das Pferd ein für allemal unfähig ist, seine Forderungen zu erfüllen, verurteilt er es
zum Tode.) Der Reiter betrachtet das Pferd nur als Instrument, das geeignet erscheint, die aus der
Welt des Noumenon stammende Übergeordnetheit des Absoluten Prinzips über seine jeweilige Er-
scheinungsform durch einen aus der Welt des Phänomenen stammenden totalen Sieg des Ich über

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das Nicht-Ich in falscher Weise Gestalt werden zu lassen. Das Pferd nimmt alle seine Kräfte gegen
die Außenwelt zusammen, während der Reiter sich gegen das Pferd, gegen das Ich stellt.

Die Stellung der „ursprünglichen Dressur“ bringt also einen radikalen Antagonismus zwischen mei-
nen beiden „Wesensteilen“ mit sich. Da dieser Antagonismus nur einer der Aspekte des Dualismus
Yin-Yang ist, kann diese Tatsache nicht überraschen. Im Gleichgewicht des Tao jedoch sind Yin und
Yang zwar Gegenpole, ergänzen sich aber gleichzeitig. Beklagenswert ist es daher nun dass der
Antagonismus meiner beiden „Wesensteile“ so radikal ist, das heißt, dass ich nur die feindliche
Spannung meiner beiden Pole, nicht aber ihre Ergänzungsfähigkeit lebe. Was ich lebe, sollte also
nicht bekämpft, wohl aber ergänzt werden.

Die stufenweise Vervollkommnung wird allein aus dem Verständnis erwachsen, und kann auch nur
daher kommen. Das Verständnis, das mich von meinen einzelnen Idealbildern gelöst und dadurch
den grundlegenden Antagonismus in meinem Innern sichtbar gemacht hat, der durch diese Götzen-
bilder verdeckt war, kann nun seine Arbeit vertiefen. Die klare theoretische Konzeption der in die-
ser Studie dargelegten Ideen wird nach und nach mein Innenleben, meine innere Erfahrung durch-
dringen. Je deutlicher ich theoretisch meinen Unter-Bewussten Anspruch, immer und vollständig
über das Nicht-Ich zu triumphieren, und die Unter-Bewusste, unversöhnliche Forderung des Reiters
an das Pferd erkenne, desto rascher wird sich eine neue innere Haltung einstellen, die die alte nach
und nach außer Kraft treten lässt. Diese neue Einstellung dem Pferde gegenüber ist duldsam: sie
nimmt es hin, dass das Pferd sich manchmal verneint fühlt. So mache ich es mir nicht mehr jedes-
mal zum Vorwurf, wenn ich Schiffbruch erleide, wenn ich unglücklich bin oder mich falsch verhal-
te. Ich betrachte nunmehr mein Pferd als Freund und nicht mehr als reines Instrument meiner un-
mäßigen Ansprüche. Bevor ich in den Tempel gehe, versöhne ich mich mit meinem Bruder, wie es
im Evangelium heißt. Doch wird mir diese neue Haltung nicht bewusst, (daher darf man sie auch
nicht mit der banalen Selbstgefälligkeit verwechseln, die das bequeme Resultat mancher Dressuren
ist). Es ist wie bei einer Base, die in eine Säure gegossen ward: Kaum be ndet sie sich in der Mi-
schung, hört sie auch schon auf, Base zu sein, und ihre Anwesenheit verrät sich nur noch in einem
Abnehmen des Säuregehaltes. So kommt es auch nicht zu einer freundschaftlichen Parteinahme für
mein Pferd, sondern nur zu einem Nachlassen der feindseligen Einstellung ihm gegenüber. Ebenso
wenig kommt es zu einem Freispruch, sondern nur zu einem Seltenwerden des Urteilens im Allge-
meinen, eines Urteilens, das doch stets zur Verurteilung zu führen p egte.

Je mehr ich mein Pferd in Ruhe lasse, desto besser trabt es. Das Zen sagt: „Wenn die Kuh richtig
gehütet wird, ist sie einfach und folgsam. Sie wird dir dann auch ohne Kette und Halfter aus eige-
nem Antrieb folgen!“

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XIX. DIE STETE ALLGEGENWART DES SATORI

Die ursprüngliche Grundforderung nach Sein innerhalb der Grenzen meiner individuellen Eigen-
tümlichkeit bedingt meine Wünsche und dadurch meine Hoffnungen und meinen Glauben. Als Trä-
ger einer solchen Forderung bin ich gleichzeitig Träger einer Sehnsucht, einer Erwartung, in der
Überzeugung, dass mir etwas fehle, erwarte ich das, was diesem Mangel abhelfen soll.

Diese zunächst etwas allgemeine Sehnsucht ndet ihren besonderen Ausdruck in der Erwartung ei-
nes „wahren Lebens“, eines Lebens, das sich von meinem gegenwärtigen dadurch unterscheiden
würde, dass ich darin eine umfassende und vollkommene, nicht nur eine geteilte und unvollkomme-
ne Bestätigung - wie jetzt - erfahren dürfte. Jeder von uns, ob er sich Rechenschaft darüber ablegt
oder nicht, lebt in der Erwartung, dass einmal das „wahre Leben“ beginnen wird, in dem keine Ver-
neinung mehr möglich ist.

Nun hat aber jeder, gemäß seiner besonderen Wesensart und dem jeweiligen Lebensaugenblick, eine
andere Vorstellung von diesem „wahren Leben“. Genauer gesagt, stellt sich jeder etwas darunter
vor, was imstande wäre, ein neues, seinen eigenen Bedürfnissen angepasstes Zeitalter heraufzufüh-
ren, in welchem alle Unvollkommenheiten seines jetzigen Lebens ausgelöscht sein würden. Eine
innere Stimme üstert mir zu, dass es „ohne Zweifel herrlich sein müsste, dieses oder jenes zu be-
sitzen, ... oder endlich wie dieser oder jener Mensch zu sein, ... oder zu erleben, dass etwas Erhoff-
tes einträte...“. Manchmal glaube ich schon klar zu erkennen, was imstande sein müsste, das „wahre
Leben“ heraufzuführen, dann wieder bleibt es unbestimmt, wird Erwartung von „irgendetwas“, was
meiner Überzeugung nach alles in Ordnung bringen würde. Zeitweise schweigt diese innere Erwar-
tung, doch handelt es sich dann nur um einen vorübergehenden Schlummer, aus dem unsere Sehn-
sucht nach einem endgültig befriedigenden Leben bald wieder neu erwachen wird. Es ist, als wähn-
te ich mich ausgeschlossen aus einem irgendwo vorhandenen Paradies, als glaubte ich in irgendei-
ner bestimmten Erscheinungsform der Außenwelt oder meines Innern den Schlüssel zu erkennen,
der imstande wäre, das verlorene Paradies wieder aufzuschließen. Und so verbringe ich mein Leben
auf der Suche nach dem verlorenen Schlüssel. Während dieser Erwartungsfrist “schlage ich die Zeit
tot“, so gut es geht. Ein Teil meiner Lebensenergie kann in der wirksamen Vorarbeit zu diesem
„Schlüssel“ investiert werden: so arbeite ich etwa auf irgendeinen Erfolg auf materiellem oder geis-
tigem Gebiet hin. Doch kann ich nur einen Teil meiner Energie dabei ansetzen, und so verschwende
ich den Rest an Ausgeburten meiner Vorstellungskraft, an Träumereien, die alle jenen unaufhörli-
chen „Prozess“ vor meinem inneren „Tribunal“ umkreisen, dessen glücklicher Ausgang mir diesen
Schlüssel verschaffen könnte. Ich fühle mich gezwungen, meine Energie irgendwo anzusetzen,
mich zu bewegen, sei es nach außen oder im Innern. Ich kann nicht bewegungslos verharren wäh-
rend der Erwartungszeit. Im Übrigen gäbe es ohne Bewegung auch keine „Erwartung“, keine Span-
nung auf das hin, was kommen soll, keine Sehnsucht. Ich wäre ohne jene verlangende Bewegung
meines Innern gleichsam tot. Je weniger ich mich äußerlich bewegen kann, um den erhofften
Schlüssel zu erwerben, desto eberhafter werfe ich mich innerlich hin und her, indem ich Bilder
hervorbringe, die mir das Warten erleichtern sollen.

Wie übrigens alles, was wir bei unserer naturbedingten Wesensanlage beobachten können, ist diese
Erwartung zwar in sich selbst durchaus richtig, jedoch falsch ausgerichtet. Sie ist richtig, insofern
sie der Ausdruck ist für mein tiefes Bedürfnis nach einer Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich
sind, nach jener Erkenntnis, die für mich am Eingang zum „wahren Leben“ stehen wird. Weil je-
doch meine Sehnsucht sich auf die Dinge richtet, wie ich sie im Augenblick sehe, ist die Ausrich-
tung meiner Erwartung falsch. Solange mein Verständnis noch nicht geweckt worden ist durch die
richtige Unterweisung, richtet sich mein Verlangen notwendigerweise auf das, was ich kenne, auf
das, was ich mir vorstellen kann, d. h. auf die dualistische Welt der Erscheinungen. Für meine Su-
che nach dem „verlorenen Paradies“ ist es verhängnisvoll, dass ich mir den Schlüssel als etwas vor-
stellen muss, was mir schon begegnet ist, oder was wenigstens von der gleichen Art ist, wie alles,
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was ich sonst kenne, auch wo es mir noch nicht konkret begegnet ist. Selbst wenn ich den Schlüssel
nicht in festumrissener, gestalthafter Art vor mir sehe, so stelle ich mir meine Rückkehr ins verlore-
ne Paradies doch als einen vollkommen glücklichen inneren Zustand vor, der den glücklichen Zu-
ständen gleichen mag, die ich schon erlebt habe. Die „natürliche“ Richtung meiner Sehnsucht liegt
notwendigerweise auf der horizontalen Ebene des zeitgebundenen Dualismus. Sie strebt nicht nach
etwas Neuem, nach etwas, was diese Ebene durchbricht, sondern nach einer Verbesserung innerhalb
der Grenzen des mir schon Bekannten.

Nun liegt aber hierin ein handgrei icher Irrtum: denn ich erwarte von einer Verbesserung das Voll-
kommene. Keine Verbesserung von etwas Unvollkommenem, und sei sie noch so umfassend, wird
aber je Vollkommenheit erreichen. Keine „Entwicklung“ und kein „Fortschritt“ führt zu dem Ort,
den der Zen-Buddhismus als „Ort der Ruhe“ bezeichnet. Auch müssen wir beachten, dass unsere
Sehnsucht, sofern sie sich auf den Gegensatz Zufriedenheit- Unzufriedenheit, Freude-Schmerz rich-
tet, kein Recht hat, die Au ösung dieses Dualismus zu erwarten, der allein im Tao Versöhnung n-
den kann. Die auf dieses Gegensatzpaar gerichtete Sehnsucht kann ja nur wieder die beiden Pole
ihrer Zweiheit herbeirufen. Je stärker meine Sehnsucht ist, desto stärker wird meine innere Gespal-
tenheit, gleichviel, ob ich mir ihrer bewusst werde oder nicht. Wenn ich nach dieser Quelle dürste,
so werde ich nur Salzwasser trinken, das den Durst nach einem kurzen Augenblick vermeintlicher
Stillung von neuem wieder steigert. Der Mensch, der das „wahre Leben“ innerhalb der Welt der Er-
scheinungen, innerhalb der ihm vertrauten Welt erwartet, wird bis zu seinem Tode vergeblich darauf
warten.

Das „Richtige“ an meiner Sehnsucht liegt aber darin, dass ich auf etwas anderes als auf mein ge-
genwärtig gelebtes Leben warte. Dadurch entgehe ich der vollständigen Identi zierung mit diesem
Leben, bewahre ich mein Bewusstsein vor einem restlosen Aufgehen in den jeweils gegenwärtigen
Erscheinungsformen dieses Lebens. Da jedoch meine Sehnsucht falsch ausgerichtet ist, gerate ich
unwillkürlich in eine andere Gleichsetzung hinein: ich identi ziere mich nämlich mit irgendetwas
mehr oder weniger klar Vorgestelltem als durchaus Wünschenswertem. Und da ich es mir vorstelle,
muss es schließlich auch eine Form haben (sei sie auch noch so subtil), die mein Bewusstsein ge-
fangen nimmt. Wenn ich auch meinem Traum vom wiederzu ndenden Paradiese einerseits eine ge-
wisse geistige Verfügungsfreiheit gegenüber den jeweiligen Lebensumständen verdanke, so entwer-
tet er andrerseits diese so kostbare Freiheit durch die Vorstellung von einer auf bloßer Einbildung
beruhenden erscheinungsmäßigen Vollkommenheit. Durch diese falsche Ausrichtung meiner Sehn-
sucht wird in mir die Illusion der Zeit hervorgerufen und das schmerzliche Gefühl, dass diese Zeit
sich mir unaufhörlich entzieht. Wenn das Ziel meiner Sehnsucht eine Verbesserung irgendwelcher
mir vertrauter Erscheinungen bleibt (die durch Raum und Zeit bedingt sind), so verlege ich damit
meine endgültige Befriedigung in die Zukunft. Auf diese Weise entsteht für mich die angeblich ab-
solute Wirklichkeit der Zeit, der Zeit, die sich mir endlos zu dehnen scheint zwischen dem gegen-
wärtigen unvollkommenen und dem zukünftigen vollkommenen Augenblick, den ich herbeisehne.
Mein Verhalten dieser fälschlicherweise mit absolutem Wert belehnten Zeit gegenüber ist ambiva-
lent: beim Zurückschauen beklage ich bitter das Ent iehen der Zeit. Ich möchte sie zurückrufen
oder doch wenigstens ihr weiteres Ent iehen aufhalten. Wenn ich jedoch in die Zukunft blicke,
mochte ich die Zeit so rasch wie möglich ver ießen sehen, denn ich kann das Sich-Öffnen des ver-
lorenen Paradieses kaum mehr erwarten. Wenn ich mir irgendeine Epoche meines vergangenen Le-
bens ins Gedächtnis zurückrufe, erlebe ich sie ganz anders als damals. Denn jetzt, in der Erinne-
rung, bin ich frei von jenem stürmischen Verlangen nach einer besseren Zukunft, von dem ich da-
mals besessen war, das mich dem Augenblick entzog und mich daran gehindert hatte, ihn voll zu
leben. Nur so erklärt sich mein Zurückverlangen nach einer Zeit, die ich im Grunde gar nicht be-
wusst genießen konnte.

Doch in dem Maße, als mein Verständnis durch die richtige Unterweisung geweckt wird, vollzieht
sich in mir eine Veränderung. Ich beginne zu begreifen, dass meine angeborene, unbegrenzte Sehn-
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sucht von der Erscheinungswelt nichts zu erwarten hat, selbst dann nicht, wenn ich deren höchste
und weltumfassende Stufe vor Augen habe. Während ich das, was ich seid eh und je erwarte, bisher
fälschlicherweise in dieser oder jener Vorstellung verkörpert sah, begreife ich nun, dass es nichts
anderes als das Satori der Zenlehre ist. Ich begreife, dass dieses Satori nicht als eine Verbesserung
dessen, was mir jetzt und hier vertraut ist, aufgefasst werden darf, so kühn ich mir diese auch den-
ken mag. Es kann nicht in der Aufhebung eines unaufhebbaren Dualismus bestehen, kann nicht die
stufenweise Läuterung von etwas „Gutem“ sein, das reingewaschen würde von allem Bösen. Es ist
vielmehr der Zugang zu „etwas“, was über allem Dualismus steht und was diesen Dualismus auf-
hebt in einer Art Dreieinigkeit. Natürlich bin ich außerstande, mir dieses “Etwas“ vorzustellen, ich
muss hinnehmen, dass es sich jeder Vorstellung oder Verbildlichung entzieht, dass es seiner Natur
nach vollkommen verschieden ist von allem, was ich bis heute kenne.

Wenn mein Verständnis wirklich tief geht, so führt es nicht zu einer neuen Erwartung des Bewusst-
seins, die dann auf etwas Unvorstellbares gerichtet wäre; denn es gibt überhaupt keinen Bewusst-
seinsablauf ohne Vorstellung, und selbst die Vorstellung von etwas Unvorstellbarem ist noch immer
ein Bild. Das richtige Verständnis führt also nicht zu einer neuen bewussten Erwartung, die sich von
der früheren Erwartung nur formal Unterschiede. Diese neue Erwartung entsteht nicht in der Ober-
ächenschicht unseres Bewusstseins, sondern in der Tiefenschicht des Seelischen, wo sie ein Ge-
gengewicht gegenüber der früheren, aufs Vorstellbare gerichteten Erwartung bildet und diese da-
durch neutralisiert. Das richtige Verständnis lässt tief in mir eine Sehnsucht aufkeimen, die meiner
angeborenen Sehnsucht entgegengesetzt ist und sie ergänzt. Es ist, als würde angesichts meiner na-
türlichen Forderung nach Bejahung innerhalb der Grenzen meiner individuellen Eigentümlichkeit
die neue Forderung geboren, diese Bejahung nicht länger zu erwarten. Was auf diese Weise entsteht,
ist in sich selbst genau so unzulänglich wie das, was vorher da war. Doch wird ein Augenblick
kommen, wo die beiden für sich selbst ungenügenden Pole im „Großen Zweifel“, von dem das Zen
spricht, ihr Gleichgewicht nden und uns dadurch den Zugang zum Satori ermöglichen werden. Es
verhält sich damit genau so. als wären wir mit nur einem offenen Auge zur Welt gekommen und
müssten uns nun anstrengen, auch das zweite zu öffnen, um dadurch endlich das „Sich öffnen des
dritten Auges“ zu erreichen.

Hat auch diese neue, aus dem Verständnis hervorgegangene Erwartung im Unterschied zu der natür-
lichen, aus der unsere bewusste Sehnsucht aufsteigt, ihren Sitz im Unter-Bewussten, so ist es uns
doch nicht untersagt (wie im Übrigen ja nichts untersagt ist), unser geistiges Erlassungsvermögen
bewusst anzustrengen, um diese neue Erwartung richtig zu verstehen. (Selbstverständlich wollen
wir diese geistige Anstrengung nicht als systematische Methode zur Erlangung der absoluten Ver-
wirklichung empfehlen.)

Diese neue Erwartung - man könnte sie auch Erwartung des Satori nennen - ist eine auf etwas Un-
vorstellbares, durchaus Neues gerichtete Sehnsucht, eine Sehnsucht, die nichts sucht, was ihr schon
bekannt und vertraut ist. Bei dem Versuch, mich in diesen Erwartungszustand zu versetzen, trifft
mein geistiges Bewusstsein auf verschiedenartige vorstellbare Wahrnehmungen, die sich ihm dar-
bieten wollen und die es wieder verwirft. Da diese zurückgewiesenen Wahrnehmungen entweder
außer mir oder in mir ihren Sitz haben (Aspekte der Außenwelt oder innere Zustände), hält ihr Ver-
schwinden meine Erwartung in der Schwebe zwischen diesen beiden Bereichen. Meine Erwartung
be ndet sich weder außer mir noch in mir, sie haftet weder an einem möglicherweise wahrgenom-
menen Objekt noch an einem möglicherweise wahrnehmenden Subjekt. Die Erwartung haftet an der
Subjekt und Objekt verbindenden Wahrnehmung selbst. Doch ist eben diese Wahrnehmung selbst
nicht wahrnehmbar, sie ist wie ein Punkt ohne festen Ort und ohne Ausdehnung. Es handelt sich
hier also um eine potentielle Möglichkeit des Freiwerdens vom Raum, die, wie wir bald sehen wer-
den, mit einem ähnlichen Freiwerden von der Zeit verknüpft ist Meine alte Erwartung ließ mich et-
was erwarten, was mir im Augenblick nicht gegeben war, was aber für mich immerhin im Bereich
des Möglichen lag. Bei meiner neuen Erwartung hingegen erwarte ich etwas, was für mich durchaus
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nicht existiert, da es nicht vorgestellt werden kann. Dieses außerhalb des für mich Erreichbaren be-
ndliche Etwas kann ich weder in der Zukunft noch in der Vergangenheit aufrufen; es liegt außer-
halb von Raum und Zeit (was nicht weiter erstaunlich ist, da ja Raum und Zeit, nur zwei Aspekte
desselben Systems sind). Wenn ich also dieses durchaus neuartige und nicht vorzustellende Be-
wusstsein von der Welt, meiner selbst und der Beziehung zwischen beiden erwarte, so erwarte ich
damit also etwas, das, da es weder im Raum noch in der Zeit existiert, sich im Zentrum dieser Er-
wartung selbst und im Augenblick dieser Erwartung be ndet, in dem Punkt, von dem das ganze
Universum ausgeht und gleichzeitig in der Ewigkeit des Augenblicks, im „hic et nunc“. Hier hört
auch meine Erwartung auf, Erwartung zu sein, da das, was ich erwarte, durch Raum und Zeit nicht
von mir getrennt ist. Nun begreife ich, dass ich einen Irrtum beging, solange ich mir den Satori-Zu-
stand als einen zukünftigen Zustand vorstellte. Die tatsächliche Bewusstwerdung des Satori kann
allenfalls als eine Möglichkeit in der Zukunft gedacht werden, keinesfalls aber der Satori-Zustand
selbst, in welchem ich mich schon jetzt be nde, schon immer befunden habe und der mein ewiges
„Sein' ist. Ich darf auch nicht glauben, dass die Bewusstwerdung des Satori- Zustandes mir erst in
der Zukunft angeboten würde, sie wird mir jetzt, in jedem Augenblick angeboten. Nur der Akt mei-
nes Annehmens kann im negativen Sinne als zum Bereich des Zeitlichen gehörend betrachtet wer-
den, d.h., dass ich in jedem Augenblick sagen kann, dass ich das Satori noch nicht angenommen
habe, ohne dabei die Möglichkeit von der Hand zu weisen, es schon im nächsten Augenblick anzu-
nehmen. Ich bin einem Menschen zu vergleichen, der sich in ein Zimmer eingeschlossen sieht: die
Tür zu dem Raum steht weit offen, während die Fenster vergittert sind. Von Kindheit an bin ich von
der Welt draußen fasziniert und presse mein Gesicht gegen die Gitterstäbe. Meine Hände umfassen
krampfhaft dieses Gitter, so stark ist mein Verlangen nach den Bildern von draußen. Da diese Ver-
krampfung mich daran hindert, das Zimmer zu verlassen, bin ich in gewissem Sinne nicht frei. In
Wirklichkeit aber sperrt nichts anderes mich ein als jene Unwissenheit, die mich die Vorstellung des
Lebens für das Leben selbst nehmen lässt. Nichts als die Verkrampfung meiner eigenen Hände
sperrt mich ein. Ich bin also frei, bin es immer gewesen, und ich werde mir meiner Freiheit bewusst
werden, sobald ich „loslasse“.

Es ist interessant, das biblische Gleichnis von den zehn Jungfrauen mit den aus dem Zen-Buddhis-
mus hervorgegangenen Gedanken zu vergleichen: fünf von ihnen, die törichten, sind nicht mit Öl
versehen, die klugen haben jedoch dafür gesorgt, und alle schlafen sie bis zur Ankunft des Bräuti-
gams. Der Schlaf der Jungfrauen wäre in diesem Falle ein Symbol für unser ich-bezogenes Leben
(mit all seinen Hoffnungs- und Angstträumen). Das Öl wäre ein Symbol für die Erwartung des Un-
vorstellbaren, des Satori. Solange ich jenes Öl, jene neue, aus dem Verständnis geborene Erwartung
nicht habe, gehöre ich zu den törichten Jungfrauen, die den Bräutigam nicht empfangen können.
Am Schluss des Gleichnisses sagt der Bräutigam: „Bleibet wach, denn ihr kennt weder Tag noch
Stunde!“ In jedem Augenblick kann es sich ereignen, in jedem Augenblick wird es angeboten. Hier
möge eine Zen-Anekdote den Begriff der reinen Erwartung verdeutlichen (rein von Raum und Zeit),
die reine Aufmerksamkeit, eine Aufmerksamkeit ohne Objekt ist.

Ein Mann aus dem Volke fragte eines Tages den Bonzen Ikkyou: „Meister, willst Du mir nicht ein
paar Lehrsätze von höchster Weisheit aufschreiben?“ Da nahm Ikkyou einen Pinsel und schrieb da-
mit das Wort: „Aufmerksamkeit“. „Ist das alles“ fragte der Mann, „willst Du nicht noch etwas hin-
zufügen?“ Darauf schrieb Ikkyou zweimal hintereinander das Wort: „Aufmerksamkeit, Aufmerk-
samkeit“.

„Deshalb sehe ich dennoch weder Feinheit noch Tiefe in dem, was Du da schreibst“, meinte der
Mann enttäuscht. Da schrieb Ikkyou dreimal das gleiche Wort. Fast ärgerlich sagte der Mann: “Was
soll dieses Wort Aufmerksamkeit nun schließlich bedeuten?“ Und Ikkyou antwortete: „Aufmerk-
samkeit bedeutet Aufmerksamkeit“.

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XX. ÜBER DIE PASSIVITÄT DES MENTALEN UND DIE ZERTRÜMMERUNG UNSERER
ENERGIE

Im vorliegenden Kapitel wollen wir versuchen, die bisherigen Ausführungen über das Satori und die
ihm vorangehenden Vorgänge zu vertiefen. Dabei ist es vor allem nötig, zwischen dem von der Zeit
nicht abhängigen Satori-Zustand und dem in der Zeit sich vollziehenden Satori-Ereignis klar zu un-
terscheiden. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass der Satori-Zustand nicht als neuer Zustand
aufzufassen ist, zu dem wir nur noch einen Zugang erhalten müssten, sondern als unser ewiger von
unserem Geborenwerden und Sterben unabhängiger Zustand. Jeder von uns lebt im Zustand des Sa-
tori und kann gar nicht anders leben. Wo die Zenlehre von einem in der Zeit sich ereignenden Satori
spricht, wo sie z.B. sagt: „Das Satori kommt unerwartet, es kommt d a n n , w e n n alle sonstigen
Möglichkeiten unseres Wesens erschöpft sind“, da spricht sie nicht etwa von dem zeitlosen Satori-
Zustand, sondern von dem Augenblick, da wir uns bewusst werden, dass wir uns in diesem Zustand
be nden, oder noch besser: von dem Augenblick, da wir aufhören, zu glauben, dass wir außerhalb
dieses Zustandes lebten.

Diese Unterscheidung zwischen dem Satori-Zustand und dem Satori-Ereignis ist überaus wichtig.
Wenn ich allein den Satori-Zustand sehe, so verfalle ich dem Fatalismus. Blicke ich allein auf das
Satori-Ereignis, so verfalle ich dem geistigen Ehrgeiz, der brennenden Forderung nach absoluter
Verwirklichung, und diese falsche Einstellung kettet mich gerade an jene Illusion, die die Ursache
meiner Angst ist.

Die merkwürdige Tatsache, dass das Satori-Ereignis, sobald es sich vollzogen hat, von uns nicht
mehr als solches gesehen wird, macht es zu einem in seiner Art einzigen Ereignis. Der bewusst im
Satori lebende Mensch hat nicht länger das Gefühl, vom Bereich des Nicht-Zeitlichen ausgeschlos-
sen zu sein. Ganz im Nicht- Zeitlichen lebend und darum wissend, unterscheidet er nicht mehr zwi-
schen einer Vergangenheit, in der er geglaubt hatte, außerhalb des Satori zu leben, und einer Ge-
genwart, in der er bewusst darin lebt. Das soll nicht etwa heißen, dass ein solcher Mensch die Erin-
nerung an die Zeit vor dem Satori-Ereignis verloren hätte. Er kann sich an alles erinnern, an alle
Angst und alle Schwäche, an alle inneren Vorgänge, die ihn gezwungen hatten, gegen seine „Ver-
nunft“ zu handeln - aber er erkennt nun, dass dies alles schon der Satori-Zustand war, dass nichts
außerhalb des Satori-Zustandes gewesen ist, oder sein wird. Es ist selbstverständlich, dass für die-
sen Menschen das Satori-Ereignis nicht länger ein historisches Datum sein kann, da ja für ihn Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft im Satori-Zustand selbst ruhen. Nur für uns, für die jenes Er-
eignis sich noch nicht vollzogen hat, nur für unsere gegenwärtige trügerische Perspektive gibt es
das Satori-Ereignis. Für uns ist der Mensch des Satori ein befreiter Mensch, aber dieser Mensch
selbst sieht sich nicht als befreit sondern als frei, und zwar als frei von Ewigkeit her. So erklärt es
sich auch, dass Hui Neng einmal sagen kann: „Von dem Augenblick an, da ich diese oder jene Idee
verstand, hatte ich auch Satori“, dass er aber ebenso gut auch sagen kann: „Es gibt keine Befreiung,
es gibt keine Verwirklichung“.

Es liegt auf der Hand, dass der Satori-Zustand als nicht an die Zeit gebundener Zustand frei von
Bedingungen sein muss; im Besonderen ist er nicht durch das Satori-Ereignis bedingt. Doch durch
unsere vorläu ge Perspektive ist es uns nur möglich, Satori als Ereignis ins Auge zu fassen, und wir
sehen es notwendigerweise als bedingt durch gewisse innere Vorgänge, die wir hier erörtern wollen.
Die Frage nach der Bedingtheit des Satori-Ereignisses erfordert zunächst gewisse Abgrenzungen
allgemeiner Art. Der Begriff der Bedingtheit darf hier weniger denn je als „Kausalität“ verstanden
werden. Kein Geschehen wird durch ein vorhergehendes verursacht, sondern nur bedingt, nach dem
Satze des Buddhismus: „Wenn das eine ist, kann das andere entstehen''. Wir untersuchen hier also
nicht, was für innere Vorgänge imstande seien, das Satori-Ereignis zu verursachen oder zu erzeugen,
sondern was für Vorgänge ihm notwendigerweise vorangehen müssen.

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Andrerseits sehen wir aber, dass diese Bedingtheit, selbst wenn wir sie von der Idee der Kausalität
loslösen, ein nur schwer zu fassender Begriff bleibt. Tatsächlich ist das eigentümliche Arbeiten der
Aufmerksamkeit, auf welches das Satori folgt, kein Vorgang im eigentlichen Sinne, sondern viel-
mehr die Aufhebung eines Prozesses, der ein Strukturmoment unserer gegenwärtigen Situation bil-
det. In Wirklichkeit ist nämlich gerade das Nicht wahrnehmen können des Satori-Zustandes durch
gewisse Vorgänge bedingt und daher ist auch die „Bedingtheit“ des Satori nur eine negative Art von
Bedingtheit, d. h. sie besteht darin, dass das, was dieses Nicht wahrnehmen können bedingt, aufge-
hoben wird.

Unsere Untersuchung wird sich also der Analyse jener inneren Prozesse zuwenden müssen, die für
den gegenwärtigen Augenblick die Bedingung dafür sind, dass wir uns einbilden, nicht im Satori-
Zustand zu leben. Wie wir bald sehen werden, handelt es sich dabei um Vorstellungs- und Gefühls-
vorgänge, in die unsere Lebensenergie einschießt, und wir werden versuchen, mit der nötigen Präzi-
sion herauszuarbeiten, inwieweit unsere Aufmerksamkeit nur unvollkommen arbeitet und dadurch
die Vorbedingungen für diese Vorstellungs- und Gefühlsprozesse schafft.

Gehen wir dabei von einer konkreten Beobachtung aus: jemand macht sich über mich lustig, ich
gerate in Zorn und bekomme Lust, meinen Feind anzugreifen. Analysieren wir nun, was im Verlauf
dieser Szene vor sich geht. Wir werden sehen, dass sich unsere inneren Vorgänge in zwei verschie-
dene Reaktionsweisen aufteilen lassen, die wir „Primärreaktionen“ und „Sekundärreaktion“ nennen
wollen.

Bei der Primärreaktion wird eine bestimmte Menge von Lebensenergie in mir geweckt. Diese Ener-
gie schlummerte bisher latent in meiner zentralen Energiequelle, bis sie durch mein Wahrnehmen
einer fremden Energie, die sich gegen das Ich richtete, geweckt wurde. Durch diese angreifende
fremde Energie wurde in mir eine Kraft wachgerufen, die ein Gegengewicht zu der Kraft des Nicht-
Ich darstellte. Diese Kraft ist noch keine Zornesregung, sie hat überhaupt noch keine festgelegte
Form, sie ist vielmehr der Materie zu vergleichen, die in eine Form gegossen werden soll, diesen
Vorgang aber noch vor sich hat. Für einen Augenblick ist die so entstandene Kraft, die nun in mei-
nem Kräftezentrum in Erscheinung tritt, noch keine Kraft des Zornes, sondern nur reine, noch unge-
formte Lebenskraft. Diese erste Reaktion (Primärrekation) steht mit einer bestimmten Wahrneh-
mung der Außenwelt, mit einem bestimmten Erkennen im Zusammenhang. Sie entspricht also einer
bestimmten Art von Bewusstsein, das jedoch vollständig verschieden ist von allem, was wir sonst
so zu bezeichnen p egen. Es handelt sich nicht um das erkenntnismäßige, geistige Bewusstsein,
also nicht um ein klares durchsichtiges Bewusstsein. Es ist vielmehr ein verborgenes, ein reagieren-
des Bewusstsein der Tiefenschicht, also eine Art organischen Bewusstseins. Es ist das gleiche Be-
wusstsein, das bei der Auslösung des Kniescheibenre exes in Kraft tritt. Jeder Re ex steht in Be-
ziehung mit diesem organischen Bewusstsein, welches die Außenwelt auf anderem als intellektuel-
lem Wege “erkennt“. Diese Annahme wird gestützt durch Beobachtungen innerer Vorgänge: ich
fühle z. B., wie mir der Zorn zu Kopfe steigt, wo er anschließend tausend Bilder erzeugt. Ich fühle
ihn aus der Tiefe, aus der organischen Schicht meines Daseins aufsteigen. Diese Primärreaktion er-
folgt äußerst rasch und entzieht sich, wenn ich nicht besonders aufmerksam bin, meiner Beobach-
tung. Wenn ich jedoch nach einem solchen Zornesanfall untersuche, was im Einzelnen in mir vor-
gegangen ist, so erkenne ich, dass eine rein organische, anonyme, aus einer organischen Bewusst-
seinsschicht aufgestiegene Kraft für einen kurzen Augenblick in Erscheinung trat, bevor das Wirken
meines geistigen, Bilder des Zornes erzeugenden, Bewusstseins einsetzte.

Wir müssen beachten, dass das organische Bewusstsein, wenn es das Nicht-Ich wahrnimmt, eine
Reaktion der Energie auf dieses Nicht-Ich auslöst. Damit ist aber gesagt, dass jenes Bewusstsein das
Vorhandensein des dem Ich entgegenstehenden Nicht-Ich anerkennt, das heißt also, dass es mit der
kosmischen Ordnung, mit den Dingen, wie sie wirklich sind, in Einklang steht. Dieses Bewusstsein

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steht über dem Kräfteaustausch zwischen Ich und Nicht-Ich, es versöhnt die beiden Pole und been-
det sich in Übereinstimmung mit dem Tao.

Untersuchen wir nun die Sekundärreaktionen. Durch die dynamische Veränderung meines Wesens,
die in der Primärreaktion ihren Ausdruck ndet, das heißt durch jenes Freiwerden von Energie als
Reaktion auf die drohende Energie der Umwelt, wird nun in meinem Innern eine zweite Reaktion
ausgelöst. In der gleichen Weise, wie die Bewegung der Außenwelt ein Reagieren meines organi-
schen Bewusstseins ausgelöst hatte, löst nun dieses Reagieren seinerseits (d. h. die innere Bewe-
gung, in der es zum Ausdruck kommt) das Reagieren meines geistigen Bewusstseins aus. Und diese
Sekundärreaktion hat nun die Tendenz die anfängliche Unbewegtheit in meinem Innern wieder her-
zustellen, indem sie die darin freigewordene Energie wieder abzubauen versucht. Warum aber? Weil
im Gegensatz zu meinem organischen Bewusstsein mein geistiges Bewusstsein das Vorhandensein
des Nicht-Ich nicht anerkennen will. Wir müssen uns dabei an die Erscheinungen zurückerinnern,
die wir als unsere ursprüngliche Forderung, als unsere Fiktion von Göttlichkeit, oder als den An-
spruch auf absolutes Sein innerhalb der Grenzen unserer individuellen Eigentümlichkeiten, also auf
ein Existieren im absoluten Sinne, bezeichnet haben.

Im Grunde unserer geistigen Welterkenntnis ist der unaufhebbare Gegensatz zwischen Ich und
Nicht-Ich verankert, d. h. „da ich bin, kann kein Nicht-Ich sein“. Es ist eben jener Gegensatz, den
wir wachrufen, wenn wir den Ausdruck Ego gebrauchen, wenn wir von Identi zierung mit unserem
psychosomatischen Organismus sprechen. Soweit ich organisches Bewusstsein bin, treffe ich keine
diesbezüglichen Unterscheidungen, wohl aber soweit ich geistiges Bewusstsein bin. Für mein orga-
nisches Bewusstsein bin ich sowohl mit dem Nicht-Ich als auch mit dem Ich identisch. Für mein
geistiges Bewusstsein hingegen bin ich nur mit dem Ich identisch, bejahe ich dessen alleinige Exis-
tenz. Mein geistiges Bewusstsein erkennt nur das Ich. Wenn ich mir also einbilde, eine geistige Er-
kenntnis der Außenwelt zu besitzen, so lerne ich in Wirklichkeit doch immer nur abgewandelte
Formen meines Ich im jeweiligen Kontakt mit der Außenwelt kennen. Die Philosophie spricht an
dieser Stelle vom „Gefängnis unserer Subjektivität“, jedoch lässt sie dabei das organische Bewusst-
sein außeracht, das zwischen Subjekt und Objekt nicht unterscheidet, kraft dessen ich im Ansatz
schon frei hin.

Nehmen wir nun das geistige Bewusstsein als das, was es ist, und untersuchen wir, was sich daraus
für die Erscheinungen meines Innenlebens ergibt. Im Verlauf meiner Primärreaktion war mein orga-
nisches Existenzverlangen von der Außenwelt her in Frage gestellt worden, daher war in mir jene
Kraft wachgeworden, die ein Gegengewicht gegen die von außen kommende Kraft bildet. Im Ver-
lauf der Sekundärreaktion wird mein geistiges „Seinsbedürfnis“ durch die in mir freigewordene En-
ergie bedroht. Denn jene Energie begreift die Anerkennung der Außenwelt ein, und dadurch bin ich
der Unveränderlichkeit des Prinzips entrissen. Soweit es sich nämlich um mein geistiges Bewusst-
sein handelt, sieht es so aus, als wolle ich für die Energiequelle meines Organismus die Attribute
des absoluten Prinzips in Anspruch nehmen: Unwandelbarkeit, Nicht-Handeln. Stetigkeit, frei sein
von Bedingungen. Und so muss sich die Sekundärreaktion auf das Freiwerden von Energie diesem
Vorgang widersetzen. Doch kann diese Au ehnung gegen die kosmische Ordnung nicht zum Ziele
führen. Die Kraft, die in meinem Innern freigeworden ist, kann nicht zurückkehren in den Bereich
des noch nicht in Erscheinung Getretenen. Meine Ablehnung der freigewordenen Energie kann also
zu nichts anderen führen als zur Ausschaltung dieser Energie durch ihre Zertrümmerung.

Bei beiden Reaktionen wird das Gesetz des Gleichgewichts des Tao wirksam. Die Primärreaktion
stellt ein Gleichgewicht her zwischen der Kraft des Ich und der Kraft des Nicht-Ich. Die Sekundär-
reaktion versucht das Inkrafttreten meiner Lebensenergie durch die Wiederau ösung dieser Energie
auszugleichen. Die Primärreaktion ist bestrebt, das Gleichgewicht zwischen Ich und Nicht-Ich zu
erhalten. Die Sekundärreaktion ist bestrebt, das Gleichgewicht innerhalb des Ich zu erhalten, das

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Gleichgewicht zwischen dem aufbauenden und dem zerstörenden Prinzip, zwischen Vishnu und
Shiva.

Die Zertrümmerung der freigewordenen Energie geht durch die Vorstellungs- und Gefühlsabläufe
vor sich. Diese Prozesse sind, wie wir an anderer Stelle bereits dargelegt haben, wahre Kurzschlüs-
se, bei denen die Energie sich im Hervorbringen von organischen Erscheinungen und gedanklichen
Bildern verzehrt.

Solche Bildungen des Bewusstseins werden von der buddhistischen Philosophie samskaras genannt.
Die samskaras besitzen Substanz und Form; ihre einzige Substanz ist unsere Lebensenergie, sofern
sie im Begriff steht, sich in diese samskaras aufzulösen. Ihre Form hingegen ist nicht die meine, sie
sind meiner Form, der Form meines Organismus fremd, es sind unbegrenzt auswechselbare mentale
Bildungen. Wegen ihrer fremdartigen Form stellen die samskaras eine Art „Fremdkörper“ dar, die
mein Organismus ablehnen muss. Es sind irgendwie „ungeheuerliche“ Bildungen, die heterogen,
ohne innere architektonische Harmonie und nicht lebensfähig sind. Doch wenn wir uns daran erin-
nern, dass sie die Zertrümmerung unserer Energie darstellen, wird diese Erscheinung uns nicht wei-
ter in Erstaunen setzen. Das Auftreten dieser Bilder führt einen circulus viciosus in mir herbei.
Denn sie wirken ihrerseits auf mein organisches Bewusstsein und zwar in der gleichen Weise, wie
die zuvor in der Außenwelt wahrgenommenen Bilder, und dadurch wird eine neue, Energie freima-
chende Primärreaktion ausgelöst. Nun löst sich diese neuerdings in Erscheinung getretene Energie
wieder auf, und so entsteht eine Art „Wiederkäuen“ von Vorstellungen und Erregungen, das sich nur
allmählich erschöpft wie ein angestoßenes Pendel, das erst nach einer gewissen Schwingungszahl
wieder zum Stillstand kommt.

Andrerseits erhält aber dieses Wiederkäuen durch das fortgesetzte Wahrnehmen der Außenwelt im-
mer neuen Stoff, in unserem Falle durch das Wahrnehmen des Menschen, der mich ärgert. So er-
klärt sich mein Wunsch, diesen Menschen zu schlagen. Die Sekundärreaktion hat nun die Tendenz,
die auftretende Energie wieder auszuschalten. Indem sie von mir ein Bild als dem Angreifer meines
Feindes schafft, will sie dem Gegenbild, das meine Energie auslöste, seine Wirksamkeit nehmen.
Wenn beim Abbau der Energie nicht Bilder entstünden, die den oben besprochenen circulus vicio-
sus immer wieder herbeiführten, käme es gar nicht zu einer aggressiven Reaktion gegenüber der
Außenwelt. In diesem Falle bliebe nämlich die Sekundärreaktion ganz auf den im Innern sich voll-
ziehenden, selbstgenügsamen Abbauprozess beschränkt. Aber eben deswegen, weil dieser Prozess
keine Selbstgenügsamkeit besitzt (da er durch sich selbst immer wieder neue, abzubauende Ener-
giequantitäten hervorbringt), überschreitet die Sekundärreaktion den Bereich des Innern und treibt
mich dazu, auch das mich verneinende Objekt der Außenwelt zu beseitigen. Doch hat die aggressive
Tendenz gegenüber diesem Objekt einen mehr zufälligen Charakter, während der eigentliche Pro-
zess, der auf die Zertrümmerung der Energie hinzielt, ein Vorstellungs- und Erregungsprozess ist.
Diese Behauptung mag zunächst paradox erscheinen; doch müssen wir beachten, dass die äußeren
Gesten, in denen der Zorn sich entlädt, beherrscht und unterdrückt werden können, während es aber
ohne die entsprechenden Vorstellungs- und Gefühlsprozesse gar keinen Zorn gäbe. Meistens werde
ich meinen Feind nicht anrühren, dafür aber vielleicht die erste Vase, die mir in die Hand fällt, zer-
brechen. Indem ich mich mir selbst als ein dem Nicht-Ich Schaden zufügendes Ich vorstelle, nehme
ich dem Bild eines dem Ich schadenden Nicht-Ich seine Wirkungskraft. Im Grunde kommt es gar
nicht darauf an, ob ich meinen äußeren Feind anrühre oder nicht. Das wahre Ziel meiner Sekundär-
reaktion liegt nicht außer mir, sondern in mir. Was diese Reaktion in Wirklichkeit zu beseitigen
trachtet, ist jene Energie, die sich aus ihrer Quelle losgelöst hat und freigeworden ist. Da wir wohl
wissen, dass es für uns keine wirklich objektive Wahrnehmung einzelner Objekte gibt, kann uns
dieser Sachverhalt nicht befremden. Das Einzelobjekt der Außenwelt existiert nicht als solches für
mich, ich habe in Wirklichkeit nie etwas damit zu tun, selbst nicht im Verlauf der Primärreaktion.
Zwar reagiert die in meinem Innern in Bewegung gebrachte Kraft auf die Außenwelt, doch ist diese
Kraft selbst noch formlos und anonym, ist reine Lebenskraft. Sie wird beim Kontakt mit der Au-
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ßenwelt in mir erweckt, aber selbst wenn sie eine objektive Erkenntnis der Welt als Ganzes zulässt,
so doch niemals eine Erkenntnis einzelner Objekte der Außenwelt.

Wenn nun im Verlauf der oben beschriebenen Szene eine dritte Person zu mir sagt: „Warum so zor-
nig?“, so wird mein Zorn nur noch zunehmen. Durch diese Bemerkung wird mir das In-Erscheinung
-Treten meiner Energie noch deutlicher, und meine Sekundärreaktion wird durch diese Wahrneh-
mung gesteigert. Das ist ein erneuter Beweis dafür, dass meine Sekundärreaktion allein gegen das
Auftreten von Energie in meinem Innern sich richtet und nicht gegen meinen äußern Feind. Denn
eine solche Frage betrifft gar nicht meinen äußeren Feind und kann also auch die Reizwirkung, die
er auf mich ausübt, nicht erhöhen.

Was wir soeben beim Zorn beobachtet haben, gilt gleichermaßen für alle unsere Kontakte mit der
Außenwelt. Es kommt dabei wenig darauf an, ob der Kontakt negativer oder positiver Art ist. Ist die
aus der Außenwelt auf mich zukommende Kraft positiv, bringt sie mir eine Bejahung meiner selbst,
so antwortet darauf eine Primärreaktion, bei der ebenfalls eine bestimmte Menge reiner Energie
wirksam wird. Dann tritt die Sekundärreaktion ein, die die Au ösung jener freigewordenen Energie
durch Vorstellungs- und Erregungsprozesse zum Ziel hat, deren Bilder und Gefühlserregungen die-
ses Mal positiver, erfreulicher Art sind.

Ebensowenig ist es ausschlaggebend, ob der Kontakt mit der Außenwelt über Psyche oder Soma
mich erreicht. Beim Beispiel des Zornes geschah es auf psychischem Wege, doch kann meine Ener-
gie ebenso gut geweckt werden durch Kontakte, die mein Inneres auf dem Wege über den Körper
ansprechen: so kann z. B. ein heftiger Zahnschmerz die Verneinung des Ich durch das Nicht-Ich
darstellen, das Verschwinden dieses Schmerzes hingegen eine Bejahung des Ich. Beides wird von
meinem Erwachen meiner zentralen Energie und deren Zertrümmerung in mehr oder weniger er-
freulichen Vorstellungs- und Erregungsprozessen begleitet.

Der Vorgang der doppelten Reaktion ist eine durchaus allgemeine Erscheinung. Er liegt unserem
lebenswichtigen Stoffwechsel zugrunde, wobei die Primärreaktion dessen Aufbau, die Sekundärre-
aktion dessen Abbau vertritt. Die Primärreaktion entspricht dem Re ex, sie ist zentrifugal. Die Se-
kundärreaktion entspricht der Re exion (nicht im übertragenen Sinne des Wortes), sie ist zentripe-
tal, sie richtet sich gegen eine Erscheinung meiner inneren Welt. Die Energiewelle wird also dabei
in mein Zentrum „re ektiert“ (zurückgebogen). Physiologisch gesehen könnte man die Primärreak-
tion mit der Funktion der grauen Gehirnkerne, die Sekundärreaktion mit der Funktion der Gehirn-
rinde in Verbindung bringen. Bestimmte, neuerdings möglich gewordene chirurgische Eingriffe set-
zen, indem sie einen Teil der Verbindungen zwischen diesen beiden Gehirnzentren ausschalten, die
Sekundärreaktion stark herab, also die Erregbarkeit, die Vorstellungskraft und die damit zusammen-
hängende Angst. Die Primärreaktion entspricht auch dem Freud'schen „Lebensinstinkt“, während
die Sekundärreaktion dem „Todesinstinkt“ entspricht. Tatsächlich bedeutet das Auftreten von Ener-
gie Leben, während umgekehrt die Neigung, diese Energie abzubauen, einen Widerstand, eine Ab-
lehnung gegenüber diesem Leben bedeutet, also eine Tendenz zum Tode hat. Wenn wir nun die
Freud'sche Unterscheidung beiseite lassen und unsere eigene Unterscheidung zwischen “existieren“
und „leben“ näher ins Auge fassen - das „Existieren“, das der Mensch verachtet, und das „Leben“,
dem er Wert beimisst -, so sehen wir, dass die Primärrekation mit dem „Existieren“, die Sekundär-
reaktion mit dem „Leben“ in Verbindung steht. Der gewöhnliche Mensch hält nämlich ganz beson-
ders diejenigen Prozesse für „lebendig“, die seine Energie gerade abbauen wollen. Seiner Lebens-
energie selbst misst er keinerlei Wert bei, einen desto größeren aber dem Funkensprühen, das beim
Abbau dieser Energie entsteht.

Wie weiter oben schon betont, entsprechen den beiden Reaktionen zwei verschiedene Bewusstseins
schichten, der Primärreaktion mein organisches Bewusstsein, der Sekundärreaktion mein mentales
oder geistiges oder Vorstellungs-Bewusstsein, (also das, was man gewöhnlich unter „Bewusstsein“

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versieht, wenn nähere Angaben fehlen). Mein Vorstellungs-Bewusstsein ist dualistisch angelegt, da
die darin ablaufenden Vorstellungs- und Erregungsprozesse positiver oder negativer, erfreulicher
oder unerfreulicher Art sein können. Mein organisches Bewusstsein dagegen ist nicht dualistisch
angelegt, da die daraus aufsteigende Lebenskraft formlos, anonym, immer mit sich selbst identisch
und unabhängig von den Formen ist, die sie später beleben wird. Das organische Bewusstsein spielt
also hinsichtlich des Vorstellungs-Bewusstseins die Rolle einer Hypostase, eines versöhnenden
Prinzips. Andrerseits haben wir auch gesehen, dass das organische Bewusstsein nicht zwischen Ich
und Nicht-Ich unterscheidet, dass sein Wirken eine wesenhafte Identität zwischen diesen beiden Po-
len einschließt und daher die Möglichkeit für eine wahre Erkenntnis des Weltganzen in seiner Ein-
heit enthält. Diese Eigenschaften in Verbindung mit dem Sitz dieses Bewusstseins in den tiefsten
Schichten unseres Wesens führen uns dazu, es als die erste, an die Person gebundene Manifestation
des außerpersönlichen prinzipiellen Unbewussten zu begreifen. Die Aussicht, eines Tages wahr-
nehmen zu können, dass unsere gegenwärtige Be ndlichkeit schon der Zustand des Satori ist, ist an
das Erkennen dieses Bewusstseins in unserem Innern gebunden.

Zusammenfassend könnten wir also sagen, dass allein das organische Bewusstsein eine echte
Kenntnis des Weltganzen besitzt. Es wird ausgelöst durch unsere Umwelt und reagiert darauf mit
dem Erwecken von Energie. Das mentale Bewusstsein kennt nur meine persönliche Innenwelt,
kennt nur die darin in Erscheinung getretene Energie. Es wird ausgelöst durch dynamische Verände-
rungsvorgänge im Innern und reagiert darauf mit Vorstellungs- und Erregungsprozessen, mit sams-
karas. Entgegen dem, was man zu erwarten geneigt ist, ist der Begriff des organischen Bewusstseins
einfach und durchaus zureichend, während das, was ich gewöhnlich mit „mein Bewusstsein“ be-
zeichne, schwer zu fassen und daher auch zu benennen ist. Wir haben es „geistig“, „psychologisch“,
„mental“, „vorstellend“ genannt, doch ist keine dieser Benennung zufriedenstellend. Wir werden im
Verlauf dieser Untersuchung sehen, warum. Sie wird uns zeigen, dass jenes Bewusstsein, das der
Sekundärreaktion zugrunde liegt, gar kein eigentliches Bewusstsein ist. Es ist nichts als der Wider-
stand gegen die Wirkungen des organischen Bewusstseins (des einzig wirklichen persönlichen Be-
wusstseins), es ist die Form, in der das unvollkommene Arbeiten des organischen Bewusstseins zum
Ausdruck kommt. Die Hindernisse im Ablauf des organischen Bewusstseins lassen sich mit einem
Hindernis im Räderwerk „meiner Maschine“ vergleichen. Es ist dieses mentale Pseudo-Bewusst-
sein, welches das Zen meint, wenn es davon spricht, dass das Satori „das Entfernen des Hindernis-
ses“ ist. Mit diesem angeblichen Bewusstsein wird das Gesamte aller inneren Erscheinungen be-
zeichnet, die die Tatsache deutlich machen, dass mein organisches Bewusstsein vor dem Satori
nicht uneingeschränkt als „nicht- mentales“ arbeitet.

Solche Erkenntnisse, so sehr sie auch zu den geltenden Begriffen in Widerspruch stehen mögen,
helfen mir, die merkwürdige „Maschine Mensch“, die ich selbst bin, besser zu verstehen. Wenn ich
mir die soeben beschriebenen Vorgänge ganz unpersönlich und allgemein anschaue, so erkenne ich,
dass sie in Ordnung, d, h. vollkommen ausgewogen sind. Beide Reaktionen be nden sich in Über-
einstimmung mit sich selbst, wenn auch der Ausgleich durch die Sekundärreaktion schreckliche
Ängste mit sich bringen und im Selbstmord enden kann. Andrerseits stellen auch beide Reaktionen
untereinander ein genaues Gleichgewicht her. Meine Energie tritt in Erscheinung und wird dann
wieder abgebaut und beschreibt dabei eine vollendete Spirale, in deren Verlauf ich mit dem Nicht-
Ich durch eine von diesem ausgehende Störung in Verbindung gebracht werde und auf diese Weise
an der kosmischen Schöpfung mit ihrem aufbauenden und ihrem zerstörenden Pol teilhabe.

Dagegen erscheinen diese Vorgänge unvollkommen, wenn ich sie vom Persönlichen, d.h. vom sub-
jektiven Gefühlsleben her betrachte. Bei ihrem Übergang vom Ich zum Nicht-Ich verliert die Ener-
gie für eine bestimmte Zeitspanne ihre Reinheit und Gestaltlosigkeit. Zwischen dem Augenblick, da
sie aus der inneren Quelle aufsteigt und dem Augenblick, da sie nach ihrer Au ösung wieder an die
Außenwelt zurückgegeben wird, hüllt sie sich in das Gewand mentaler Bildungen, die meiner eige-
nen Form fremd sind, und diese eckigen, verletzenden Fremdkörper fügen mir während ihrer Ver-
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treibung allerlei Leiden zu. Ich fühle diese samskaras, diese „Komplexe“, diese „Gerinnsel“ als
Verneinungen meines „Wesens“. Diese „ungeheuerlichen“ Bildungen haben gleichzeitig am Ich (da
meine Kraft es ist, die sie belebt) und dem Nicht-Ich (da ihre Elemente aus der Außenwelt stam-
men) teil und stellen so für meine Subjektivität eine Verschmelzung der beiden Pole: Ich und Nicht-
Ich vor, die der Dreieinheit zu widersprechen, ja sie zu leugnen scheint. Daher ein scheinbares, dem
Sein widersprechendes Nichts.

Für mich, für mein Gefühlsleben sind diese inneren Vorgänge also unvollkommen. Ich möchte nicht
länger leiden müssen und frage daher, wo das Übel sitzt. Ich glaube es in den Vorstellungen und Er-
regungen, in den samskaras, zu sehen und suche also, wie ich diese beseitigen könnte, wie ich errei-
chen könnte, dass meine Energie, ohne mir Leid zuzufügen, von meiner inneren Quelle in die Au-
ßenwelt gelangt. Daher der Wunsch, die Voraussetzungen zur Bildung dieser samskaras genauer
kennenzulernen. Wir sind uns ja bereits darüber im Klaren, dass die Tatsache, dass wir uns nur mit
unserem Organismus und nicht auch mit der Übrigen Erscheinungswelt identi zieren, zu solchen
Bildungen führt. Dies scheint jedoch nicht auszureichen, und daher wollen wir den versteckten Pro-
zess zu erhellen versuchen, in dem jene Identi zierung, die zur Bildung der samskaras führt, greif-
bar wird.

Dieser verborgene Vorgang zeigt sich in der gewöhnlicher weise passiven Haltung meiner Aufmerk-
samkeit. Weil meine Aufmerksamkeit passiv ist, wird sie erst durch die bereits vollzogene Aktivie-
rung von Energie alarmiert und zwar zu einem Zeitpunkt, wo nichts anderes mehr zu tun bleibt, als
diese Energie wieder aufzulösen. Meine Aufmerksamkeit be ndet sich noch nicht im Zustand freier,
unbedingter Bereitschaft, sie wird erst durch die in meinem Organismus sich vollziehende Aktivie-
rung von Energie geweckt, sie ist also durch diese bedingt. So stehe ich immer vor vollendeter Tat-
sache. Kaum ist der Augenblick ohne Dauer überschritten, in welchem meine Energie noch gestalt-
los aus den Schöße des noch nicht Erscheinung Gewordenen aufsteigt, so wird die Energie von der
Welt der Formen gleichsam angesaugt. Damit ist die Gelegenheit, sie im Hinblick auf die künftige
Bewusstwerdung des Satori als gestaltlose Kraft aufzuspeichern, endgültig verpasst, und ihre Au ö-
sung in Vorstellungs- und Erregungsabläufe wird unvermeidlich. Nunmehr be ndet sich die Energie
im Bereich der Identi zierung mit mir selbst und mit voller Wucht rennt sie gegen diese Mauer an,
wobei sie gewissermaßen in „tausend Scherben zerspringt“. Es ist, als hätte ich Angst, meine frei-
gewordene Energie zu bewahren. In meiner ausschließlichen Identi zierung mit meinem eigenen
Organismus liegt nämlich die stillschweigende Annahme verborgen, dass dieser Organismus „sei“,
dass er dauerhaft, unveränderlich, unwandelbar sei. Tritt nun aber die freigewordene Energie in Er-
scheinung, so erlebe ich den beweglichen, wechselhaften, begrenzten Charakter dieses Organismus,
und ich muss zu einer Ablehnung dieser freigewordenen Energie kommen, da sie mir ein so uner-
trägliches Bild vor Augen führt. Denn paradoxerweise bringt mich die ausschließliche Identi zie-
rung meiner selbst mit meinem eigenen Organismus dazu, auf keinen Fall ein derart beschränktes
Wesen sein zu wollen (Paulus sagt: „Wer wird mich erlösen von diesem Todes-Leibe?“) Ich will
diesen Leib nicht mehr fühlen. (Denken wir doch daran, dass auch bei der psychischen oder der
durch Drogen hervorgerufenen Exstase der Körper seine stof iche Dichte zu verlieren scheint.)
Nicht schnell genug kann ich die Energie, die in meinem Organismus „anschwillt“, die ihn „sub-
stanziert“, wieder abbauen.

Die Au ösungs-Prozesse werden also unvermeidlich, sobald meine passiv sich verhaltende Auf-
merksamkeit durch meine bereits aktivierte Energie wieder geweckt wird. Sie dürfen jedoch kei-
neswegs als „schlecht“ oder „nicht sein sollend“ aufgefasst werden. Sie zeugen nicht von einem
„schlechten“, nur von einem unvollkommenen Funktionieren meines Wesens als Erscheinung.
Ebenso verhält es sich mit der Identi zierung mit meinem Organismus, aus der diese Prozesse her-
vorgehen. Diese Identi zierung beruht nicht auf einem Irrtum, sie ist nur unvollständig, da sie eine
gleiche Identi zierung meiner selbst mit dem übrigen Universum ausschließt. Nicht in der Identi -
zierung mit meinem Organismus besteht die durch meine Ich-Bezogenheit hervorgerufene Täu-
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schung, sondern in der ausschließenden Form, in der diese Identi zierung vorgenommen wird. Das
unvermittelte Eintreten des Satori wird niemals diese Gleichsetzung zerstören - d.h. das, was inner-
halb meiner ich-bezogenen Bedingungen schon verwirklicht ist -, sie wird vielmehr den Schlaf zer-
stören, in welchem die Identi zierung meiner selbst mit der ganzen übrigen Welt sich noch be ndet,
d. h. alles, was über die vermeintlichen Grenzen, meines Ego hinausgehend in meinem gegenwärti-
gen Lebensaugenblick noch in mir schlummert. Was dann erwachen wird, ist die Identi zierung
meiner selbst mit der Ganzheit der Erscheinungswelt.

Diese Gedankengänge scheinen uns notwendig, um die richtige Lehre zu verstehen und um ein Ste-
henbleiben bei nichtigen „Realisierungs-Methoden“ zu vermeiden. Solange ich noch die Vorstel-
lungs- und Erregungsprozesse und meine ausschließliche Identi zierung mit meinem Organismus
für „schlecht“ hielt, wurde ich folgerichtig dazu geführt, gegen diese Ego zu kämpfen, und damit
gegen die Bedingung meiner Ich-Bezogenheit, also gegen meine eigene .Maschine“, die ja in diese
Bedingung mit einbezogen ist. Daraus aber entsteht ständige innere Disharmonie. Wenn ich hinge-
gen begreife, dass meine inneren Bedingungen niemals „schlecht“, sondern nur unvollkommen
sind, verstehe ich gleichzeitig auch, dass ich dieses Entwicklungsstadium ganz durchleben muss,
wenn ich es überwinden will. Das Übel besteht also nicht darin, dass ich jeweils in diesem Stadium
lebe, sondern darin, dass ich es nicht von Grund auf, nicht in seiner Ganzheit durchlebe. Sehen wir
nun zu, wie dies alles sich konkret auf den Gegenstand unserer Betrachtung anwenden lässt. Wenn
ich auf die Energieverschwendung bei den Vorstellungs- und Erregungsprozessen blicke, gerate ich
in Versuchung, diese zu unterdrücken. Ich bin also versucht, das Freiwerden von Energie in mir
nicht wie bisher zu bekämpfen, da ja die erwähnten Prozesse mit der Ablehnung dieser Energie-
freimachung durch mein mentales Bewusstsein in Verbindung stehen. Doch verändern diese neuen
Bemühungen meine innere Lage nicht, sondern komplizieren sie nur. Denn mein Bemühen, etwas
nicht länger abzulehnen, ist in der Tat die Ablehnung einer Ablehnung, und da es sich hierbei um
eine psychische Anspannung handelt, die einer Verkrampfung entgegengesetzt wird, kann dieses
Bemühen nicht zu einer wirklichen Entspannung führen. Im Gegensatz zu dem was für die Mathe-
matik gilt, führt hier die Verneinung einer Verneinung nicht zu einer „Bejahung“. Es ist also gar
nicht möglich, jene Ablehnung zu unterdrücken, die die Aktivierung von Energie in mir hervorruft.
Außerdem wäre eine solche Unterdrückung nicht einmal wünschenswert, da, wie wir gesehen ha-
ben, jene Ablehnung Teil eines Prozesses ist, der nicht in sich „schlecht“, sondern nur unvollkom-
men ist.

Nachteilig ist nicht, dass wir die Aktivierung unserer Energie ablehnen, sondern dass wir sie un-
vollkommen, zu spät und daher erfolglos ablehnen. Meine Ablehnung in ihrer gegenwärtigen Form
ist gar keine echte Ablehnung, sie ist vielmehr der vergebliche Protest einer vollendeten Tatsache
gegenüber, da sie dem inneren Vorgang, den wir ablehnen, folgt. Nachdem mein mentales Bewusst-
sein hierbei nicht in aktiver, sondern in reaktiver Weise arbeitet, kann sein Funktionsablauf kein
vollwertiges Gegengewicht zu demjenigen des organischen Bewusstseins bilden, denn es reagiert ja
nur auf die Erscheinungsformen jenes organischen Bewusstseins, In Wirklichkeit ist es nicht die
Bestimmung meines mentalen Bewusstseins, in dieser reaktiven, weiblichen Form sich auszuwir-
ken, sondern in aktiver männlicher Form. Das organische Bewusstsein ist rein weiblich, es ist dafür
geschaffen, auf die Anreize aus der Außenwelt zu reagieren (Primärreaktion). Das geistige Bewusst-
sein hingegen hat nicht die Bestimmung, auf diese Primärreaktion mit einer Sekundärreaktion zu
reagieren. Die Ablehnung der auftretenden Energie sollte nicht auf die Aktivierung dieser Energie
folgen, sie sollte vielmehr im gleichen Augenblick zur Wirkung kommen, in welchem diese Energie
den Bereich des noch nicht in Erscheinung Getretenen verlässt. Mein männliches, geistiges Be-
wusstsein ist dazu da, das Arbeiten des weiblichen, organischen Bewusstseins auszugleichen und
nicht etwa dessen Folgeerscheinungen. Nur auf diese Weise wird eine Versöhnung zwischen diesen
beiden einander entgegengesetzten, sich ergänzenden Bewusstseinsformen statt nden können. In
der Möglichkeit, dass die Energie in Erscheinung treten kann, bevor sie von der Welt der Formen
aufgeschluckt wird, ndet diese Versöhnung ihren Ausdruck. Wenn die vollkommene Ablehnung
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der Aktivierung von Energie genau in den Augenblick verlegt wird, in dem dieser Vorgang sich
vollzieht, so unterdrückt sie diese nicht (was den Tod bedeuten würde), sondern schafft ein entspre-
chendes Gegengewicht gegen den organischen Willen, der sie entstehen lässt. Diese Ausgleichung
nun führt zur Entstehung einer Energie, die ohne Form bleibt, die sich dem Au ösungs-Prozess
durch Vorstellungen und Erregungen entzieht und die bis zur Entfaltung des Satori gespeichert wer-
den kann. Wenn meine Ablehnung der Energiefreimachung aufhört, passiv zu sein, um im obigen
Sinne aktiv zu wirken, so bleibt sie zwar Ablehnung, insofern sie sich wirksam der Gefahr wider-
setzt, dass meine Energie in die Bildungen des Abbauprozesses “gegossen“ wird. Zugleich aber hört
sie auf, Ablehnung zu sein, insofern sie nämlich nicht die Aktualisierung der gestaltlosen, bisher
noch nicht in Erscheinung getretenen Energie zu verhindern sucht.

Worin aber besteht nun im Grunde jene Umwandlung der reaktiv-weiblichen Form der Aufmerk-
samkeit in eine aktiv-männliche? Wie wir weiter oben schon erwähnt haben, setzt die Aufmerksam-
keit, die das Auftreten freigewordener Energie betrifft, jeweils zu spät ein. Wäre also ein zeitigeres
Einsetzen, ein rascheres Reagieren wünschenswert? Auf keinen Fall; denn so schnell die Reaktion
auch erfolgen mag, sie wird immer zu spät kommen, da sie „Reaktion“ und nicht Aktion ist. Im Üb-
rigen darf man den Ausdruck „zu spät“ hier nicht im üblichen Sinne des Wortes auffassen. Zwi-
schen der von uns beschriebenen Primärreaktion und der Sekundärreaktion vergeht keine noch so
kurze Zeit. Der Ausdruck „zu spät“ meint hier nicht etwa eine Sekunde, nicht einmal einen winzi-
gen Bruchteil einer Sekunde, sondern er ist nur ein Ausdruck für die Tatsache, dass die Reaktion des
mentalen Bewusstseins, selbst wenn sie unmittelbar erfolgt, immer zu spät kommt, weil sie Reakti-
on ist, während sie Aktion sein sollte. Unsere Aufmerksamkeit sollte nicht erst durch das Auftreten
der Energie, sondern schon zuvor geweckt werden. Das wird möglich, wenn wir, anstatt den im
Entstehen begriffenen Vorstellungs-Prozessen zuzusehen, auf diejenigen Vorgänge blicken, die erst
entstehen wollen. Und dies wird möglich, sobald wir versuchen, in aktiver Weise das Entstehen der
Energie selbst wahrzunehmen, anstatt passiv auf die bereits entstandene Energie und ihre bevorste-
hende Au ösung unser Augenmerk zu richten. Versuchen wir, es einfacher zu sagen: Eine aktive
Aufmerksamkeit erspäht im Voraus die Entfaltung der Bewegungen in meinem Innern. Es interes-
siert uns dabei nicht mehr die Erscheinung unserer Gefühlserregungen, sondern ihr Zustandekom-
men, nicht mehr die bereits arbeitende Bewegung, sondern jene anderen, noch ungeformten Regun-
gen, welche die Geburt der formgewordenen darstellen.

Wenn auch das aktive Arbeiten meiner Aufmerksamkeit allem Automatischen in meiner Natur ent-
gegen sein mag, so kann es doch nicht Gegenstand eines unmittelbaren Strebens, einer ausgespro-
chenen Übung, einer „Disziplin“ sein, die im Hinblick auf die absolute Verwirklichung durchzufüh-
ren wäre. Diese so wesentliche Idee der Disziplin werden wir an anderer Stelle weiterentwickeln.

Sie sei hier lediglich erwähnt, um den Leser vor einem hartnäckigen und vergeblichen Suchen nach
„Vorschriften“ für die absolute Verwirklichung zu bewahren. Zunächst wollen wir jedoch zeigen,
warum unsere Aufmerksamkeit, sobald sie in aktiver Weise funktioniert, reine Aufmerksamkeit
ohne greifbares Objekt ist.

Die freigewordene Energie ist niemals als solche wahrnehmbar, sie ist es nur in den Produkten ihres
Au ösungs-Prozesses, den Bildern. Die Au ösung wiederum kann nur Zustandekommen, wenn die
Aufmerksamkeit passiv arbeitet, die aktiv arbeitende Aufmerksamkeit kommt ihr verhindernd zu-
vor. Es gibt daher kein Objekt für unsere Wahrnehmung, solange die Aufmerksamkeit in aktiver
Weise arbeitet. Dennoch wird die Energie geweckt, da das organische weibliche Bewusstsein seine
Arbeit fortsetzt; doch bleibt die Energie in ihrem ungeformten, reinen Zustand erhalten und tritt
nicht greifbar in Erscheinung. So wird der Rat der Zenlehre am besten verwirklicht: “Erweckt das
Geistige, ohne es an bestimmte Dinge zu binden.“ Wir können also verstehen, dass das geistige Be-
wusstsein, wenn es unmittelbar, und nicht erst durch die organisch-energetischen Reaktionen ge-
weckt wird, notwendigerweise nichts nden wird, an das es sich heften könnte. Daher ließe sich der
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Satz der Zenlehre auch wie folgt abwandeln: „Erweckt das geistige Bewusstsein unmittelbar, und es
wird an keinem einzelnen Dinge haften!“

Es ist nicht schwer für uns, die konkrete Erfahrung zu machen, dass die auf unsere innere Welt ge-
richtete Aufmerksamkeit ohne Objekt ist. Wenn ich mich meinen inneren Monologen gegenüber
wie ein aktiver Zuhörer verhalte, der diese Monologe sprechen lässt, was sie wollen und wie sie
wollen, wenn ich mich absichtlich verhalte nach dem Satz: „Sprich, ich lausche Dir!“, so werde ich
bald feststellen, dass der Monolog abreißt und dass er erst wieder beginnt, wenn ich meine beobach-
tende, erwartungsvolle Haltung aufgebe.

Diese Unterbrechung des Vorstellungsablaufs mag von einigen als Unterdrückung des „Lebens“
verdächtigt werden. In Wirklichkeit ist aber der Vorstellungsablauf gar nicht das Leben. Hervorge-
bracht durch den Abbau von Energie, die eigentlich für die künftige Geburt des „neuen Menschen“
im Satori gespeichert werden sollte, gleicht der Vorstellungs-Prozess im Grunde genommen einer
wiederholt vorgenommenen „Abtreibung“ des „neuen Menschen“. Die Verhinderung dieses Abtrei-
bungsversuchs kann also meinem Leben, meiner echten Entwicklung in keiner Weise schaden.
Wenn ich die Entstehung des angeblichen „Lebens“ in mir überwache und damit dieses „Leben“ an
seiner Entfaltung hindere, so bereite ich dadurch die Entfaltung des „Existenz“-Bewusstseins, die
vollkommene Glückseligkeit des „Existierens“ vor. Wir haben von einer männlichen und einer
weiblichen Verlaufsform des mentalen Bewusstseins gesprochen und haben diese beiden Modi
scharf getrennt. Wir werden nun aber sehen, dass beide Formen in Wirklichkeit nebeneinander ab-
laufen.

Es wäre vergeblich, sich unmittelbar um die aktive Aufmerksamkeit zu bemühen oder etwa sich
darin „üben“ zu wollen oder zu versuchen, vorsätzlich die Entstehung unserer Gefühlserregungen
zu beobachten. Solche Bemühungen würden nur damit enden, dass man überhaupt nichts mehr
wahrnähme. Wir sind vorläu g an unseren jeweiligen Vorstellungsablauf gebunden - dies ist sogar
unsere ursprüngliche grundlegende Bindung, und der Tod schreckt uns nur, weil wir darin ein Auf-
hören unseres kostbaren „Bewusstseins“ fürchten - und derartige Übungen würden diese Bindung
unmittelbar zu zerreißen suchen. Durch eine restlose „Vermännlichung“ der Aufmerksamkeit wird
die vollkommene Loslösung, das Durchbrechen der Ich-Grenzen, erst im Satori vollzogen. Sich
unmittelbar um jene vollkommene Virilisierung bemühen, hieße also, die endgültige Loslösung „er-
haschen“, „erobern“ zu wollen, und in diesem Versuch ist ein klar erkennbarer, innerer Widerspruch
enthalten, der ihn von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Wie wir immer wieder betont haben, gibt es für die absolute Verwirklichung keine „Vorschriften“.
Die Prozesse, welche das Satori-Erlebnis bedingen, oder genauer: die Ausschaltung derjenigen Pro-
zesse, derentwegen wir uns unseres nicht an das Zeitliche gebundenen Satori-Zustandes nicht be-
wusst sind, ist einzig und allein über das Verstehen möglich. (Die Tibetaner nennen es „durchdrin-
gende Schau“.) Durch das Verständnis werden nicht diese oder jene Bilder, sondern der Vorstel-
lungs- und Gefühlsablauf als Ganzes entwertet. Jahrelang war meine Gläubigkeit meinen „inneren
Filmen“ gegenüber groß: ich bin sozusagen immer wieder „darauf hereingefallen“, ich habe „daran
geglaubt“. Ich habe an die angebliche Wirklichkeit dessen geglaubt, was der Energie-Abbauprozess
im Innern mir vorgaukelte. Je mehr aber mein erkennendes Bemühen und mein Verständnis fort-
schreiten, desto geringer wird meine Gläubigkeit, desto weniger lasse ich mich einfangen und desto
weniger glaube ich, dass es „das ist, worum es eigentlich geht“.

Im gleichen Maße nimmt auch die Faszinationskraft der Bilder für meine durch diese Bilder bisher
passiv erhaltene Aufmerksamkeit ab. Je mehr meine Aufmerksamkeit sich von der Vorstellungswelt
ablöst, desto stärker kehrt sie spontan in ihre normale Richtung zurück, zur Quelle meines Seins, zu
der umgeformten Energie, die die Wirklichkeit meines Leben ist (nicht mehr zu den schon geform-
ten Bildern, die die unaufhörliche Abtreibung dieses Lebens verkörpern). Diese “Umkehrbewe-

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gung“ vollzieht sich unbewusst, da ja meine Aufmerksamkeit, wenn sie in männlicher Weise wirkt,
ohne Gegenstand ist. Was ich beobachten kann, ist allein die Tatsache, dass meine innere Vorstel-
lungswelt fortschreitend an scheinbarer Wirklichkeit verliert (die Entwicklung zum Satori-Ereignis
hin ist in diesem Sinne ein scheinbarer Abstieg, eine scheinbare Entwicklungsumkehrung, wie wei-
ter oben schon hervorgehoben wurde).

An dieser Stelle kehren wir wieder zu einem Gedanken zurück, dem wir schon einmal Ausdruck
verliehen haben, dem Gedanken, dass das „re exive'“, „psychologische“, „intellektuelle“, „menta-
le“ Bewusstsein kein Bewusstsein im eigentlichen Sinn ist, und dass vorläu g das organische Be-
wusstsein in uns Wirklichkeit besitzt. Bei aktivem Arbeiten ist die Aufmerksamkeit ohne bestimm-
ten Gegenstand, also unbewusst, und die Erscheinungsformen unseres geistigen Bewusstseins ver-
schwinden. Damit verschwindet auch das Bewusstsein, das wir bisher als das mentale bezeichnet
haben, und das männliche, geistige Prinzip, das sich dahinter verborgen hatte (das Buddhi), wird
wieder mit dem weiblichen geistigen Prinzip meines organischen Bewusstseins vereint in der Drei-
Einheit des Nicht-Mentalen oder Prinzipiellen Unbewussten.

Die Berichte der Zen-Meister, die das Satori hatten, erlauben uns einen Einblick in dieses letzte
Stadium der Entwicklung. Es kommt ein Augenblick, da die männliche Funktion des Mentalen der
weiblichen an Bedeutung gleichkommt: es gibt dann ebenso viel ungläubige Klarsicht als gläubiges
Blindsein. Es ist der Augenblick des „Großen Zweifels“. Das organische Bewusstsein lässt sich mit
einem ersten Augen vergleichen (das von Geburt an offen ist), das mentale Bewusstsein wäre dann
ein zweites Auge, und die weibliche Verlaufsform dieses Bewusstseins (eines Bewusstseins, das
wesenhaft männlich ist) würde bei unseren Vergleich durch eine Verkrampfung vorgestellt, die die-
ses zweite Auge geschlossen hält. Je stärker das Gegengewicht der männlichen Form dieses Be-
wusstseins ist, desto eher wird eine Entspannung des Augenlids die Verkrampfung lösen können. Im
Augenblick des „Großen Zweifels“ ist dieses Gleichgewicht genau hergestellt. Noch ein Schritt,
und der „Große Zweifel“ zerbricht — das zweite Auge geht auf. Diese gemeinsame völlig neue
Sicht der beiden Augen, die den Zugang zu einer vorher ungekannten Tiefe, zu einer neuer, Dimen-
sion eröffnet, kann man als die „Öffnung des dritten Auges“ bezeichnen. Mit diesem Vergleich ver-
suchen wir darzustellen, dass es in Wirklichkeit kein drittes zu öffnendes Auge, d. h. kein drittes
„über-normales“ Bewusstsein gibt. In unserem Innern soll kein neues „Etwas“ erscheinen. Das Sa-
tori-Ereignis ist nichts anderes als der Augenblick, da unser dualistisch angelegtes Wesen, so wie es
jetzt ist, endlich seine wahre Wirkungsform entdeckt, indem es seine Aufmerksamkeit zu einem
selbständigen und bedingungsfreien Arbeiten erwachen lässt.

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XXI. ÜBER DEN BEGRIFF DER „DISZIPLIN“

Unsere Überlegungen im Lichte des Zen haben uns Ausnahmslos zu der Einsicht gebracht, dass es
keinerlei „Vorschriften“ zur Erlangung der absoluten Verwirklichung geben kann. Kein System ei-
ner besonderen Lebensweise ist imstande, die Synthese aller als Möglichkeit bestehenden Weisen
des Lebens herbeizuführen; keine bewußte Aktivität kann uns wieder in das prinzipielle Unbewußte
eingliedern. Keine Dressur und keine Disziplin, in der noch eine Spur von Kampf enthalten ist,
vermag den Dualismus zu überwinden, in dem dieser Kampf ausgetragen wird. Und so kommen wir
zu dem Schluß, dass es allein dem Verständnis vorbehalten bleibt, die Täuschung, in der wir im Au-
genblick noch befangen sind, aufzuheben und uns das Satori-Erlebnis zu verschaffen.

Darüber hinaus erkennen wir, dass die Entfaltung des Satori eine Aufspeicherung geballter Energie
in unserem Innern voraussetzt. Diese Speicherung von Energie wiederum setzt einerseits die theore-
tische Erkenntnis voraus und andrerseits die praktische Anwendung dieser Erkenntnis durch eine
besondere Aktivität unserer Aufmerksamkeit. Wir sehen also, dass diese Einsicht, die allein das Sa-
tori uns verschärfen kann, nicht nur als richtunggebende Theorie, sondern auch als innerer Prozess,
durch welchen die Theorie ihre praktische Anwendung ndet, verwirklicht werden muss. Dieser
innere Vorgang kann sich also nicht in angemessener Weise vollziehen, ohne die Einsicht, deren
einfache praktische Weiterführung er darstellt. Aus eben diesem Grunde können solche Vorgänge
auch nicht selbstgenügsame, zur Verwirklichung führende Vorschriften sein. Dennoch stellen sie
eine ganz bestimmte praktische innere Arbeit dar, eine Anstrengung, die sich im Lesen vollzieh: und
die sich von der abstrakten Erkenntnis unter- scheidet, die wir für kurze Augenblicks der Zurückge-
zogenheit in den „Elfenbeinturm“ unseres bewußten Denkens erreichen können.

Wir kommen so zu zwei scheinbar in Widerspruch miteinander stehenden Gewissheiten: einerseits


kann kein gewollter, methodisch ausgerichteter Eingriff in unser Leben, in unsere inneren und äuße-
ren Vorgänge für das Satori irgendeine Wirksamkeit besitzen. Andrerseits setzt die Erlangung des
Satori notwendigerweise eine im Verlauf des täglichen Lebens geleistete praktische innere Bemü-
hung voraus. Auf verschiedenen Wegen sind wir zu diesen beiden Gewissheiten gekommen und
doch führen uns beide Wege zu jenem sicheren Gefühl der „Evidenz“, das uns von der Echtheit ei-
nes Begriffes zu überzeugen vermag. Jeder Widerspruch dieser Art ist für uns Anlass zu einer wert-
vollen Vertiefung unseres Verständnisses, Er führt zu der Entdeckung einer umfassenderen Sicht der
Dinge, einer Sicht, in der die beiden vorhergehenden Blickpunkte sich vereinen und ihr scheinbarer
Gegensatz aufgehoben wird.

Im Einzelfalle müssen wir diese innere Bemühung so verstehen, dass sie nicht zu einem dem Leben
durch eine Methode aufgezwungenen Eingriff wird. Hierin sind zweierlei Hinweise enthalten: zu-
erst einmal, dass die innere Arbeit in Bezug, auf unser Leben keinen .Eingriff“ darstellt. Weiterhin,
dass sie keinerlei methodischen Zwang mit sich bringen darf. Über diesen letzten Punkt müssen wir
uns am ausführlichsten verbreiten, da wir ihn bisher noch nicht behandelt haben. Doch zuvor wollen
wir, was den ersten Punk: betriff:, an bestimmte, bereits dargelegte Begriffe erinnern.

Die innere Arbeit auf das Satori hin darf also keinen .Eingriff“ in unser Leben darstellen. Mit dem
Wort “Eingriff“ bezeichnen wir das, was entsteht, wenn irgendetwas in die Grundelemente einer
bestimmten Ordnung „eingreift“, die Beziehungen verschiebt, in denen diese Grundelemente sonst
zueinander stehen, und die wesentliche Anordnung des Gesamtplanes stört. Die Zenlehre fordert:
“Stört nicht den Ablauf des Lebens!“, und der Meister hält dem Schüler einen Sturzbach als Bei-
spiel vor, der ohne Hindernisse dahin strömt. Satori gäbe es für uns, wenn wir endlich aufhörten,
uns dem „Wesen der Dinge“ entgegenzustellen, sowohl untrem eigenen Wesen wie der Natur des
Kosmos im allgemeinen. Die innere Arbeit an uns selbst darf keine indiskrete und anspruchsvolle
Einmischung in den Ablauf innerer oder äußerer Prozesse zulassen. Dies soll jedoch nicht heißen,
dass nicht irgendeine Veränderung innerhalb dieser Vorgänge sich vollziehen könnte, je näher wir
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zeitlich dem Satori-Ereignis rücken. Doch was allem die entsprechenden Veränderungen hervorzu-
bringen vermag, ist das Absolute Prinzip, das Unbewußte in uns, und nicht etwa unser anspruchs-
volles Bewusstsein. Wenn ein „Eingriff“ statt ndet, so ist das, was in die Grundelemente der Ord-
nung „eingreift“, von der gleichen Art wie diese Elemente selbst, jeder Eingriff in mein Verhalten z.
B. besteht darin, dass ich mich jetzt anders verhalte, doch es geht weiterhin dabei um mein Verhal-
ten. Jeder Eingriff in mein Innenleben, in meine psychologischen Mechanismen, besteht in der Aus-
lösung eines neuen Mechanismus, wobei es sich aber nach wie vor um einen Mechanismus handelt.
Wenn ein „Eingriff“ in eine bestehende Ordnung sich vollzieht, so tritt dabei nichts in Erscheinung,
was nicht ursprünglich zu dieser Ordnung gehörte. Nun setzt aber die harmonische Synthese des
menschlichen Wesens das versöhnende Prinzip voraus, welches nicht der Ordnung der Erschei-
nungswelt angehört, sondern eben diese Ordnung transzendiert. Und doch darf gerade dieses aus-
gleichende Inerscheinungtreten des Prinzips innerhalb der Ordnung nicht als „Eingriff“ verstanden
werden. Nur das Prinzip selbst kann umgestaltend auf unsere inneren Prozesse, auf unser Leben
einwirken, ohne dieses Leben zu stören.

Wiederholt haben wir schon von jener Geste innerer Entspannung gesprochen, die keinen „Eingriff“
darstellt, da sie zur einfachen Aufhebung - nicht zur Umgestaltung - des geistigen Vorstellungsab-
laufs führt, ohne irgendein besonderes Bild mit sich zu bringen. Wir sagten auch schon, dass diese
Geste sich auf einer Ebene vollzieht, die höher steht als die Ordnung der uns sonst vertrauten inne-
ren Vorgänge und Erscheinungen, wie etwa das Gehirn, von dem die Entspannung der Muskeln
ausgeht, einer höheren Ebene angehört als das Knochenmark, das sie zusammenzieht. Das „Ausfüh-
ren“ einer solchen Geste entspricht etwa dem „Unterlassen“ der uns sonst vertrauten inneren Pro-
zesse. Wenn es in der Geste der Entspannung läge, durch den Gebrauch eines bestimmten Bildes -
wie etwa der Vorstellung der Aufhebung selbst - unmittelbar zur Aufhebung des Vorstellungsablaufs
zu führen, so könnte man mit Recht von einem indiskreten „Eingriff“ sprechen, der überdies nicht
zur Aufhebung des Vorstellungsablaufs, sondern nur zur „ xen Idee“ dieser Aufhebung führen wür-
de (ähnlich wie eine zu einer Art Autohypnose oder Katalepsie oder Synkope führende Konzentrati-
onsübung). Die richtig ausgeführte Geste gelangt nur mittelbar zu einer Entspannung. Sie nimmt sie
nicht unmittelbar zum Ziel, sie verzichtet auf die Einführung einer gedanklichen Vorstellung von
Entspannung. Im Gegenteil, sie besteht in einer umfassenden, unparteiischen und bedingungslosen
Anerkennung unseres geistigen Bewusstseins mit all seinen aufnehmenden und aktiven Kräften.
Diese Geste besteht in einem vorübergehenden Innehalten jedes besonderen Strebens, das sich mei-
nem Leben aufgeprägt hat, es ist, als wollte ich mich gleichsam meiner eigenen Existenz öffnen, die
unveränderlich unterhalb meinen Lebensbewegungen da ist. Doch wird dabei noch nicht einmal der
Begriff der „Existenz“ aufgerufen. Diese Geste ist wie ein Blick, der unmittelbar in das Zentrum der
von mir restlos bejahten Innenwelt ele und dabei durch diese Schicht hindurch in einen mir bislang
noch unbekannten Bereich vordränge. Da dieser Blick nichts Einzelnes bevorzugt, da er ohne „Vor-
urteil“ und ohne Ziel ausgesandt wurde, fällt er auf nichts und führt so, ohne dass ich es beabsich-
tigt hätte, zur Aufhebung des Vorstellungsablaufs. Er ist sozusagen eine totale Frage ohne besondere
Formulierung, eine Frage, die ohne Antwort bleibt, da sie keine ermöglicht, Es ist eine Kampfansa-
ge, die keinen Feind zum Ziel nimmt oder trifft, eine Aufmerksamkeit auf alles, die keinen Gegen-
stand kennt. Die Aufhebung des Vorstellungsablaufes, die ohne gesucht worden zu sein, auf diese
Weise erreicht wird, hat jedoch nur vorübergehenden Charakter. Sie besitzt keine Stetigkeit, sie ist
wie ein Blitz aus dem Bereich des Zeitlosen im Schoße der Zeit, und in nichts gleicht sie jenen „Zu-
ständen“, in die mich, im Gegensatz hierzu, etwa Konzentrationsübungen versetzen können. Da die-
se Geste, die geschieht, um die „Selbstschau“ zu gewinnen, keine Dauer besitzt, kann sie auch nicht
zur Schau des „dritten Auges“ führen, sondern diese nur vorbereiten. Es handelt sich um ein wie-
derholtes Scheitern, das in einem letzten Scheitern sich verdichten muss, und das eines Tages die
Täuschung aufheben wird, in der ich bisher noch befangen bin, die Täuschung, die darin besteht,
dass ich glaube, nicht im Satori-Zustand zu leben.

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Wenn die Geste vorübergehender Entspannung das Satori-Ereignis vorbereitet, dann deshalb, weil
die dadurch erreichte vorübergehende Aufhebung des Vorstellungsablaufs jedesmal den circulus vi-
tiosus zwischen Bildern und Gefühlserregungen durchbricht. Dieser circulus vitiosus, den wir auch
„Wiederkäuen von Vorstellungen und Gefühlen“ genannt haben und der auch dem entspricht was
wir als „Erregungszustand“, als „innere Verkrampfung“, als „Koppelung des Gefühlslebens mit dem
Verstande“ bezeichnet haben, ist ein innerer Automatismus, dem ein starker passiver Widerstand
innewohnt. Dieses Wiederkäuen von Vorstellungen läuft nicht ununterbrochen mit gleicher Intensi-
tät ab, doch hat es in jedem Stadium unserer Entwicklung eine bestimmte Entfaltungsmöglichkeit.
Diese Möglichkeit wird nun durch die Augenblicke der Entspannung nach und nach aufgebraucht
und untergraben. Die Intensität des circulus vitiosus zwischen Bildern und Gefühlserregungen wird
in zunehmendem Maße abgeschwächt und dies ndet in einer fortschreitenden Verwandlung unse-
res Innenlebens, unserer Schau der Dinge im allgemeinen seinen Ausdruck. Nicht als wäre uns vor
dem Satori auch nur der kleinste Bruchteil der „Schau der Dinge, wie sie wirklich sind“, vergönnt,
doch verliert unsere gegenwärtige Schau an „Schwere“, an Dichte und Faszinationskraft.

Um die Verwandlung begrei ich zu machen, die durch die innere Arbeit bei der Schau der Dinge
erreicht wird, wollen wir uns eines Beispiels bedienen. Wir wollen den Film unserer Vorstellungen
vergleichen mit den Projektionen eines gewöhnlichen Filmes, bei dem ein Projektionsapparat, eine
Leinwand und ein Lichtkegel, der beide verbindet, notwendig sind. Wenn nun die Projektionsvor-
richtung genau auf die Leinwand eingestellt ist, kann ich dort klare Bilder erkennen, bei denen
Licht und Schatten scharf kontrastiert sind. Wenn ich nun nach und nach die Leinwand näher an den
Projektionsapparat heranbringe ohne an diesem irgendetwas zu verändern, so werden die Bilder
allmählich an Klarheit und an Kontrast einbüßen. Es kommt dann ein Augenblick, wo ich sie nur
noch mit Mühe erkenne und wo die schwarzen Schatten grau geworden sind. Noch später erschei-
nen nur blasse unbestimmte Schatten, während die allgemeine Helligkeit auf der Leinwand zu-
nimmt. Und schließlich, wenn die Leinwand den Apparat fast berührt, wird sie ganz weiß und
immernd.

Der Projektionsapparat symbolisiert hier das prinzipielle Unbewußte oder Nicht- Mentale, die Quel-
le unseres Bewusstseins, der Lichtkegel das Unter-Bewusste und die Leinwand das Bewusstsein.
Diese „Leinwand“ wird nun durch unsere ichbezogene persönliche Bestimmtheit in einer Entfer-
nung gehalten, in der die Bilder „scharf eingestellt“ sind. Und hier wird durch die Forderung nach
absolutem Sein innerhalb der Grenzen unserer individuellen Eigentümlichkeit unsere Aufmerksam-
keit festgehalten. Dieser Zustand entspricht der parteiischen inneren Einstellung, mit der ich das,
was ich liebe, dem, was ich nicht liebe, genau entgegensetze. Bei diesem lebhaften Kontrast von
Licht und Schatten rufen die Bilder starke Gefühlserregungen hervor, die wieder neue Bilder auslö-
sen und der ganze Ablauf des Filmes stellt so das „Wiederkäuen“ meiner Vorstellungen und Ge-
fühlserregungen dar.

Im Augenblick der Entspannung, der gegenstandslosen Aufmerksamkeit, be ndet sich die Lein-
wand in unmittelbarem Kontakt mit dem Projektionsapparat und ist, ganz von reinem Licht über-
strahlt, bilderlos. Jenes reine Licht entzieht sich meiner Wahrnehmung, weil sich alles in einem Au-
genblick vollzieht und weil ich nichts wahrnehmen kann, was nicht Dauer hätte, da jede Wahrneh-
mung Erinnerung ist. Doch durch diesen Augenblick ohne Bilder nimmt die Macht des circulus vi-
tiosus ab, die die Leinwand vom Projektionsapparat entfernt hält, und die Leinwand rückt näher.
Wird die Bewegung der Entspannung mit genügender Beharrlichkeit wiederholt, so nähert sich die
Leinwand immer mehr. Lichter und Schatten des Vorstellungs lmes verlieren an Kontrastwirkung,
die äußeren Umrisse, die sie gegeneinander abtrennen, werden weniger scharf und die Schatten
werden grau. Das will nicht besagen, dass mein Denken an Kraft einbüße, nur meine „Werturteile“,
meine „Ansichten“, meine „Überzeugungen“ verlieren an Härte und zwingender Kraft. Das Zu-
nehmen einer allseitigen Helligkeit auf der Leinwand ist dem Abnehmen meiner Urangst gleichzu-
setzen, und damit einer Erleichterung meiner gesamten Gefühlslage.
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Der dem Satori vorangehende „Große Zweifel“ entspricht dem letzten Stadium dieser Entwicklung.
Die Leinwand be ndet sich dabei ganz nah am Projektionsapparat. Der innere Bewusstseinszustand
ist sehr klar und frei von Beklemmungen. Die tief in unserem Gefühlsleben verankerte Verneinung
wird fast ganz ausgeschaltet und die Angst verschwindet, wenn auch die existentielle Glückseligkeit
der Bejahung noch nicht bis ins Bewusstsein gedrungen ist. Die vom Gehirn erzeugten geistigen
Bildformen, die samskaras, sind verschwunden; daher kommt der Betroffene zu der Aussage, er sei
„schwachsinnig oder dumm geworden“. Die Au ösung der Schatten gibt sich in dem Gefühl zu er-
kennen, die Weit sei transparent, sei einem „Kristallpalast ähnlich“ geworden. „Berge sind nicht
mehr Berge und Wasser nicht mehr Wasser“. Noch eine Stufe weiter und die Aufmerksamkeit, die
der Quelle des Unbewußten schon so nahe gekommen ist, verankert sich endgültig darin - sie ist am
„Ruheort“. Für einen Augenblick ist jeder Unterschied zwischen Leinwand, Lichtkegel und Projek-
tionsapparat ausgelöscht. Dann tritt wiederum alles in Erscheinung, um aber nun in einfacher, har-
monischer, für uns bislang nicht vorstellbarer Weise sich abzuspielen.

Dieses Beispiel läßt uns verstehen, in welcher Weise bei den inneren Bemühungen der Kreislauf der
Lebensenergie verwandelt wird. Je näher die Leinwand dem Projektionsapparat rückt, desto weni-
ger löst sich die Lichtenergie in schwarz-weiße Formen auf. Das Strahlenbündel ist an seinem
fernsten Punkt, dort wo es aus der Quelle tritt, reines Weiß, reines Licht, Wir haben schon darauf
hingewiesen, dass unsere Energie ungeformt aus der Quelle aufsteigt, in der sie noch nicht in Er-
scheinung getreten war und haben damit das Vorhandensein einer Energie zugegeben, die zwar noch
ungeformt ist, aber dennoch sich anschickt, in Erscheinung zu treten. Scheinbar ist dies ein meta-
physischer Widerspruch, da keine Manifestierung ohne Form vorgestellt werden kann. Das Absurde
rührt jedoch nur von den Worten her, die die Bewegung bei der Entstehung der Energie erstarren zu
lassen drohten. Wenn wir von einer zwar in Erscheinung tretenden aber doch noch ungeformten En-
ergie sprechen, wollen wir mit diesen unzulänglichen Worten jenen Augenblick ohne Dauer aufru-
fen, in dem die Energie gerade aus ihrer Quelle heraustritt. Wir wollen sie auf jener angenommenen
Grenzlinie zwischen dem noch nicht in Erscheinung Getretenen und dem schon Erscheinung Ge-
wordenen bezeichnen, wollen jenen Augenblick greifbar machen, wo sie von ihrem Ursprung her
gesehen schon in Erscheinung tritt, von der gesamten Erscheinungsweit her gesehen jedoch noch
ungeformt scheint. Die zuvor erwähnte „Ballung umgeformter Energie“ muss verstanden werden
als eine immer mehr anwachsende Möglichkeit, der Energie den circulus; vitiosus von Bildern und
Gefühlserregungen zu ersparen.

Nachdem wir nun die innere Arbeit als ein „Loslassen“, eine momentane und vollkommene Ent-
spannung unseres bewußten Seins in Erinnerung gebracht haben, kommen wir zu dem wesentlichs-
ten Punkt dieser vorliegenden Untersuchung: Wann ist es angebracht, dieses „Nicht-Handeln“', die-
ses „Loslassen' zu üben? An dieser Stelle lauert eine Gefahr: Wenn ich Satori nämlich irrtümlicher-
weise als Erfüllung meiner individuellen Eigentümlichkeit ansehe aus der trügerischen Perspektive
eines „Übermenschen“, dann begehre ich des Satori, dann ersehne ich es unmittelbar, dann „will“
ich es im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes. Wenn ich auf diese Weise Anspruch auf Satori erhebe,
andrerseits jedoch die Wirksamkeit des „Loslassens“ begriffen habe, so bin ich gezwungen dieses
Loslassen zu vollziehen. Ein Zwang, der sich folgerichtig aus meinem Anspruch auf absolutes Sein
als Individuum ergibt, treibt mich dazu, meinem Gesamtorganismus die Geste der Entspannung
aufzuerlegen, ob dieser darauf anspricht oder nicht. Es versteht sich von selbst, dass auf diese Weise
keine echte Entspannung möglich werden kann, und nur wiederum eine verkrampfte Vorstellung
von „Entspannung“ herauskommen kann.

Dies alles will jedoch nicht heißen, dass es bei der richtig durchgeführten inneren Arbeit keinerlei
Disziplin geben könne, doch muss sie in entsprechender Weise verstanden werden. Bei jeder inne-
ren Disziplin bestimme „Irgendetwas“ den Gang meiner psychosomatischen „Maschine“. Was aber
muss dieses „Irgendetwas“ sein, wenn die innere Arbeit sinnvoll sein soll?

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Um diese Frage beantworten zu können, wollen wir zunächst einmal zeigen, was dieses „Irgendet-
was“ nicht sein darf, und zu diesem Zweck die uns vertrauten Begriffe des „auf sich selbst einen
Zwang ausüben“, der „Selbstbeherrschung des „Willens“ analysieren.

Wir werden zunächst nicht auf eine nähere Untersuchung des berühmten und verfänglichen „Wil-
lens“ eingehen und wollen vielmehr bei der Untersuchung des „Zwangs, den wir auf uns selbst aus-
üben“, den Ausdruck „Willen“ nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch anwenden. Einen Ein uß,
einen bestimmten Druck ausüben, kann Ein uß auf meine äußere Haltung bedeuten - etwa „gute“
Taten oder „gute“ Unterlassungen (Askese) - oder aber Ein uß auf die innere Haltung, also „gute“
Gefühle, „gute“ Gedanken oder geistige Übungen zur Erreichung eines „guten“ Funktionierens
meines Gehirnes (Konzentration, Meditation, völlige Leere des Gehirns usw.). Bei einer gründli-
chen Analyse dessen, was im Verlauf solcher Einwirkungen vor sich geht, ndet man zunächst im-
mer die „gewollte“ Aufrufung eines einzelnen Bildes oder eines Systems von Bildern als ersten Me-
chanismus. Soweit es sich um Meditationen handelt, wird dies besonders deutlich (selbst wenn die
aufgerufene Vorstellung die der Abwesenheit von Bildern sein sollte), und ebenso verhält es sich
auch bei äußerer Taten, da ja der Entschluss zu jeder Handlung von der Konzeption ihrer geistigen
Vorstellung ausgeht. Jede Einwirkung auf mich selbst besteht also in einem „absichtlichen“ geisti-
gen Aufrufen von Bildern, in einem vorstellungsmäßigen „Vorgehen“, in dessen Verlauf meine
„Parteinahme“ für ein bestimmtes Bild zu Ungunsten aller andern Bilder deutlich wird. Dieses Par-
teiergreifen für eine einzelne Form meiner Gesamtverwirklichung und folglich gegen alle anderen
als Möglichkeit vorhandenen Formen verhindert jene Einwirkung auf uns selbst daran, an der Syn-
these unseres Gesamtwesens mitzuarbeiten. Ich kann so nur handeln, wenn ich alle anderen Hand-
lungen, die ich gerade nicht ausführe, ablehne, und daher wird keine Vereinheitlichung meines We-
sens möglich. Die bevorzugten Bilder sind, genau wie die abgelehnten, samskaras. Diese Methode
kann also den Vorstellungs- und Erregungs-Prozess als Ganzes nicht beein ussen; so werden ledig-
lich die durch diesen Prozess hervorgebrachten Formen modi ziert. Die bevorzugten samskaras in-
tensivieren sich, sie neigen dazu, sich zu verselbständigen, und es entstehen Vorstellungsgewohn-
heiten. Auf diese Weise kann ich etwa die Gewohnheit annehmen, Liebesgefühle für die ganze Welt
zu hegen und dabei die ursprüngliche in mir angelegte Aggressivität vernachlässigen. Wohl wird bei
diesem Vorgang eine bestimmte Erscheinung verwandelt, doch ndet kein überschreiten dieser
Form, keine Transformation statt.

Wie wir schon hervorgehoben haben, bilden solche Methoden nicht in sich selbst ein Hindernis für
die Erlangung des Satori. Eine Verstärkung bestimmter samskaras auf Kosten anderer kann die in-
nere Situation des Menschen im Hinblick auf eine mögliche Verwandlung kaum beein ussen. Was
nicht für das Satori arbeitet, begnügt sich damit, nicht dafür zu arbeiten, aber es gibt nichts, was im-
stande wäre, dem Satori entgegenzuwirken. Der Unwissenheit eignet gegenüber dem Zeitlosen oder
der möglichen Verwirklichung des Zeitlosen keine eigentliche Wirklichkeit. Sie bedeutet hinsicht-
lich des Satori Ereignisses nur verlorene Zeit.

An dieser Stelle läßt sich ein Einwand erheben: Wenn ich in der richtigen Weise „loslasse“, so aner-
kenne ich dabei ganz unterschiedslos jegliches Bild. Es kann sich also nicht länger darum handeln,
ein besonderes Bild aufzurufen, denn meiner Innenwelt gegenüber gibt es keine Parteilichkeit mehr.
Bis hierher scheint alles seine Richtigkeit zu haben. Wollte ich jedoch mich nun selbst veranlassen,
die Geste des „Loslassens“ systematisch zu vollziehen, weil ich das Satori „begehre“, wollte ich sie
jedesmal vollziehen, wenn ich daran denke, ohne meiner jeweiligen inneren Lage Rechnung zu tra-
gen, so wird notwendigerweise diese gleichmäßige Anerkennung sämtlicher Bilder wiederum zu
einem bevorzugten Bilde werden, und so werde ich zum gleichen Widersinn zurückkehren.

Zum ersten mal stoßen wir hier auf einen wesentlichen Grundbegriff, nämlich auf die Forderung,
dass man der jeweiligen inneren Lage Rechnung tragen müsse. Was die übliche Auffassung der
Disziplin von der richtigen Auffassung, die wir hier zu umreißen versuchen, unterscheidet, ist nichts
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anderes als die Tatsache, dass bei der üblichen Anwendung der Disziplin der inneren Lage nicht
Rechnung getragen wird.

Analysieren wir nun, was eigentlich vor sich geht, wenn wir auf uns selbst einen Zwang ausüben.
Jede Ein ussnahme auf uns selbst ist ein Kampf zwischen zwei Bestrebungen. Wenn irgend jemand
aus ästhetischen Gründen fastet, um abzunehmen, so entbrennt ein Kampf zwischen der Tendenz,
den Appetit zu befriedigen und der anderen Tendenz, schöner und darum dünner zu werden. Ein an-
derer fastet um seiner „geistigen“ Weiterentwicklung willen, und dieser Fall weist im Grunde wenig
Unterschied vom vorhergehenden auf, denn der Wunsch nach „geistiger“ Weiterentwicklung ist of-
fensichtlich auch ein auf meine Person bezogener Wunsch. Er ist also, genau wie die Lust zu essen,
ein Bestreben, sich innerhalb der Grenzen seiner individuellen Eigentümlichkeit zu bejahen. In bei-
den Fällen sehen wir also gleichartige Tendenzen gegeneinander kämpfen. Es verhält sich wie bei
zwei Menschen, die an den entgegengesetzten Enden eines Seiles ziehen oder die sich gleichzeitig
auf die entgegengesetzten Enden eines Stockes stützen wollen.

Dieser Kampf, diese Spannung zwischen beiden Tendenzen muss genau unterschieden werden von
ihrem Zusammenspiel, das ihr normales Verhalten kennzeichnet. Jedes Verhalten, das ich einnehme,
ohne einen Zwang auf mich selbst auszuüben, kann niemals nur Ausdruck für eine einzelne Tendenz
sein. Vielfältige Tendenzen reagieren in meinem Innern auf jede Wahrnehmung der Außenwelt. Die
einfache, einheitliche Form, die in einem nicht absichtlich gelenkten Verhalten sichtbar wird, geht
aus einer Unter-Bewussten Zusammenordnung der verschiedenartigen Tendenzen hervor und stellt
so das Ergebnis eines Kräfteparallelogramms dar. Woher aber kommen nun die Unterschiede in der
Art und Weise, in der diese Tendenzen durcheinander spielen? Warum fügen sie sich manchmal fast
unbemerkt ineinander, während sie ein andermal bis zum Zerreißen sich in meinem Innern bekämp-
fen?

Was hier hemmend eingreift, ist die Parteilichkeit. Es muss eine Spannung in mir entstehen, wenn
ich für die eine und gegen die andere Tendenz Partei ergreife. Die gefühlsmäßige Vorliebe für eine
einzelne Tendenz bringt in dem passiv reagierenden mentalen Bereich ein Parteiergreifen meines
Intellektes und damit ein Werturteil. Dies führt zu der Überzeugung, dass die eine Tendenz „ist“,
also auch existieren solle, dass eine andere hingegen nicht „ist“, folglich auch nicht existieren dürfe.
Auf diese Weise setze ich mich selbst mit der von mir bevorzugten Tendenz gleich (also eine Über-
setzung meines ganzen Wesens auf die eine Tendenz, deren „Sein“ ich zu erkennen glaube).

Hier wie überall liegt der Irrtum nicht in der Gleichsetzung meiner selbst mit einer beliebig gewähl-
ten Tendenz verankert, sondern nur in dem ausschließenden Charakter dieser Gleichsetzung, das
heißt in der Ablehnung entgegengesetzter Tendenzen. Wir müssen dabei beachten, dass die Unzu-
länglichkeit der Gleichsetzung, die innerhalb des persönlichen Mikrokosmos sich vollzieht, in einer
bestimmten Beziehung steht zu der Unzulänglichkeit, die ich erfahre, wenn ich mich mit dem Mi-
krokosmos identi zieren möchte. Sobald ich unter Ausschluss des Nicht-Ich mit meinem Ich mich
gleichsetze, ist keine Gleichsetzung mit der wirklichen Ganzheit des Ich mehr möglich. Mein per-
sönlicher Mikrokosmos wird dann seinerseits in Ich und Nicht-Ich aufgespalten, so z. B. in Tenden-
zen, die ich als die meinen anerkenne, und solche, die ich als mir fremd verleugne. Einen Magneten
kann man in beliebig viele Stücke teilen, und jedes Bruchstück wird wieder zwei Pole besitzen.
Jede Spaltung erzeugt eine Unzahl weiterer Spaltungen.

Diese Identi zierung mit der oder jener Tendenz unter Ausschließung aller anderen vorhandenen
Tendenzen ndet in der Tatsache ihrer. Ausdruck, dass der Mensch das Gefühl hat, er selbst kämpfe
gegen die Tendenz, die er ablehnt. Die Unter-Bewusste Zusammenordnung der Kräfte hat ihrer be-
wußten feindlichen Entgegengesetzheit Platz gemacht, das sich Ergänzende der polaren Spannung
tritt hinter dem feindlichen Gegensatz zurück. Die beiden Kräfte wirken nicht mehr, als gehörten sie
einem harmonischen Ganzen an. Durch meine Parteilichkeit verhalten sie sich, als gehörten sie zwei

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verschiedenen „Ganzen“ an. „Sobald ihr Gut und Böse habt, folgt die Verwirrung, und der Geist ist
verloren.'“

Gerade der irreführende Begriff des „Willens'', wie er im allgemeinen verstanden wird, ist das un-
heilvolle Ergebnis einer solchen Gleichsetzung des Menschen mit einer von ihm gewählten Ten-
denz. Dieser „Wille“ stellt eine besondere Kraft für sich dar, die sich wohl von den Tendenzen un-
terscheidet und die die Fähigkeit besitzt, unter diesen Tendenzen eine Art Polizeiregime zu errich-
ten. Kehren wir zu dem Bild des Menschen zurück, der eine Fastenkur macht, um schlanker zu
werden. Er identi ziert sich selbst mit dieser ästhetischen Tendenz und ist sich daher dieser Tendenz
auch nicht mehr bewußt. “Wenn er von seiner Kur abgewichen ist, sagt er nicht etwa: „Meine Ess-
lust ist stärker gewesen als mein “Wunsch, schön zu sein“, sondern er wird sagen: „Meine Esslust
ist stärker gewesen als ich“. Im entgegengesetzten Falle würde er sagen: “Ich bin meiner Esslust
Herr geworden.“ Da nun dieser Mensch die Tendenz, die den Sieg davon getragen hat, gar nicht
mehr als solche emp ndet, da er aber dennoch fühlt, dass irgendeine Macht diese Esslust besiegt
hat, nennt er diese Macht seinen „Willen“. Es lassen sich auch schwieriger gelagerte Fälle beobach-
ten, die aber im Grunde alle auf das Gleiche herauskommen: So könnte etwa in einem Menschen,
der stolz ist auf die Triumphe seines Willens oder der über dessen Niederlagen sich schämt, der
Wunsch erwachen, möglichst viel „Willenskraft“ zu besitzen. So kommt es zu einer Parteinahme für
diejenige Tendenz, deren Wesen es ist, im Widerspruch zu jeder anderen beliebigen Tendenz zu ste-
hen. Das Streben nach „Selbstbeherrschung“ ist nichts anderes. Man könnte vielleicht einwenden,
das Kontrollieren der eigenen Tendenzen müsse noch nicht notwendigerweise heißen, dass man zu
ihnen im Widerspruch stehe. Doch wird man zugeben müssen, dass jede Kontrolle, selbst wenn sie
einen Vorgang gutheißt, einen Widerspruch immerhin als Möglichkeit mit sich bringt. Wenn ein an-
derer meine Handlungen kontrolliert, so emp nde ich das mit Recht als eine Verneinung meiner
Freiheit. Vielleicht wird der Mensch, der fastet, um sich zu beweisen, dass er dazu imstande sei, be-
haupten, dass er sich dieses Fasten vollkommen „ohne jede Absicht“ auferlegt habe und dass es sich
dabei nicht um eine Tendenz handle, die seiner Esslust entgegenwirken solle. Trotzdem erkennt er,
dass es sich um eine Tendenz handelt, die das Zepter über unsere Innenwelt schwingen möchte, um
eine Tendenz zur Tyrannis, durch welche er selbst tyrannisiert wird. Er wollte nicht länger Sklave
seiner Wünsche und Triebe sein, hat dabei aber alle Sklaverei auf den einen Wunsch konzentriert:
frei zu sein von allen Wünschen. Die innere Situation bleibt so im ganzen gesehen die gleiche, und
sie wird im Hinblick auf die Möglichkeit des Satori weder gebessert noch verschlimmert. Das „Sich
selbst bezwingen“ kann zur „Heiligkeit“ führen, das heißt zur harmonischen Einheit eines positiven
Wesenszuges, der allein zur Geltung kommen darf, jedoch niemals zu einer Einswerdung der We-
sensgesamtheit oder zum Satori. Im Hinblick auf unsere nichtzeitliche Verwirklichung erfüllt der
sogenannte „Wille“ keinen Zweck.

Behalten wir im Auge, dass bei der „willensmäßig“ ausgeübten Selbstbezwingung der Betroffene
seine innere Verfassung nicht berücksichtigt; er übt diesen Druck auf sich selbst aus, so oft es ihm
in den Sinn kommt. Wenn er es unterläßt, dann nur, weil er seine „P icht“ vergessen hat. Und selbst
wenn es vorkommt, dass er an diese Selbstbezwingung denkt, ohne sie auszuüben, dann nicht etwa,
weil er seine innere Situation in Rechnung stellt. Sobald nämlich der auf die eigene Person ausgeüb-
te Zwang als etwas prinzipiell Richtiges angesehen wird, so bedeutet dies schon soviel wie eine
Auslösung dieses Druckes. Wenn er dennoch zuweilen nicht zur Auswirkung kommt, geschieht
dies, weil die entgegengesetzte Tendenz von Anfang an stärker war.

Wenn ich so die Wirkungslosigkeit jeder „Selbstbezwingung“ eingesehen habe, gerate ich in die
Versuchung, denjenigen Recht zu geben, die „sich leben lassen“, die nicht auf sich selbst, nur auf
die Außenwelt einen Zwang ausüben, um zu erreichen, was ihnen zukommt. Doch werde ich als-
bald gewahr, dass dieser Versuch auf einer irrigen Überlegung beruht: Wenn nämlich diese gele-
gentlichen Anstrengungen der Situation des Menschen hinsichtlich des Satori schaden würden, so
müßte ja der Mensch, der alle diese Anstrengungen unterließe, dem Satori näher kommen. Wie wir
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aber erkannt haben, kann dieser ausgeübte Zwang nicht als solcher ein Hindernis bilden, und die
Tatsache, dass man nicht mehr für ihn eintritt, kann also auch nicht ein Hindernis beiseite schaffen,
dass gar nicht vorhanden war.

Viel wichtiger ist aber eine andere grundsätzliche Widerlegung, die gegen die quietistische Einstel-
lung vorgebracht werden kann. In Wirklichkeit läßt nämlich der Mensch, der keinerlei Zwang auf
sich selbst ausübt, sich nur dem Scheine nach leben, nicht aber in der Tat, Wenn sein mentaler Be-
reich nicht mit Bewusstsein in das Zusammenspiel seiner unterbewussten Tendenzen störend ein-
greift, so kann er sich doch unbewußt störend auswirken. Wenn keine bewußte Entgegensetzung
von Tendenzen, sondern nur ein „Zusammenklang“ vorwaltet, so verhüllt dieser scheinbar harmoni-
sche Zusammenklang meistenteils nur eine unterbewusste Spannung. Ein solcher Mensch hat viel-
leicht kein bewußtes theoretisches „Ideal“, wohl aber ein unterbewusstes, rein praktisches. Durch
die Erfahrung nämlich, dass seine Tendenzen ihm bald Bejahung, bald Verneinung einbrachten, ha-
ben sich in seinem Innern konkrete praktische Urteile über diese Tendenzen herausgebildet, die sie
billigen oder verurteilen. Notwendigerweise sieht der Mensch einen bestimmten Kausalzusammen-
hang zwischen den Tendenzen und ihren praktischen Auswirkungen. Da er ihren Auswirkungen
verhaftet ist, ergreift er notwendigerweise für oder gegen diese oder jene Tendenz Partei, und daraus
entsteht die sekundäre Tendenz, die Primärtendenzen zu kontrollieren. Ein solcher Mensch, dem es
scheinbar nur darum geht, die Außenwelt zu beherrschen, führt im Verborgenen ebenfalls einen in-
neren Kampf unter der tyrannischen Vorherrschaft seines praktisch ausgerichteten „Ideals“.

Was sich bei diesem Menschen abspielt, ist komplexerer Natur als die Vorgänge beim Verfechter
des „Willens“. Beim Verfechter des „Willens“ ist die innere Kontrolle stets klar zu erkennen, und
eine bewußte Sichtung der Tendenzen spielt bei ihrer Anerkennung wie bei ihrer Unterdrückung die
Hauptrolle. Tatsächlich wird bei diesem Menschen eine Tendenz nie einfach anerkannt; denn wenn
sie nicht unterdrückt wird, wird sie sofort durch die kontrollierende Sekundärtendenz aktiviert. Bei
dem Menschen hingegen, der sich nur seines Kampfes gegen die Umwelt bewußt wird, kann man
die innere Kontrolle nur in ihrer unterdrückenden Form wahrnehmen. Wenn nun die kontrollierende
Tendenz eine Primärtendenz nicht unterdrückt, so aktiviert sie diese hierdurch nicht, sondern läßt
sie, wie sie ist, dass heißt, sie tritt mit der Zeit außer Kraft. Die Mechanismen eines solchen Men-
schen können zuweilen eine gewisse „Spontanität“ aufweisen.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, dass ein Mensch, der nicht bewußt innerlich an sich arbeitet,
deswegen noch nicht „losläßt“. In seiner inneren “Welt“ herrscht nicht etwa völlige Unparteilich-
keit. Selbst die relative Spontanität, auf die wir gerade hingewiesen haben, ist keine echte Unmittel-
barkeit. Bei impulsiven Handlungen bedeutet mein unterbewusstes Verhalten meinen Tendenzen,
meinen verschiedenen „Ichs“ gegenüber noch kein „Ja“ zur Gesamtheit dieser Tendenzen. Es ist
lediglich ein „Ja“ zu der jeweils in Frage kommenden Tendenz, doch ein wählerisches „Ja“, das von
einem „Nein“ gegenüber den übrigen Ich-Möglichkeiten begleitet wird. Das bedeutet soviel wie ein
„Nein“ zu meinem inneren Triebwerk, zu meiner „Maschine“ als Ganzem.

Was aber wäre von einer Methode zu halten, die darin bestünde, alle Tendenzen in ihrer Fülle zu
überblicken, jedoch nur die eine, jeweils in Frage stehende Tendenz zu billigen? Es ist dies eine
Einstellung, zu der folgerichtig der Mensch kommen muss, der früher ein bewußtes „Ideal“ oder
auch mehrere gehegt hatte, jetzt aber ein Verständnis errungen hat, durch welches jedes „Ideal“
entwertet wird. Er begreift, dass vom einzig gültigen Gesichtspunkt der nichtzeitlichen Verwirkli-
chung aus gesehen, allen inneren Mechanismen gleiche Geltung zukommt; er hat sich vom Ästheti-
schen oder Nicht-Ästhetischen seiner Tendenzen unabhängig gemacht. Diese relative Unabhängig-
keit verleiht ihm eine relative Freiheit. Der Verzicht auf eine Parteinahme den Tendenzen gegenüber
hindert diese zwar nicht daran, weiterhin zu existieren, nimmt ihnen aber jeden zwingenden Wert.
Traum und Wirklichkeit spalten sich immer mehr. Meine Gefühle entsprechen meinem Traum, mein
Verhalten meiner Vernunft.
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Diese Methode also, die darin besteht, jede gerade in Erscheinung tretende Tendenz zu billigen, ver-
leiht mir eine relativ große äußere Freiheit. Doch ist sie noch nicht das „Loslassen“, von dem die
Zenlehre spricht. Bewußt anerkennen heißt noch nicht „loslassen“, ist es nur dem Scheine nach.
Wie wir gesehen haben, läßt sich das „Loslassen“ nur dann verwirklichen, wenn wir die Gesamtheit
aller unserer Tendenzen anerkennen, bevor eine einzelne in Erscheinung tritt - aber es wird sich zei-
gen, dass dann keine mehr in Erscheinung tritt. Wenn ich dagegen die jeweils vorwiegende Tendenz
anerkenne, dann lasse ich nur in Bezug auf diese eine Tendenz „los“, alle übrigen werden weiterhin
gezügelt. Die unparteiisch allgemein anerkennende Einstellung meiner Innenwelt gegenüber kann
in sich selbst keine Wirksamkeit im Hinblick auf das Satori haben.

Kommen wir noch einmal auf das „Loslassen“ zurück, wie wir es bisher verstanden haben. Es geht
uns jetzt nicht darum, die Ausführung der sinnvollen inneren Anstrengung näher zu de nieren, son-
dern wir wollen in Erfahrung bringen, wann diese Geste ausgeführt werden soll. So stellt sich uns
jedenfalls diese Frage zunächst dar, in einer Form, die jedoch nur dann am Platze wäre, wenn es
sich um eine gewöhnliche Geste, um eine Bewegung der Anspannung handelte. Wenn ich mich
etwa entschlossen habe, meinen Körper zu trainieren, so werde ich mich vielleicht fragen: „Wann
soll ich es am besten tun?“ Und wenn auch ein bestimmter Zeitpunkt des Tages den guten Wirkun-
gen dieser Übungen stärker entgegenkommt, so kann ich sie auch zu einem andern Zeitpunkt mei-
nen Muskeln zumuten. Doch dies trifft nicht beim Vollzug der inneren Geste zu, die zu einer Ent-
krampfung sämtlicher Tendenzen führt, indem sie für einen kurzen Augenblick völliger Unpartei-
lichkeit alle gleicherweise anerkennt. Diese Geste kann zwar zu jeder beliebigen Zeit angestrebt,
nicht aber immer ausgeführt werden. Das Bewusstsein kann von meinem Gesamtorganismus diese
Geste fordern, nicht aber sie ihm unmittelbar aufzwingen. Die Verwirklichung dieser Geste setzt das
Zusammentreffen von zwei Faktoren, voraus: von meinem Denken muss die Geste ausgehen, von
meinem Organismus muss sie angenommen werden. Wenn ich einen inneren Widerstand gegen die
Geste der Entspannung fühle und diesen Widerstand zu besiegen versuche, so stelle ich mich da-
durch selbst dem Gelingen in den Weg. Denn ich pfropfe auf diese Weise nur eine erneute Anspan-
nung auf eine schon vorhandene Verkrampfung.

Prüfen wir nun die beiden Faktoren, von denen wir eben gesprochen haben. Vom Denken muss die
Geste zuerst ausgehen. Dies setzt eine aktive Wachsamkeit des geistigen Bewusstseins voraus, und
diese Wachsamkeit wiederum setzt das klare Verstehen der inneren Arbeit und ihrer Nützlichkeit
voraus. Diese immer wachsame Aufforderung durch das geistige Bewusstsein ist der eigentliche
Wille, ein Wille, der, wie Spinoza sagt, nichts anderes ist als Verstehen. Anschließend muss natür-
lich der ganze Organismus diese Aufforderung des Bewusstseins annehmen und sich ihr vorbehalt-
los öffnen. Die freudige Zustimmung des inneren Gefüges tritt ein, sobald spürbar wird, dass das
Denken beharrlich doch ohne Gewalt um das Mitwirken des Organismus wirbt, d. h. sobald die
„Maschine“ fühlt, dass sie berücksichtigt wird.

Jetzt fangen wir auch an zu begreifen, was die richtige innere Disziplin eigentlich ist. Wir haben uns
zuvor gefragt: „Wenn bei jeder inneren Disziplin 'irgendetwas' da ist, was das innere Gefüge lenkt,
was ist dann dieses 'irgendetwas'?“ Sollen wir sagen, es sei das aktive geistige Bewusstsein? Dies
wäre in einer Weise zwar zu bejahen, in anderer jedoch nicht, da der Erfolg des lenkenden Spiels
dieses Bewusstseins von seiner Übereinstimmung mit dem gesamten inneren Triebwerk abhängt,
eine Übereinstimmung, über die das lenkende Bewusstsein keine Macht hat. Die Lenkung, deren
Auswirkungen das innere Triebwerk beim „Loslassen“ erfährt, kommt in Wirklichkeit jedoch nur
von dem versöhnenden Prinzip her, welches die beiden Bereiche zur Übereinstimmung bringt. Bei
der echten inneren Disziplin kann allein das Prinzip selbst die Verantwortung übernehmen; sie
bringt keinerlei Zwang, keine inneren Kämpfe mit sich. Das einzige, worum wir uns bemühen müs-
sen, besteht darin, dass wir so wenig wie möglich vergessen, dass unser wahres Wohl durch das
„Loslassen“ bedingt ist, durch die gegenstandslose Aufmerksamkeit, durch „die geistige Bereit-

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schaft als solche“. Niemals dürfen wir unserem Innern jene Entspannung, jenes Sich-öffnen dem
Prinzip gegenüber aufzwingen, wir dürfen es nur dazu anregen.

Die auf diese Weise „vorgeschlagene“ Entspannung wird von Zeit zu Zeit angenommen werden,
wenn unser Organismus der Ablehnung müde wird, jedoch nur für einen Augenblick ohne Dauer.
Fast will es scheinen, als hätten wir Angst vor der Entfaltung unseres Ego. Wenn ich das Zutrauen
eines verschüchterten Kindes gewinnen möchte, strecke ich die Arme nach ihm aus. ohne ihm allzu
nahe zu kommen. Damit lade ich es ein, ohne einen unmittelbaren Zwang auszuüben. Vielleicht
wird es sich mir eines Tages in die Arme werfen. Doch lange Zeit hindurch werde ich nur ein üch-
tiges Aufblitzen des „Loslassens“ in seinen Augen au euchten sehen, bei dem es einen Augenblick
lang erwägt, auf mich zuzugehen; dann wird es wieder von Angst erfaßt werden. In diesem Sinne
sind meine Entspannungsversuche, mein „Loslassen“ in Wirklichkeit mir unendlich kurzfristige An-
sätze zum wirklichen „Loslassen“, das dann das Satori selbst wäre. Selbst wenn sie in richtiger Wei-
se verstanden werden, sind alle Versuche, zu denen die innere Disziplin führt, nur Niederlagen. Sie
bilden jene besondere Art von Misserfolgen, die von der Gesamtheit meines Wesens erfahren wer-
den und die durch ihr Sich-Häufen das letzte Scheitern meiner augenblicklichen inneren Lage her-
beiführen, wobei im Satori jeder Dualismus Erfolg-Misserfolg überwunden wird.

Wir sehen, wie bei einer solchen Auffassung der Disziplin die Begriffe der „Dressur“ und des „Un-
terlassens der Dressur“ eine Versöhnung erfahren. Das „Unterlassen der Dressur“ kommt dadurch
zum Ausdruck, dass keines meiner Wesensteile ein anderes vergewaltigt. Dennoch ist „Dressur“
vorhanden in dem Sinne, dass meine Einsicht eine Entspannung meines inneren Gesamtgefüges er-
reicht, die dieses nie von sich aus vollzogen haben würde. Der Dressierende läßt den Dressierten in
Augenblicken freiwilliger Bereitschaft des Dressierten ausführen, was für beide gut ist. Das ist nur
möglich, weil Dressierender und Dressierter in der Versöhnung der Absoluten Wirklichkeit nur ei-
nes sind.

Das Satori kann als ein „Loslassen“ verstanden werden, das Dauer besitzt. In diesem Augenblick
stellt sich eine zwiefache endgültige Entspannung her: Das innere Triebwerk öffnet sich dem akti-
ven geistigen Bewusstsein, welches die Vereinigung mit ihm vollzieht. Das daraus hervorgegangene
Paar öffnet sich wiederum dem Prinzip, das es nun in einer Dreieinheit umfaßt. Nur so wird dem
Menschen die klare Erkenntnis, dass zwischen unserer „Maschine“, unserem Intellekt und dem
Prinzip nie eine Trennung bestanden hat.

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XXII . ÜBER DIE KOMPENSATIONEN

Der nicht „verwirklichte “ Mensch kann, da ihm ein Bedürfnis innewohnt, innerhalb der Grenzen
seiner individuellen Eigentümlichkeit absolutes Sein zu erreichen, seine Existenz, so wie sie nun
einmal ist, nicht bejahen. Dass dies nicht möglich ist, ist nicht, wie man wohl zunächst annehmen
möchte, auf die Tatsache zurückzuführen, dass die individuelle Existenz unter der Bedrohung teil-
weiser oder vollkommener Zerstörung steht, denn das wesentliche Bedürfnis des Menschen ist ein
Bedürfnis nach absolutem „Sein“, nicht nach fortgesetzter „Existenz“. Es ist ein Bedürfnis nach un-
endlicher Ewigkeit, nicht nach unbestimmter Zeitdauer. Wären Krankheit und Tod auch endgültig
ausgeschaltet, so würde der Mensch durch eben jenes Bedürfnis nach absolutem „Sein“ dennoch
zwangsläu g dazu kommen, die eigene Existenz, so wie er sie erfährt, abzulehnen. Was für den
Menschen innerhalb dieser Existenz unannehmbar erscheint, ist nicht die Tatsache, dass sie unter
der ständigen Bedrohung durch die Außenwelt steht, sondern die Erfahrung, dass nicht alles, was er
wahrnimmt, von seiner individuellen Existenz bedingt ist, während diese selbst doch als frei von
Bedingungen erfahren wird.

Da im Menschen die Fähigkeit angelegt ist, seine Wesensgleichheit mit dem Absoluten Prinzip zu
erleben, kann er den zeitweiligen Schlummer dieses Identitäts-Bewusstseins nicht ertragen. Es ist
ihm unerträglich, nicht der Urgrund des Universums zu sein. Solange er aber in der Überzeugung
lebt, dass er nichts anderes sei als sein psychosomatischer Organismus, solange er sich einzig mit
diesem Organismus identi ziert, kann er nicht sein wesenhaftes und wirkliches Einssein mit dem
Urgrund des Universums wahrnehmen.

Praktisch gesehen aber bejaht der Mensch doch diese seine Existenz, da er sich offensichtlich be-
müht, sie zu erhalten. Er bejaht sie in der Tat, weil er zwar weiß, dass er als Organismus nicht der
alles bewegende Mittelpunkt des Universums ist, weil aber gleichzeitig seine Vorstellungskraft ihn
davor bewahrt, es zu fühlen, indem sie in seinem Geist ein Universum nachbildet, das seinen Mit-
telpunkt im Menschen selbst hat. Der Ablauf seiner inneren Vorstellungen verschleiert dem Men-
schen die unerträgliche klare Erkenntnis und schützt ihn auf diese Weise vor ihr. Und doch ist er
davor nur bewahrt, solange diese Vorstellungen gerade ablaufen. Die Gefahr bleibt bestehen und
muss durch die fortgesetzte Tätigkeit der Einbildungskraft unaufhörlich gebannt werden. So lindert
die Vorstellungskraft wohl die Angst, ohne sie jedoch endgültig beseitigen zu können. Unsere Vor-
stellungskraft, diese Funktion, die in uns einen nicht auf das gegenwärtig Wirkliche bezogenen Bil-
derablauf erzeugt, ist also eine kompensatorische Funktion. Sie ist die Funktion, welche unsere
Kompensationen hervorbringt. Bei unseren Kompensationen handelt es sich um Bildersysteme, die
wir unseren sinnlichen und geistigen Wahrnehmungen entlehnen - d. h. also dem von unserem Ge-
dächtnis angehäuften Bildermaterial -, die jeder einzelne in Übereinstimmung mit der Struktur sei-
nes psychosomatischen Organismus nach seiner Weise aufbaut. Diese Bildersysteme bestimmen
unsere persönliche Innenwelt, können jedoch keineswegs reine Schöpfung sein; sie sind vielmehr
„Nach-Schöpfung“ einer persönlichen Vorstellung von der Welt, aufgebaut mit Hilfe unpersönlicher
Elemente nach einer persönlichen Anordnung, die sich als ein besonderer Ausschnitt aus dem Ge-
samtumfang des Universums darbietet, (Denn auch diese persönliche Anordnung ist nicht das Er-
gebnis einer persönlichen Schöpfung; sie ist eine nach unserer persönlichen Struktur ausgewählte
Möglichkeit unter der Unzahl der Möglichkeiten der kosmischen Ordnung).

Man könnte unsere Kompensationen, diese persönlichen Nachschöpfungen des Universums, einer
von einem Künstler ersonnenen Zeichnung vergleichen. Kein Künstler kann eine Form er nden,
deren Urtypus nicht schon im Universum vorhanden wäre und die er nicht schon selbst über ein ei-
genes, der äußeren Wirklichkeit entlehntes Bild wahrgenommen hätte. Die Schöpfung des Künstlers
besteht nur darin, unter Außerachtlassung aller sonst noch möglichen Formen eine einzelne Form
der Außenwelt auszuwählen oder manchmal nach eigenem Gutdünken Formen zusammenzusetzen,
die er in der Wirklichkeit noch nie in einer solchen Zusammensetzung wahrgenommen hat. So liegt
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also das Persönliche der „Nachschöpfungen“ unserer Vorstellungswelt nicht in den angewandten
Grundformen, sondern einerseits in der Bevorzugung einer einzelnen Form aus der Fülle anderer
Formen und andrerseits in der Zusammenfügung universaler Formen nach einem persönlichen Stil.
Eine Kompensation ist ein künstliches Erzeugnis der Vorstellungskraft.

Unsere Kompensationen entsprechen unserem sogenannten „Wertmaßstab“. Jeder von uns hält be-
stimmte Dinge für besonders wirklich, besonders wesentlich, und diese Dinge verleihen seinem Le-
ben einen Sinn. Wenn man seine Kompensationen kennen möchte, braucht man sich nur zu fragen:
„Was verleiht meinem Leben einen Sinn?“

Bevor wir weitergehen, kommen wir noch einmal auf die Frage zurück: „Was kompensieren eigent-
lich die Kompensationen?“ Sie kompensieren nicht, wie man oftmals glauben möchte, die der Exis-
tenz eignenden verneinenden Aspekte. Wenn es sich so verhielte, müssten unsere Kompensationen
immer aus bejahenden, positiven Bildern bestehen. Doch werden wir sehen, dass sie ebenso gut ne-
gativer Art sein können. Das wesentliche Merkmal einer Kompensation ist nicht die Annehmlich-
keit, die sie mir verschafft, sondern die Tatsache, dass sie mir die Welt so darstellt, dass ich ihr Mit-
telpunkt bin. Dieser Umstand allein ist entscheidend und nicht die Frage, ob das auf mich bezogene
Universum nun positiver oder negativer Art ist. Unsere Kompensationen schaffen einen Ausgleich
für die trügerische Illusion, dass wir von der Wirklichkeit getrennt seien, d. h. also, sie kompensie-
ren jeweils die für unser subjektives Emp nden nicht in Erscheinung tretende Identität mit dem Ab-
soluten Prinzip. Unsere Kompensationen, dieses von uns selbst erdachte und nacherschaffene, ganz
und gar persönliche Universum, kompensieren den tiefen Schlummer, in dem sich unsere Erfas-
sungsmöglichkeit der Welt in ihrer vollen Wirklichkeit be ndet. Weil wir noch nicht die Dinge se-
hen können, wie sie wirklich sind, sind wir gezwungen, sie durch unsere Einbildungskraft, das heißt
teilweise zu erkennen. Unsere kompensatorische Sicht der Welt ist also nicht falsch, sie ist nur un-
vollkommen. Falsch ist nur unsere Einbildung, dass diese Sicht der Wirklichkeit des Gesehenen
vollkommen entspreche. Die Bedeutung, die wir einem bestimmten Ausschnitt der Welt zumessen,
ist nicht falsch, ist keine Täuschung. Das Trügerische liegt nur in dem ausschließenden Charakter
dieser Sicht, das heißt in der Tatsache, dass sie der übrigen Welt die gleiche Bedeutung abspricht.
Bei einer Sicht der Dinge, „wie sie wirklich sind“, würde allen Aspekten der Welt die gleiche Be-
deutung zugemessen. Alles wäre wichtig und daher nichts in dem Sinne „wichtig“, den wir diesem
Wort heute gemeinhin verleihen. Die Illusion liegt nur in der Parteilichkeit unserer durch die Vor-
stellungskraft erzeugten Sicht, nicht im Wesen dieser Sicht. Halten wir daher mit aller Klarheit von
Anfang an fest, dass die Kompensationen keineswegs bedauerliche Hemmnisse sind auf dem Weg
zum Satori, zur Sicht der Dinge, wie sie wirklich sind. Unsere Kompensationen sind ihrem Wesen
nach keine Trugbilder und stellen sich der Erlangung des Satori keineswegs entgegen. Ein Idolbild
ist kein Hindernis für die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, die wir dem Idol verleihen, bildet kein
Hindernis für unsere Vereinigung mit der großen, der absoluten Wirklichkeit. Ein Hindernis bildet
nur unsere Unwissenheit, durch welche wir allem, was nicht das Idol selbst ist, die gleiche Wirk-
lichkeit absprechen. Das einzige Hindernis ist die Unwissenheit, und die Unwissenheit drückt sich
in der parteiischen Stellungnahme aus. Unsere kompensatorische Sicht der Welt ist also nichts
Schlechtes, nichts, was beseitigt werden müsste. Sie ist etwas Unvollkommenes, etwas, das erst ent-
faltet und ergänzt sein möchte und zwar durch die Erhellung der einschränkenden, ausschließenden
und parteiergreifenden Unwissenheit. Schlecht ist also nicht die Unvollständigkeit unserer Wahr-
nehmung, sondern ihre parteiergreifende Stellungnahme, das heißt der törichte Glaube an die Ganz-
heit dessen, was nur ein Teil ist.

An dieser Erkenntnis müssen wir mit aller Klarheit festhalten, bevor wir in die ausführlichere Un-
tersuchung der Kompensationen eintreten. Wenn man von der Abhängigkeit spricht, in die wir
durch eine Kompensation geraten können, so handelt es sich in Wahrheit immer um eine Abhängig-
keit, in die wir durch die unserer Unwissenheit entspringende Stellungnahme geraten. Sie treibt uns
dazu, alles, was wir gerade nicht bejahen, stillschweigend zu verneinen. Durch eine Kompensation
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an sich gerät man noch nicht in sklavische Abhängigkeit, wohl aber durch die Parteilichkeit, die wir
ihr gegenüber an den Tag legen. Es bedeutet noch keine Knechtschaft, wenn wir die Wirklichkeit
über die Gestalt Jesu oder Buddhas wahrnehmen, aber Knechtschaft wäre es, sie allein dort sehen
zu wollen und sie der übrigen Schöpfung abzusprechen. Unsere Kompensationen sind zu unserer
Gesamtverwirklichung notwendig, weil wir ohne sie unsere Existenz nicht ertragen und uns alsbald
selbst vernichten würden. Sie liegen auf dem Wege unserer richtigen Entwicklung auf das Satori zu.
Und doch setzt die Erlangung des Satori voraus, dass wir eines Tages über unsere Kompensationen
hinauswachsen. Dieses darüber hinaus wachsen darf nicht als Verlust der lebenspendenden Substanz
verstanden werden, die in den Kompensationen enthalten ist, sondern als ein Sprengen der begren-
zenden formalen Konturen, die diese Substanz umschließen. Die im Idol geschaute Wirklichkeit
geht also nicht verloren, sondern sie utet über dessen einschränkend«, nunmehr gesprengte Gren-
zen hinaus.

Hinsichtlich der Entwicklung auf das Satori zu ist die Kompensation günstig und ungünstig zu-
gleich. Sie ist günstig durch ihren gefühlsbetonten Aspekt, der für mich eine Nahrungszufuhr dar-
stellt, die mich vor dem Selbstmord bewahrt. Ungünstig ist sie, soweit ihr ein intellektueller Glaube
an die Wirklichkeit - oder den absoluten Wert - des kompensatorischen Bildes innewohnt. Nehmen
wir ein Beispiel: eine meiner Kompensationen besteht etwa darin, ein durchaus gesundes und wohl-
geratenes Kind zu haben. Die Freude, die mir dieser Umstand verschafft (die Vorstellung nämlich,
dass ich dieses wohlgeratene Kind mein eigen nenne), kommt meiner Entwicklung auf das Satori zu
entgegen, denn sie ist eine Hilfe, die mich die Existenz leichter ertragen lässt. Abträglich ist meiner
Entwicklung jedoch die Überzeugung, dass dieser Tatbestand absolut gut sei, während ich etwa den
Tod meines Kindes für absolut schlecht halte; also eine Überzeugung, der zufolge meine Gebun-
denheit an irgendeinen bestimmten kompensatorischen Tatbestand meine Zustimmung zu der Mög-
lichkeit des entgegengesetzten Tatbestandes ausschließt. In der Tat schränkt eine solche Ausschlie-
ßung meine Wahrnehmung der kosmischen Realität beträchtlich ein und hindert mich sogar daran,
das wenige davon Wahrgenommene in der richtigen Weise wahrzunehmen, da sie es von seinen
Verbindungen zu allem übrigen abschneidet. Kein Ding kann ich in seiner vollen Wirklichkeit
wahrnehmen, solange auch nur eine einzige seiner Verbindungen zum übrigen Universum abge-
schnitten ist. Alle Beziehungen eines Dinges haben ihren Schwerpunkt in der Spannung zu seinem
sowohl feindlichen als ergänzenden Gegenteil.

Hui Neng weist mit dem Ausspruch: „Von Urbeginn an ist kein Ding“ den bedauerlichen „Glauben“
zurück, der in unseren Kompensationen enthalten ist. Doch verurteilt er unsere Freude an den Kom-
pensationen darum nicht. Diese Freude ist eine dynamische Erscheinung, die nur „existiert“ und
keinen Anspruch erhebt, zu „sein“. Er weist unseren Glauben an die Wirklichkeit eines starken Bil-
des zurück, das durch Ausschließung des entgegengesetzten Bildes Anspruch auf „sein“ erhebt.
Nicht den im Gefühl verwurzelten Ausgangspunkt der Götzenanbeterei verurteilt Hui Neng, son-
dern den intellektuellen, götzendienerischen Glauben. Dieser Glaube versucht vergeblich, dem iso-
lierten Bild die unwandelbare Einheit des Absoluten Prinzips zu verleihen, indem er es herauslöst
aus dem kosmischen Gleichgewicht von Yin und Yang durch die Ausschließung des Gegenbildes,
das seine ergänzende Entsprechung bildet. Das auf diese Weise künstlich herausgelöste Bild wird
zum kompensatorischen „Götzen“, und eben diese Art, es zum „Götzen“ zu erheben und nicht das
Bild selbst hat Hui Neng im Auge, wenn er uns daran erinnert, dass „kein Ding ist“.

Der Ausspruch des Hui Neng rät uns in keiner Weise davon ab, unsere Kompensationen auszuleben,
das heißt, besonderen Dingen einen Wert beizumessen. Er fordert uns nur dazu auf, diese Kompen-
sationen zu überwinden, indem wir die sklavische Ausschließlichkeit unserer götzenanbeterischen
„Meinungen“ sprengen. Dieser Durchbruch betrifft nur die begrenzenden intellektbestimmten For-
men, keineswegs die in ihnen enthaltene lebendige Gefühlssubstanz. Dank dieser Einsicht wird es
mir nun möglich sein, auch weiterhin einzelnen Dingen einen besonderen Wert beizumessen, ohne
dass ich dabei stillschweigend den Un-Wert des entgegengesetzten Dinges behaupte. In der Tat lehrt
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mich meine Einsicht, dass es vom einzig wahren Gesichtspunkt meiner nichtzeitlichen Verwirkli-
chung aus gesehen keinen „Wert“ oder „Un-Wert“ gibt, da dieser Verwirklichung alle Dinge nutzbar
gemacht werden können. Der Ausspruch des Hui Neng ist also keine Ver uchung, sondern im Ge-
genteil eine uneingeschränkte, unparteiische Segnung aller Einzeldinge. Der gleiche Gedanke ndet
sich an vielen Stellen eines bemerkenswerten Textes der Zen-Lehre ausgesprochen, der bekannt ist
unter dem Namen:

„ÜBER DEN GLÄUBIGEN GEIST“


„Der Vollkommene Weg kennt nur eine Schwierigkeit: er lässt keine Vorliebe zu.

Wollt ihr den gestaltgewordenen Vollkommenen Weg erkennen, so hegt keinen Gedanken für ihn
noch gegen ihn. Die Krankheit des Geistes besteht darin, das Geliebte dem Ungeliebten entgegen-
zusetzen.

Versucht nicht, nach der Wahrheit zu forschen! Lasst davon ab, euch einer Ansicht anzuschließen!
Verharrt nicht im Bereich des Zwiespalts! Sobald ihr zwischen Gut und Böse unterscheidet, folgt die
Verwirrung und der Geist ist verloren.

Wenn nur der einige Geist nicht getrübt ist, so können ihm die tausend Dinge nichts anhaben.

Wie könnte eine parteiische und voreingenommene Sicht entstehen, wenn kein Unterschied zwischen
diesem und jenem gemacht würde?

Lasst los, lasst die Dinge, wie sie ihrem Wesen nach sind.

Wollt ihr die Bahn des Großen Gefährts durchlaufen, so hegt kein Vorurteil gegen die sechs Gegen-
stände der Sinne.

Der Unwissende hängt sich an die Einzeldinge, während es doch im Dharma selbst keine Abgren-
zung der Dinge gegeneinander gibt.

Die wahrhaft Erleuchteten hängen sich an nichts und stellen sich gegen nichts. Dass doch ein für
allemal Gewinn und Verlust, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit aufgehoben wären!

Das letzte Ziel aller Dinge ist nicht durch Regeln und Maße beschränkt. Alles ist leer und licht und
birgt eine Möglichkeit der Erleuchtung in sich. Wir dringen aber nie zu der Vorstellung vor, dass es
keine Aufgabe, keine Anstrengung und keinen Energieaufwand gibt.

Da nichts in Zwei zerfällt, ist alles das Gleiche, und alles, was existiert, ist darin eingeschlossen.

Es kommt nicht darauf an, ob die Dinge durch das „Sein“ oder durch das „Nicht- Sein“ bedingt
sind.

Was existiert, ist das Gleiche wie das, was nickt existiert und umgekehrt.

Wenn nur das verwirklicht wird - was quält ihr euch noch weiter um eure Unvollkommenheit?“

Alle Kompensationen sind Götzenanbeterei, Versuche, die Wirklichkeit in einem einzelnen Bild
sich verdichten zu sehen, dass zur Erstarrung gebracht und aus dem kosmischen Wirbel herausge-
nommen wird. Die Überwindung der Kompensation besteht nicht in der Vernichtung des Bildes,
sondern in der Aufhebung seiner künstlichen Erstarrung. Das Bild, das so seinen Wert als Götze
verloren hat, wird wieder in die Vielzahl der andern Bilder hineingenommen, in die immer bewegte
Flut des kosmischen Lebens, wie es in Wirklichkeit ist.

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Die Überwindung der Kompensation, die Entwertung der Götzen ist ein Vorgang, der sich im Be-
reich der geistigen Intuition vollzieht. Er hat zunächst die Erwerbung der richtigen theoretischen
Einsicht zur Voraussetzung, die den götzendienerischen Trugglauben in der Theorie schon entlarvt.
Eine weitere Voraussetzung ist die, dass wir den unzulänglichen Charakter der Kompensation schon
durch Leiden erfahren haben. Dieses schmerzliche Ungenügen ist nicht zu vermeiden. Die Kom-
pensation lindert meine Angst ja nur, solange sie gerade wirksam ist. Im Grunde genommen aber
erwarte ich, dass sie mich von meinem Angstgefühl endgültig erlöse. Daher komme ich früher oder
später zwangsläu g dazu, das Enttäuschende meiner Kompensation im Hinblick darauf, was ich mir
von ihr versprochen habe, zu erkennen. Im Schmerz der Enttäuschung wird sich meine Einsicht
durch eine richtige Auslegung meines Schmerzes erweisen.

Beides ist nötig: die abstrakte Einsicht und das konkrete Leiden; und keines von beiden genügt für
sich allein. Wir werden weiter unten wieder auf die Frage der Überwindung der Kompensation zu-
rückkommen, denn sie lässt sich tatsächlich ohne eine genaue Kenntnis der Struktur der verschiede-
nen Kompensationen nicht behandeln.

Jede Kompensation konstituiert sich wesentlich durch ein Bild, das mein Ich umfasst, durch ein
„Zentralbild“, um das sich in einer bestimmten Konstellation eine Fülle von Satellitenbildern grup-
piert. Das Zentralbild besitzt wie alles, was der Formenwelt angehört, zwei Pole. Daraus erklärt sich
das Vorhandensein positiver und negativer Kompensationen. Der Mensch hat eine angeborene Vor-
liebe für das Positive - das Schöne, Gute, Wahre - und versucht als erstes immer eine positive Kom-
pensation zu schaffen. Doch kann ein Misslingen die Umkehrung der positiven Kompensation in
eine entgegengesetzte negative auslösen. So beginne ich z. B. das Wesen zu hassen, mit dem ich
vergeblich eine Liebesbeziehung anstrebe, und dieser Hass kann meinem Leben genauso wie zuvor
die Liebe einen Sinn verleihen.

Nachdem wir nun auf den möglichen Prozess der „Umkehrung“ unserer Kompensationen hingewie-
sen haben, können wir uns jetzt darauf beschränken, die hauptsächlichsten positiven Kompensatio-
nen zu beschreiben, wie sie die Beobachtung des menschlichen Wesens und unserer eigenen Innen-
welt uns darstellt. Das Zentralbild kann mich so erscheinen lassen, dass ich von der Außenwelt ei-
nen Dienst erwiesen bekomme: dies wäre dann die Kompensation „geliebt werden“. Es kann mich
aber auch darstellen als einen, der seine Nahrung aus der Außenwelt aktiv an sich reißt: dies wäre
die Kompensation „genießen“ (ich werde bestätigt, indem ich die Außenwelt verschlinge. Hierbei
gehört etwa die Liebe zum Reichtum als einer Möglichkeit, mir die Außenwelt einzuverleiben). Das
Zentralbild kann mich auch darstellen als einen, der der Außenwelt dient, der ihr Kräfte zuführt.
Zahlreiche Kompensationen haben ihre Ursprung in diesem Bilde, so z.B.: „lieben“, „Freude berei-
ten“, „Leben spenden“, „helfen“, „dienen“ (dem Vaterland etwa oder einer politischen Sache, einer
allgemein als gerecht anerkannten Sache, der Menschheit, den Unterdrückten, den Schwachen
usw.). Auch das freudige Bewusstsein, seine P icht erfüllt zu haben, gut zu machen, was man
macht, einer Moral treu zu bleiben, einem „Ideal“ ebenbürtig zu sein, gehören hierher.

Es gibt andere Kompensationen, bei denen das zentrale Bild keine Handlung mehr einschließt, die
das Ich der Umwelt verbindet, bei denen es nur noch aus reiner Wahrnehmung besteht (etwa die
Freude, an der Schönheit, an der Kunst, an der intellektuellen Wahrheit, an der Erkenntnis über-
haupt teilzuhaben). Oder aber mein Ich wird von der Umwelt wahrgenommen: es handelt sich dann
um die Befriedigung, die Aufmerksamkeit der Umwelt auf sich lenken zu können, bewundert oder
gefürchtet zu werden.

Das Zentralbild kann nun aber auch das Ich als „Schöpfer“ irgendeines Werkes in der Welt darstel-
len, als Formgeber, der die Umwelt prägt, die er als geschlossenes Ganzes betrachtet. Hierher ge-
hört die „Schöpfung“ eines Kunstwerks, eines wissenschaftlichen oder geistigen Werkes, einer poli-
tischen Bewegung, einer sozialen Organisation, eines religiösen Ordens, usw.

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Das Zentralbild kann den Menschen auch als „Schöpfer“ eines inneren Vorganges zeigen: z.B. des
Vorgangs: „sich entwickeln“, „sich selbst verwirklichen“, “sich selbst entdecken“, „die eigenen Ga-
ben entfalten“, „zeigen, wozu man fähig ist“, „sich bilden“, „Anstrengungen und Erfahrungen ma-
chen, die bereichern“, usw.... Diese Gruppe von Kompensationen ist umfassend und wichtig. Sie
umfasst alles „Streben“ innerhalb der materiellen, der seelischen und der sogenannten „geistigen“
Ebene (zu letzterer gehört die Erreichung „höherer“ Bewusstseinsstufen oder „geistiger Kräfte“, der
mehr oder weniger verkappte Kult des „Übermenschen“. Auf die Frage der „Geistigkeit“ werden
wir noch besonders zurückkommen).

Es gibt nun noch eine sehr bemerkenswerte Kompensation, bei der die aufbauenden Elemente aller
schon aufgezählten Kompensationen sich verschmelzen und daher ihre Einzelexistenz aufgeben
(wie die Farben als solche verschwinden, wenn sie sich im Weiß vereinen). Diese Kompensation ist
die vergötternde Liebe. Dabei habe ich es mit meinem eigenen Ich zu tun, das ich auf eine außer mir
be ndliche, gröbere oder subtilere Wesenheit übertrage. Der Dualismus zwischen „Ich und Außen-
welt“, „bewegen - bewegt werden“, „nähren - genährt werden“, „erkennen - erkannt werden“, „er-
schaffen - erschaffen werden“ fällt hier fort, da Subjekt und Objekt identisch sind. Diese Beziehung
lasst sich auf die äußerste Einfachheit zurückführen: Die Freude quillt nicht mehr aus dem Handeln
oder Erkennen, sie besteht ganz einfach darin, dass wir durch eine Schau wahrnehmen, der einigen-
de Kraft innewohnt. Bei diesem bloßen Schauen glauben wir unser Absolutes Prinzip in dem Bilde
zu erkennen, auf das wir uns selbst durch eine ausschließende Identi zierung übertragen haben.

Natürlich können sich verschiedene Kompensationen auch untereinander verbinden. Insbesondere


ist die Vergötterung meistens mit „lieben und geliebt werden“ verbunden im Sinne von „bestätigen
und bestätigt werden“, von „dienen und bedient werden“.

Jede Kompensation oder Bilderkonstellation bildet innerhalb des menschlichen Wesens ein starres
Element. Doch handelt es sich hierbei um eine dynamische Starrheit, wie etwa bei einer stereotypen
Geste, die ich mir angewöhnt habe und die meiner Bewegung etwas Starres verleiht. Die „ xierte“
Kompensation verlangt aber nach lebendigem Ausdruck. Jede Kompensation ist eine bestimmte,
stereotype Lebensweise. Es muss also unterschieden werden zwischen der betreffenden Kompensa-
tion - die die Tendenz hat, mich auf eine bestimmte Lebensweise hinzuführen - und der Tatsache, ob
ich diese Lebensweise tatsächlich befolge oder nicht. Denn es kann durchaus möglich sein, dass ich
eine bestimmte Kompensation in mir trage und sie dennoch nicht auslebe, dass ich die von ihr ange-
strebte Verbindung nicht lebe. Das lässt sich deutlich bei Neurosen erkennen. Der Neurotiker kann
geradezu als schlecht kompensierter Mensch bezeichnet werden, der nicht imstande ist, seine Kom-
pensationen auszuleben.

Nehmen wir an, ein Mensch hat die Kompensation „lieben - geliebt werden“ oder „Teilnahme am
Gemeinschaftsleben durch wechselseitige Dienstleistung“: dieser Mensch begegnet nun der Bosheit
der Umwelt oder irgendein Missgeschick trifft ihn ohne seine Schuld. Wenn seine Kompensation in
diesem Augenblick eine totale Umkehrung erführe, könnte er sie in eben dieser Umkehrung im Le-
ben verwirklichen: sein Leben fände dann seinen Sinn in Hass und Rache, und auf diese Weise wäre
er kompensiert. Häu g jedoch vollzieht sich diese Umkehrung nur teilweise, nur in praktischer,
nicht in theoretischer Hinsicht. Im Einzelfall wird dieser Mensch der Umwelt seine Anteilnahme
entziehen, doch „prinzipiell“ will er sehr wohl noch daran teilhaben. Er möchte am liebsten seine
Mitmenschen irgendwie treffen, sie verletzen: doch kann er diese Handlungsweise nicht verwirkli-
chen, weil er immer noch „prinzipiell“ lieben und helfen möchte. Man hört oft sagen, dass solche
Menschen ihre Kompensationen nicht gefunden hätten - das stimmt jedoch nicht, da jeder Mensch
seine Kompensationen ndet. Sie haben sie gefunden, können sie nur nicht ausleben. Der Neuroti-
ker hat zwiespältige, widerspruchsvolle, nicht lebbare Kompensationen. Er steht gewissermaßen
gelähmt zwischen Hass und Liebe zu demselben Objekt. Da er seine Lebensenergie nirgends einset-
zen kann, entsteht eine Störung des inneren Energiekreislaufs. Die Aggressivität wendet sich nun
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gegen die eigene Person, und es entsteht Angst. Diese Angst, die durch nicht zum Ausleben ge-
kommene Kompensationen erzeugt wird, ist von der gleichen Art wie der Angstzustand, der dann
eintritt, wenn die ausgelebten Kompensationen sich zu erschöpfen drohen, ohne das die Einsicht des
Menschen dies erfasst hätte: in beiden Fällen entsteht ein „Kompensationsausfall“, jedoch ist die
Lösung bei beiden Krisen jeweils eine verschiedene: für den Menschen, der seine Kompensationen
auslebt, wäre es wünschenswert, dass er über dieses Stadium hinauswüchse; und umgekehrt wäre es
für den, der sie nicht ausleben kann, wünschenswert, dass er in dieses Stadium eintrete.

Wenn es dem Menschen vergönnt ist, seinen Kompensationen einen ebenmäßigen Ausdruck zu ge-
ben, so funktioniert sein leib-seelisches Gefüge harmonisch und reibungslos. Er glaubt, die Wirk-
lichkeit da oder dort gefunden zu haben - vielleicht im Geld, vielleicht in Ruhm und Ehre, in der
Macht oder in irgendeiner ungewöhnlichen Aufgabe - und so besitzt er einen Orientierungspol, um
den herum sein Leben sich wirksam entfalten kann. Diese scheinbare Konzentrierung der Wirklich-
keit in einem einzelnen Bild verleiht diesem Menschen durch die Vereinfachung seiner inneren Dy-
namik eine scheinbare innere Geschlossenheit. Diese Art der Vereinfachung setzt jedoch voraus,
dass ein großer Teil aller andern Tendenzen einschläft und verkümmert und darf nicht verwechselt
werden mit der Einfachheit des Menschen nach dem Satori, bei dem sich alles unterschiedslos in
einer vollkommenen Synthese vereint ndet. Sie gleicht ihr, wie etwa die ächenhafte Darstellung
eines Rauminhalts dem Rauminhalt selbst gleicht. Wenn eine Kompensation vom Typus „Vergötte-
rung“ bis zu einem sehr hohen Grad der Subtilität getrieben wird, so kann die daraus hervorgehende
innere Vereinfachung seltene Kräfte des psychosomatischen Gesamtgefüges freimachen, die sogar
„übernatürliche“ Formen annehmen können (so etwa das Gedankenlesen, Hellsehen, seelische Be-
ein ussung anderer, instinktiv richtiges Handeln, Heilkräfte usw.).

Der gut kompensierte Mensch ist im wahrsten Sinne des Wortes ein „Götzenanbeter“ und dies umso
mehr, als er „glaubt“, die harmonisierenden Wirkungen seiner Kompensation kämen von dem kom-
pensatorischen Bild selbst her und daher dieses Bild mit der absoluten Wirklichkeit gleichsetzt. Die-
se Überzeugung verleiht dem subjektiven Wert eines Bildes etwas Objektives und bringt den Bil-
deranbeter folglich auf den Gedanken, alle Menschen sollten die Dinge in der gleichen Weise wie er
sehen. Neigt er zum Positiven, so endet er beim „Proselytenmachen“, beim „Apostel spielen“, beim
„Missionieren“. Neigt er zum Negativen, so wird die Unduldsamkeit, die Verfolgung der „Ungläu-
bigen“ vorherrschen. Mit dem Glauben an die absolute Wirklichkeit einer Erscheinung ist unau ös-
lich das Bedürfnis nach formalen Äußerungen verbunden: der „Ritus“, im Grunde ein frei gewähltes
Ausdrucksmittel, wird beim Götzendiener zum unerlässlichen Zwang.

Die Kompensationen bilden also ein unveräußerliches Element der menschlichen Entwicklung, wie
sie sich von der Geburt bis zum Eintritt des Satori vollzieht. Bis zum Eintritt des Satori ist das inne-
re Gleichgewicht des Menschen labil und wird durch seine Kompensationen bedingt. Vor dem Sato-
ri kann es also keine restlose Überwindung der Kompensationen geben, denn erst das Satori selbst
ist jene Überwindung. Doch vor der „Transformierung“ (dem Überschreiten der Form), welche ein
einmaliges und an den Augenblick gebundenes inneres Erlebnis ist, entstehen gewisse Formverän-
derungen im Wesen des Menschen. Diese Veränderungen sind ein Ausdruck für die fortschreitende
Entfaltung von inneren Voraussetzungen, die für das Satori unerlässlich sind. In diesem Sinne kön-
nen wir auch von der Überwindung der Kompensationen wie von einem Entwicklungsvorgang
sprechen. Folgendes wird diesen Sachverhalt verständlicher machen: Es wird erzählt, dass der
Fuchs, wenn er sich seiner Flöhe entledigen will, etwas Moos in seine Schnauze nimmt und damit
rückwärts ins Wasser geht. Die Flöhe verlassen nun die schon unter Wasser be ndlichen Körpertei-
le, um auf diejenigen zu üchten, die mit ihrer Ober äche noch aus dem Wasser herausragen. Nach
und nach kann der Fuchs so seine Flöhe auf einer immer kleiner werdenden Fläche konzentrieren,
die nun zunehmend von ihnen heimgesucht wird. Schließlich sind alle Flöhe auf der Schnauze und
dann auf dem Stück Moos zusammengedrängt, das der Fuchs sodann der Strömung überlässt. Vor
dem Augenblick, in welchem er die Gesamtheit seiner Flöhe abstößt, ist er noch keinen einzigen
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unter ihnen losgeworden. Trotzdem hat ein bestimmter Vorgang die Verteilung der Parasiten geän-
dert und ihr vollständiges und plötzliches Verschwinden vorbereitet. Wenn wir so die fortschreiten-
de Überwindung der Kompensationen als eine Verminderung ihrer Ausbreitung und eine Erhöhung
ihrer Dichte begreifen, so kommt sie einer konzentrierenden „Reinigung“ des kompensatorischen
Bildes gleich, das sich vom Besonderen zum Allgemeinen hin entwickelt. Da nun jede Kompensati-
on ein Bild des auf mein Ego bezogenen Weltganzen ist, d.h. eine Konstellation, deren Zentralge-
stirn mein Ego ist, während bestimmte Bilder die Satelliten darstellen, so besteht der Reinigungs-
Prozess darin, dass die Satelliten immer mehr an stof icher Dichte verlieren, während das Zentral-
gestirn an Dichte gewinnt. Doch dann vollzieht sich etwas sehr Merkwürdiges, was durch kein Bild
erläutert werden kann: Da das Ego weder eine absolute noch eine relative Wirklichkeit besitzt, tritt
die darin sich sammelnde Dichte nicht in Erscheinung. Die fortschreitende Loslösung ist eine Rei-
nigung von jenem Verhaftet sein an sich selbst, das den Kern jedes Verhaftet seins überhaupt bildet.
Aber diese zentrale Gebundenheit an ein fälschlicherweise angenommenes Bild kann sich immer
weiter klären und verdichten, ohne je greifbar zu werden. Im Augenblick, da San Juan de la Cruz
seine mystischen Kompensationen überwand, da er sich von dem Bilde „Gottes“ loslöste, nachdem
dieses Bild schon vorher die äußerst mögliche Entpersönlichung erfahren hatte, fühlte er sich nicht
dem Bild des „Ego“ verhaftet, dem das Bild Gottes seine scheinbar absolute Wirklichkeit entlehnt
hatte. Er fühlte sich an nichts gebunden, er fühlte überhaupt nichts mehr: dies ist die Nacht, in der
es nichts mehr gibt, was man fühlen oder denken könnte. Und dennoch besteht noch immer eine
letzte Gebundenheit an das Ich, in der sich alle Wesenskräfte verbinden, eine letzte, ungreifbare
Kompensation. Erst die Überwindung jener Kompensation ist die wahre, die vollständige und spon-
tane Loslösung. Auf die „Nacht“ folgt das, was San Juan de la Cruz den „theopatischen Zustand“
und das Zen „Satori“ nennt.

Die Loslösung oder Überwindung der Kompensation wird oft falsch verstanden. Man glaubt, dass
es sich darum handle, die gefühlsmäßige Vorliebe für das kompensatorische Bild zu beseitigen, man
glaubt, dass es darauf ankäme, sich das Verlangen danach aus dem Herzen zu reißen. Dabei vergisst
man aber, dass die Gebundenheit nicht in dem Verlangen selbst liegt, sondern in dem Anspruch auf
seine Erfüllung. So muss also nicht das Verlangen, sondern der Anspruch verschwinden. Diese Auf-
gabe des Anspruchs ist nicht etwa das Ergebnis eines inneren Kampfes. Sie folgt aus dem richtigen
Verständnis der Enttäuschung, die zugleich mit dem Anspruch gegeben ist, ob dieser befriedigt wird
oder nicht. Angst, falsche Ansprüche und der Glaube an die absolute Wirklichkeit des geforderten
Bildes sind die Elemente, aus denen das Truggebäude sich zusammensetzt, das von der Einsicht
langsam untergraben wird, bis sie es eines Tages zum Einstürzen bringt. Die Loslösung ist kein
schmerzliches inneres Erlebnis, sondern im Gegenteil eine Besänftigung. Zuweilen erweist sich un-
sere Einsicht eine ganze Zeit hindurch als zu schwach, um eine bestimmte kompensatorische Vor-
stellung zu überwinden. Dies scheint ein Hindernis für unser inneres Wachstum zu bilden. Doch
wiederholen wir noch einmal: das, was wir lieben, woran wir hängen, ist in sich selbst niemals
hemmend, das Hemmende liegt einzig und allein in der falschen Gleichsetzung des geliebten Bildes
mit der absoluten Wirklichkeit, also in der Unwissenheit.

Die Aussicht, eine Kompensation zu überwinden, hängt von der Kraft der intellektuellen Intuition
und auch vom Grad der Subtilität des kompensatorischen Bildes ab. Je höher unser Bild steht, umso
weniger birgt es zunächst die Möglichkeit, uns zu enttäuschen. Jedes Bild verliert mit der Zeit an
Anziehungskraft, doch ist das subtilste am stärksten und erschöpft sich am langsamsten. Wenn dann
doch Ermüdung und Enttäuschung eintreten, so wird es nicht leicht sein, diese in richtiger Weise zu
verstehen, ja, umso schwieriger, je subtiler das Bild ist. Denn anstatt die absolute Wirklichkeit des
Bildes anzuzweifeln, neigen wir vielmehr dazu, uns unser eigenes Versagen, unsere Ungeschickt-
heit, Trägheit und Bequemlichkeit dem Bilde gegenüber vorzuwerfen. Es ist in diesem Zusammen-
hang angebracht, die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine Gruppe sehr subtiler Kompensationen zu
lenken, die man gewöhnlich als „geistige“ bezeichnet. Innerhalb der „geistigen“ Kompensationen
liebt der Mensch etwas Hohes, in dessen Dienst er sich stellt: so z. B. einen unendlich gerechten,
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unendlich gütigen Gott, von dem er eine allumfassende Erkenntnis zu erlangen strebt, oder aber
„höhere“, „erhabene“ Bewusstseinszustände, die er erreichen möchte, eine totale Verwirklichung,
die als zu erringender Zustand aufgefasst wird, irgendein „Ideal“, das die Herrschaft von Friede und
Gerechtigkeit unter den Menschen verwirklichen will, usw. Was sind diese „geistigen“ Werte nun
eigentlich? Gelegentlich kann man dreierlei Werte unterscheiden hören: materielle, intellektuelle
und „geistige“. Diese letzteren bilden offensichtlich, da man sie benennen, sie lieben, und ihnen
dienen kann, einen Bestandteil der Erscheinungswelt. Und doch lässt sich kaum einsehen, worin
jener sogenannte „geistige“ Aspekt bestehen sollte, wenn man einen stof ichen, bzw. materiellen,
und einen subtilen oder psychischen, bzw. intellektuellen Aspekt der Erscheinungswelt annimmt.

Die Anbeter des „Geistigen“ behaupten, es sei das Absolute (aber jeder Bilderanbeter wird dies von
seinem Götzen behaupten), es sei der über „Leib“ und „Seele“ stehende, versöhnende „Geist“. Nun
darf aber das Absolute nicht so gesehen werden, dass man ihm andere, in der Welt der Erscheinun-
gen auftretende Werte gegenüberstellt, denn dadurch wird es ja in die Erscheinungswelt einbezogen.
Es kann nicht wie ein dem Ich-Subjekt gegenüberstehendes Objekt benannt, geliebt oder dienend
umgeben werden. Die „geistigen“ Werte können also nicht das Absolute sein. Bei den verschiedens-
ten Formen, in die diese Werte eingegangen sind, herrscht immer die Auffassung von etwas voll-
kommen Positivem, das schließlich nichts anderes ist, als das positive Prinzip des innerweltlichen
Dualismus. Man mag es „Gott“ oder „schöpferisches Prinzip“ der Welt oder aber Prinzip des Guten
nennen, das dem „Teufel“, dem au ösenden Prinzip der Welt oder dem Prinzip des Bösen gegen-
übergestellt wird. Immer ist es das Prinzip des Lichtes, das dem „Fürsten der Finsternis“ entgegen-
tritt. Es ist durchaus normal, dass der Mensch das Aufbauende liebt und das Zerstörende hasst, dass
er „Gott“ liebt und den „Teufel“ verabscheut. Der eigentliche Götzendienst der „Geistigkeit“ be-
ginnt erst da, wo „Gott“ vom menschlichen Intellekt irrtümlich mit dem Absoluten oder der absolu-
ten Wirklichkeit oder dem Nichtzeitlichen gleichgesetzt wird. Wo ein solcher Irrtum begangen wird,
ist „Gott“ mit dem Absoluten Prinzip und der „Teufel“ mit der Schöpfung identi ziert. „Satan“ wird
zum „Fürsten dieser Welt“, und die „geistigen“ Güter werden zu den „zeitlichen“ in Gegensatz ge-
bracht. Ein solches Vergessen der metaphysischen Einheit muss zum inneren Dualismus, zur Un-
möglichkeit einer Wesenssynthese führen, wie man es im Übrigen bei jeder götzenanbetenden
Kompensation beobachten kann.

Wir haben die sogenannten „geistigen“ Kompensationen ganz besonders hervorgehoben, weil sie
von allen am schwersten zu erfassen sind. Die Vorstellung „Gottes“, des positiven Prinzips des zeit-
lichen Dualismus, ist das mächtigste Kompensationsbild, das seiner Entwertung am kräftigsten wi-
derstrebt und daher am schwierigsten zu überwinden ist. Es liegt nicht in unserer Macht, unsere
Kompensationen selbst zu wählen. Wenn unsere seelische Struktur so beschaffen ist, dass wir „Ge-
fühl für das Heilige“ und „Liebe zu Gott“ emp nden, so lässt sich das nicht ändern. Doch ist es
dann ganz besonders wichtig, dass wir uns daran erinnern, dass nichts Vorstellbares die Wirklichkeit
selbst ist. Unser „eigenes Wesen“ ist das Absolute. Nichts von all dem, was wir anschauen, was wir
uns vorstellen und was wir lieben können, überschreitet den Bereich der von uns selbst erzeugten
Bilder, von uns, die wir doch dem Wesen nach absolut sind. Die Lehre des Zen besteht kategorisch
auf diesem Punkte und darf in keiner Weise als „geistige“ Lehre verstanden werden. Sie ist ganz
und gar atheistisch, wenn man unter „Gott“ die absolute Wirklichkeit versteht und voraussetzt, dass
unser formales Denken sie erfassen könne. „Kein Ding ist von Urbeginn an.“ Rinzai sagt ferner:
„Begegnet euch Buddha auf eurem Wege? So tötet ihn... O ihr, Anhänger der Wahrheit, werdet frei
von allen Dingen! Ihr mit den Augen von Maulwürfen, euch sage ich: Es ist kein Buddha, keine
Lehre, kein Gesetz! Was sucht ihr unaufhörlich in eures Nachbarn Haus? Begreift ihr denn nicht,
dass ihr über euren eigenen Kopf noch ein anderes Haupt setzt? Was fehlt euch noch an eurem eige-
nen Wesen? Was ihr in diesem Augenblick in der Hand haltet, ist aus dem gleichen Stoffe gemacht
wie Buddha selbst!“

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XXIII. VON DER INNEREN ALCHEMIE

Wer das ZEN begreifen will, darf nie vergessen dass er es hier mit der Lehre vom Unvermittelten zu
tun hat. Da das Zen leugnet, dass der Mensch eine Befreiung „erringen“ oder sich in irgend einer
Art „erheben“ müsse, nimmt es auch nicht an, dass die menschliche Situation sich mit der Zeit bes-
sern könne bis sie endlich „normal wird“. Das Satori-Ereignis nimmt nur einen Augenblick zwi-
schen zwei Epochen unseres zeitlichen Lebens ein. Einer Linie ähnlich, die eine Schattenzone von
einer Lichtzone trennt, besitzt es auch nicht mehr Wirklichkeit als diese Linie. Entweder sehe ich
die Dinge nicht, wie sie wirklich sind, oder ich sehe sie so. Es gibt keine Entwicklungsperiode, in
deren Verlauf ich etwa nach und nach die absolute Wirklichkeit der Welt erkennen könnte.

Nun mag zwar der Begriff der fortschreitenden Entwicklung ohne eigentliche Beziehung zur Ver-
wirklichung selbst sein und die „Verwandlung“ unerwartet und plötzlich vor sich gehen, dennoch
lehrt auch das Zen, dass jener Verwandlung ein ununterbrochener Formwandel unserer inneren Ab-
läufe vorausgeht. Wir sagten „ununterbrochen“ und nicht „fortschreitend“, um in Erinnerung zu
bringen, dass die dem Satori vorausgehende Entwicklung nicht einem gradweisen in Erscheinung
treten der Wirklichkeit gleichkommt, sondern einfachen, stufenweisen Wandlungen in den Erschei-
nungsformen unserer Blindheit.

Nachdem dieser Punkt wieder klar in Erinnerung gebracht wurde, ist es nun interessant, diese stu-
fenweise, aber nicht fortschreitende Entwicklung näher zu betrachten, die dem Satori vorausgeht. Je
mehr unser Verständnis oder der “durchdringende Blick“ sich vertieft, desto deutlicher beobachten
wir, dass unser spontanes inneres Leben - Gefühlserregungen und spontane Vorstellungen - in einer
dauernden Wandlung begriffen ist. Die Weisheit der Hindus sagt: „Du wirst, was du denkst“. Diese
sich entwickelnde Gestaltwerdung ist dem Destillierungsprozess zu vergleichen, der jedweden Kör-
per reinigt und „verfeinert“. Wenn man gegorene Früchte destilliert und Alkohol daraus gewinnt, so
besteht die Veränderung des ursprünglichen Produktes in einer quantitativen Abnahme und einer
qualitativen Steigerung. Die Materie ist weniger aber feiner geworden, die ihr innewohnenden Kräf-
te sind weniger stof ich (z. B. der Alkohol ist weniger schwer als die Früchte, aus denen er gewon-
nen wurde) dafür aber subtiler geworden, das Trinken von Alkohol bringt Wirkungen hervor, die
Früchte nie hervorbringen könnten). Wiederholte Destillierungen arbeiten die Verwandlung des be-
handelten Grundstoffes immer schärfer heraus. Die Alchemie des Mittelalters mit ihren Retorten
und Kolben, mit ihrer Suche nach der „fünften Essenz“ war eine symbolische Darstellung des inne-
ren Prozesses, den wir gerade unter die Lupe nehmen. Je üchtiger eine Substanz wird, desto weni-
ger werden ihre eigentlichen Merkmale dem Auge wahrnehmbar. Der Anblick von Früchten ent-
spricht etwa ihrem Genuss, während der Alkohol, obgleich er viel wirksamere Kräfte besitzt, einen
weit weniger eindrucksvollen Anblick bietet. In der Umgangssprache bedeutet das Wort „ver üch-
tigen“ so viel wie „verschwinden“. Die Verfeinerung oder „Ver üchtigung“ ist gleichzeitig eine
„Klärung“, wie wir schon hervorgehoben haben; die am meisten verfeinerte Substanz ist gleichzei-
tig die einfachste.

Das sich entwickelnde Verständnis stellt einen Destillierungsprozess unseres Inneren dar, d. h. unse-
res Bildmaterials. Es gibt eine Klärung, Entstof ichung und Vereinfachung dieses Materials und
dementsprechend auch aller Vorstellungs- und Gefühlsabläufe. Zum Beispiel: Als Kind glaube ich
an das Jesuskind als an ein richtiges Kind, das mich liebt und mein Bestes will, das meinem Leben
zusieht und mir gegenüber Gefühle hegt, die den meinen ähnlich sind. Diese Vorstellung ist „roh“,
deutlich umrissen und mit konkreten Einzelheiten versehen. Als Jüngling gewinne ich ein Verständ-
nis „Gottes“, bei dem ich mir ihn noch als persönliches Wesen, jedoch ohne sichtbaren Leib vorstel-
le, das zwar noch Gedanken und Gefühle, jedoch in weniger greifbarer und vorstellbarer Form hat.
Das Bild hat sich „sublimiert“, es hat seine gestalthafte Genauigkeit verloren. Es hat weniger Ge-
stalt und ist doch gleichzeitig umfassender und mächtiger, da es jetzt einen größeren Reichtum um-
schließt. Mit zunehmendem Alter und Verständnis bildet sich in mir die abstrakte Idee eines über-
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persönlichen Prinzips, das ich als einziges für gut und aufbauend halte. Im darauf folgenden Stadi-
um gelange ich dazu, dieses Prinzip als dem Dualismus: Aufbau - Zerstörung oder Handeln - Nicht-
handeln, überhaupt als jeder Erscheinung überlegen zu begreifen; doch unterscheide ich dabei noch
dieses Prinzip von seiner Offenbarung in der Erscheinungswelt und glaube an die Wirklichkeit die-
ser Unterscheidung. Ich begreife, dass das Prinzip auch mein Prinzip ist; ich sehe meine Identität
mit ihm, unterscheide jedoch noch mein Prinzip von meiner Erscheinung und glaube an die Wirk-
lichkeit dieser Unterscheidung. Zuletzt gelange ich zu der Einsicht, dass die Unterscheidung zwi-
schen dem Prinzip und seiner Gestaltwerdung nichts als ein analytischer Kunstgriff ist, den der In-
tellekt als Ausdrucksmittel nötig hat. Ich begreife, dass ich mich einer Täuschung hingebe, wenn ich
in beiden, verschiedene Elemente unterscheide und sie einander gegenüberstelle. Das Bild der
Wirklichkeit, zu Anfang das konkrete Bild des Jesuskindes, hat sich bis zum abstrakten Bild der
„Leere“ der traditionellen Metaphysik „vergeistigt“, einer Leere, die jede nur denkbare Fülle in sich
schließt. Es ist durchaus einleuchtend, dass sich auch meine gefühlsmäßigen Reaktionen auf die Er-
fassung der Wirklichkeit in Übereinstimmung mit diesem „Destillierungsprozess“ vergeistigen. Der
innere und äußere Gang meiner „Maschine“ wandelt sich, wenn ich nicht mehr an einen persönli-
chen Gott als an einen Gegenstand der Furcht und Liebe glaube, und wenn ich beginne, über allen
Gedanken und Gefühlen meine „Buddha-Natur“ zu erfassen.

Der Destillierungsprozess, den wir dem Einsatz der intellektuellen Intuition verdanken, entspricht
genau der in diesem Buche oft wiederholten Idee, dass die richtige innere Entwicklung nichts ver-
nichtet, sondern alles „erfüllt“. In Wirklichkeit bedeutet das scheinbare Sterben des „alten Men-
schen“ keine Vernichtung. Wenn ich Alkohol aus Früchten ziehe, zerstöre ich den Grundstoff der
Frucht nicht, ich kläre ihn, verdichte ihn und führe ihn zur Vollendung. Ebenso steigere ich mein
Verständnis der Wirklichkeit bei der Entwicklung vom „Jesuskind “ zur „Leere“. Nur scheinbar ist
es ein Sterben, weil es einer Abschwächung des Sichtbaren, des durch Verstand und Sinne Fassba-
ren gleichkommt. Doch ist in Wirklichkeit nichts zerstört worden, wenn der Glaube an die absolute
Wirklichkeit einer einzelnen Wahrnehmung abnimmt. Die höchste Stufe dieser Entwicklung bringt
ein Verschwinden der vermeintlichen Wirklichkeit der durch Sinne und Verstand wahrgenommenen
Bilder mit sich.

Von Geburt an ist es die Grundsituation des Menschen, sich im tiefsten Innern unbefriedigt zu füh-
len. Der Mensch glaubt etwas zu entbehren; ihm genügt nicht, was er hat und was er ist. Er erwartet
„etwas anderes“, das „wahre Leben“, sucht die Lösung seines vermeintlichen “Lebensproblems“,
verlangt bestimmte Situationen innerhalb seines Daseins. Diese fordernde Haltung, aus der alle un-
sere Leiden hervorgehen, soll nicht aufgehoben werden, sondern ihren richtigen Sinn erhalten. Bei
der Betrachtung der Kompensationen konnten wir beobachten, wie unsere Ansprüche; unsere Nei-
gungen sich immer mehr „entstof ichen“. Alle besonderen Vorlieben lassen sich aus der zentralen
Verhaftung an das Bild unseres Ego, an das Bild unserer individuellen Persönlichkeit ableiten, wo-
bei zwischen den einzelnen Bildern und jenem Hauptbild Verbindungen hergestellt werden, die sie
identisch erscheinen lassen. Je tiefer mein Verständnis vordringt, desto gründlicher werden jene
Verbindungen abgeschnitten. Meine Verhaftung klärt sich, geistigt und verdichtet sich; sie tritt im-
mer weniger in Erscheinung, wird immer ungreifbarer. Unser verhafteter Anspruch wird zwar vor
dem Satori um nichts schwächer, doch geht er seiner Reinigung und Vervollkommnung immer mehr
entgegen, je näher der Augenblick der plötzlichen Verhandlung rückt, in der Zuneigung und Abnei-
gung ihre Versöhnung erfahren.

Unsere Eigenliebe bildet einen Teil, ja einen Grundaspekt unserer fordernden Haltung. Auch sie
geht ihrer Klärung entgegen, je tiefer mein Verstehen vordringt. Leuten, die mich beobachten, wer-
de ich bescheidener als zuvor erscheinen. Ich selbst jedoch fühle, dass es sich anders verhält. Meine
Eigenliebe wird immer vergeistigter, immer dichter, so dass man sie weniger gut erkennen kann. Sie
geht ihrer Vervollkommnung entgegen, indem sie auf der einen Seite zum Nullpunkt der vollkom-

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menen Demut sich neigt, auf der anderen Seite zur verborgenen Unendlichkeit unserer absoluten
Würde.

Das Angstgefühl, das mit den vom Ego erhobenen Ansprüchen eng verbunden ist, erfährt die glei-
che stufenweise Wandlung. Es ist ein grober Irrtum zu glauben, dass die Einsicht die Unruhe des
Menschen steigere. Durch falsche Lehren werden zwar zwanghafte „Überzeugungen“ in uns einge-
p anzt, die die Angst steigern können. Doch die intuitive Schau der Wahrheit kann die Angst nur
„sublimieren“, wobei ihre offenbare Seite zugunsten der noch nicht in Erscheinung getretenen im-
mer mehr in den Hintergrund tritt. Vor dem Satori nimmt das tiefe Angstgefühl, aus dem sich alle
einzelnen Angsterscheinungen ableiten lassen, um nichts ab. Doch tritt es immer weniger in Er-
scheinung, so dass ein Zen-Schüler es immer weniger fühlt, je weiter er sich entwickelt, wenn das
Angstgefühl fast nicht mehr zu greifen ist, ist das Satori nahe. Die innere Unruhe des Menschen ist
ein Zeichen für den Kon ikt zwischen der Lebensbewegung einerseits und der Abwehr gegen alle
zeitliche Begrenztheit andrerseits, die eine Vorbedingung jener Bewegung ist. Wenn der Mensch
seinem Leben gegenübergestellt wird, so will er es und will es gleichzeitig nicht. Die Unruhe läutert
sich mit der Einsicht, durch die die Abwehr der zeitlichen Begrenztheit sich verringert. Die Lebens-
bewegung selbst wird nicht berührt, während das, was sich ihr entgegenstellte, in den Hintergrund
tritt. Daher erfährt auch sie selbst eine Läuterung: die Unruhe verschwindet und unser inneres
Triebwerk arbeitet immer „glatter“.

Die hier betrachtete Entwicklung bringt, wie wir sahen, vor allem die „Entstof ichung“ unseres
Bildmaterials mit sich. Unsere Bilder verlieren nach und nach ihre scheinbare Dichte, ihre ver-
meintliche Objektivität. Sie werden feinstof icher, umfassender, allgemeiner und abstrakter. Sie
verlieren allmählich die Macht, unsere Lebensenergie in die Form einer Gefühlsverkrampfung zu
bringen; der ganze Vorstellungs- und Erregungsprozess verliert an Intensität und Durchschlagskraft.
In unserem Vorstellungsablauf zeigen sich weniger Kontraste und der Traum unseres Innern ver-
blasst.

Wenn wir unseren gegenwärtigen Zustand als eine Art von Schlummer betrachten, bei dem unser
bewusstes Denken die Rolle des Traumes spielt, so könnten wir Satori als das Erwachen sehen. Es
ist zwar etwas Wahres an dieser Sicht, doch birgt auch sie eine Falle, in die unser Verständnis leicht
geraten könnte. Wir werden immer dazu neigen, uns die Dinge vorstellen zu wollen und zu verges-
sen, dass das Satori als innerer Vorgang, der sich jeder Vorstellung entzieht, mit nichts, was wir
sonst kennen, eigentlich verglichen werden kann. So bin ich auch hier in Gefahr, eine Analogie auf-
stellen zu wollen zwischen dem Satori, dem letzten Erwachen, und dem, was ich täglich beim
Übergang vom schlafenden zum wachenden Zustand erlebe. In diese vermeintliche Analogie
schleicht sich heimlich der Begriff des „Fortschritts“ ein: denn so, wie mein gewöhnliches Erwa-
chen, mir dem Schlaf gegenüber als Fortschritt erscheint, würde auch das Satori zu einem „Über-
Erwachen“, einem „wahrhaften“ Erwachen, zu einem hohen Fortschritt gegenüber dem jetzigen
Wachheitsgrad. Wie das gewöhnliche Erwachen mir ein Bewusstsein zurückgibt, das mir während
des Schlafes fehlte, so würde das Satori mir ein „Über-Bewusstsein“ verleihen müssen, das ich in
meinem augenblicklichen Zustand nicht hätte. Diese falsche Auffassung (falsch, weil ich von Ewig-
keit her im Zustande des Satori weile u n d weil mir trotz aller scheinbarer Gegenbeweise nichts
fehlt) führt zu Täuschungen über den inneren Vorgang, der dem Satori-Ereignis vorangeht. Zwi-
schen dem Tiefschlaf und dem Wachzustand liegt der Schlaf mit Träumen. Das Auftreten des Be-
wusstseins während des Schlafes zielt auf das Erwachen ab: je aufregender und bewegender, je in-
tensiver und scheinbar objektiver der Traum ist, desto näher ist das Erwachen. Wenn wir die falsche
„Fortschrittsanalogie“ weiterdenken, müssen wir schließlich zu dem Glauben gelangen, dass dem
Satori eine Verschärfung unseres bewussten Denkens, unseres Vorstellungsablaufs voranginge. Wir
glauben vielleicht, dass eine innere Überaktivität der Ekstase oder Beklemmung, wenn sie ihren kri-
tischen Punkt erreicht hat, die letzte Grenze durchbrechen und den Zugang zu einem kosmischen
ÜberBewusstsein uns verschaffen könnte.
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Aber all dies steht in scharfem Gegensatz zur Unmittelbarkeit des Satori, von der die Zenlehre
spricht. Achten wir doch darauf, wie sich gerade bei dieser Fortschrittsillusion die gleiche Identi -
zierung mit meinem Ich wieder ndet, die eine irrtümliche Anbetung des Bewussten zur Folge bat.
Unsere innere Vorstellungswelt, deren Mittelpunkt unser individuelles Ich ist, erhebt den Anspruch,
selbst das Universum zu sein. Die Kräfte des Bewusstseins, die diese Welt erzeugen, werden dabei
dem Kosmischen Geist gleichgesetzt, und von daher gesehen ist es nicht länger verwunderlich, dass
wir auf das Bewusstsein bauen, wenn wir daran denken, unsere absolute Verwirklichung zu errin-
gen.

In Wirklichkeit bin ich, ob ich schlafe


oder wache, hier und jetzt im Zustande
des Satori. Schlaf und Wachen sind glei-
cherweise in diesen Zustand getaucht. Der
Satori-Zustand spielt für Schlaf und Wa-
chen, die Rolle einer versöhnenden Hy-
postase. Ins Nichtzeitliche getaucht, sind
Schlaf und Wachen zwei äußerste Spielar-
ten des Funktionierens unseres leib- seeli-
schen Organismus, zwei Pole, zwischen
denen ich mich hin- und her bewege. Der
Schlaf mit Träumen nimmt zwischen
Tiefschlaf und Wachzustand eine Mittel-
lage ein, er ist eine Projektion von der
Spitze des Dreiecks auf seine Basis. Da-
her auch die jenseitigen Weisheiten des
Traumes. Das symbolische Denken des
Traumes, in dem sich die Situationen un-
seres persönlichen Mikrokosmos frei von jeder vermeintlichen Objektivität der Außenwelt wider-
spiegeln, ist im Augenblick die einzige Denkform, durch die wir manche Dinge in ihrer wahren Ge-
stalt erkennen können. Da die Dinge in ihrer wahren Gestalt keinen angemessenen direkten Aus-
druck nden können, muss das Traumdenken eine symbolische Äußerungsform annehmen.

Versuchen wir nun von dieser richtigen Perspektive aus zu erfassen, auf welche Weise die stufen-
weise - nicht Fortschreitende - Entwicklung, die dem Satori vorangeht, in unserem Bewusstsein, in
unserem “Wachtraum“ sich spiegelt! Unser Wachtraum geht wie alles in uns einer stufenweisen
Vervollkommnung entgegen, indem er immer subtiler wird. Weit davon entfernt, fesselnder, Wirk-
lichkeit vortäuschender zu werden, wird er vielmehr blasser, lichter, lockerer und üchtiger und haf-
tet nicht mehr so zäh in uns. Die Gefühlsgeladenheit bestimmter Bilder nimmt ab, und unsere In-
nenwelt kommt ins Gleichgewicht. Unterhalb dieses immer leichter werdenden Wachtraums schla-
fen wir den Schlaf unserer gegenwärtigen ichbezogenen inneren Situation. Kurz gesagt: die höchste
Stufe unseres bewussten Denkens bringt dieses in einem ganz bestimmten Sinne in eine größere
Nähe zum Tiefschlaf. Während jedoch unser bewusstes Denken sich einerseits gewissermaßen dem
Schlafe nähert, gewinnt es andrerseits gleichzeitig einen immer größeren Abstand davon, da die
subtilsten intellektuellen Möglichkeiten aufs höchste gesteigert werden. Im Bereich des noch nicht
manifest Gewordenen ndet also eine wirkliche Annäherung statt, während in der Welt des bereits
manifest Gewordenen ein scheinbares Ferner rücken sich vollzieht. „Was oben ist, ist das Gleiche
wie das, was unten ist, und das, was unten ist das Gleiche wie das, was oben ist.“ Die Vorstellungs-
tätigkeit wird subtiler und bekommt die Tendenz, nicht in Erscheinung zu treten, obgleich das geis-
tige Leben wach bleibt und seine Funktionen fortsetzt. Unter der stets durch Bilder abgelenkten
Aufmerksamkeit entwickelt sich eine „Konzentration auf nichts“. Meine Verfassung hat Ähnlichkeit
mit der des zerstreuten Gelehrten. Doch während der Gelehrte zerstreut ist, weil sich seine Auf-

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merksamkeit auf etwas Gestaltetes richtet, bin ich selbst zerstreut, weil meine Aufmerksamkeit sich
auf etwas Gestaltloses, weder Begriffenes noch Begreifbares richtet.

Der gesamte Vorstellungs- und Erregungsprozess wird gedämpft. Dies kommt dadurch zum Aus-
druck, dass ich mich ohne sichtbaren Grund glücklich fühle. Ich bin nicht deshalb glücklich, weil
das Dasein mir gut erscheint, sondern es erscheint mir gut, weil ich glücklich bin. Die auf das Satori
zulaufende Entwicklung bringt keine Zuspitzung der Angst mit sich, sondern im Gegenteil, eine zu-
nehmende Linderung. Dem Augenblick, in dem wir unmittelbar und endgültig erkennen werden,
dass unsere Angst immer ein Trug gewesen ist, geht ein neutralisierender Ausgleich voraus. Das
bestätigt den Gedanken, dass unsere Sehnsucht nach Erfüllung abnimmt, je näher wir dem „Ort der
Ruhe“ kommen.

Im abendländischen Denken Befangene haben oft Mühe, den Ausdruck „Großer Zweifel“ zu ver-
stehen, den das Zen gebraucht, um den inneren Zustand zu bezeichnen, der dem Satori unmittelbar
vorangeht. Sie glauben, dass der „Große Zweifel“ der Gipfel der Unsicherheit, der Unruhe und
Angst sein müsse. Doch ist genau das Gegenteil der Fall. Versuchen wir, mehr Klarheit darüber zu
gewinnen.

Der Mensch wird geboren mit einem Zweifel an seinem „Sein“, und dieser Zweifel bestimmt alle
seine Reaktionen gegenüber der Außenwelt. Die Frage: „Bin-ich?“ liegt allen unseren Unterneh-
mungen zugrunde, ob wir uns klar darüber sind oder nicht. In allem, was ich suche, suche ich nach
einer endgültigen Bestätigung meines „Seins“. Solange diese metaphysische Frage innerlich mit
dem Problem meines Erfolges in der Welt gleichgesetzt wird, erfüllt mich Angst wegen meiner zeit-
lichen Begrenztheit. Denn die so gestellte Frage wird immer von einer verneinenden Antwort be-
droht. Doch je tiefer mein Verständnis wird und je „subtiler“ meine bildhafte Vorstellung vom Uni-
versum, desto mehr tritt die Gleichsetzung zwischen meinem metaphysischen Zweifel und der
Möglichkeit meines Scheiterns in der Welt zurück. Die Frage nach meinem „Sein“ erfährt eine Klä-
rung und tritt so weniger in Erscheinung. In Wirklichkeit verliert sie zwar nicht an Dringlichkeit,
wird jedoch immer weniger dicht und greifbar. Am Ende dieses Destillierungsprozesses ist der
Zweifel fast vollkommen rein geworden, ist zum „Großen Zweifel“ geworden und hat gleichzeitig
seinen Angstcharakter verloren. Er ist der Gipfel der Verwirrung und der Gipfel der Klarheit zu-
gleich, einer Klarheit ohne formales Objekt, reine Ruhe, reiner Friede. „Dann wird der Mensch den
Eindruck haben, in einem durchsichtigen, lebenspendenden, erhebenden und königlichen Kristallpa-
last zu leben“, und ist doch gleichzeitig „einem Idioten und Dummkopf ähnlich“. Die berüchtigte,
vergebliche Frage: „Bin ich?“ wird hinfällig durch diesen Reinigungsprozess und ich erliege nicht
länger ihrer Anziehungskraft - nicht etwa durch eine befriedigende Lösung des „Problems“, sondern
durch die Erkenntnis, dass es nie ein Problem gegeben hat.

Betrachten wir nun noch, wie dieser Entwicklungsprozess, der unser Inneres immer „subtiler“ ge-
staltet, unseren Zeitbegriff verändert. Wie wir schon festgestellt haben, glauben wir an die Wirk-
lichkeit der Zeit, weil wir eine Änderung unseres Lebens e r w a r t e n , die den vermeintlichen
Mangel völlig ausgleichen soll. Je stärker wir die Sehnsucht nach einem „Werden“ emp nden,
umso schmerzlicher bedrängt uns das Problem der Zeit. Wir machen uns selbst den Vorwurf, die
Zeit iehen zu lassen, die vorübereilenden Tage nicht richtig zu füllen. In dem Grade, in dem der
innere Hang zum “Werden“ sich entstof icht, indem er immer weniger in Erscheinung tritt, verän-
dert sich auch meine Wahrnehmung der Zeit. Die Zeit, insoweit sie sich in meinem persönlichen
Lebensablauf manifestiert, ent ieht mir zwar immer weiter, aber ich versuche nicht mehr, sie auf-
zuhalten, da ich ihr immer weniger Gewicht beimesse. Im Laufe der Zeit erlebe ich immer weniger,
was ich in Worte fassen, an was ich mich erinnern könnte. Im Einklang damit nimmt auch das Ge-
fühl der verlorenen Zeit ab. Ich fühle mich immer weniger betrogen vom unerbittlichen Ablauf der
Stundenuhr. Hier wie überall gilt, dass wir umso mehr besitzen, je weniger wir uns an die Dinge
klammern. Dennoch muss betont werden, dass es sich hierbei natürlich nicht um ein positives Be-
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sitzen der Zeit handelt, sondern nur um ein gradweises Nachlassen des bohrenden Gefühls, sie nicht
zu besitzen. Wir besitzen nicht etwa die Zeit vom Augenblick des „Großen Zweifels“ an, doch ent-
zieht sie sich uns nicht mehr, da wir keinen Anspruch mehr auf sie erheben Diese Aufhebung der
Zeit kündet unseren Wiedereintritt in die Ewigkeit des Augenblicks an.

Betrachten wir nun, warum dieser gradweise “Ver üchtigungsprozess“ dem Satori notwendigerwei-
se vorausgeht. Wenn wir die Berichte einiger Zenmeister lesen, die sie über ihr Satori hinterlassen
haben, können wir bemerken, dass dieses innere Ereignis bei einer sinnlichen Erregung aus der Au-
ßenwelt eintreten kann, bei einem Augeneindruck oder einer Gehörsemp ndung, bei einem Fall, bei
einem plötzlichen Schlag. Der Eindruck kann vielleicht wenig intensiv sein, doch trägt er immer
den Charakter des Unvermittelten, der unsere Aufmerksamkeit erregt. Wie auch im gewöhnlichen
Leben eine plötzliche Wahrnehmung die schlummernde Aufmerksamkeit unseres passiven Be-
wusstseins weckt, so erweckt dieses Mal die plötzliche Wahrnehmung das selbständige Wirken un-
seres nun endgültig aktiven Geistes und macht uns die Sicht der Dinge, wie sie wirklich sind, be-
wusst.

Die Interpretation dieser Tatsache leistet zwei Irrtümern Vorschub. Wenn ich dem Begriff der Kau-
salität stark verhaftet bin, so neige ich zu der Ansicht, der Klang einer Glocke habe das Satori des
Zen-Meisters verursacht, und ich frage mich, wie das möglich sei. Ich könnte vielleicht darauf ver-
fallen, dass es, bestimmte Glocken mit gewissen Klängen gäbe, die imstande seien, dem Menschen
seine Buddha-Natur zu offenbaren. Oder, wenn wir von dieser kindlichen Erklärung absehen, könn-
te ich glauben, der Klang der Glocke habe gar keine Rolle gespielt, und der Zenmeister habe sie un-
abhängig davon, was in seinem Innern vor sich ging, gehört.

In Wirklichkeit spielt die Wahrnehmung der Außenwelt im Augenblick des Satori im Allgemeinen
eine wesentliche Rolle, ohne dass die besondere Form in der diese Wahrnehmung sich darbietet,
irgendeine Bedeutung besäße. Jede Wahrnehmung in jedem Lebensaugenblick enthält in sich eine
Möglichkeit zum Satori. Ein Zenschüler warf eines Tages seinem Meister vor, dass er ihm das We-
sentliche der Lehre verborgen hielte. Der Meister führte den Schüler in die Berge. Dort stand der
Lorbeerbaum in voller Blüte, und die Luft war von seinem Duft durchtränkt. „Riechst du das?“,
fragte der Lehrer, und als der Schüler eine bejahende Antwort gab, fügte er hinzu: „Hier siehst du,
dass ich dir nichts verborgen gehalten habe!“ Jede Wahrnehmung der Außenwelt enthält eine Mög-
lichkeit zum Satori, weil sie eine Brücke bildet zwischen Ich und Nicht-Ich, weil sie die Wesens-
gleichheit zwischen Ich und Nicht-Ich zur Darstellung bringt. Wir haben wiederholt betont, dass die
Wahrnehmung eines äußeren Objektes die Wahrnehmung eines inneren Bildes ist, das durch den
Kontakt mit dem Objekt in uns entstanden war. Doch steht hinter dem äußern Objekt und dem inne-
ren Bild eine einzige echte Wahrnehmung, die sie verbindet. Alles im Universum ist Schwingungs-
energie. Die Wahrnehmung eines Objektes entsteht durch eine Vereinigung der Schwingungen, die
vom Objekt ausgehen, mit meinen eigenen Schwingungen. Diese Vereinigung ist nur möglich, weil
die Schwingungen des Objektes und meine eigenen aus dem gleichen Grundstoff gemacht sind, und
sie ist die Gestaltwerdung dieses „Stoffes“, der innerhalb der Vielfalt der Erscheinungen eine Ein-
heit darstellt. Das wahrgenommene Bild entsteht „in mir“, hat aber seinen Ursprung im Unbewuss-
ten, im kosmischen Geist, der keinen bestimmten Ort hat und im wahrgenommenen Bilde ebenso
wohnt wie in mir als Wahrnehmendem.

Das bewusst gewordene wahrgenommene Bild gehört uns nur als Individuum, doch die Wahrneh-
mung selbst als Prinzip dieses bewusst gewordenen Bildes, gehört weder mir noch dem Gegenstan-
de an. Bei ihr gibt es keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, sie ist vielmehr die ver-
söhnende Brücke, die Subjekt und Objekt in einer dreieinheitlichen Synthese eint.

Indessen vermag nicht jede Wahrnehmung der Außenwelt das Satori in mir auszulösen. Warum
nicht? Weil im Moment das bewusste innere Bild meine ganze Aufmerksamkeit fesselt. Dieser rein

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persönliche Aspekt der universalen Wahrnehmung nimmt mich gefangen, da ich ja der „Überzeu-
gung“ bin, dass die einzelnen Dinge sind. Den Ausspruch des Hui Neng habe ich noch nicht mit
meinem ganzen Wesen begriffen: „Kein Ding ist “ Noch immer glaube ich, dass dieses und jenes
sich voneinander unterscheide, noch immer ergreife ich Partei. Aufgrund einer solchen Unwissen-
heit sind die vielfältigen Bilder, die Elemente meiner inneren Welt untereinander deutlich abge-
grenzt, einander entgegengesetzt. Durch das, was es von den andern unterscheidet, ndet ein jedes
seine Bestimmung. So gesehen kann kein Bild das andere vertreten oder die Ganzheit meiner inne-
ren Welt darstellen. D. h. dass kein Bild mein „Ich“ ist, sondern immer nur ein Aspekt dieses Ich.
Unter diesen Bedingungen hat es den Anschein, als fände bei der Wahrnehmung keine Vereinigung
von Ich und Nicht- Ich statt, sondern nur eine teilweise Identi zierung, Da das Ich nicht in den ein-
zelnen Bildern integriert ist, kann es auch nur teilweise mit dem Nicht-Ich identi ziert werden. Die
Offenbarung der völligen Gleichsetzung, das heißt das Satori, tritt nicht ein.

Diese Offenbarung wird erst am Ende des vereinfachenden Ver üchtigungsprozesses möglich. Je
subtiler die Bilder werden, desto mehr verschwinden die scheinbaren Unterschiede. Zwar erkenne
ich weiterhin, worin sie sich voneinander unterscheiden, doch nehme ich diese Unterschiede immer
weniger als Gegensätze. Es ist, als fühle ich allmählich in der Vielfalt die Einheit. Die unterschei-
denden Gegensätze treten immer weniger in Erscheinung. Es gibt zwar vor dem Satori keine echte
Einheit meiner inneren Welt, doch beginnt meine innere Verfassung zur Einfachheit, Gleichartig-
keit, zur mathematischen Einheit zu neigen (die man nicht mit der metaphysischen oder prinzipiel-
len Einheit verwechseln darf).

Indem die Unparteilichkeit meinen Bildern gegenüber einen immer höheren Grad der Vollkommen-
heit erreicht, trägt sie auch zur Integrierung des Ich bei.

Die Teilgleichsetzung mit den äußeren Objekten lässt nach, und ich fühle mich der Außenwelt ge-
genüber immer abgegrenzter. Der einer Gesamtgleichsetzung vorausgehende Prozess besteht nicht
in einer fortschreitenden Zunahme der Teilgleichsetzung, sondern im Gegenteil, in deren stufenwei-
sem Zurücktreten. Um einen Raumbegriff anzuwenden, könnte ich sagen, dass das gestaltgeworde-
ne Ich immer mehr reduziert wird und eine Tendenz zum ausdehnungslosen geometrischen Punkt
zeigt. In dem Maße, in dem ich mich auf den Punkt zu bewege, bewegt sich auch mein Bild der Au-
ßenwelt auf den Punkt zu. Es ist, als ob eine Grenzzone gegenseitiger Durchdringung zwischen Ich
und Nicht-Ich entstünde, als ob Ich und Nicht-Ich sich immer weiter voneinander entfernten, wäh-
rend gleichzeitig ihr scheinbarer Gegensatz abnimmt. So mögen zwei Feinde, wenn ihr gegenseiti-
ger Hass nachlässt, sich einander immer mehr entfremden, während ihre Feindschaft fast ganz ver-
schwindet. Meine innere Welt hat am Ende dieser stufenweisen Entwicklung jene Gleichartigkeit
erreicht, in der zwar nicht die Formen selbst, jedoch deren Gegensätzlichkeiten zurücktreten. Alles
wird gleich. Dann vermag auch jedes beliebige Bild die Gesamtheit meiner Innenwelt in angemes-
sener Form zur Darstellung zu bringen. Ich bin fähig geworden, bei einem Wahrnehmungsvorgang
nicht nur eine Teilgleichsetzung mit dem Nicht-Ich zu erfahren, sondern meine totale Gleichheit mit
ihm. Doch muss das Nicht-Ich sich manifestieren. Dies geschieht eben bei jener auslösenden Wahr-
nehmung, von der uns die Menschen, die Satori erlebten, berichten. Vor dem Ich, das in eine nicht
in Erscheinung tretende Ganzheit eingegangen ist, taucht das Nicht-Ich auf, das ganz in eine einzel-
ne stellvertretende Erscheinung integriert ist. Die Wahrnehmung entspringt dann an der Stelle, wo
sich die Ganzheit des Ich und die Ganzheit des Nicht-Ich gleichzeitig und unterscheidungslos mani-
festieren. Nun wird die Ganzheit des Ich sichtbar, doch in der großen Einheit, in der alles sich ver-
söhnt, und mit der im Augenblicke seiner Erfüllung dieses Ich verschmilzt.

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XXIV. VON DER DEMUT

Zum Abschluss unseres Buches sollen noch einmal einer der Hauptzüge jenes theoretischen und
praktischen Verstehens hervorgehoben werden, das allein uns von aller Angst befreien kann. Es
handelt sich darum, das eigentliche Wesen der Demut genau zu verstehen und zu erkennen, dass
hier allein der Schlüssel zu unserer wirklichen Freiheit und Größe zu nden ist.

Wir leben schon jetzt im Zustande des Satori, doch verhindert die unablässige Tätigkeit der psycho-
logischen Automatismen, die einen circulus viciosus in uns herstellen, ein fruchtbares Bewusstwer-
den dieser Tatsache: unser ständiges Bewegt-sein durch Vorstellungen und Gefühle macht uns die
Erkenntnis unserer “ Buddha - Natur “ unmöglich, und da wir deshalb zu der Überzeugung gelan-
gen, unserer wesenhaften Wirklichkeit entbehren zu müssen; werden wir zu Vorstellungen gezwun-
gen, die den vermeintlichen Mangel ausgleichen sollen.

Ich fühle mich von meinem eigenen „Sein“ getrennt und suche danach, mich wieder mit ihm zu
vereinigen. Da ich mich nur innerhalb der Grenzen meiner individuellen Eigentümlichkeit kenne,
suche ich auch das Absolute in individueller Form zu nden, möchte ich um jeden Preis absolutes
Sein in individueller Form erreichen. Durch diese Bemühung wird eine „Fiktion von Göttlichkeit“
in mir erzeugt und am Leben erhalten, nämlich der ursprüngliche und grundlegende Anspruch, als
Individuum und im Bereich der Erscheinungswelt vollkommen und allmächtig sein zu wollen.

Innerhalb des Vorstellungsablaufs besteht jenes Kompensationsstreben der psychologischen Auto-


matismen darin, dass sie meine Aufmerksamkeit von der tatsächlichen Begrenzung meiner Macht
ablenken und dass sie die erwähnte Grundforderung einfach aufgeben, wenn die Erkenntnis meiner
Ohnmacht sich nicht mehr umgehen lässt. Ich lege es also förmlich darauf an, die Übereinstimmung
von Außenwelt und Innenwelt niemals anzuerkennen. Ich bejahe mich als unterschiedliches Ein-
zelwesen, das in Bezug auf die Außenwelt niemals im Gleichgewicht ist, das sich über sie erhaben
fühlt, wenn seine Macht, ihr unterlegen, wenn seine Ohnmacht an den Tag tritt. Die Fiktion, nach
der ich als Individuum der Urgrund des Universums zu sein hätte, heischt, dass immer nur von der
Bestimmung der Welt durch mich die Rede sei: ich sehe mich daher stets entweder als den, der die
Außenwelt bedingt, oder als den, dem dieses Streben fehlschlägt. Doch will es mir nie gelingen,
mich innerhalb der gleichen Ordnung als von ihr bedingt anzuerkennen. Daher die Illusion des
„Nicht-Ich“. Wenn es mir gelingt, die Außenwelt zu bestimmen, ist sie „Ich“, wenn mir das miss-
lingt, ist sie für mich das „Nicht-Ich“. In keinem Falle möchte ich sie als das, was sie ist, anerken-
nen, da ich mir der Wesensgleichen, die uns beide verbindet, nicht bewusst bin.

Da es mir bis jetzt unmöglich ist, von meinem Selbst, von meiner Buddha-Natur als universaler
Mensch und nicht als begrenztes Individuum ein fruchtbares Bewusstsein zu erlangen, bin ich unab-
lässig gezwungen, mir eine von Grund auf falsche Vorstellung von meiner Situation innerhalb der
Welt zu bilden. Anstatt mich als auf gleicher Stufe mit der Außenwelt stehend zu erkennen, fühle
ich mich bald über sie erhaben, bald ihr unterlegen, bald „über ihr“, bald „unter ihr“. Von dieser
Perspektive aus, bei welcher das „über ihr “ das Sein bedeutet und das „unter ihr“ das Nichts, bin
ich gezwungen, immer dem Sein entgegen zustreben. Alle meine Bemühungen können unmittelbar
oder auf Umwegen mir die eine Tendenz haben, mich zu erheben, ob das nun im stof ichen, im
geistigen oder gar im „übersinnlichen“ Bereiche geschehen mag.

Alle natürlichen psychologischen Automatismen vor dem Satori gründen sich auf die Eigenliebe,
auf den Anspruch auf Persönlichkeit und auf das Bestreben, wie auch immer, „mich
emporzuheben“. Und gerade diese Forderung nach individueller Steigerung hält mir meine unbe-
grenzte universale Würde verborgen. Dieser Anspruch, der alle Bemühungen, alles Streben durch-
dringt, ist zuweilen als solcher schwer erkennbar. Es wird mir leicht, ihn zu erkennen, wenn etwa
das Nicht-Ich, von dem ich mich abheben will, durch andere menschliche Wesen vertreten wird. In

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diesem Falle genügt schon eine Spur von Ehrlichkeit selbst gegenüber, um das Bestreben beim
rechten Namen zu nennen. Bedeutend schwieriger wird es, wenn das Nicht-Ich, von dem ich mich
abgrenzen möchte, durch unbelebte Dinge oder gar durch jene geheimnisvolle, trügerische Wesen-
heit vertreten wird, die wir „Schicksal“ nennen. Im Grunde jedoch bleibt es das Gleiche: Meine Er-
folge steigern mich, und meine Misserfolge demütigen mich. Jede Wahrnehmung von etwas Positi-
vem innerhalb der Welt steigert mich, jedes Innewerden des Negativen demütigt mich. Ist die Au-
ßenwelt positiv, aufbauend, dann ist sie so, wie ich sie will; daher erscheint sie mir als durch mich
bedingt. Tritt sie mir in ihrer negativen, ihrer zerstörerischen Erscheinungsform entgegen (selbst
wenn es mich nicht unmittelbar betrifft), so ist sie anders, als ich sie will, und es kommt mir daher
vor, als lehne sie es ab, sich von mir bestimmen zu lassen. Wenn wir den tiefsten Grund unserer Ei-
genliebe richtig sehen, so müssen wir zu der Einsicht kommen, dass jede nur vorstellbare Freude
eine Befriedigung und jedes nur vorstellbare Leid eine Verwundung unserer Eigenliebe bedeuten.
Wir verstehen dann, dass unsere anspruchsvolle Einstellung die Gesamtheit unserer Gefühlsautoma-
tismen beherrscht, d. h. die Ganzheit unseres Lebens. Nur die freie Einsicht entzieht sich diesem
Herrschaftsanspruch,

Mein dem Ego verhaftetes Streben nach „oben“ muss, da es falsch ist und sich in einem grundsätz-
lichen Widerspruch zu der Wirklichkeit der Dinge be ndet, in einer unablässigen Tätigkeit meiner
Vorstellungskraft seinen Ausdruck nden. Wenn ich das Gesamtbild meines persönlichen Lebens
objektiv zu betrachten versuche, so erkenne ich, dass es sich mit einem Feuerwerkskörper verglei-
chen lässt: Das Aufsteigen der Rakete entspricht dem Leben im Mutterleibe, wo alles in Vorberei-
tung ist ohne noch in Erscheinung zu treten, der Augenblick, in dem die Rakete zum Platzen
kommt, ist die Geburt, die Entfaltung der Leuchtgarbe stellt jene „aufsteigende“ Lebensperiode dar,
in der der Organismus sich mit all seinen Kräften entwickelt. Das Zurücksinken der Garbe in einen
langsam erlöschenden Funkenregen stellt Alter und Tod dar. Anfangs will es mir scheinen, als sei
das „Leben“ jener Rakete ein Wachsen, später ein Abnehmen. Wenn ich jedoch gründlicher darüber
nachdenke, komme ich zu der Erkenntnis, dass es während seiner ganzen Dauer ein Abbau von En-
ergie ist. Es ist von Anfang bis Ende seiner Manifestation ein Abnehmen. Ebenso steht es auch um
mich als Individuum. Vom Augenblick der Empfängnis an ist mein Leib-Seelischer Organismus das
Erscheinungsbild einer Au ösung, eines ständigen Abstiegs. Wir beginnen zu sterben, sobald wir
empfangen sind, indem wir durch mehr oder weniger augenfällige Manifestationen eine Anfangsen-
ergie erschöpfen, die in ständiger Abnahme begriffen ist. Die kosmische Wirklichkeit steht in einem
grundsätzlichen Widerspruch zu meinem Streben nach „oben“: soweit ich Einzelwesen bin, liegt
vor mir nur ein nach „unten“.

Die ganze Frage der menschlichen Angst lässt sich in dem Problem der Demütigung zusammenfas-
sen. Von der Angst geheilt werden, bedeutet, von der Möglichkeit der Demütigung befreit werden.
Woher kommt die Demütigung? Etwa daher, dass ich meine Ohnmacht erkenne? Das wäre kein
ausreichender Grund. Sie steht im Zusammenhang mit der Tatsache, dass ich vergeblich versuche,
meine wahre Ohnmacht nicht zu sehen. Das Gefühl der Demütigung wird nicht durch die Machtlo-
sigkeit an sich hervorgerufen, sondern durch den Schock, den ich erleide wenn mein Anspruch auf
vollkommene Überlegenheit mit der Wirklichkeit der Dinge zusammenstößt. Ich erleide keine De-
mütigung, weil die Außenwelt mich ablehnt, sondern weil es mir nicht gelingt, dieser Verneinung
Herr zu werden. Der wahre Grund unserer Angst ist niemals in der Außenwelt zu suchen, sondern
einzig in dem Anspruch, den wir aus uns herausstellen und der gegen die Mauer der Wirklichkeit
prallt Wenn ich mich darüber beklage, dass die Mauer auf mich gestürzt sei und mich verletzt habe,
gebe ich mich einer Täuschung hin. Ich selbst habe mich an ihr verletzt, meine eigene Bewegung
hat meinen Schmerz verursacht. Wenn ich meinen Anspruch aufgäbe, würde mich nichts mehr ver-
letzen können.

Ich könnte auch sagen, dass die aus der Demütigung stammende Angst der Ausdruck eines inneren
Kon iktes sei. Er ist ein Kon ikt zwischen meiner Neigung, mich selbst allmächtig sehen zu wollen
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und der anderen Neigung, die konkrete Wirklichkeit der Dinge anzuerkennen, durch die meine All-
macht verneint wird. Ich fühle Angst und Demütigung, wenn ich zwischen meinem subjektiven An-
spruch und meiner objektiven Lage, zwischen meiner Lüge und meiner Wahrheit, zwischen der par-
teiischen und der unparteiischen Vorstellung von meiner Situation als Mensch in der Welt hin- und
hergerissen werde. Erst wenn meine Objektivität über meine Subjektivität den Sieg davongetragen
haben wird, die Wirklichkeit über den inneren Traum, kann ich von der ständigen Bedrohung durch
die Angst erlöst werden.

In dem Wunsche, endlich dieser Angst zu entgehen, suchen wir nach Heilslehren, nach„ Gurus“.
Aber der wahre Guru ist nicht fern, er steht vor uns und bietet uns unablässig seine Lehre an: es ist
die Wirklichkeit als solche, ist unser tägliches Leben. Die rettende Offenbarung liegt vor unseren
Augen, die Offenbarung unseres Nicht-Allmächtig seins, die Erkenntnis, dass unser Anspruch durch
und durch abwegig und unmöglich und daher ein Trug, ein Nichts ist. Es ist die Erkenntnis, dass es
nichts zu fürchten gibt, dass falsche Hoffnung keine Wirklichkeit besitzt, dass ich immer auf dem
Boden gestanden habe und noch stehe, so dass ein Fallen unmöglich ist und ein Schwindelgefühl
gar nicht aufkommen kann.

Wenn ich mich gedemütigt fühle, .so deshalb, weil es meinen Vorstellungsautomatismen gelungen
ist, die Erkenntnis der Wirklichkeit zu verdrängen und ihre Evidenz beiseite zu schieben. Ich ziehe
keinen Nutzen aus der heilsamen Lehre, die sich mir fortgesetzt anbietet, da ich sie zurückweise, da
ich unablässig auf Mittel sinne, die Erfahrung der Demütigung zu umgehen. Kaum gerate ich in
eine demütigende Lage, die mich in das Geheimnis der Demütigung hätte einweihen können, so ist
auch schon meine Vorstellungskraft bemüht, die scheinbare Gefahr zu bannen. Sie kämpft gegen die
angebliche „Herabsetzung“ und tut alles, mich wieder in den gewohnten Zustand befriedigter An-
maßung zurückzuholen, in dem Ich zwar einen vorübergehenden Aufschub erhalte, jedoch auch die
Gewissheit neuer Angstzustände. Kurz gesagt wehre ich mich unausgesetzt gegen alles, was sich
mir als Rettung darbietet und kämpfe zäh und hartnäckig, um die Quelle meines Übels zu verteidi-
gen. Alle inneren Bemühungen haben die Tendenz, dem Satori entgegenzuarbeiten, da sie nach
„oben“ zielen, während das Satori „unten“ auf mich wartet. Daher sagt die Zenlehre mit Recht, dass
das Satori unvorhergesehen über uns komme, wenn alle Kräfte unseres Wesens erschöpft sind. Die-
se Betrachtungen scheinen auf die Demut als „Weg“ hinzuweisen und haben damit auch in mancher
Hinsieht recht. Dennoch müssen wir klar erkennen, dass die Demut kein „Weg“ ist, sofern wir uns
unter diesem Ausdruck eine systematische Disziplin vorstellen. In meiner jeweiligen Lage ist es mir
ganz unmöglich, mich irgendeiner Bemühung zu unterziehen, die etwa nicht nach „oben“ zielte.
Jede Bemühung, die Demut zu erreichen, kann nur zu falscher Demut führen, in der ich durch das
so von mir erschaffene neue Idol hindurch noch immer mein Ego steigere. Es ist mir ganz unmög-
lich, mich selbst zu erniedrigen, d. h. selbst die Intensität meines „Seins“-Anspruchs herabzumin-
dern. Alles, was ich tun kann und soll, wenn ich der Angst endgültig entkommen will, besteht darin,
den Lehren der konkreten Wirklichkeit immer weniger zu widerstreben, mich immer besser vor dem
Offenbarwerden der kosmischen Ordnung zu beugen. Und selbst hier gibt es nichts, was ich unmit-
telbar „tun“ oder „lassen“ könnte. Ich werde lediglich aufhören, mich der konstruktiven, harmoni-
sierenden Wirkung der Demütigung entgegenzustellen, sobald ich verstanden habe, dass das wahre
Gut paradoxerweise da zu suchen ist wo ich bisher den Sitz des Übels vermutete. Solange ich noch
nicht das rechte Verständnis besitze, blicke ich unablässig nach “oben“, sobald ich richtig verstehe
blicke ich nicht mehr dorthin - denn nach „unten“ zu blicken ist mir vorerst nicht möglich, und jede
Bemühung in dieser Richtung würde doch nur das “unten“ in ein „oben“ verkehren. Doch wird auf
alle Fälle mein angestrengtes Streben nach oben nachlassen, und so bin ich imstande, die wohltuen-
den Wirkungen der Demütigung zu erfahren. Sobald ich das rechte Verständnis erlangt habe, lässt
mein Widerstand nach, und deshalb erkenne ich auch immer häu ger die Demütigungen, die mir
widerfahren, ich werde dann einsehen, dass alle negativen Zustände im Grunde Demütigungen wa-
ren und dass ich ihnen bisher nur andere Namen gegeben hatte. Dadurch werde ich die Fähigkeit
erlangen mein Gedemütigt- und Gequältsein zu sehen, ohne neben diesem Bild noch ein anderes
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aufzurichten und in diesem Zustand bewegungslos zu verharren; denn meine Einsicht wird mir alle
Fluchtversuche unmöglich gemacht haben. Von dem Augenblick an, da es mir gelingt, mich im Zu-
stand der Demütigung nicht mehr von der Stelle zu bewegen, werde ich zu meiner Überraschung
erkennen dass hier der “ Ort der Ruhe “ ist, das einzige Tor zum Heil und die einzige Stelle der
Welt, wo ich vollkommen geborgen bin. Wenn ich nun an diesem Zustand festhalte, anstatt, wie
sonst, ihn abzulehnen, kann das Wirken des versöhnenden Prinzips einsetzen. Die Gegensätze wer-
den ausgeglichen und mein Leiden verschwindet und damit auch ein Teil meines ursprünglichen
Anspruchs. Ich fühle mich wieder auf dem Erdboden, wieder „unten“ in der wahren Demut (einer
Demut, die nicht etwa meine Inferiorität als solche bejaht, die aber auf das “vertikale“ System ver-
zichtet, durch welches ich mich andauernd „über“-oder „unter“legen fühlte). Derartige innere Vor-
gänge werden vom Gefühl der Trauer, der „Nacht“ begleitet, und doch unterscheidet sich dieses Ge-
fühl von der Angst, da es von einer großen Ruhe durchdrungen ist. In diesem Zeitraum sichtlicher
Ruhe und vollkommener Selbstaufgabe vollziehen sich die Prozesse der von uns so genannten inne-
ren „Alchemie“. Der „alte Mensch“ löst sich auf da ein „neuer Mensch“ ans Licht will. Um der Ge-
burt des Universalen willen stirbt das Individuelle.

Wer die wahre Demut erreichen will - was auf direktem Wege unmöglich ist - muss also zuvor auch
die Demütigung annehmen. Jedes Leid vermag uns durch das Demütigende darin zu verwandeln.
Doch kann diese Wandlung auf zweierlei Weisen vor sich gehen: wenn wir gegen die Demütigung
kämpfen, zerstört sie uns und steigert unsere innere Disharmonie, wenn ich jedoch der Demütigung
Raum gebe, ohne ihr entgegenzuwirken, wird sie mir zu innerer Harmonie verhelfen. Dieses Ge-
währen lassen besteht ganz einfach darin, dass man vor sich selbst ohne Umschweife zugibt, gede-
mütigt zu sein.

Das „Sein“ stellt sich uns von diesem Gesichtspunkt aus als die noch nicht versöhnte Dualität von
Null und Unendlich dar. Anfangs werden wir durch unsere natürliche Wesensstruktur dazu verleitet,
das Sein mit dem Unendlichen gleichzusetzen und zu versuchen, es durch einen ununterbrochenen
„Aufstieg“ in dieser Form einmal zu erreichen. Doch ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt, da
das Unendliche nicht durch ein Erklimmen immer höherer Stufen des Endlichen erreicht werden
kann. Der Weg zum „Sein“ ist nicht das Unendliche, sondern die Null , die aber wiederum kein
„Weg“ sein kann, da sie ja „nichts“ ist.

Der Gedanke, dass die Demut kein „Weg“ ist, ist von solcher Bedeutung, dass wir ein letztes Mal
darauf zurückkommen müssen. Denn solange ich dies nicht begriffen habe, werde ich immer den
oder jenen Anspruch innerhalb des konkreten Lebens aufgeben wollen, werde ich vielleicht mich
mit einem nur mittelmäßigen sozialen Rang zufrieden geben usw. Das aber hieße die Demütigung
meiden, statt sie sich zunutze zu machen. Geheuchelte Demut ist und bleibt geheuchelt. Es kann
sich nicht darum handeln, meine ursprünglichen Ansprüchen ändern, sondern darum, in richtiger
Weise von den einleuchtenden Erkenntnissen Gebrauch zu machen, die mir im Verlauf der Auswir-
kungen jener Ansprüche zuteilwerden dank des demütigenden Scheiterns, zu dem sie zwangsläu g
führen müssen. Höre ich jedoch nur künstlich auf, das Nicht-Ich zu bekämpfen, so beraube ich mich
selbst der unerlässlichen Belehrung, die mir aus meinen Niederlagen erstehen kann.

Der Gedanke der Demut bildet, auch wenn dieser Tatsache nicht immer Ausdruck verliehen wird,
den Mittelpunkt der Zenlehre. In der gesamten Literatur des Zen können wir durchgängig die Beob-
achtung machen, wie die Zenmeister in einem ihnen geeignet erscheinenden Augenblick ihre Schü-
ler zutiefst demütigen. Ob diese Demütigung nun durch einen Meister oder durch ein selbst erlebtes
Scheitern kommt, das Satori wird immer in einem Augenblick ausgelöst, da die Demütigung vor der
endlich ans Licht tretenden Sinnlosigkeit aller ehrgeizigen Bemühungen ihre Vollendung erfährt.
Denken wir immer daran, dass das „Wesen der Dinge “ der beste, der liebevollste und unnachsich-
tigste Lehrmeister ist, der uns mit seiner wachsamen Hilfe umgibt. Die einzige Aufgabe, die uns
zuteil wird, besteht darin, die Wirklichkeit zu verstehen und von ihr uns wandeln zu lassen.
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NACHWORT

Einige Leser dieses Werkes haben sich nach Kenntnis des ersten Teils die Frage nach dem eigentli-
chen Ursprung der in ihm enthaltenen Gedanken vorgelegt. Es traten ihnen fest umrissene und oft-
mals paradoxe Begriffe hinsichtlich der Situation des Menschen entgegen und führten sie begrei i-
cherweise zu der Frage: „Wem ist diese Auffassung zuzuschreiben? Inwieweit ist das Denken, das
uns hier begegnet, Eigentum der Zenmeister und inwieweit entstammt es dem Geiste des Verfassers
dieses Buches?“

Diese Reaktion hat mich zwar, als sie mir zu Ohren kam, nicht weiter erstaunt, jedoch hatte ich sie
auch nicht vorausgesehen. Warum dies so ist, möchte ich hier aufklären und dabei einige Ideen über
die Beziehung zwischen einer intellektuellen Wahrheit und der Individualität des Menschen, von
dem sie konzipiert wird vorlegen, die mit der Lehre des Zen übereinstimmen.

Erinnern wir uns zunächst daran, wie tiefgreifend der Unterschied ist, den die Vedanta zwischen der
Wirklichkeit und den Wahrheiten macht. Es gibt nur eine Wirklichkeit, die das Prinzip jeder Mani-
festation ist und die alle Erscheinungen (erkenntnismäßige und andere) umfasst. Sie ist nirgends
begrenzt und kann daher unmöglich auf irgendeine Formel gebracht werden, d. h. sie lässt sich nicht
in Worte fassen. Dagegen gibt es eine nicht festlegbare Anzahl von einzelnen Wahrheiten, welche
die von unserem geistigen Bewusstsein richtig erfassten Aspekte der Brechungen der Wirklichkeit
auf der Ebene des menschlichen Intellektes sind. Jede formulierbare Wahrheit ist jeweils nur ein
intellektueller Aspekt der Wirklichkeit, der andere, gleicherweise gültige Aspekte keineswegs aus-
schließt; denn jede formulierbare Wahrheit hat ihre G r e n z e n , innerhalb derer sie existiert und
außerhalb derer sie zu existieren aufhört. Innerhalb ihrer Grenzen bringt eine Wahrheit die Wirk-
lichkeit zum Ausdruck, außerhalb ihrer Grenzen gelingt ihr das jedoch nicht. So muss also jede
Wahrheit als eine Zweiheit angesehen werden: einmal, soweit, sie die Wirklichkeit zum Ausdruck
bringt - d. h. soweit sie gültig ist - und zum andern, soweit sie diese nicht zum Ausdruck bringt, d.
h. soweit sie keine Gültigkeit besitzt. Diese Unterscheidung wird es uns ermöglichen, den Begriff
der Wahrheit mit den Begriffen des Individuellen und des Universalen in Verbindung zu bringen.

Was geht nun in meinem Innern vor, wenn ich eine Wahrheit entdecke, d.h., wenn sich mir plötzlich
der verbindende Bezug zwischen bisher getrennten intellektuellen Elementen offenbart? Ich fühle
genau, dass ich jene neue Wahrheit nicht selbst aus altem Stoffe geschaffen habe, ich habe sie über-
haupt nicht geschaffen, ich habe sie empfangen, sie ist in einem Augenblick innerer Gelöstheit in
mein Bewusstsein getreten. Woher kam sie? Aus einer Quelle in meinem Innern, aus der Quelle al-
ler organischen und geistigen Erscheinungen, aus denen ich zusammengesetzt bin, aus dem Prinzip,
von dem ich eine individuelle Verkörperung bin, aus dem Prinzip, das die Welt erschafft, wie es
mich erschafft. Das will sagen, dass die von mir erkannte Wahrheit von “irgendetwas“ Universalem
herkam. Aus dem Universalen stammend, hat meine Wahrheit in meinem individuellen Bewusstsein
eine Form, eine Begrenzung angenommen. Sie hat sich in meinem geistigen Bewusstsein „formiert''
in Übereinstimmung mit meiner besonderen Anlage, mit dem mir eigenen Denkstil. Mit dieser
Form hat die von mir entdeckte Wahrheit die Möglichkeit gewonnen, konzipiert und formuliert zu
werden. Doch ist dieser Aspekt, der ein Ausdruck der ursprünglichen Wirklichkeit und daher gültig
ist, nicht der einzige, den sie, gewonnen hat, denn sie hat auch jenen andern Aspekt, der nicht ein
Ausdruck der Wirklichkeit und daher wertlos ist, mit erworben. Die von mir formulierte Wahrheit
ist, insoweit sie die Wirklichkeit zum Ausdruck bringt, universaler Art. Sie ist hingegen individuel-
ler Art, insoweit sie diese Wirklichkeit nicht zum Ausdruck bringt und daher auch keine Gültigkeit
besitzt. Anders ausgedrückt könnte man sagen: Was an der Wahrheit, die ich formuliere, Gültigkeit
hat und der Beachtung wert ist, stammt nicht von mir als einem von andern sich unterscheidenden
Individuum her, hat also sozusagen nichts mit meiner privaten Person zu tun.

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Sobald ich das einmal verstanden habe, interessiere ich mich nicht länger für das individuelle Ge-
hirn, in dem die eine oder andere Wahrheit Gestalt gewonnen hat, denn dieses individuelle Gehirn
ist ja nur der Empfänger, der eine bestimmte Botschaft aufgenommen hat. Wenn auch zwischen der
Ausdrucksform von Gedanken und der persönlichen Eigenart des Menschen, der ihnen Ausdruck
verleiht, eine greifbare Beziehung besteht, so besteht doch keinerlei Beziehung zwischen der per-
sönlichen Eigenart und dem Wahrheitsgehalt der Gedanken, d. h. dem, was die Gedanken an Wirk-
lichkeit zum Ausdruck bringen. So stammt wohl die formale Seite meines Buches von mir, doch ist
die über allen Formen stehende Wahrheit, die in dem Wortnetz eingefangen ist und die vielleicht in
Ihnen, je nach Ihrer persönlichen Anlage, bisher noch unentwickelte Gedanken erwecken wird,
nicht von mir noch irgendeinem Einzelmenschen, sondern kommt ans dem Universalen. Der An-
spruch auf die Urheberschaft irgendwelcher Gedanken ist abwegig. Er entsteht aus der ich-bezoge-
nen Fiktion von Göttlichkeit, die - auf dem Grund unseres Seelenlebens verborgen - uns selbst zur
ersten Ursache des Universums machen will. In Wirklichkeit ist das Individuum niemals schöpfe-
risch. Wenn der Mensch je schöpferisch ist, dann in universaler, anonymer Form, als Gestaltwer-
dung des Prinzips. In Zeitaltern, in denen echte Weisheit vorherrschte, dachten Künstler, Weise oder
Denker nicht daran, den Werken, welche durch sie hindurch entstanden waren, ihren Namen aufzu-
prägen.

Die Neugier, die wir hinsichtlich der Urheberschaft einer Lehre emp nden mögen, steht in Verbin-
dung mit unserem Mangel an Vertrauen in die eigene geistige Intuition. Gesetzt den Fall, ich möch-
te mich irgendeinem „Glauben“ anschließen, so darf ich dabei nicht übersehen, dass ich das Gefühl
innerer Gewissheit haben muss und dass meine Intelligenz ein Recht darauf hat zu fühlen, dass es
„richtig klingt“, denn sonst werde ich in der Tat nach den besonderen Quellen, nach den „Autoritä-
ten“ forschen, die dieser Lehre zugrundeliegen. Warum aber in dieser Weise suchen? Ein solcher
„Glaube“ kann einen noch so anspruchsvollen Ursprung haben, und doch wird er in meinem Geiste
ein nicht assimilierter, nicht in meine Wesensart eingebauter Fremdkörper bleiben und daher für die
stufenweise Vervollkommnung meines Wesens unbrauchbar sein. Solche Überzeugungen sind wie
Sandkörner, die den glatten Ablauf meines inneren Triebwerks stören. Wenn ich dagegen mit geisti-
gen Elementen, die ich zerlegen und nach meinem eigenen Stil wieder neugestalten kann, nach und
nach echtes Verständnis aufbauen will, so werde ich ohne Vorurteile überall suchen, ohne Betrach-
tung der Person, deren Äußerungen ich höre oder lese. Dann habe ich möglicherweise auch die Be-
reitschaft, in dieser oder jener berühmten Lehre tatsächlich nichts für mich zu nden, jedoch aus
einer kaum bekannten Quelle echte Offenbarungen zu erhalten. Der individuelle Mensch, dessen
Gedankenwelt ich mich nähere, ist mir gleichgültig, es interessiert mich nur das, was vielleicht eine
in mir noch schlummernde Wahrheit zum Leben erwecken könnte. Das Evangelium interessiert
mich, weil ich in ihm mit überzeugender Gewissheit eine tiefe Lehre nde, doch die Diskussion
über die Historizität der Gestalt Jesu lassen mich gleichgültig. Wenn ich die „Hohe Lehre“ so ge-
schrieben habe, wie sie hier vorliegt, ohne genaue Belege und ohne eine Grenze zu ziehen zwischen
den Gedanken, die im Gehirn der Zen-Meister und denen, die in meinem eigenen Gehirn sich her-
ausgebildet haben, so deshalb, weil ich selbst nicht in der Lage bin, eine solche Unterscheidung
vorzunehmen. Nachdem ich einen Teil der Zen-Literatur gelesen und mit dem Gefühl der Gewiss-
heit daraus eine lebendige Erleuchtung empfangen hatte, ließ ich meinem eignen Denken freien
Lauf. Wenn wir ohne vorgefasste Ideen unseren Geist frei gewähren lassen, drängt er vor allem da-
nach, zu konstruieren. Durch intuitive Würfe stellt er immer reichhaltigere Verbindungslinien zwi-
schen den geistig bereits verarbeiteten Begriffen her und setzt sie wie einzelne Teile eines Puzzle-
Spieles Zusammen. Der geistige Prozess des Koordinierens und Integrierens führt zu einem immer
harmonischer sich gestaltenden Ganzen, bei dem es uns einfach unmöglich ist zu unterscheiden,
was an uns von außen, herangetragen wurde und was in uns selbst entstanden ist. Um es noch ein-
mal zu sagen: eine solche Unterscheidung ist auch nicht von Interesse. Die Frage, ob ein Leser sich
dem einen oder anderen der in einem Buch Gestalt gewordenen Gedanken verschreiben wird, soll
nicht davon abhängig sein, von welchem Menschen dieser Gedanke konzipiert wurde, sondern nur

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von jenem Widerhall in seinem Innern, den wir als einzige Richtschnur erkennen und gebrauchen
lernen sollten.

Das bei uns stets vorwaltende Interesse für das einzelne Individuum, von welchem die Darstellung
einer Lehre konzipiert wurde, steht in enger Verbindung mit dem erfolgslosen Bedürfnis, das Abso-
lute in einem einzelnen, aus der Vielfalt herausgelösten Aspekt zu nden. Wenn wir einen Text le-
sen, in dem sich ein Gesamtzusammenhang von Ideen ndet, sind wir versucht, uns dazu im ganzen
zu bekennen oder ihn en bloc abzulehnen. Dies wäre einfacher und könnte uns die Anstrengung des
persönlichen Nachdenkens ersparen. So kommen wir notwendigerweise auch dazu, den Verfasser
einer Schrift als eine Ganzheit anzusehen, deren individueller “Wert“ uns beschäftigt: Verdient er
unsere Achtung oder unsere Missachtung? Diese Einstellung, die bei einem Tatsachenbericht richtig
sein mag, ist nicht angebracht, wenn wir unser Denken formen und unsere Wahrheit entdecken wol-
len (d.h. unsere eigene geistige Schau der Wirklichkeit). Wenn ich meine eigene Wahrheit suche,
muss ich wissen, dass ich sie nicht außerhalb meiner selbst nden werde. Was außerhalb von mir
liegt - und was mir dazu dient, im eigenen Innern etwas zu nden - mag sich als zusammenhängen-
des Ganzes darstellen, doch darf ich mich nie von diesem Eindruck bestimmen lassen, da ich sonst
nicht dazukäme, den analytischen Prozess durchzuführen, der eine Voraussetzung für meine persön-
liche Synthese, für meine geistige Assimilation bildet.

Die Untersuchungen des zweiten Teils verdienen diesen Hinweis mehr noch als die des ersten. Ich
bin überzeugt, dass die alten Meister des Zen mir im Ganzen ihr Imprimatur gegeben hätten. Doch
kommt es darauf nicht so sehr an, Sie hätten vor allem mein Bestreben gebilligt, mein eigenes Den-
ken von jedem fremden, ebenfalls persönlichen Denken loszulösen. Erinnern wir uns an jenen Zen-
Meister, der zu einem seiner Schüler sagte, als er ihn bei einer Schriftstelle bleich werden sah: “
Lass dich von der Sutra nicht aus der Fassung bringen, sei lieber du selbst derjenige , der sie auf den
Kopf stellt“, denn nur so konnte zwischen dem Schüler und der Sutra eine echte Übereinstimmung
entstehen.

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