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2024 15:22:50

Titel
Vorsorgliche Massnahmen nach der Schweizerischen
Zivilprozessordnung
unter Berücksichtigung der Schutzschrift. (Art. 261-270 ZPO und
Art. 303 ZPO)
Buchautoren Stefan von Aarburg
Jahr 2023
Seiten 182-210
ISBN 978-3-7255-9861-8
Verlag Schulthess Juristische Medien AG

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§ 12 Die Schutzschrift
I. Einleitung
563 Wer Grund zur Annahme hat, dass gegen ihn eine Massnahme beantragt wird, über die ohne vorgängige
Gewährung des rechtlichen Gehörs entschieden wird, kann seinen Standpunkt vorsorglich in einer
Schutzschrift darlegen (Art. 270 Abs. 1 ZPO). Die Schutzschrift ist demnach eine präventive Stellungnahme
gegen ein Gesuch, dessen genauen Inhalt man nicht kennt und von dem man auch nicht weiss, ob es
eingereicht wird.

II. Rechtslage vor Inkrafttreten der Schweizerischen ZPO


564 Das Instrument der Schutzschrift war den kantonalen Prozessordnungen nicht bekannt.838 Berücksichtigung
und Handhabung einer Schutzschrift hingen von der kantonalen Praxis ab. Im Jahr 1993 erklärte das
Bundesgericht Schutzschriften für unzulässig, weil deren Entgegennahme die Gefahr einer
Voreingenommenheit des Richters begründe.839 Dieser Entscheid wurde in der kantonalen Praxis
mehrheitlich ignoriert.
565 Das Handelsgericht Aargau nahm Schutzschriften entgegen, wobei es die Gegenpartei über den Eingang,
nicht aber über den Inhalt der Schutzschrift informierte.840 Das Handelsgericht Bern verlangte für die
Berücksichtigung der Schutzschrift eine Gebühr.841 Das Handelsgericht St. Gallen nahm Schutzschriften
entgegen und stellte sie der Gegenpartei zu.842 Das Handelsgericht Zürich lehnte Schutzschriften zunächst
ab.843 1998 änderte es seine Praxis und berücksichtigte diese alsdann für die Dauer von 6 Monaten. Ein
Exemplar wurde der Gegenpartei zur Kenntnisnahme zugestellt.844 Das Kantonsgericht Luzern lehnte
Schutzschriften zunächst ab. Im Jahr 2003 änderte es seine Praxis. Danach berücksichtigte es
Schutzschriften für die Dauer von 3 Monaten. Ein Exemplar wurde der Gegenpartei zur Kenntnisnahme
zugestellt.845 Die Gerichte der Kantone Appenzell Inner-
183

838 Huber, Schulthess Komm. ZPO, Art. 270 N. 6.


839 BGE 119 Ia 53 E. 4.
840 HGer AG AGVE 2007 vom 11. Juni 2007 E. 4.
841 Lustenberger/Ritscher, AJP 1997, S. 515.
842 GVP SG Nr. 53/2008, S. 161 ff.; GVP SG Nr. 59/2004, S. 192 ff.
843 ZR Nr. 82/1983, S. 289 ff.
844 ZR Nr. 96/1997, S. 123 ff.
845 KGer LU 01 03 4 (LGVE I Nr. 28/2003) vom 3. September 2003 E. 3.

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rhoden, Appenzell Ausserrhoden, Basel-Landschaft, Glarus, Nidwalden, Schaffhausen, Schwyz, Thurgau


und Uri nahmen Schutzschriften entgegen, ohne formell darauf zu reagieren. Das bedeutete jedoch nicht,
dass sie nicht berücksichtigt wurden.846 In Basel-Stadt wurde dem Hinterleger mitgeteilt, dass man sich
bemühen werde, die Schutzschrift zu beachten, jedoch leistete man dafür keine Garantie.847 Die
Kantonsgerichte Zug und Obwalden lehnten Schutzschriften ab und retournierten diese an den
Absender.848

III. Anwendungsbereich
566 Die Schutzschrift kann zur Verteidigung gegen jede Anordnung eingesetzt werden, die ohne vorgängige
Anhörung der Gegenpartei ergeht. Als Beispiel zu nennen sind superprovisorische Massnahmen (Art. 265
ZPO), die superprovisorische Gewährung oder der superprovisorische Entzug der aufschiebenden Wirkung
eines Rechtsmittels,849 der Arrest, oder die Aufnahme eines Güterverzeichnisses (Art. 162 SchKG).850
567 Eine Schutzschrift gegen die Ausstellung einer Vollstreckbarkeitsbescheinigung gemäss Art. 336 Abs. 2 ZPO
ist ausgeschlossen. Der Grund liegt darin, dass es sich nicht um eine gerichtliche Verfügung, sondern nur
um ein Beweismittel bzw. eine öffentliche Urkunde handelt.851 Der Einwand der fehlenden Vollstreckbarkeit
ist im Vollstreckungsverfahren geltend zu machen. Gegen eine superprovisorische Sicherungsmassnahme
nach Art. 340 ZPO kann man sich mittels einer Schutzschrift zur Wehr setzen.
568 Im Geltungsbereich des Lugano-Übereinkommens 1988 prüft das Gericht die Vollstreckbarkeit eines
ausländischen Entscheids vor erster Instanz von Amtes wegen und ohne Anhörung des Gesuchsgegners
(aArt. 34 LugÜ). Das rechtliche Gehör wird erst im Rechtsmittelverfahren gewährt. Mittels Schutzschrift kann
sich der Gesuchsgegner schon vorher Gehör verschaffen.852
569 Unter dem revidierten Lugano-Übereinkommen 2007 wird der ausländische Entscheid vor erster Instanz
ohne Anhörung des Gesuchsgegners für vollstreckbar erklärt, wenn die in Art. 53 LugÜ vorgesehenen
Förmlichkeiten erfüllt sind (Art. 41 LugÜ). Eine Prüfung der Vollstreckbarkeitsvoraussetzungen erfolgt nur
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auf Intervention des Gesuchsgegners in einem allfälligen Rechtsmittelverfahren. Die Bestreitung der
materiellen Verweigerungsgründe mittels Schutzschrift ist daher zwecklos.853 Der Gesuchsgegner kann
aber immerhin gelten machen, dass die Förmlichkeiten nach Art. 53 LugÜ nicht erfüllt sind.854

IV. Aktivlegitimation
570 Zur Hinterlegung einer Schutzschrift ist jeder legitimiert, der Grund zur Annahme hat, dass gegen ihn eine
Massnahme mit superprovisorischem Charakter beantragt werden könnte.855
571 Bei einer notwendigen Streitgenossenschaft kann jeder Streitgenosse allein eine Schutzschrift hinterlegen,
weil es sich nicht um eine Klage, sondern um eine präventive Stellungnahme handelt (vgl. Art. 70 Abs. 2
ZPO).856
572 Umstritten ist, ob der Nebenintervenient berechtigt ist, eine Schutzschrift einzureichen.857 Die
Nebenintervention setzt ein rechtliches Interesse, einen rechtshängigen Prozess sowie ein Gesuch um
Nebenintervention voraus (Art. 74 ZPO). Über die Zulassung zum Verfahren entscheidet das Gericht nach
Anhörung beider Parteien (Art. 75 Abs. 2 ZPO). Solange die Hauptsache nicht rechtshängig ist und der

846 Huber, Schulthess Komm. ZPO, Art. 270 N. 7.


847 Lustenberger/Ritscher, AJP 1997, S. 515.
848 Lustenberger/Ritscher, AJP 1997, S. 516.
849 Huber, Schulthess Komm. ZPO, Art. 270 N. 11.
850 Garbarski/Grieder, Fallstricke in der Praxis, S. 2.
851 OGer ZH LB150023-O/U vom 22. Mai 2015 E. 2.
852 Hess-Blumer, BSK ZPO, Art. 270 N. 9.
853 Botschaft, revidiertes LugÜ, S. 1812.
854 Hofmann/Kunz, Basler Komm. LugÜ, Art. 41 N. 54; Staehelin/Bopp, SHK LugÜ, Art. 41 N. 2.
855 Kofmel Ehrenzeller, Kurzkomm. ZPO, Art. 270 N. 5.
856 Bohnet, CR CPC, Art. 270 N. 10; Hess-Blumer, BSK ZPO, Art. 270 N. 14; Sutter-Somm/Seiler, Handkomm. ZPO,
Art. 270 N. 1.
857 Bejahend: Hess-Blumer, BSK ZPO, Art. 270 N. 15; Huber, Schulthess Komm. ZPO, Art. 270 N. 14a; Verneinend:
OGer ZH RU170045-O/U vom 20. Oktober 2017 E. 3.4; Pfaffhauser, sic! 2011, S. 568.

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Nebenintervenient nicht zum Verfahren zugelassen wurde, ist er nicht berechtigt, eine Schutzschrift zu
hinterlegen.858
Dritte, denen ein Rechtsbehelf gegen die befürchtete Anordnung zusteht, sind zur Einreichung einer
Schutzschrift legitimiert. Zu denken ist z.B. an den Eigentümer, der Grund zur Annahme hat, dass sein
Vermögen irrtümlich als dem Schuldner zugehörig verarrestiert werden könnte (vgl. Art. 278 Abs. 1 SchKG ).
185

V. Inhalt der Schutzschrift


574 Der Inhalt der Schutzschrift bestimmt sich nach Art. 221 ZPO.859 Anzugeben sind der Hinterleger, die
potenzielle Gegenpartei, sowie allfällige Vertreter (Art. 221 Abs. 1 lit. a ZPO). Die Schutzschrift kann auch
gegen mehrere Personen gerichtet werden, z.B. gegen die Aktionäre oder Gläubiger einer AG.860 Zulässig
ist eine Schutzschrift ferner gegen eine unbekannte Person. Unbekannt kann z.B. ein exklusiver
Lizenznehmer sein, der unabhängig von der Eintragung der Lizenz ins Register zur Klage legitimiert ist (Art.
75 PatG, Art. 62 Abs. 3 URG , Art. 35 Abs. 4 DesG , Art. 55 Abs. 4 MSchG ).861
575 Die Schutzschrift muss weiter die Rechtsbegehren enthalten (Art. 221 lit. b ZPO). Auch ein Streitwert sollte
angegeben werden (Art. 221 Abs. 1 lit. c). Der Streitwert kann für das Festsetzen der Hinterlegungsgebühr
oder zur Bestimmung des Rechtsmittels bei einer allfälligen Rückweisung der Schutzschrift relevant sein. Die
Schutzschrift muss die Tatsachenbehauptungen enthalten (Art. 221 Abs. 1 lit. e ZPO). Sie ist zu datieren und
zu unterzeichnen (Art. 221 Abs. 1 lit. f ZPO). Eine allfällige Vollmacht, die Beweismittel sowie das
Beweismittelverzeichnis sind beizulegen (Art. 221 Abs. 2 lit. a–d ZPO).
576 Der Hinterleger der Schutzschrift kann alles vorbringen, was geeignet ist, die befürchtete Massnahme
abzuwenden. Er kann z.B. geltend machen, dass es an der Zuständigkeit oder an den Voraussetzungen für
den Erlass der Massnahme fehlt. Denkbar ist ferner, dass der Hinterleger eine Sicherheit im Sinne von Art.
261 Abs. 2 ZPO offeriert. Mit der Schutzschrift kann aber auch der bei Anordnung der Massnahme drohende
Schaden substanziiert und eine Sicherheit beantragt werden (Art. 265 Abs. 3 ZPO, Art. 273 Abs. 1 SchKG).
Die Schutzschrift kann schliesslich dazu genutzt werden, präventiv die Einrede der Verjährung zu erheben,
zumal diese nicht von Amtes wegen beachtet wird (Art. 142 OR).

VI. Ergänzung der Schutzschrift


577 Die Schutzschrift kann ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie aktuell ist. Gemäss dem Bundespatentgericht
bedingt die Ergänzung der Schutzschrift, dass echte Noven oder unechte Noven, die trotz zumutbarer
Sorgfalt nicht schon früher vorgebracht
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werden konnten, vorliegen.862 Meines Erachtens ist eine Ergänzung der Schutzschrift voraussetzungslos
möglich, kann aber gegebenenfalls Kostenfolgen zeitigen.

VII. Aufbewahrungsdauer
578 Die Schutzschrift ist während 6 Monaten aufzubewahren (Art. 270 Abs. 3 ZPO). Mangels einer anderen
Anordnung beginnt die Frist mit Eingang der Schutzschrift beim Gericht, weil sie ab diesem Zeitpunkt
erstmals berücksichtigt werden kann. Während der Gerichtsferien steht die Frist nicht still (Art. 145 Abs. 2 lit.
b ZPO). Nach Ablauf der Frist kann eine neue Schutzschrift eingereicht oder die bestehende Schutzschrift
verlängert werden. Die Gerichte werden dafür in der Regel erneut eine Gebühr erheben. Wird keine
Verlängerung der Schutzschrift verlangt, kann das Gericht diese nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist an den
Hinterleger retournieren oder vernichten.863

858 OGer ZH RU170045-O/U vom 20. Oktober 2017 E. 3.4.


859 Hess-Blumer, BSK ZPO, Art. 270 N. 12; Sutter-Somm/Seiler, Handkomm. ZPO, Art. 270 N. 3; Garbarski/Grieder,
Fallstricke in der Praxis, S. 10.
860 Garbarski/Grieder, Fallstricke in der Praxis, S. 13.
861 BPatGer D2012_019 vom 27. August 2012 E. 1.
862 BPatGer D2015_035 vom 9. Februar 2016 E. 4.
863 Bericht VE-ZPO 2003 S. 135; Botschaft ZPO 2006, S. 7358; Bohnet, CR CPC, Art. 270 N. 16; Hess-Blumer, BSK
ZPO, Art. 270 N. 33; Sutter-Somm/Seiler, Handkomm. ZPO, Art. 270 N. 6.

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VIII. Verfahren
1. Zuständigkeit
579 Die Schutzschrift ist bei jenem Gericht einzureichen, das für die Anordnung der befürchteten Massnahme
zuständig ist. Bestehen alternative Gerichtsstände, empfiehlt es sich, die Schutzschrift bei allen in frage
kommenden Gerichten zu hinterlegen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Schutzschrift ihren
Zweck erfüllt. Die Taktik stösst an ihre Grenzen, wenn eine Vielzahl von Gerichtsständen besteht. Das ist
z.B. der Fall, wenn sich eine unerlaubte Handlung in der ganzen Schweiz auswirkt (Art. 13 lit. a ZPO i.V.m.
Art. 36 ZPO). In Deutschland wurde für derartige Situationen ein zentrales Schutzschriftenregister
geschaffen, auf das alle Gerichte zugreifen können (§ 945a ZPO DE). In der Schweiz existiert ein solches
Register nicht.864

2. Prüfung der Schutzschrift


580 Wer eine Schutzschrift einreicht, muss darlegen, dass Grund zur Annahme besteht, dass eine Massnahme
mit superprovisorischem Charakter beantragt werden könnte (Art. 270 Abs. 1 ZPO). Der bevorstehende
Angriff muss nicht glaubhaft
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gemacht werden. Es genügt, wenn die Einleitung des befürchteten Verfahrens plausibel erscheint.
Andernfalls ist auf das Gesuch mangels eines schutzwürdigen Interesses nicht einzutreten (Art. 253 ZPO
i.V.m. Art. 59 Abs. 2 lit. a ZPO). Gleiches gilt, wenn das angerufene Gericht für den Erlass der befürchteten
Massnahme offensichtlich nicht zuständig ist.865
581 Leidet die Schutzschrift an formellen Mängeln, fehlt z.B. eine Unterschrift oder eine Vollmacht, ist sie zur
Verbesserung zurückzuweisen (Art. 132 Abs. 1 ZPO). Keine Rückweisung ist geboten, wenn die
Schutzschrift nicht genügend substanziiert oder die behaupteten Tatsachen nicht belegt sind. In diesem Fall
verfehlt die Schutzschrift jedoch ihren Zweck.866

3. Entgegennahme der Schutzschrift


582 In der Regel eröffnen die Gerichte für jede Schutzschrift ein separates Verfahren mit eigener
Verfahrensnummer.867 Bei Eingang des superprovisorischen Verfahrens kann im System so rasch geprüft
werden, ob eine Schutzschrift vorliegt.
583 In der Regel werden Schutzschriften vor Rechtshängigkeit der Hauptsache hinterlegt. Sie können aber auch
nach Rechtshängigkeit der Hauptsache noch eingereicht werden. Damit der Gesuchsteller im Falle eines
Akteneinsichtsbegehrens keine Kenntnis von der Schutzschrift erhält, ist ein separates Dossier
anzulegen.868 Die Entgegennahme der Schutzschrift ist zu bestätigen.869 Es empfiehlt sich, in der
Verfügung das Datum anzugeben, bis zu dem die Schutzschrift berücksichtigt wird.

4. Mitteilung der Schutzschrift


584 Die Gegenpartei ist vor Einleitung des Massnahmeverfahrens über die Schutzschrift nicht zu informieren
(Art. 270 Abs. 2 ZPO). Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Existenz der Schutzschrift ist geheimzuhalten.
Andernfalls bestände die
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Gefahr, dass das Massnahmeverfahren zwecks Umgehung der Schutzschrift bei einem anderen Gericht
eingeleitet wird.870

864 Garbarski/Grieder, Fallstricke in der Praxis, S. 14.


865 Hess-Blumer, BSK ZPO, Art. 270 N. 19; a. M. Kofmel Ehrenzeller, Kurzkomm. ZPO, Art. 270 N. 7, wonach das
Gericht seine Zuständigkeit erst bei Eingang des befürchteten Gesuchs prüft.
866 Garbarski/Grieder, Fallstricke in der Praxis, S. 10.Hess-Blumer, BSK ZPO, Art. 270 N. 24.
867 Garbarski/Grieder, Fallstricke in der Praxis, S. 20; Hess-Blumer, BSK ZPO, Art. 270 N. 38.
868 OGer ZH PF160045-O/U vom 19. Januar 2017 E. 2.2.
869 OGer ZH PF 110031-O/U vom 18. Januar 2011 E. 5.
870 Hess-Blumer, BSK ZPO, Art. 270 N. 32.

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585 Wird das Massnahmeverfahren eingeleitet, ist die Schutzschrift der Gegenpartei als Ausfluss der
Waffengleichheit erst nach dem superprovisorischen Entscheid zuzustellen.871 Im Verfahren auf Erlass
vorsorglicher Massnahmen nach Art. 261 ff. ZPO kann die Zustellung mit dem superprovisorischen
Entscheid oder mit der Gesuchsantwort erfolgen. Um sich überschneidende Eingaben zu verhindern, ist in
der Regel Letzteres vorzuziehen. Beim Arrest (Art. 271 ff. SchKG) gibt es nur auf Initiative der Parteien ein
Bestätigungsverfahren. Wird der Arrest abgewiesen, kann der Gesuchsteller das rechtliche Gehör zur
Schutzschrift nur nachholen, wenn er ein Rechtsmittel ergreift.

5. Prozesskosten
A. Gerichtskosten
586 Für die Aufbewahrung der Schutzschrift kann eine Gebühr erhoben werden. Deren Höhe bestimmt das
kantonale Recht (Art. 96 ZPO). Bei der Bemessung der Gebühr ist das Äquivalenz- und
Kostendeckungsprinzip zu beachten.
587 Umstritten ist, ob die Gebühr bei Einleitung des Massnahmeverfahrens neu verlegt werden kann.872 Das
Handelsgericht Zürich lehnt dies ab, weil das Aufbewahren der Schutzschrift einzig im Interesse des
Hinterlegers erfolgt.873 Meines Erachtens ist eine Neuverlegung der Gebühr möglich. Wer ein vorsorgliches
Verfahren einleitet, obwohl die entsprechenden Voraussetzungen nicht erfüllt sind, soll auch die Kosten für
die Abwehr der Massnahme tragen. In der Praxis wird die Gebühr für die Aufbewahrung der Schutzschrift in
der Regel mittels Verfügung festgesetzt. Um die Kosten im Massnahmeverfahren neu verlegen zu können,
sollte das Gericht in der Verfügung einen entsprechenden Vorbehalt anbringen. 874 Fehlt es an
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einem Vorbehalt, kann die Neuverlegung der Kosten im Massnahmeverfahren in analoger Anwendung von
Art. 268 Abs. 1 ZPO erfolgen.
588 Die Neuverlegung der Kosten setzt voraus, dass die Schutzschrift berücksichtigt wird.875 Daran fehlt es,
wenn der Gesuchsteller nur einen vorsorglichen, nicht aber einen superprovisorischen Antrag stellt.
589 Bei Gutheissung des Gesuchs sind die Gerichtskosten des Massnahmeverfahrens inkl. jener für die
Aufbewahrung der Schutzschrift einstweilen dem Gesuchsteller aufzuerlegen, unter Vorbehalt einer anderen
Anordnung in der Hauptsache.876 Gibt es kein Hauptsacheverfahren (z.B. bei einem Arrest nach Art. 271
Abs. 1 Ziff. 6 SchKG) sind die Gerichtskosten nach dem Ausgang des Verfahrens zu verteilen. Massgebend
ist dabei nicht der Ausgang des superprovisorischen, sondern des vorsorglichen Entscheids. Wurde die
Schutzschrift mehrmals verlängert, wird man im Massnahmeverfahren in der Regel nur die Gebühr für die
aktuelle Schutzschrift neu verlegen, weil die Befürchtung, dass ein Angriff unmittelbar bevorsteht, mit Blick
auf die früheren Schutzschriften unbegründet war. Weist das Gericht die Schutzschrift zurück und erhebt es
trotzdem eine Bearbeitungsgebühr, trägt der Hinterleger die Kosten definitiv.877

B. Parteientschädigung
590 Mit Eingang des superprovisorischen Gesuchs mutiert die Schutzschrift zu einer Rechtsschrift des
Massnahmeverfahrens, weshalb der Hinterleger den Aufwand für die Schutzschrift im Massnahmeverfahren
als Parteientschädigung geltend machen kann.878 Wird das Massnahmeverfahren gutgeheissen, ist dem
Gesuchsgegner unter der Bedingung eine Parteientschädigung zuzusprechen, dass die Hauptsache nicht

871 Botschaft ZPO 2006, S. 7358; HGer AG AGVE 2007 vom 11. Juni 2007 E. 4.2; Huber, Schulthess Komm. ZPO, Art.
270 N. 16; Kofmel Ehrenzeller, Kurzkomm. ZPO, Art. 270 N. 8; Sutter-Somm/Seiler, Handkomm. ZPO, Art. 270 N. 5.
872 Verneinend: HGer ZH HE180060-O vom 24. April 2018 E. 6.3 (weil das Aufbewahren der Schutzschrift einzig im
Interesse des Hinterlegers erfolge); bejahend: OGer ZH RV220007 vom 4. Oktober 2022 E. 1.6.4; KGer GR ZK2 20
27 vom 20. Oktober 2020 E. 8.1.
873 HGer ZH HE180060-O vom 24. April 2018 E. 6.3.
874 Diese Ansicht entspricht der Praxis des Bezirksgerichts Zürich: siehe Garbarski/Grieder, Fallstricke in der Praxis, S.
23.
875 KGer GR ZK2 20 27 vom 20. Oktober 2020 E. 8.1.
876 Bezüglich Verlegung der Prozesskosten im Massnahmeverfahren siehe N. 410 ff.
877 OGer ZH LF190013-O/U vom 21. März 2019 E. 3.3.3.
878 KGer GB ZK1 16 5 vom 25. April 2016 E. II/3; OGer ZH RV220007 vom 4. Oktober 2022 E. 1.6.4.

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rechtzeitig prosequiert wird. Gibt es kein Hauptsacheverfahren, sind die Kosten nach dem Ausgang des
Verfahrens zu verteilen.879
591 Umstritten ist, ob der Gesuchsgegner den Aufwand für die Schutzschrift geltend machen kann, wenn das
Massnahmeverfahren nicht kontradiktorisch geführt wird (z.B. die Anordnung des Arrests).880 Meines
Erachtens ist dies zu bejahen. Wird
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der Gesuchsgegner nicht angehört, empfiehlt es sich, die Kostennote mit der Schutzschrift einzureichen.

6. Rechtsmittel
592 Verweigert das Gericht die Entgegennahme der Schutzschrift, kann der Entscheid abhängig vom Streitwert
mit Berufung oder Beschwerde angefochten werden.881 Wird nur die Höhe der Gebühr für die Aufbewahrung
der Schutzschrift beanstandet, steht die Beschwerde offen (Art. 110 ZPO). Der Entscheid der oberen
kantonalen Instanz kann mit Beschwerde in Zivilsachen oder subsidiärer Verfassungsbeschwerde ans
Bundesgericht weitergezogen werden, sofern ein nicht wiedergutzumachender Nachteil droht (Art. 93 Abs. 1
BGG).

IX. Schutzschrift auf Bundesebene


593 Das Bundespatentgericht muss Schutzschriften berücksichtigen, weil das Bundespatentgerichtsgesetz
ergänzend auf die ZPO verweist (Art. 27 PatG). Die II. Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts nimmt
Schutzschriften ungeachtet der fehlenden gesetzlichen Grundlage entgegen.882 Das Bundesgericht geht je
nach Abteilung unterschiedlich mit Schutzschriften um. Einige Abteilungen nehmen Schutzschriften
entgegen. Die II. zivilrechtliche Abteilung tritt auf eine Schutzschrift mangels gesetzlicher Grundlage nicht
ein.883
191

§ 13 Vorsorgliche Massnahmen nach Art. 303 ZPO


I. Einleitung
594 Das Gericht kann im Rahmen einer selbständigen oder mit der Vaterschaftsklage kombinierten
Unterhaltsklage vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 261 ff. ZPO anordnen. Der Beklagte kann
insbesondere verpflichtet werden, Beiträge an den Unterhalt des Kindes zu hinterlegen oder vorläufig zu
zahlen (Art. 303 ZPO). Eine vorläufige Zahlung ist nur kraft gesetzlicher Anordnung zulässig (Art. 262 lit. e
ZPO). Die allgemeinen Bestimmungen nach Art. 261 ff. ZPO werden durch die Art. 303 f. ZPO teilweise
modifiziert.
595 Für eine Hinterlegung oder vorläufige Zahlung ist unerheblich, ob das Kind minderjährig oder volljährig ist
und ob das Kind oder ein Elternteil als Prozessstandschafter klagt.884 Hinterlegung und vorläufige Zahlung
können miteinander kombiniert werden.885

879 Bezüglich Verlegung der Prozesskosten im Massnahmeverfahren siehe N. 410 ff.


880 Bejahend: CJ GE ACJC/506/2022 vom 4. April 2022 E. 2.3.2; verneinend: KGer SZ BEK 2021 90 vom 17. August
2021 E. 8 (Neuverlegung der Kosten beim einseitigen Arrest nicht möglich).
881 OGer ZH RU170045-O/U vom 20. Oktober 2017 E. 2.2; Garbarski/Grieder, Fallstricke für die Praxis, S. 20.
882 BVGer B-6863/2018 vom 6. März 2020 E. 2.3.5.2.
883 BGer 5A_1032/2017 vom 22. Dezember 2017 E. 1 .
884 Moret/Steck, BSK ZPO, Art. 303 N. 11.
885 Moret/Steck, BSK ZPO, Art. 303 N. 22.

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II. Vorsorgliche Unterhaltszahlungen


1. Bei selbständigen Klagen nach Art. 295 ZPO
A. Einleitung
596 Vorsorgliche Unterhaltszahlungen während der Dauer einer selbständigen Klage nach Art. 295 ZPO sind
echte vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 261 ff. ZPO. Die Zahlungen sind in der Hauptsache zu
überprüfen und definitiv festzusetzen.886

B. Voraussetzungen
597 Die Voraussetzungen für den Erlass vorsorglicher Unterhaltszahlungen richten sich kumulativ nach Art. 261
Abs. 1 ZPO und Art. 303 ZPO.
598 Zunächst ist erforderlich, dass das Kindesverhältnis feststeht oder nach Art. 262 ZGB zu vermuten ist (Art.
303 Abs. 1 und Abs. 2 lit. b ZPO ). Ferner muss der
192
Gesuchsteller den Bestand und Umfang des Unterhaltsanspruchs glaubhaft machen.887 Der
Gesuchsgegner ist zur Mitwirkung verpflichtet. Er hat seine finanziellen Verhältnisse offenzulegen. Weigert
er sich, können die Informationen beim Steueramt eingeholt werden (Art. 160 Abs. 1 lit. b ZPO). Allenfalls ist
von einem hypothetischen Einkommen und einem hypothetischen Bedarf auszugehen.
599 Dem Gesuchsteller muss ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil drohen.888 Dieser ergibt sich aus
der Bedürftigkeit des Kindes. Auf die Leistungsfähigkeit des betreuenden Elternteils kommt es nicht an, weil
von diesem nicht erwartet werden kann, den Unterhalt des anderen Elternteils vorzuschiessen.889 Nur bei
guten finanziellen Verhältnissen des Kindes ist von vorsorglichen Unterhaltszahlungen abzusehen. 890

C. Akontocharakter?
600 Gemäss Bundesgericht haben vorsorgliche Unterhaltszahlungen an minderjährige Kinder, deren
Abstammung noch nicht feststeht, sowie an volljährige Kinder Akontocharakter.891 Sie sind in der
Hauptsache rückwirkend zu überprüfen und definitiv festzusetzen. Vorsorgliche Unterhaltszahlungen an
minderjährige Kinder mit bekannter Abstammung sollen demgegenüber definitiv sein.892
601 Meines Erachtens haben vorsorgliche Unterhaltszahlungen nach Art. 261 ff. ZPO, anders als jene nach Art.
276 ZPO, immer Akontocharakter. Das ergibt sich aus ihrer provisorischen Natur. Waren die
Akontozahlungen zu tief, kann der Unterhaltsberechtigte die Differenz nachfordern. Zu hohe Zahlungen
können zurückgefordert (Art. 62 ff. OR)893 oder mit künftigen Unterhaltsforderungen verrechnet werden.
Eine Verrechnung mit künftigem Unterhalt ist nur in dem Umfang möglich, in dem die monatlichen
Unterhaltszahlungen das Existenzminimum übersteigen (vgl. Art. 125 Ziff. 2 OR ).
193

D. Anforderungen an die Unterhaltsberechnung


602 Wegen des Akontocharakters vorsorglicher Unterhaltszahlungen sind die Anforderungen an die Genauigkeit
der Unterhaltsberechnung sowie an die Begründungsdichte des Massnahmeentscheids im Vergleich zum
Hauptsacheentscheid stark herabgesetzt.

886 Umstritten: Siehe N. 600.


887 OGer ZH LZ18000-O/U vom 4. Mai 2018 E. II/5.
888 OGer ZH LZ18000-O/U vom 4. Mai 2018 E. II/5.
889 BGE 117 II 127 E. 4.
890 A. M. Moret/Steck, BSK ZPO, Art. 303 N. 18; Spycher, BK ZPO, Art. 303 N. 13, wonach auch bei guten finanziellen
Verhältnissen der Mutter von vorsorglichen Unterhaltszahlungen abgesehen werden kann.
891 BGE 135 III 238 E. 2 (betreffend vorsorgliche Unterhaltszahlungen an volljährige Kinder); BGE 138 III 333 E. 1.2
(betreffend vorsorgliche Unterhaltszahlungen an minderjährige Kinder mit unbekannter Abstammung).
892 BGE 137 III 586 E. 1.2.
893 Sutter-Somm/Seiler, Handkomm. ZPO, Art. 303 N. 8.

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E. Zeitpunkt der Zusprechung


603 Nach überwiegender Ansicht können vorsorgliche Unterhaltszahlungen rückwirkend bis zu einem Jahr vor
Gesuchseinreichung zugesprochen werden (analog Art. 279 Abs. 1 ZGB).894 Meines Erachtens sind
vorsorgliche Unterhaltszahlungen frühestens ab Gesuchseinreichung anzuordnen, weil es nicht Sinn und
Zweck vorsorglicher Massnahmen ist, Unterhaltsschulden vorsorglich zu tilgen.

F. Superprovisorische Unterhaltszahlungen
604 Superprovisorische Unterhaltszahlungen sind in der Regel abzulehnen, weil es für gewöhnlich zumutbar ist,
eine kurze Frist zur Stellungnahme abzuwarten.895

G. Vorsorgliche Unterhaltsabänderung
605 Beantragt der Gesuchsteller im Zuge einer Abänderungsklage eine vorsorgliche Unterhaltsanpassung, hat er
darzulegen, dass sich die Verhältnisse erheblich und dauerhaft geändert haben, damit eine positive
Hauptsacheprognose ausgestellt werden kann (vgl. Art. 286 Abs. 2 ZGB ).
606 Eine vorsorgliche Herabsetzung des Unterhalts ist geboten, wenn die Zahlung des Unterhalts für die Dauer
des Abänderungsverfahrens nicht mehr zumutbar ist.896 Eine vorsorgliche Erhöhung kommt in Betracht,
wenn im früheren Urteil ein Manko festgestellt wurde.
194

2. Im Eheschutzverfahren
A. Vorsorgliche Unterhaltszahlungen nach Art. 261 ff. ZPO
607 Es ist umstritten, ob das Gericht für die Dauer des Eheschutzverfahrens vorsorgliche Unterhaltszahlungen
nach Art. 261 ff. ZPO anordnen kann. Von der h.L. und der Mehrzahl der kantonalen Gerichte wird dies
bejaht.897 Strittig ist dabei wiederum, ob nur vorsorgliche Kindesunterhalts- (analog Art. 303 ZPO) oder auch
vorsorgliche Ehegattenunterhaltszahlungen zulässig sind.898 Das Obergericht Zürich lehnt vorsorgliche
Unterhaltszahlungen kategorisch ab, weil Geldzahlungen nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen zulässig
seien (Art. 262 lit. e ZPO), für eherechtliche Verfahren eine entsprechende Grundlage fehle und keine
Gesetzeslücke vorliege.899 Das Bundesgericht hat die Frage der Zulässigkeit vorsorglicher
Unterhaltszahlungen im Eheschutzverfahren bisher offengelassen.900
608 Sowohl das Massnahmeverfahren (Art. 261 ff. ZPO) als auch das Eheschutzverfahren sind summarischer
Natur. Beide Verfahren dauern in der Regel gleich lang, weshalb vorsorgliche Unterhaltszahlungen für
gewöhnlich ausser Betracht fallen. Das Eheschutzverfahren kann sich ausnahmsweise jedoch in die Länge
ziehen, z.B. wenn noch ein Gutachten eingeholt wird. Würde man in solchen Fällen vorsorgliche
Unterhaltszahlungen verweigern, liefe dies auf eine Schlechterstellung der Kinder verheirateter Eltern
gegenüber jener unverheirateter hinaus (vgl. Art. 303 ZPO). Auch kann es nicht Sache der Sozialhilfe sein,
den Unterhalt zu bevorschussen, wenn der Gesuchsgegner leistungsfähig ist. Meines Erachtens sind
vorsorgliche Kindes- und Ehegattenunterhaltszahlungen daher zuzulassen.

894 Moret/Steck, BSK ZPO, Art. 303 N. 23; Pfänder Baumann, DIKE Komm. ZPO, Art. 303 N. 6; Schweighauser,
Schulthess Komm. ZPO, Art. 303 N. 24; Spycher, BK ZPO, Art. 303 N. 20; Sutter-Somm/Seiler, Handkomm. ZPO,
Art. 303 N. 3.
895 Zogg, FamPra 2018, S. 85.
896 Vgl. BGE 118 II 228 E. 3b (bezüglich der vorsorglichen Abänderung eines Scheidungsurteils).
897 Kofmel Ehrenzeller, FamPra 2021, S. 33; Moret/Steck, BK ZPO, Art. 303 N. 10a; Spycher, BK ZPO, Art. 271 N. 15;
Zogg, FamPra 2018, S. 84; KGer BL 400 17 353 vom 23. Januar 2018 E. 2; KGer SG FS.2015.22 vom 28.
Dezember 2015 E. 2c; OGer AR ERZ 19 4 (GVP 31/2019 Nr. 3766) vom 27. Mai 2019 E. 1.1.1.
898 Bejahend: Zogg, FamPra 2018, S. 84; verneinend: Kofmel Ehrenzeller, FamPra 2021, S. 33.
899 OGer ZH LE190005-O/U vom 4. März 2019 E. 3.1; LE170002-O/U vom 23. Mai 2017 E. III/B/2; LE160049-O/U vom
1. November 2016 E. 2.3.1; LE130035-O/U vom 24. Mai 2013 E. 4; LE110069-O vom 8. Februar 2012 E. 2.4.2.
900 BGer 5A_212/2012 vom 15. August 2012 E. 2.2.2 .

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B. Befristeter Teilentscheid
609 Gemäss dem Kantonsgericht Graubünden kann das Gericht nicht nur vorsorgliche Unterhaltszahlungen
nach Art. 261 ff. ZPO anordnen, sondern auch einen bis zum Eheschutzentscheid befristeten (definitiven)
Teilentscheid treffen.901 In letzterem
195

Fall sind an die Unterhaltsberechnung und die Begründungsdichte des Urteils die gleichen Anforderungen zu
stellen wie an den Eheschutzentscheid.

C. Rechtsmittel
a. Vorsorgliche Unterhaltszahlungen nach Art. 261 ff. ZPO
610 Gemäss dem Kantonsgericht Graubünden sind Entscheide über vorsorgliche Unterhaltszahlungen im
Eheschutzverfahren, analog superprovisorischen Massnahmen, nicht anfechtbar.902 Nach Ansicht des
Kantonsgerichts Basel-Landschaft steht gegen den Entscheid die Beschwerde offen, sofern ein nicht leicht
wiedergutzumachender Nachteil droht (Art. 319 lit. b Ziff. 2 ZPO).903 Das Bundesgericht stellt vorsorgliche
Massnahmen, die nach Anhörung der Gegenpartei und für die Dauer eines Massnahmeverfahrens nach Art.
261 ff. ZPO ergehen, ordentlichen vorsorglichen Massnahmen gleich.904 Meines Erachtens sind analog
dazu auch vorsorgliche Massnahmen während des Eheschutzverfahrens mit Berufung oder Beschwerde
anfechtbar.
611 Wegen des Akontocharakters vorsorglicher Unterhaltszahlungen nach Art. 261 ff. ZPO ist nur eine grobe
Unterhaltsberechnung vorzunehmen. Ist die Berechnung nicht offensichtlich unrichtig, hat die
Rechtsmittelinstanz den Entscheid zu bestätigen.

b. Befristeter Teilentscheid
612 Ein befristeter Teilentscheid kann mit denselben Rechtsmitteln angefochten werden wie der
Eheschutzentscheid.

3. Im Scheidungsverfahren
A. Vorsorgliche Unterhaltszahlungen nach Art. 276 ZPO
a. Einleitung
613 Für die Dauer des Scheidungsverfahrens können vorsorgliche Massnahmen nach Art. 276 ZPO angeordnet
werden. Das Verfahren entspricht nicht einem Massnahmeverfahren nach Art. 261 ff. ZPO, sondern einem
Eheschutzverfahren während des Scheidungsverfahrens (vgl. Art. 276 Abs. 1 ZPO).905 Vorsorglich
angeordnete
196

Unterhaltszahlungen sind grundsätzlich definitiv. Wird die Scheidungsklage zurückgezogen, fällt das
Massnahmeverfahren nicht dahin.906 Bereits angeordnete Massnahmen gelten weiter, solange das
Getrenntleben nicht aufgehoben oder der Entscheid nicht abgeändert wird (Art. 276 Abs. 1 ZPO i.V.m. Art.
179 ZGB).907

901 KGer GR ZK1 18 150 vom 12. November 2019 E. II/1.6.


902 KGer GR ZK1 18 150 vom 12. November 2019 E. 1.6.
903 KGer BL 400 14 232 vom 29. Oktober 2014 E. 3.
904 BGE 139 III 86 E. 1.1.2.
905 Zogg, FamPra 2018, S. 82.
906 KGer LU 3C 21 11 (LGVE 2021 II Nr. 7) vom 3. September 2021 E. 4.1.
907 BGE 137 III 614 E. 3.

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b. Voraussetzungen
614 Die Voraussetzungen für vorsorgliche Unterhaltszahlungen im Scheidungsverfahren richten sich nach den
Bestimmungen zum Schutz der ehelichen Gemeinschaft (Art. 276 Abs. 1 ZPO). Der Gesuchsteller muss
glaubhaft machen, dass der gemeinsame Haushalt aufgehoben wurde und der Gesuchsgegner
leistungsfähig ist (Art. 276 Abs. 1 ZPO i.V.m. Art. 176 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB). Der Nachweis eines nicht leicht
wiedergutzumachenden Nachteils oder einer zeitlichen Dringlichkeit ist nicht erforderlich.908

c. Akontocharakter?
i. Grundsatz
615 Unterhaltsanordnungen nach Art. 276 ZPO sind grundsätzlich definitiv. Sie können im Scheidungsurteil nicht
mehr überprüft und rückwirkend erhöht oder herabgesetzt werden. Im Scheidungsurteil zugesprochene
Unterhaltsanordnungen treten ab Rechtskraft des Entscheids an die Stelle der vorsorglichen Zahlungen.909
Die Anordnung von Unterhalt ab Rechtshängigkeit der Scheidungsklage ist im Scheidungsurteil nur möglich,
wenn der Unterhalt zuvor nicht in einem Eheschutz- oder vorsorglichen Massnahmeverfahren nach Art. 276
ZPO festgesetzt worden ist.910

ii. Bei einem separaten Entscheid über den Scheidungspunkt


616 Fällt das Gericht über den Scheidungspunkt und die Scheidungsnebenfolgen einen separaten Entscheid,
gelten die vor Teilrechtskraft im Scheidungspunkt in einem
197

Eheschutz- oder vorsorglichen Massnahmeverfahren nach Art. 276 ZPO angeordneten Unterhaltszahlungen
bis zur Teilrechtskraft über die Scheidungsnebenfolgen. 911
617 Das Gericht kann auch nach Teilrechtskraft im Scheidungspunkt noch vorsorgliche Unterhaltszahlungen
anordnen (Art. 276 Abs. 3 ZPO). Im Urteil über die Scheidungsnebenfolgen kann der Unterhalt auf den
Zeitpunkt der Teilrechtskraft im Scheidungspunkt zurückbezogen werden. Das gilt selbst dann, wenn der
Unterhalt zuvor in einem Eheschutz- oder vorsorglichen Massnahmeverfahren nach Art. 276 ZPO festgesetzt
worden ist.912 Wird der Unterhalt ab Teilrechtskraft im Scheidungspunkt neu festgesetzt, erhalten die
vorsorglichen Zahlungen nachträglich provisorischen Charakter. Andernfalls bleiben sie definitiv.
Unterhaltszahlungen nach Teilrechtskraft im Scheidungspunkt bis zur Teilrechtskraft im Unterhaltspunkt
haben demnach eine Art Zwitterfunktion.

B. Vorsorgliche Massnahmen nach Art. 261 ff. ZPO


618 Meines Erachtens ist es zulässig, im Scheidungsverfahren anstelle von vorsorglichen Unterhaltszahlungen
nach Art. 276 ZPO vorsorgliche Unterhaltszahlungen nach Art. 261 ff. ZPO anzuordnen. In diesem Fall ist
der Unterhalt im Scheidungsurteil rückwirkend zu überprüfen. Gemäss dem Bundesgericht kann der
Unterhalt im Scheidungsurteil auf den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Klage zurückbezogen werden.913
619 Für die Dauer des Massnahmeverfahrens nach Art. 276 ZPO können vorsorgliche Massnahmen nach Art.
261 ff. ZPO angeordnet werden. Es kann sinngemäss auf die Ausführungen zum Eheschutzverfahren
verwiesen werden (siehe N. 607 f.).

908 Leuenberger/Sutter, FamKomm., Anh. ZPO, Art. 276 N. 4; vgl. auch OGer ZH LY140014 vom 10. Juni 2014 E. 3.2.2;
Zogg, FamPra 2018, S. 51.
909 BGer 5A_807/2018 vom 28. Februar 2019 E. 2.2.2 .
910 BGE 142 III 193 E. 5.3.
911 BGer 5A_40/2014 vom 17. April 2014 E. 4.2 .
912 BGE 142 III 193 E. 5.3; 128 III 121 E. 3b/bb und c/aa; BGer 5A_807/2018 vom 28. Februar 2019 E. 2.2.2;
5A_956/2015 vom 7. September 2016 E. 7.2 .
913 BGE 142 III 193 E. 5.3.

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4. Im Scheidungsabänderungsverfahren
A. Voraussetzungen
620 Für die Dauer des Scheidungsabänderungsverfahrens kann der Unterhalt vorsorglich angepasst werden.914
Die Voraussetzungen für eine vorsorgliche Abänderung richten sich nach Art. 261 ff. ZPO. Der Gesuchsteller
muss glaubhaft machen, dass sich die Verhältnisse erheblich und dauerhaft geändert haben, ein nicht leicht
198

wiedergutzumachender Nachteil droht, und zeitliche Dringlichkeit besteht (Art. 261 Abs. 1 ZPO, Art. 129 Abs.
1 ZGB, Art. 286 Abs. 2 ZGB ).915

B. Akontocharakter?
621 Die vorsorgliche Unterhaltsabänderung ist provisorischer Natur.916 Der Grund liegt darin, dass das
rechtskräftige Scheidungsurteil nicht mit einer vorsorglichen Massnahme definitiv abgeändert werden kann.
Wird die Abänderungsklage zurückgezogen oder darauf nicht eingetreten, gelten die Anordnungen des
Scheidungsurteils und nicht jene des Massnahmeentscheids.

III. Prozesskostenvorschuss
1. Bei selbständigen Klagen nach Art. 295 ZPO
622 Kinder verfügen in der Regel nicht über die finanziellen Mittel, um ihren Unterhaltsanspruch gerichtlich
durchzusetzen. Um das Verfahren zu finanzieren, können sie von ihren Eltern mittels vorsorglicher
Massnahmen nach Art. 261 ff. ZPO einen Prozesskostenvorschuss verlangen.917 Die Pflicht zur Leistung
eines Prozesskostenvorschusses wird aus der familienrechtlichen Beistands- und Unterhaltspflicht abgeleitet
(Art. 272 ZGB, Art. 286 ZGB).918 Der Vorschuss ist von den Eltern nicht im Verhältnis ihrer
Leistungsfähigkeit zu tragen,919 sondern dem Beklagten nach Massgabe des mutmasslichen Unterliegens
aufzuerlegen (analog Art. 106 Abs. 2 ZPO). Das Gericht kann den Beklagten einstweilen auch die gesamten
Kosten vorschiessen lassen (analog Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO). Der Anspruch auf Leistung eines
Prozesskostenvorschusses geht der unentgeltlichen Rechtspflege vor.920
623 Die Voraussetzungen für die Leistung eines Prozesskostenvorschusses richten sich nach Art. 261 Abs. 1
ZPO und Art. 303 ZPO.921 Das Kind muss den Bestand und Umfang des Unterhaltsanspruchs glaubhaft
machen. Die Eltern sind zur Mitwirkung verpflichtet und haben ihre finanziellen Verhältnisse offenzulegen
(Art. 160 ZPO). Das Kindesverhältnis muss feststehen oder zu vermuten sein (Art. 303
199

Abs. 1 und Abs. 2 lit. b ZPO). Ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil ist zu bejahen, wenn das Kind
den Prozess nicht selbst finanzieren kann und ihm deshalb ein Rechtsverlust droht.922
624 Der Prozesskostenvorschuss ist nicht dem Gericht, sondern dem Kind bzw. dessen Vertreter zu
überweisen.923 Wird er nicht bezahlt, kann er in Betreibung gesetzt werden.924 Die gerichtliche Anordnung
berechtigt zur definitiven Rechtsöffnung (Art. 80 Abs. 1 SchKG). Im Hauptsacheentscheid sind die
Prozesskosten definitiv festzusetzen und nach Massgabe des Obsiegens und Unterliegens zu verteilen (Art.

914 BGE 118 II 228 E. 3b.


915 Vgl. BGer 5P.101/2005 vom 12. August 2005 E. 3 ; Leuenberger/Sutter, FamKomm., Anh. ZPO, Art. 276 N. 5.
916 Zogg, FamPra 2018, S. 90 f.
917 BGer 5A_217/2018 vom 7. Juni 2018 E. 1.1; 5D_111/2015 vom 6. Oktober 2015 E. 1.2; 5P.184/2005 vom 18. Juli
2005 E. 1.3.
918 Vgl. BGer 5A_648/2017 vom 22. Januar 2018 E. 4.3.1 .
919 A. M. Bittel/Minnig, ZBJV 2021, S. 313.
920 BGE 127 I 202 E. 3b; 119 Ia 134 E. 4; BGer 5A_362/2017 vom 24. Oktober 2017 E. 3 .
921 BGer 5D_111/2015 vom 6. Oktober 2015 E. 1.2 .
922 Bittel/Minnig, ZBJV 2021, S. 297.
923 BGer 5A_568/2020 vom 13. September 2021 E. 3.1 .
924 BGer 5A_568/2020 vom 13. September 2021 E. 3.2 .

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106 Abs. 2 ZPO). In familienrechtlichen Verfahren können sie auch nach Ermessen verlegt werden (Art. 107
Abs. 1 lit. c ZPO). Soweit der Prozesskostenvorschuss die vom Beklagten zu zahlenden Gerichtskosten inkl.
Parteientschädigung übersteigt, steht ihm eine Rückforderung zu.925 Über die Rückforderung entscheidet
das Gericht anlässlich der Liquidation der Prozesskosten von Amtes wegen (Art. 296 ZPO). Anwaltskosten
des Kindes, welche durch die erhaltene Parteientschädigung nicht gedeckt sind, hat das Kind zu tragen.926

2. Im Eheschutzverfahren
625 Ehegatten sind sich gegenseitig zum Beistand verpflichtet (Art. 159 Abs. 3 ZGB, Art. 163 ZGB).927 Verfügt
ein Ehegatte nicht über die erforderlichen Mittel, um einen Prozess zu finanzieren, und ist sein Partner
leistungsfähig, kann er von diesem einen Prozesskostenvorschuss verlangen.928 Der
Prozesskostenvorschuss geht der unentgeltlichen Rechtspflege vor. 929 Er dient der Durchsetzung des
Hauptsacheanspruchs und ist daher als vorsorgliche Massnahme im Sinne von Art. 261 ff. ZPO zu
qualifizieren.
626 Die Mehrzahl der kantonalen Gerichte lässt vorsorgliche Unterhaltszahlungen nach Art. 261 ff. ZPO sowie
Prozesskostenvorschüsse im bzw. für das Eheschutzverfahren zu.930 Das Obergericht Zürich lehnt
vorsorgliche Zahlungen demgegenüber ab, weil diese nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen zulässig
seien
200

(Art. 262 lit. e ZPO), eine entsprechende Grundlage aber fehle und nicht von einer Gesetzeslücke
auszugehen sei.931 Den Antrag auf Leistung eines Prozesskostenvorschusses nimmt es als Antrag auf
Leistung eines «Prozesskostenbeitrags» im Endentscheid entgegen. Rechtlich kann es sich dabei nur um
einen Antrag handeln, die Prozesskosten nach Ermessen und unabhängig vom Ausgang des Verfahrens
dem Gesuchsgegner aufzuerlegen (Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO). Wird ein Prozesskostenvorschuss von einer
rechtskundigen Partei als vorsorgliche Massnahme beantragt, treten die zürcherischen Gerichte auf das
Begehren nicht ein.932
627 Ein Antrag auf Leistung eines Prozesskostenvorschusses im Eheschutzverfahren ist in der Regel nicht
praktikabel, weil das Eheschutzverfahren üblicherweise nicht länger dauert als das Massnahmeverfahren.
Der Prozesskostenvorschuss könnte daher meist erst nach Abschluss des Eheschutzverfahrens erhältlich
gemacht werden. Zieht sich das Eheschutzverfahren in die Länge, z.B. weil noch ein Gutachten eingeholt
wird, und kommt die Anordnung eines Prozesskostenvorschusses ausnahmsweise in Betracht, hat der
Gesuchsteller den Unterhaltsanspruch, einen nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteil, sowie die
zeitliche Dringlichkeit glaubhaft zu machen (Art. 261 Abs. 1 ZPO ).
628 Spricht das Gericht einen Prozesskostenvorschuss zu, entscheidet es im Zuge der Liquidation der
Prozesskosten über die Rückzahlung eines zu viel bezahlten Betrags.933 Die Rückforderung kann mit
Unterhaltsforderungen verrechnet werden, soweit die monatlichen Zahlungen das Existenzminimum
übersteigen (Art. 125 Ziff. 2 OR). Alternativ kann die Rückforderung bei der güterrechtlichen
Auseinandersetzung im Scheidungsverfahren berücksichtigt werden.934

925 Vgl. BGE 146 III 203 E. 6.3.


926 Vgl. BGer 5A_442/2016, 5A_443/2016 vom 7. Februar 2017 E. 7.2.
927 BGer 5A_648/2017 vom 22. Januar 2018 E. 4.3.1 .
928 BGer 5A_648/2017 vom 22. Januar 2018 E. 4.3.1 .
929 BGer 5A_497/2018 vom 26. September 2018 E. 3.1 .
930 Betreffend Unterhalt: KGer BL 400 17 353 vom 23. Januar 2018 E. 2; KGer SG FS.2015.22 vom 28. Dezember 2015
E. 2c; OGer AR ERZ 19 4 (GVP 31/2019, Nr. 3766) vom 27. Mai 2019 E. 1.1.1; betreffend Prozesskostenvorschuss:
KGer BL 400 20 293 vom 25. März 2021 E. 7; KGer SZ ZK2 2012 55 vom 27. November 2012 E. 4a.
931 OGer ZH LE190005-O/U vom 4. März 2019 E. 3.1.
932 OGer ZH LE130048 vom 21. Oktober 2013 E. 5.
933 BGE 146 III 203 E. 6.3.
934 BGE 146 III 203 E. 6.3.

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3. Im Scheidungsverfahren
629 Für das Scheidungsverfahren kann ein Prozesskostenvorschuss auf dem Weg einer vorsorglichen
Massnahme nach Art. 276 ZPO beantragt werden.935 Gemäss dem Bundesgericht sind vorsorgliche
Unterhaltszahlungen nach Art. 276 ZPO definitiver Natur, weshalb es den Entscheid als Endentscheid
qualifiziert.936 Der Ent-
201
scheid über den Prozesskostenvorschuss hat demgegenüber provisorischen Charakter.937 Über die
definitive Höhe und Verteilung der Prozesskosten ist erst im Scheidungsurteil zu befinden. Entsprechend
müsste der Entscheid, analog einer vorsorglichen Massnahme nach Art. 261 ff. ZPO, als Zwischenentscheid
im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG qualifiziert werden.938 Gemäss dem Bundesgericht handelt es sich
jedoch um einen Endentscheid (Art. 90 BGG).939

IV. Hinterlegung von Unterhaltszahlungen


630 Steht das Kindesverhältnis fest, oder wird die Unterhaltsklage zusammen mit der Vaterschaftsklage
eingereicht, und ist die Vaterschaft glaubhaft, kann der Beklagte verpflichtet werden, die Entbindungskosten
sowie angemessene Beiträge an den Unterhalt von Mutter und Kind zu hinterlegen (Art. 303 Abs. 1 und Abs.
2 lit. a ZPO).
631 Die Mutter hat Anspruch auf Unterhalt während mindestens 4 Wochen vor und mindestens 8 Wochen nach
der Geburt (Art. 295 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB). Sicherzustellen sind die Lebenshaltungskosten der Mutter, nicht der
Erwerbsausfall.940 Seit der Revision des Kindesunterhaltsrechts vom 1. Januar 2017 sind die
Lebenshaltungskosten der Mutter nach der Geburt durch den Betreuungsunterhalt gedeckt. Leistungen
Dritter, auf welche die Mutter nach Gesetz oder Vertrag Anspruch hat (z.B. Mutterschaftsentschädigung),
sind anzurechnen und vom sicherzustellenden Betrag in Abzug zu bringen (Art. 295 Abs. 3 ZGB ).
632 Die vorsorgliche Hinterlegung setzt voraus, dass dem Gesuchsteller ein nicht leicht wiedergutzumachender
Nachteil droht (Art. 261 Abs. 1 ZPO). Das ist der Fall, wenn der Beklagte Anstalten zur Flucht trifft, sein
Vermögen verschleudert oder beiseiteschafft (analog Art. 292 ZGB). Ordnet das Gericht die Hinterlegung an,
hat es ein Konto zu bezeichnen, auf welches das Geld einbezahlt werden kann und das dem Zugriff der
Parteien entzogen ist.941 Das Geld kann z.B. bei der kantonalen Depositenstelle hinterlegt werden (analog
Art. 9 SchKG).942 Der Kläger ist befugt, jederzeit Auskunft über den Kontostand zu verlangen. Kommt der
Beklagte seiner Hinterlegungspflicht nicht nach, ist es Sache des Klägers, die Forderung durch Betreibung
auf Sicherheitsleistung zu vollstrecken (Art. 38 Abs. 1
202

SchKG).943 Die Hinterlegung kann mit einer Schuldneranweisung kombiniert werden (Art. 262 lit. c ZPO).
So kann der Arbeitgeber des Schuldners z.B. verpflichtet werden, einen Teil des Lohns direkt auf das
Sperrkonto zu überweisen.
633 Das Gericht kann zur Sicherstellung des Unterhaltsanspruchs auch nach Rechtskraft des Entscheids in der
Hauptsache eine Hinterlegung anordnen (Art. 302 Abs. 1 lit. c ZPO). In diesem Fall können aber nur künftige
Unterhaltsbeiträge sichergestellt werden (Art. 132 Abs. 2 ZGB, Art. 292 ZGB). Bereits fällige Forderungen
sind auf dem Betreibungsweg einzuziehen.

935 BGer 5D_30/2013 vom 15. April 2013 E. 2.1 .


936 BGer 5A_928/2016 vom 22. Juni 2017 E. 1.1 .
937 BGE 146 III 203 E. 6.3.
938 Vgl. BGE 144 III 475 E. 1.1.1; 138 III 76 E. 1.2; 137 III 324 E. 1.1 .
939 BGer 5D_30/2013 vom 15. April 2013 E. 1 .
940 Fountoulakis, BSK ZGB, Art. 295 N. 5.
941 Vgl. aArt. 281 Abs. 3 ZGB; Schweighauser, Schulthess Komm. ZPO, Art. 303 N. 18.
942 Stalder/Van De Graaf, Kurzkomm. ZPO, Art. 303 N. 11.
943 Moret/Steck, BSK ZPO, Art. 303 N. 28.

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V. Prozessuales
1. Offizial- und Untersuchungsmaxime
634 Kinderbelange unterstehen der Offizial- und Untersuchungsmaxime. Das Gericht ist an die Parteianträge
nicht gebunden und erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen (Art. 296 ZPO).
Steht das Kindesverhältnis nicht fest, wird die Hinterlegung oder vorläufige Zahlung nur auf Antrag verfügt
(vgl. Art. 303 Abs. 2 ZPO). Umstritten ist, ob dies auch bei feststehendem Kindesverhältnis gilt.944 Meines
Erachtens ist ein Antrag nicht erforderlich, jedoch wird das Gericht in der Regel nicht von sich aus
vorsorgliche Massnahmen anordnen.945 Bezüglich der Wahl der Massnahme besteht keine Bindung an die
Parteianträge.
636 Die Offizial- und Untersuchungsmaxime gelten für alle Verfahrensbeteiligten, also auch zugunsten des
Unterhaltsschuldners.946 Das Gericht hat in der Hauptsache daher von Amtes wegen über die Erstattung
von zu viel bezahlten vorsorglichen Unterhaltszahlungen zu befinden.

2. Zuständigkeit
A. Örtliche Zuständigkeit
637 Über die Hinterlegung, die vorläufige Zahlung, die Auszahlung hinterlegter Beiträge sowie die Rückerstattung
vorläufiger Zahlungen entscheidet das für die Klage zuständige Gericht (Art. 304 Abs. 1 ZPO). Die
Bestimmung geht Art. 13
203

ZPO als Lex specialis vor.947 Eine alternative Zuständigkeit am Vollstreckungsort besteht nicht. Die
Zuständigkeit in der Hauptsache richtet sich nach Art. 25–27 ZPO.948 Über die Auszahlung hinterlegter oder
die Rückzahlung zu viel bezahlter Beiträge entscheidet das Hauptsachegericht mit dem Endentscheid.
638 Das mit der Unterhaltsklage befasste Gericht entscheidet auch über die elterliche Sorge und die weiteren
Kinderbelange (Art. 304 Abs. 2 ZPO). Zu den weiteren Kinderbelangen gehören die Regelung der
Betreuungsanteile und die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen. Sobald die Unterhaltsklage
rechtshängig ist, geht die Entscheidkompetenz von der KESB an das Gericht über.949 Ein bei der KESB
hängiges Verfahren kann nur in Bezug auf Kindesschutzmassnahmen weitergeführt werden (Art. 315a Abs 3
Ziff. 1 ZGB).950

B. Sachliche Zuständigkeit
639 In der Lehre ist umstritten, ob Art. 304 ZPO nur die örtliche oder auch die sachliche Zuständigkeit regelt.951
Die Frage dürfte theoretischer Natur sein, weil die Kantone neben dem ordentlichen Gericht, soweit
ersichtlich, kein alternativ zuständiges Fachgericht für familienrechtliche Angelegenheiten kennen. Wäre dies
aber der Fall, könnte das Massnahmeverfahren nach Rechtshängigkeit der Hauptsache nur noch beim
angerufenen Hauptsachegericht eingeleitet werden. Insofern regelt Art. 304 ZPO auch die sachliche
Zuständigkeit.

944 Bejahend: Pfänder/Baumann, DIKE Komm. ZPO, Art. 303 N. 4; verneinend: Jeandin, CR CPC, Art. 303 N. 5; Sutter-
Somm/Seiler, Handkomm. ZPO, Art. 303 N. 5.
945 Vgl. Sutter-Somm/Seiler, Handkomm. ZPO, Art. 303 N. 3.
946 BGer 5A_899/2019 vom 17. Juni 2020 E. 3.3.2 .
947 Spycher, BK ZPO, Art. 304 N. 4; Stalder/Van De Graaf, Kurzkomm. ZPO, Art. 304 N. 1.
948 Moret/Steck, BSK ZPO, Art. 304 N. 3.
949 BGE 145 III 436 E. 4.
950 KGer SG KES.2022.4-EZE2 vom 20. Juni 2022 E. III/4a.
951 Nur örtliche Zuständigkeit: Schweighauser, Schulthess Komm. ZPO, Art. 304 N. 6; örtliche und sachliche
Zuständigkeit: Pfänder Baumann, DIKE Komm. ZPO, Art. 304 N. 1; Stalder/Van De Graaf, Kurzkomm. ZPO, Art. 304
N. 1; Sutter-Somm/Seiler, Handkomm. ZPO, Art. 304 N. 1.

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C. Funktionelle Zuständigkeit
640 Die Zusammensetzung des Spruchkörpers regelt das kantonale Recht, soweit das Gesetz nichts anderes
bestimmt (Art. 4 ZPO).952 Ist in der Hauptsache ein Kollegium zuständig, kann der Entscheid über
vorsorgliche Massnahmen z.B. an den Vorsitzenden delegiert werden. 953
204

3. Vorsorgliche Massnahmen vor Rechtshängigkeit der Hauptsache


641 Vor Inkrafttreten der ZPO konnte die Hinterlegung oder vorläufige Zahlung von Unterhalt erst nach
Rechtshängigkeit der Hauptsache angeordnet werden (aArt. 281 Abs. 1 ZGB). Eine entsprechende
Einschränkung wurde nicht in die ZPO überführt. Aus den Materialien geht nicht hervor, ob das Erfordernis
der Rechtshängigkeit der Hauptsache bewusst weggelassen oder die Weitergeltung der altrechtlichen
Regelung angestrebt wurde.954 Ein Teil der Lehre und der kantonalen Gerichte lehnt vorsorgliche
Massnahmen nach Art. 303 ZPO vor Rechtshängigkeit der Hauptsache ab.955 Das Bundesgericht hat diese
Auffassung als nicht willkürlich geschützt.956 Ein anderer Teil der Lehre und der kantonalen Gerichte
erachtet vorsorgliche Massnahmen vor Rechtshängigkeit der Hauptsache als zulässig, sofern das
Kindesverhältnis feststeht.957 Weitere Autoren wollen vorprozessuale vorsorgliche Massnahmen offenbar
auch bei nicht feststehendem Kindesverhältnis zulassen.958
642 Mit Inkrafttreten der revidierten ZPO entfällt das Schlichtungsobligatorium bei Klagen über den Unterhalt von
Kindern und weiteren Kinderbelangen (nArt. 198 lit. bbis ZPO).959 Weil die Klage künftig ohne Schlichtung
eingereicht werden kann, fehlt es an einem Bedürfnis nach vorprozessualem Rechtsschutz. Dies gilt umso
mehr, als die Klage sogar ohne Begründung eingereicht werden kann (Art. 295 ZPO i.V.m. Art. 244 Abs. 2
ZPO). Meines Erachtens sind vorprozessuale vorsorgliche Massnahmen daher jedenfalls nach Inkrafttreten
der revidierten ZPO abzulehnen.
205

§ 14 Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse


-In streitigen Zivilsachen können vorsorgliche Massnahmen unabhängig davon angeordnet werden, ob die
Hauptsache dem ordentlichen, dem vereinfachten oder summarischen Verfahren untersteht.
Vorprozessuale vorsorgliche Massnahmen sind nur abzulehnen, wenn sie rechtsmissbräuchlich sind.960
-Das Gericht kann in Ausnahmefällen auch für die Dauer eines summarischen Verfahrens, z.B. im
Eheschutzverfahren oder Massnahmeverfahren nach Art. 261 ff. ZPO, vorsorgliche Massnahmen
anordnen. Sofern die vorsorgliche Massnahme nach Anhörung der Gegenpartei angeordnet wird, handelt
es sich nicht um eine superprovisorische Massnahme. Sie ist daher wie eine ordentliche vorsorgliche
Massnahme anfechtbar.961
-Es ist im Einzelfall zu prüfen, in welchem Verhältnis die erbrechtlichen Sicherungsmassregeln des ZGB
zu den prozessualen vorsorglichen Massnahmen nach Art. 261 ff. ZPO und Art. 271 ff. SchKG stehen.
Üblicherweise handelt es sich bei den erbrechtlichen Sicherungsmassregeln um Angelegenheiten der

952 Berger, BK ZPO, Art. 4 N. 25 ff.


953 Vgl. Moret/Steck, BSK ZPO, Art. 304 N. 5.
954 BGer 5A_1025/2020 vom 30. August 2021 E. 3.3 .
955 KGer FR 101 2012-71 vom 23. April 2012 E. 2; Pfänder Baumann, DIKE Komm. ZPO, Art. 303 N. 3; Stalder/van de
Graf, Kurzkomm. ZPO, Art. 303 N. 3; Zogg, FamPra 2018, S. 95.
956 BGer 5A_1025/2020 vom 30. August 2021 E. 3.3 ; 5A_147/2020 vom 24. August 2020 E. 5.4.3 .
957 KGer VS C1 21 119 vom 9. Juni 2021 E. 3; Schweighauser, Schulthess Komm. ZPO, Art. 303 N. 6; Spycher, BK
ZPO, Art. 303 N. 4.
958 Sutter-Somm/ Seiler, Handkomm. ZPO, Art. 303 N. 5; Moret/Steck, BSK ZPO, Art. 303 N. 7.
959 Botschaft ZPO 2020, S. 2753.
960 Siehe N. 10 und N. 14.
961 Siehe N. 15 ff.

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freiwilligen Gerichtsbarkeit, welche neben den prozessualen vorsorglichen Massnahmen alternativ


anwendbar sind.962
-Im Grundsatz gilt, dass vorsorgliche Massnahmen anzuordnen sind, wenn die Wahrscheinlichkeit des
Bestands des gesuchstellerischen Anspruchs höher ist als 50%. Als Ausfluss des
Verhältnismässigkeitsprinzip kann diese Schwelle ausnahmsweise über- oder unterschritten werden
(variables Beweismass), wenn ein klares Ungleichgewicht zwischen den auf dem Spiel stehenden
Interessen besteht. Im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind neben den
Prozesschancen auch die den Parteien bei Anordnung oder Nichtanordnung der vorsorglichen
Massnahmen drohenden Nachteile, sowie die Wahrscheinlichkeit der Nachteilsverwirklichung. Mit einer
Sicherheitsleistung nach Art. 264 Abs. 1 ZPO kann den Interessen des Gesuchsgegners nur Rechnung
getragen werden, wenn der Schaden voraussichtlich leicht zu beweisen oder zu bemessen ist.963
206

-In der Lehre und Rechtsprechung werden vorsorgliche Feststellungsmassnahmen überwiegend


abgelehnt. Meines Erachtens ist die vorsorgliche Feststellung, wonach eine Tatsachenbehauptung
aufgrund einer summarischen Prüfung unwahr und damit persönlichkeitsverletzend ist, zulässig. Eine
solche Massnahme ist einer vorsorglichen Berichtigung, mit welcher das Medienunternehmen gezwungen
wird, die Tatsachenbehauptung als unwahr zu widerrufen, als mildere Massnahme sogar vorzuziehen. 964
-Superprovisorische Massnahmen werden üblicherweise bei Einleitung des Massnahmeverfahrens
beantragt. Verändert sich die Gefährdungslage während des Verfahrens, kann aber auch später noch um
superprovisorischen Rechtsschutz nachgesucht werden. Erscheint die Aufrechterhaltung der
superprovisorischen Massnahme nach Eingang der Gesuchsantwort bis zum Massnahmeentscheid nicht
mehr zumutbar, kann die Massnahme superprovisorisch aufgehoben werden.965
-Bei besonderer zeitlicher Dringlichkeit kann das Gericht, statt eine superprovisorische Massnahme zu
erlassen, den Gesuchsgegner im Sinne einer milderen Massnahme vorgängig informell anhören (z.B. per
Telefon). Der Entscheid verliert seinen superprovisorischen Charakter dadurch nur, wenn der
Gesuchsgegner genügend Zeit hatte, sich angemessen zu verteidigen, und das unbedingte Replikrecht
gewährt wurde.966
-Haben sich die Umstände geändert oder erweisen sich vorsorgliche Massnahmen nachträglich als
ungerechtfertigt, können sie geändert oder aufgehoben werden (Art. 268 Abs. 1 ZPO). Auch unechte
Noven, die im früheren Verfahren bestanden, aber schuldhaft nicht vorgebracht wurden, rechtfertigen eine
Änderung des Entscheids, zumal Art. 268 Abs. 1 ZPO – im Unterschied zu Art. 328 Abs. 1 lit. a ZPO –
gerade nicht voraussetzt, dass die neu geltend gemachten Tatsachen trotz zumutbarer Sorgfalt nicht
früher ins Verfahren eingebracht werden konnten. Vorsorglichen Massnahmen kommt demnach nur
insoweit Rechtskraftwirkung zu, als sie bei unveränderten Verhältnissen gestützt auf bereits ins frühere
Verfahren eingebrachte Tatsachen und Beweismittel nicht abgeändert werden können. Etwas anderes gilt
nur, wenn dem anordnenden Gericht ein offensichtlicher Rechtsfehler unterlaufen ist oder sich die
Massnahme als ungeeignet erwiesen hat.967
207

-Die Sicherheitsleistung des Gesuchsgegners (Art. 261 Abs. 2 ZPO) muss grundsätzlich geeignet sein,
die Gefährdungslage zu reduzieren. Ist die Rechtsverletzung nach Leistung der Sicherheit nicht mehr
glaubhaft, ist von vorsorglichen Massnahmen zwingend abzusehen.968 Droht dem Gesuchsteller ein
reiner Vermögensschaden, kann die Sicherheit auch dazu dienen, den drohenden Schaden
sicherzustellen. Eine solche Sicherheit kommt jedoch nur in Betracht, wenn der Schaden voraussichtlich
leicht zu beweisen und zu bemessen ist.969
-Eine Sicherheitsleistung des Gesuchstellers (Art. 264 Abs. 1 ZPO) kommt in Betracht, wenn dem
Gesuchsgegner bei Anordnung der Massnahme ein Schaden droht. Die Prozesskosten des
Massnahmeverfahrens und des Hauptsacheverfahrens müssen nicht sichergestellt werden, weil die damit
zusammenhängenden Kosten nicht kausal durch eine ungerechtfertigte vorsorgliche Massnahme

962 Siehe N. 31 ff.


963 Siehe N. 64 ff.
964 Siehe N. 78 f. und N. 146.
965 Siehe N. 107 und N. 122.
966 Siehe N. 110 ff.
967 Siehe N. 152 ff.
968 Siehe N. 199 f.
969 Siehe N. 201 und N. 214.

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verursacht werden. Sicherzustellen sind hingegen die Gerichtskosten des Schadenersatzverfahrens. In


der Regel genügt eine Sicherheit für das erstinstanzliche Verfahren, weil nur der wahrscheinliche und
nicht der maximale Schaden zu sichern ist und ein Grossteil der Streitigkeiten erfahrungsgemäss vor
erster Instanz erledigt werden kann. Eine Sicherheit für die Parteientschädigung ist nur unter den
Voraussetzungen von Art. 99 ZPO geschuldet.970
-Die Einreichung eines Gesuchs um Erlass vorsorglicher Massnahmen begründet Rechtshängigkeit (Art.
62 Abs. 1 ZPO). Die Rechtshängigkeit erstreckt sich nur auf das Massnahmeverfahren, nicht auch auf das
Hauptsacheverfahren (Art. 263 ZPO). Es ist daher möglich, die Hauptsache während eines
vorprozessualen Massnahmeverfahrens oder während der Prosequierungsfrist vor einem anderen Gericht
rechtshängig zu machen.971
-Gemäss dem Bundesgericht unterbricht ein Gesuch um Erlass vorsorglicher Massnahmen die
Verjährung nur, wenn die Anträge im Massnahmeverfahren mit jenen in der Hauptsache übereinstimmen.
Meines Erachtens unterbricht jedes Gesuch um Erlass vorsorglicher Massnahmen die Verjährung, weil
der Gesuchsteller mit der Verfahrenseinleitung klar zum Ausdruck bringt, dass er an seinem Anspruch
festhalten will (analog Art. 135 Abs. 2 OR ). Auf die Art der Rechtsbegehren kann es nicht ankommen. 972
208

-Ein Gesuch um Erlass vorsorglicher Massnahmen begründet keine Rechtshängigkeit in der Hauptsache
und ist in Bezug auf Fristen des materiellen Rechts (z.B. Art. 75 ZGB, Art. 706a Abs. 1 OR) nicht
fristwahrend.973
-Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person das Recht, in einem streitigen Verfahren über zivilrechtliche
Ansprüche ihre Argumente in einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung vor einem unabhängigen
Gericht mit voller Kognition vorzutragen. In einem vorsorglichen Massnahmeverfahren besteht dieser
Anspruch nur bei irreversiblen Leistungsmassnahmen oder bei Regelungsmassnahmen, mit welchen für
bestimmte Zeit definitiv über das in der Hauptsache streitige Recht entschieden wird.974
-Der Gesuchsteller hat im Massnahmeverfahren das ausländische Recht grundsätzlich unaufgefordert
darzutun. Andernfalls kann das Gericht infolge von Dringlichkeit unmittelbar schweizerisches Recht
anwenden.975
-Vorsorgliche Massnahmen nach Art. 261 ff. ZPO sind Zwischenentscheide im Sinne von Art. 93 lit. a
BGG. Etwas anderes gilt nur, wenn die Massnahme den Entscheid in der Hauptsache präjudiziert. In
diesem Fall handelt es sich um einen Endentscheid.976
-Superprovisorische Massnahmen sind grundsätzlich nicht anfechtbar. Etwas anderes gilt nur, wenn die
Verweigerung oder Gutheissung der Massnahme dazu führt, dass das Hauptsacheverfahren
gegenstandslos wird. In diesem Fall handelt es sich um einen Endentscheid. 977
-Bei einem vorprozessualen Massnahmeverfahren empfiehlt es sich, die Prozesskosten einstweilen dem
Gesuchsteller aufzuerlegen, unter Vorbehalt einer anderen Anordnung in der Hauptsache. Dem
Gesuchsgegner ist unter der Bedingung, dass die Hauptsache nicht rechtzeitig prosequiert wird, eine
Parteientschädigung zuzusprechen. Die Verteilung der Prozesskosten nach dem Ausgang des Verfahrens
drängt sich auf, wenn die vorsorgliche Massnahme dazu führt, dass das Hauptsacheverfahren
gegenstandlos wird.978
209

-Die dem Gesuchsgegner im Massnahmeverfahren auferlegten Prozesskosten können ohne einen


Vorbehalt im Dispositiv nur im Rahmen eines Abänderungsverfahrens nach Art. 268 Abs. 1 ZPO neu
verlegt werden.979

970 Siehe N. 222 ff.


971 Siehe N. 312 ff.
972 Siehe N. 320 ff.
973 Siehe N. 325 ff.
974 Siehe N. 365 f.
975 Siehe N. 396 ff.
976 Siehe N. 429 ff.
977 Siehe N. 460 ff.
978 Siehe N. 410 ff.
979 Siehe N. 418 ff.

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-Das Massnahmeverfahren ist selbst eine Art Vollstreckungsverfahren. Das zeigt sich daran, dass die
Rechtsbegehren häufig primär oder sogar ausschliesslich auf eine Vollstreckungshandlung abzielen. Weil
im Vollstreckungsrecht die Offizialmaxime gilt, kann das Gericht nicht nur eine mildere Massnahme als
beantragt anordnen, sondern auch eine nicht zielführende Massnahme von Amtes wegen verschärfen.980
-Die Prosequierungsfrist wird durch das Gericht angesetzt. Weil die Berufung und die Beschwerde die
Vollstreckung nicht hemmen (Art. 315 Abs. 4 lit. b ZPO, nArt. 315 Abs. 2 lit. b ZPO, Art. 325 Abs. 1 ZPO),
läuft die Frist ab dem Tag, der auf die Zustellung des Entscheids folgt (Art. 142 Abs. 1 ZPO).981 Als Teil
des Urteilsdispositivs unterliegt die Prosequierungsfrist wie alle summarischen Anordnungen dem
Fristenregime des Summarverfahrens. Die Frist steht während der Gerichtsferien daher nicht still. 982
-Der Gesuchsgegner kann die ihm auferlegten Prozesskosten des Massnahmeverfahrens nicht als
Schaden geltend machen, weil die Kosten nicht durch eine ungerechtfertigte vorsorgliche Massnahme,
sondern durch das Massnahmeverfahren an sich verursacht werden. Ersatzfähig sind die Prozesskosten
des Massnahmeverfahrens nur, wenn die Voraussetzungen nach Art. 41 OR erfüllt sind.983
-Eine vorsorgliche Massnahme ist ungerechtfertigt, wenn sich herausstellt, dass der Verfügungsanspruch
nicht bestand oder nicht durchsetzbar war. Gleiches gilt, wenn keine Rechtsverletzung drohte oder der
Vollzugsbehörde bei der Vollstreckung ein Fehler unterlaufen ist. Stellt sich heraus, dass bei Anordnung
der Massnahme kein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil drohte oder keine zeitliche Dringlichkeit
bestand, ist von Schadenersatz abzusehen, weil der Eingriff letztlich im Einklang mit dem materiellen
Recht erfolgte.984
210

-Gemäss dem Bundesgericht handelt nicht widerrechtlich, wer einen Anspruch auf dem Rechtsweg
verfolgt oder zur Sicherstellung desselben um vorsorglichen Rechtsschutz nachsucht. Das gilt selbst
dann, wenn sich der Anspruch später als nicht existent erweist. Rechtswidrig ist die Inanspruchnahme des
vorsorglichen Rechtsschutzes nur, wenn sie zweckwidrig erfolgt. Zweckwidrig handelt z.B., wer den
Richter durch Vorlage gefälschter Dokumente täuscht. In diesem Fall hat der Gesuchsteller bereits nach
Art. 41 OR für den Schaden einzustehen. Soll den Kausalhaftungen nach Art. 264 Abs. 2 ZPO und Art.
273 SchKG eine eigenständige Bedeutung zukommen, kann es auf die Widerrechtlichkeit der Schädigung
nicht ankommen. Der Gesuchsteller hat daher unabhängig von einer Schutznorm auch für reine
Vermögensschäden einzustehen.985
-Wird die Hauptsache nicht prosequiert, sind vorsorgliche Massnahmen nicht automatisch als
ungerechtfertigt zu betrachten. Reicht der Gesuchsgegner eine Schadenersatzklage ein, hat der
Gesuchsteller unabhängig von seiner Stellung im Prozess als Beklagter den Bestand des dem
Massnahmebegehren zugrunde liegenden Anspruchs nachzuweisen. Dem Gesuchsgegner obliegt der
Beweis, dass die vorsorgliche Massnahme aus anderen Gründen ungerechtfertigt war.986

980 Siehe N. 466 f.


981 Siehe N. 497 ff.
982 Siehe N. 500 f.
983 Siehe N. 516.
984 Siehe N. 521 ff.
985 Siehe N. 529 ff.
986 Siehe N. 558 ff.

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