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Inhalt

AUFSÄTZE

Zivilrecht
Zur Ersatzfähigkeit aufgewendeter Kosten bei
Verletzungsverdacht nach einem Verkehrsunfall
Von Wiss. Mitarbeiter Christian M. König, Köln,
Wiss. Mitarbeiter Tillmann Rübben, Berlin 250

Die Selbstpfändung als Aufrechnungsersatz in der


Zwangsvollstreckung
Von Wiss. Mitarbeiterin Marisa Drost, Passau,
Wiss. Mitarbeiter Alexander Kunerth, Frankfurt a.M. 253

Öffentliches Recht
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
Von Dr. Claudio Franzius, Berlin/Hamburg 259

Strafrecht
Flug 4U 9525
Anlass für eine Reform der ärztlichen Schweige-
pflicht?
Von Wiss. Mitarbeiterin Beryll Krenkel, LL.M. (London),
Mainz 271

ÜBUNGSFÄLLE

Öffentliches Recht
Übungsfall: HALEC
Von Anja Nitschke,
Dr. Carsten Hörich, Halle (Saale) 276

Strafrecht
Übungsfall: In der Gosse
Von Prof. Dr. Georg Steinberg,
Leonie Schönemann, Wiesbaden 284
Inhalt (Forts.) 3/2015

ÜBUNGSFÄLLE (Forts.)

Strafrecht
Examensklausur: Ein vertanes Talent und die
Verlockungen des elektronischen Zahlungsverkehrs
Von Wiss. Mitarbeiter Sebastian Laudien, Hannover 289

ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN

Zivilrecht
BGH, Urt. v. 25.6.2014 – VIII ZR 10/14
(Fristwahrender Widerspruch gegen Mietvertrags-
fortsetzung bei demnächst erfolgender Zustellung)
(Akademischer Rat a.Z. Jan Singbartl, cand. iur.
Thomas Dziwis, LMU München) 296

ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN

Öffentliches Recht
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10,
1 BvR 1181/10
(Pauschales Kopftuchverbot und Glaubens- und
Bekenntnisfreiheit)
(Prof. Dr. Hinnerk Wißmann, Münster) 299

BVerwG, Urt. v. 21.01.2015 – 10 C 11.14


(Ausschluss aus dem Gemeinderat wegen
„Verwirkung der Unbescholtenheit“)
(Dr. Boas Kümper, Münster) 304

Strafrecht
OLG Hamm, Beschl. v. 29.4.2014 – 1 RVs 24/14
(Zu den Voraussetzungen des Gewahrsams und des
Einverständnisses nach § 242 StGB)
(Privatdozentin Dr. Janique Brüning, Hamburg) 310

BGH, Beschl. v. 17.9.2014 – 1 StR 387/14


(Entziehung Minderjähriger durch Entziehung
eines Elternteils)
(Prof. Dr. Holm Putzke, LL.M., Passau) 315

BUCHREZENSIONEN

Zivilrecht
Peter Schlechtriem/Ulrich G Schroeter, Internatio-
nales UN-Kaufrecht, 5. Aufl. 2013
(Wiss. Assistent Dr. Björn Steinrötter, Berlin/Hannover 320

Hartmut Linke/Wolfgang Hau, Internationales


Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2015
(Jurist [Univ.] Stephan Walter, Passau) 324

Öffentliches Recht
Thorsten Ingo Schmidt, Fallrepetitorium Allgemeines
Verwaltungsrecht mit VwGO, 2. Aufl. 2014
(Akad. Rat Thomas Traub, stud. Hilfskraft Annika
Fischer-Uebler, Köln) 325
Zur Ersatzfähigkeit aufgewendeter Kosten bei Verletzungsverdacht nach einem Ver-
kehrsunfall
Von Wiss. Mitarbeiter Christian M. König, Köln, Wiss. Mitarbeiter Tillmann Rübben, Berlin*

Die Verletzung eines von § 823 Abs. 1 BGB1 geschützten Schadensersatzanspruch aus. Maßgeblich ist demnach eine
Rechtsgutes verleiht dem Geschädigten einen Anspruch auf Bewertung der Umstände auf der Grundlage einer ex post-
Ersatz des entstandenen Schadens gegen den Schädiger. Perspektive.
Gemeinhin wird angenommen, dass der bloße Verdacht einer Das KG6 und ihm folgend das LG Verden7 sowie das LG
solchen Verletzung hierfür nicht ausreicht. Eine Ausnahme Fulda8 haben hingegen (vorübergehend)9 die Auffassung
soll hingegen für Sachschäden gelten, wenn ein hinreichend vertreten, es stelle „eine sachgerechte Reaktion […] dar, [...]
begründeter Schadensverdacht gegeben ist und die Sache infolge des Unfalls ärztlichen und anwaltlichen Rat“10 zu
nicht mehr bestimmungsgemäß verwendet werden kann oder suchen. Ein Verletzungsverdacht, der aufgrund des Unfall-
darf. Die in der unterinstanzlichen Rechtsprechung und der hergangs oder Symptomen beim Unfallbeteiligten begründet
Literatur umstrittene Frage, ob dies auch für den Verdacht erscheint, könne demnach bereits eine Schädigung darstellen,
einer Körper- oder Gesundheitsverletzung gilt, war bis zur die einen Anspruch auf Ersatz von Behandlungs- und Unter-
Entscheidung des BGH vom 17.9.20132 höchstrichterlich suchungskosten rechtfertigt.11 Hiernach sind die von einem
nicht entschieden. In besagter Entscheidung lehnte der BGH Unfallbeteiligten getätigten Untersuchungsaufwendungen
die Ersatzfähigkeit von Untersuchungs- und Behandlungskos- folglich zu ersetzen, soweit sie aus der ex ante-Perspektive
ten mangels nachgewiesener Körperverletzung ab,3 womit die eines verständigen Menschen in der Lage des Betroffenen
Kontroverse jedoch keineswegs ihr Ende gefunden hat. Viel- sinnvoll erscheinen.12
mehr bietet das Urteil Gelegenheit zu einer erneuten Be- Es waren somit zumindest vorübergehend Tendenzen in
leuchtung der Frage, ob der bloße Verdacht einer Körper- der Rechtsprechung erkennbar, bei einem bloßen Verlet-
oder Gesundheitsverletzung einer Rechtsgutsverletzung im zungsverdacht keine Unterscheidung zwischen Personen- und
Sinne von § 823 Abs. 1 BGB unter bestimmten Voraussetzun- Sachschäden hinsichtlich ihrer Ersatzfähigkeit zu treffen.
gen gleichzustellen ist. Gegen die Übertragung der für Sachschäden anerkannten
Auffassung, wonach der hinreichend begründete Schadens-
I. Ersatzfähigkeit bei Verletzungsverdacht verdacht den Tatbestand einer Eigentumsverletzung im Sinne
Bei Sachschäden wird angenommen, eine Eigentumsverlet- des § 823 Abs. 1 Var. 5 BGB erfüllen kann, lässt sich freilich
zung im Sinne des § 823 Abs. 1 Var. 5 BGB liege bereits einwenden, dass der hinreichend begründete Schadensver-
dann vor, wenn ein hinreichend begründeter Schadensver- dacht stets zu einem Vermögensminus führt, einem Men-
dacht gegeben ist und die Sache nicht mehr bestimmungsge- schen jedoch mangels Sachqualität kein Vermögenswert zu-
mäß verwendet werden kann oder darf.4 Strittig ist, ob dies kommt.13
auf den Fall des Verdachts einer Körper- oder Gesundheits- Diese – auf den ersten Blick zwar formal-juristisch kon-
verletzung übertragen werden kann. sequent erscheinende – Sichtweise verkennt allerdings, dass
Nach der h.M. steht der bloße Verletzungsverdacht bzw.
die Möglichkeit einer Schädigung einer Körper- oder Ge- 6
KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris).
sundheitsverletzung nicht gleich. Entscheidend sei, dass das 7
LG Verden ZfS 2004, 207 (208).
Unfallopfer eine unfallbedingte Verletzung nachgewiesen, 8
LG Fulda, Urt. v. 14.4.2011 – 1 S 142/09, Rn. 23 (juris).
der ursprüngliche Verdacht sich also bestätigt hat.5 Gelingt 9
Der Senat des KG, auf den das genannte Urteil (KG, Urt. v.
dies nicht, scheidet ein auf § 823 Abs. 1 BGB gestützter
27.2.2003 – 12 U 8408/00) zurückgeht, ist der darin vertrete-
nen Auffassung im Rahmen späterer Entscheidungen nicht
* Der Verf. König ist Wiss. Mitarbeiter in einer Rechtsan- mehr gefolgt: KG NZV 2005, 470 (471) sowie KG NZV
waltskanzlei und Doktorand am Lehrstuhl von Prof. Dr. 2006, 146 f., in denen jeweils eine unfallbedingte Körper-
Barbara Dauner-Lieb; der Verf. Rübben ist ebenfalls Wiss. oder Gesundheitsverletzung verlangt wird.
10
Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei und Doktorand am KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris).
11
Lehrstuhl von Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski. Ausdrücklich nur einen Verdacht für ausreichend halten
1
Vereinfachend wird im Folgenden nur auf die Regelung des Greger (Fn. 4), § 3 Rn. 43; zustimmend Huber, NZV 2014,
§ 823 Abs. 1 BGB abgestellt. Die Ausführungen gelten je- 23 (25); ähnlich Jaeger, in: Festschrift für Christoph Eggert
doch entsprechend für § 7 Abs. 1 StVG. zum 65. Geburtstag, 2008, S. 213 (247), der HWS-Symptome
2
BGH NJW 2013, 3634. als Gesundheitsverletzung qualifiziert; i.E. KG, Urt. v.
3
BGH NJW 2013, 3634 (3635). 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris); LG Fulda, Urt. v.
4
Siehe nur Greger, Haftung des Straßenverkehrs - Handbuch 14.4.2011 – 1 S 142/09, Rn. 23 (juris) unter Verweis auf KG,
und Kommentar, 4. Aufl. 2007, § 10 Rn. 14 unter Verweis Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00; LG Verden ZfS 2004, 207
auf BGH NJW-RR 2001, 322 und BGH TranspR 2002, 440. (208) unter Verweis auf KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U
5
BGH NJW 2013, 3634 (3635); Jahnke, in: Burmann u.a. 8408/00.
12
(Hrsg.), Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. 2012, Vor § 249 Vgl. Huber, NZV 2014, 23 (25 f.).
13
BGB Rn. 87; i.E. auch Luckey, Personenschaden, 2013, Jahnke (Fn. 5), Vor § 249 BGB Rn. 87; siehe hierzu näher
Rn. 890. Huber, NZV 2014, 23 (25).
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ZJS 3/2015
250
Zur Ersatzfähigkeit aufgew. Kosten bei Verletzungsverdacht nach einem Verkehrsunfall ZIVILRECHT

der BGH bei der Frage, ob unfallbedingte Schäden zu erset- auch berechtigte - Ansprüche nicht mehr geltend gemacht
zen sind, in ständiger Rechtsprechung auf die ex ante-Per- werden.19
spektive eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Men- Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang ferner,
schen in der Lage des Geschädigten abstellt.14 Hierbei stellt dass den Geschädigten eine Schadensminderungsobliegenheit
der BGH eine „subjektbezogene Schadensbetrachtung“ an, aus § 254 Abs. 2 S. 1 BGB trifft, dann wird deutlich, dass die
d.h. er nimmt „Rücksicht auf die spezielle Situation des Ge- von der h.M. vertretene Auffassung den Unfallverursacher in
schädigten, insbesondere auf seine individuellen Erkenntnis- doppelter Hinsicht privilegiert: Zum einen mutet sie dem
und Einflussmöglichkeiten sowie auf die möglicherweise Unfallopfer zu, einen begründeten Verletzungsverdacht me-
gerade für ihn bestehenden Schwierigkeiten“.15 dizinisch ungeprüft zu lassen und zum anderen erhält sie dem
Von dieser Maßstabsfigur weicht der BGH in vorgenann- Unfallverursacher gleichzeitig den Mitverschuldenseinwand
tem Urteil allerdings ab, wenn er darauf abstellt, dass sich der (§ 254 Abs. 2 S. 1 BGB) für den Fall, dass sich eine Gesund-
ursprüngliche Verletzungsverdacht nicht bestätigt hat und heitsverletzung infolge der unterlassenen Untersuchung ver-
seiner Entscheidung daher ex post gewonnene Erkenntnisse schlimmert hat.20 Insbesondere dann, wenn es an einem et-
zugrunde legt.16 Richtigerweise ist jedoch vor dem Hinter- waigen Verschuldensbeitrag des Unfallopfers fehlt, ist a
grund der vom BGH aufgestellten Kriterien auch dann, wenn priori nicht einzusehen, weshalb unmittelbar sachlich und
sich der ursprüngliche Verdacht nicht bestätigt, auf den be- zeitlich mit dem Unfallgeschehen verbundene Folgen, wie
schränkten Kenntnisstand des Unfallbeteiligten nach dem etwa Verspannungen oder andere typischerweise im An-
Unfall abzustellen. schluss an einen Unfall auftretende Symptome, nicht medizi-
Denn ebenso wie ex ante die Notwendigkeit und Sinnhaf- nisch abgeklärt werden können sollen, ohne dass das Unfall-
tigkeit einer ärztlichen Untersuchung im Anschluss an einen opfer dabei finanzielle Einbußen zu befürchten hat. Die ge-
Unfall17 selten zu verneinen sein wird, so erscheint sie ex genteilige Ansicht, die den Nachweis einer eingetretenen
post weder notwendig noch sinnvoll, sobald bekannt ist, dass Rechtsgutsverletzung verlangt, ist mit dem § 254 Abs. 2 S. 1
sich der mit ihr überprüfte Verdacht einer Körper- oder Ge- BGB zugrunde liegenden Konzept schwerlich zu vereinbaren,
sundheitsverletzung nicht bestätigt hat. Weil die h.M. sich auf denn diesem liegt gerade eine ex ante-Perspektive zugrunde.
ex post gewonnene Erkenntnisse stützt, mutet sie dem Un- Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Ge-
fallopfer zu, eine Entscheidung auf der Grundlage solcher sundheit eines Menschen kein wirtschaftlicher Wert beige-
Erkenntnisse zu treffen, über die es zum maßgeblichen Zeit- messen wird. Denn dass das Leben und die körperliche Un-
punkt naturgemäß noch nicht verfügen kann. Sucht ein Un- versehrtheit als von § 823 Abs. 1 BGB geschützte Rechtsgü-
fallbeteiligter einen Arzt auf, weil im Anschluss an den Un- ter mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine verfassungsrechtliche Aus-
fall Schmerzen auftreten, so stellt dies jedoch nach – vor- prägung erhalten haben, spricht dafür, dass das Eigentum, das
zugswürdiger – lebensnaher Betrachtung grundsätzlich viel- bereits bei einem Verletzungsverdacht verletzt sein soll, kei-
mehr eine sachgerechte und auch durchaus wünschenswerte nen höheren Schutz genießen kann, sondern vielmehr der
Reaktion dar.18 Dass sich ein Verletzungsverdacht ex post Verdacht einer Körper- oder Gesundheitsverletzung argu-
nicht bestätigt, vermag daran nichts zu ändern, denn dies liegt mentum a maiore ad minus dem Schutz des § 823 Abs. 1
vielmehr in der Natur der Sache. Jedenfalls aber darf die BGB unterfallen muss.21
einem Verdacht immanente Ungewissheit über Tatsachen Da die Behandlungs- und Untersuchungskosten auf einem
nicht dazu führen, dass ein Unfallbeteiligter mit Risiken be- eigenem Verhalten beruhen, sind vor dem Hintergrund des
lastet wird, die aus einer Verdachtsaufklärung resultieren, an Kausalitätserfordernisses auf der Rechtsfolgenseite die
der ein berechtigtes Interesse besteht. Grundsätze der Herausforderungsfälle zu rekurrieren. Ob sich
Zu bedenken ist, dass u.U. kostenintensive technische und jemand im deliktsrechtlichen Sinne herausgefordert fühlen
medizinische Gutachten erforderlich sind, um eine Primärver- durfte, ist dabei eine normative Frage, die aufgrund einer Ab-
letzung nachweisen zu können, die den hohen Beweisanfor- wägung der Interessen von Schädiger und Geschädigtem be-
derungen des § 286 ZPO gerecht wird. Aufgrund der damit antwortet werden muss.22 Verspürt ein Unfallopfer Schmer-
verbundenen Kosten, mit denen der Geschädigte in Vorleis- zen nach dem Unfall und stehen der mit der Untersuchung
tung treten muss, sofern es sich einmal nicht um einen Sozi- verfolgte Zweck und der erlittene Vermögensschaden in
alversicherungsträger handelt, trägt dieser ein für ihn zu die- einem angemessen Verhältnis zueinander, so erscheint es
sem Zeitpunkt nicht kalkulierbares (Kosten-)Risiko. Diese angesichts des mit jedem Unfall potenziell verbundenen Risi-
Unwägbarkeiten könnten dazu führen, dass viele - mitunter kos, Gesundheits- oder Körperverletzungen davon zu tragen,
als sachgerechte Reaktion, sich kostenpflichtig untersuchen
14
Siehe nur BGH, Urt. v. 11.2.2014 – VI ZR 225/13, Rn. 7
19
(juris); siehe auch Huber, NZV 2014, 23 (25). Huber, NZV 2014, 23 (25).
15 20
BGH, Urt. v. 11.2.2014 – VI ZR 225/13, Rn. 7 (juris). Vgl. Jaeger (Fn. 11), S. 247; vgl. Huber, NZV 2014, 23
16
So auch Huber, NZV 2014, 23 (25). (25); Diehl, ZfS 2014, 20 f.
17 21
Vgl. Luckey (Fn. 5), Rn. 890. Ähnlich Huber (NZV 2014, 23 [25]), der auf die grundge-
18
KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris); LG setzlichen Wertungen verweist, mit denen ein höherer Schutz
Fulda, Urt. v. 14.4.2011 – 1 S 142/09, Rn. 23 (juris); LG von „Blech“ gegenüber „Blut“ kaum übereinstimmen dürfte.
22
Verden ZfS 2004, 207 (208); Jaeger (Fn. 11), S. 246; Huber, Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl.
NZV 2014, 23 (25); Diehl, ZfS 2014, 20 (21). 2013, S. 332 f.
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251
AUFSÄTZE Christian M. König/Tillmann Rübben

zu lassen, um etwaige Unfallfolgen abzuklären. Dies gilt Würde man eine unfallbedingte Körper- oder Gesundheits-
nicht zuletzt mit Blick auf die aus § § 254 Abs. 2 S. 1 BGB verletzung verlangen, so ließe man schon im Ansatz unbe-
folgende Obliegenheit.23 rücksichtigt, dass der Vermögensschaden in der Regel adä-
Der Rückgriff auf die Grundsätze der Herausforderungs- quat kausal auf der unfallbedingten Eigentumsverletzung be-
fälle stellt überdies ein geeignetes Korrektiv zur Begrenzung ruht, weil das Unfallopfer – wie ausgeführt wurde – in aller
der Ersatzfähigkeit primärer Vermögensschäden dar. Regel herausgefordert wird, sich im Nachgang an den Unfall
Es erscheint daher insbesondere aus wertungsjuristischer einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen.26
Sicht nicht gerechtfertigt, Untersuchungs- und Behandlungs- Überdies erscheinen die angefallenen Untersuchungskos-
kosten, die aufgrund eines Verletzungsverdachts entstanden ten vor dem Hintergrund, dass der Unfall aufgrund von
sind, ihre Ersatzfähigkeit per se abzusprechen. Der begründe- Fremdverschulden verursacht wurde und mit Blick auf das
te Verdacht einer Gesundheitsverletzung wird im Regelfall objektive Interesse des Unfallverursachers daran, dass der
vielmehr einer Rechtsgutsverletzung im Sinne des § 823 Versicherte etwaige Körper- oder Gesundheitsverletzungen
Abs. 1 BGB gleichzustellen sein. zum Zwecke ihrer Behandlung im Wege einer ärztlichen Un-
tersuchung diagnostizieren lässt, um den gegebenenfalls zu
II. Eigentumsverletzung als möglicher Anknüpfungs- ersetzenden Schaden möglichst gering zu halten, auch nicht
punkt unangemessen hoch.
Wenn man den bloßen Verletzungsverdacht einer Rechts- Der Eigentümer eines infolge des Unfalls beschädigten
gutsverletzung nicht gleichstellen möchte, ist ferner die Frage PKWs kann daher Ausgleich der vermögensmäßigen Folgen
zu klären, ob die Rechtsgutsverletzung in Form der Eigen- jener Sachbeschädigung in Gestalt von Behandlungs- und
tumsverletzung am unfallbeteiligten PKW als Anknüpfungs- Untersuchungskosten von dem Schädiger verlangen.27 Einer
punkt für eine auf § 823 Abs. 1 BGB gestützte Ersatzpflicht Körper- oder Gesundheitsverletzung bedarf es insoweit nicht.
von „Verdachtsschäden“ herangezogen werden kann.
Nach der h.M., die für das Vorliegen einer Gesundheits- III. Fazit
verletzung einen bloßen Verletzungsverdacht nicht ausrei- Die Ausführungen haben gezeigt, dass die Ersatzfähigkeit
chen lässt, bildet nicht der Unfall als solcher, sondern nur die von Behandlungs- und Untersuchungskosten nicht allein des-
unfallbedingte Körper- oder Gesundheitsverletzung den ge- wegen abgelehnt werden kann, weil sich der Verdacht einer
setzlichen Anknüpfungspunkt für einen auf § 823 Abs. 1 Gesundheitsverletzung nicht bestätigt hat und der Unfallbe-
BGB gestützten Anspruch auf Ersatz von Behandlungs- und teiligte eine Gesundheits- oder Körperverletzung daher nicht
Untersuchungskosten.24 nachzuweisen vermag. Vielmehr stellt das unmittelbare Auf-
Mit Blick auf die Gegenauffassung, für die sich insbeson- suchen eines Arztes im Anschluss an einen Verkehrsunfall
dere das Aufsuchen eines Arztes infolge des Unfalls als sach- eine begrüßenswerte und sachgerechte Reaktion des Unfall-
gerechte Reaktion des Unfallopfers darstellt,25 ist zu erwägen, opfers dar, zu der sich das Unfallopfer in aller Regel heraus-
die eingetretene Eigentumsverletzung als gesetzlichen An- gefordert fühlen darf. Jedenfalls aber stellt die in Folge des
knüpfungspunkt für einen auf § 823 Abs. 1 BGB gestützten Unfalls erlittene Eigentumsverletzung am PKW einen taugli-
Anspruch auf Ersatz der Untersuchungskosten zu wählen. chen Anknüpfungspunkt zum Ersatz der Untersuchungs- und
Gegen die herrschende Auffassung ist einzuwenden, dass Behandlungskosten dar, weshalb auch hier eine Ersatzpflicht
sie die Erstattungsfähigkeit solcher Aufwendungen, die zur des Schädigers zu bejahen ist, sofern sich das Unfallopfer zu
Aufklärung eines Verletzungsverdachts getätigt werden, zu einem entsprechenden Verhalten herausgefordert fühlen
Lasten des Unfallopfers über Gebühr einengt, indem sie das durfte.
Vorliegen einer Primärverletzung in Gestalt einer Körper-
oder Gesundheitsverletzung verlangt. Die mit dem Ersatz von
Vermögensschäden nach den §§ 249 ff. BGB auf der Rechts-
folgenseite einhergehende Abkehr von der auf Tatbestands-
ebene herrschenden „Diskriminierung“ von Vermögensschä-
den knüpft jedoch lediglich an die tatsächliche Verletzung
eines der in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechtsgüter an.

23
KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris); LG
Fulda, Urt. v. 14.4.2011 – 1 S 142/09, Rn. 23 (juris); LG
Verden ZfS 2004, 207 (208); Luckey (Fn. 5), Rn. 890; Jaeger
(Fn. 11), S. 246; Huber, NZV 2014, 23 (25); Diehl, ZfS
2014, 20 (21).
24
BGH NJW 2013, 3634 (3635); KG, Urt. v. 16.11.2006 –
26
22 U 267/04, Rn. 15 (juris); OLG Hamm recht und schaden Vgl. KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris);
2003, 434 (436); LG Chemnitz BeckRS 2013, 17436, I. 2. a). LG Fulda, Urt. v. 14.4.2011 – 1 S 142/09, Rn. 23 (juris); LG
25
KG, Urt. v. 27.2.2003 – 12 U 8408/00, Rn. 26 (juris); und Verden ZfS 2004, 207 (208).
27
ihm folgend LG Fulda, Urt. v. 14.4.2011 – 1 S 142/09, Vgl. Wagner, in: Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 12. Aufl.
Rn. 23 (juris) sowie LG Verden ZfS 2004, 207 (208). 2013, Rn. 131.
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ZJS 3/2015
252
Die Selbstpfändung als Aufrechnungsersatz in der Zwangsvollstreckung
Von Wiss. Mitarbeiterin Marisa Drost, Passau, Wiss. Mitarbeiter Alexander Kunerth, Frankfurt a.M.*

Die sogenannte Selbstpfändung beschreibt eine Anomalie rechnung3 und wird entsprechend verurteilt. Die Berufung für
innerhalb des Rechts der Forderungspfändung. In ihrer ur- A wird nicht zugelassen, das Urteil des Amtsgerichts er-
sprünglichen Konstruktion gehen die §§ 828 ff. ZPO von wächst in Rechtskraft (§ 704 ZPO).
einem Dreiecksverhältnis aus: Der Gläubiger, Inhaber eines
Vollstreckungstitels, lässt eine Forderung des Schuldners II. Lösungsvorschlag
gegenüber dessen Drittschuldner pfänden und sich überwei- Die prozessuale Situation des A ist nun folgende: A kann
sen. An den Drittschuldner ergeht ein Erfüllungsverbot keine Berufung einlegen (vgl. § 511 Abs. 2, 4 ZPO), somit
(§ 829 Abs. 1 S. 1 ZPO) – das Arrestatorium, während an auch keine Prozessaufrechnung mehr erklären.4 Ebenso wür-
den Schuldner ein relatives Verfügungsverbot ausgesprochen de eine Vollstreckungsabwehrklage an § 767 Abs. 2 ZPO
wird (§ 829 Abs. 1 S. 2 ZPO) – das Inhibitorium.1 Beide scheitern, da die Aufrechnung präkludiert ist: Es entspricht
Instrumente sichern dem Gläubiger die Forderung des der ständigen Rechtsprechung des BGH, auf die Entstehung
Schuldners. Mit dem Regelfall der Überweisung durch Ein- des Gestaltungsrechts und nicht auf dessen Erklärung abzu-
ziehung (§ 835 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 2 ZPO) wird der Gläubiger stellen.5
schließlich ermächtigt, die fremde Forderung im eigenem A hat jedoch gegen B einen Vollstreckungstitel aus § 794
Namen geltend zu machen.2 Abs. 1 Nr. 5 ZPO. Er könnte nun selbst in das Vermögen des
Eine Selbstpfändung setzt hingegen ein Zweipersonenver- B vollstrecken. Dabei bietet sich vor allen anderen möglichen
hältnis voraus: Der Gläubiger und Titelinhaber ist zugleich Vermögensgegenständen die Darlehensforderung des B ge-
Schuldner seines Schuldners. Es liegt damit in aller Regel gen ihn an – die sogenannte Selbstpfändung.
eine Aufrechnungssituation nach § 387 BGB vor: Gleicharti- Die Rechtsfolgen aus dieser Pfändung gleichen faktisch
ge Forderungen stehen sich gegenüber. Aus diesem Grund denen einer erklärten Aufrechnung nach § 389 BGB: Der
stellt sich die Frage, warum der Gläubiger auf das Instru- Anspruch des A aus dem Kaufvertrag erlischt nach § 835
ment der Forderungspfändung zurückgreifen will, anstatt Abs. 2 ZPO6 und die gepfändete Gegenforderung des B aus
formlos die Aufrechnung mit der Wirkung des § 389 BGB zu dem Darlehensvertrag steht nun A selbst zu. A ist damit zu-
erklären. Folgender Ausgangsfall soll daher das wesentliche gleich Schuldner und Gläubiger der selben Forderung – es
Problem illustrieren: tritt Konfusion ein. Damit erlischt auch die Gegenforderung.
A könnte somit Aufrechnungswirkungen gegenüber der For-
I. Sachverhalt derung des B herbeiführen, obwohl er die Aufrechnung pro-
A verkauft B ein Fahrrad für einen Kaufpreis von 400 €, zessual nicht mehr erklären kann.
wobei sich B in einer notariellen Urkunde der sofortigen
Zwangsvollstreckung unterwirft (§ 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO). B
3
zahlt nicht, sondern lässt sich eine Forderung des C gegen- Ein Grund könnte die fehlende Vertretung durch einen
über A aus einem Darlehensvertrag in selbiger Höhe günstig Rechtsanwalt sein (§ 78 Abs. 1 S. 1 ZPO), ein anderer eine
abtreten. A erfährt hiervon nichts und erklärt daher nicht die zurückhaltende Prozessleitung durch den Richter in Hinblick
Aufrechnung. B verklagt A nach Fälligkeit des Darlehens auf auf § 139 Abs. 2 ZPO, vgl. Wagner, in: Münchener Kom-
Rückzahlung der Valuta. A erklärt auch hier nicht die Auf- mentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 139 Rn. 35 f.
4
A wäre daran in der Berufung nicht gehindert: § 296 ZPO
gilt nicht für die Aufrechnungserklärung, die kein Angriffs-
oder Verteidigungsmittel ist, Prütting, in: Münchener Kom-
mentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 296 Rn. 51. Dementspre-
* Die Autorin Marisa Drost arbeitet als Wiss. Mitarbeiterin chend kommt nicht § 531 ZPO, sondern § 533 ZPO zur An-
bei Prof. Dr. Klaus Reischl in Passau, der Autor Alexander wendung. Die Sachdienlichkeit wird dabei weit verstanden,
Kunerth als Wiss. Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei vgl. Rimmelspacher, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4.
in Frankfurt a.M. Beide haben an der Universität Passau Aufl. 2012, § 533 Rn. 4, 20.
5
Rechtswissenschaften studiert. K. Schmidt/Brinkmann, in: Münchener Kommentar zur
1
Smid, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2012, ZPO, 4. Aufl. 2012, § 767 Rn. 80 ff. m.w.N. auch zur Gegen-
§ 829 Rn. 32 f. ansicht, die in der Literatur verbreitet ist. Die Aufrechnungs-
2
Smid (Fn. 1), § 835 Rn. 12, 21. Der Gläubiger hat überdies lage lag hier vor dem in § 767 Abs. 2 ZPO genannten Zeit-
sämtliche Sekundärrechte des Schuldners, insbesondere kann punkt vor.
6
er den Dritten in Verzug setzen oder mit einer eigenen Forde- Smid (Fn. 1), § 835 Rn. 24. Nur eine Überweisung an Zah-
rung aufrechnen. Die Überweisung an Zahlung statt nach lung statt (§ 835 Abs. 1 Alt. 2 ZPO) ergibt in dieser Konstel-
§ 835 Abs. 2 ZPO wirkt hingegen wie eine erzwungene Ab- lation Sinn: A kann nicht an sich selbst zahlen, so dass die
tretung nach § 398 S. 1 BGB, so dass die Forderung aus dem Einziehung nach § 835 Abs. 1 Alt. 1 ZPO in diesem Aus-
Vermögen des Schuldners ausscheidet. Der Gläubiger trägt nahmefall nicht funktioniert. Sollte A dennoch die Einzie-
damit das Risiko der Werthaltigkeit dieser Forderung - der hung wählen, so müsste er zusätzlich die Verrechnung ge-
Hauptgrund für die geringe Praxisrelevanz dieser Variante im genüber B erklären, um die Einziehung nach außen erkennbar
Regelfall. zu machen, vgl. BGH NJW 2011, 2649 Ls. 3.
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253
AUFSÄTZE Marisa Drost/Alexander Kunerth

1. Zulässigkeit der Selbstpfändung bei unzulässiger Aufrech- Abs. 2 ZPO prozessual dem materiellen Recht eine zeitliche
nung Grenze ziehen soll. Ohne die Präklusion wäre eine Vollstre-
Bereits das Reichsgericht hat die Selbstpfändung in einer ckung aufgrund der drohenden Rechtsfolgen des Gestaltungs-
solchen Situation für zulässig erachtet, ebenso der BGH und rechts unsicher und würde diese entweder hinauszögern
die Literatur.7 Das obige Beispiel wirft allerdings die Frage (wenn der Titelinhaber auf eine Reaktion des Schuldners
auf, ob eine Selbstpfändung bei einer Präklusion der Auf- wartet) oder zu Rechtsbehelfen seitens des Schuldners führen
rechnung (z.B. nach § 767 Abs. 2 ZPO) oder sonstigen Auf- (§ 767 Abs. 1 ZPO).
rechnungsverboten (wie §§ 393, 394 BGB oder vertraglich Die Vielzahl an unterschiedlichen Gestaltungsrechten
vereinbarten) zu einer Umgehung der dort enthaltenden Wer- lässt eine pauschale Entscheidung nicht zu, sondern fordert
tungen führt. Angesichts der faktisch gleichen Wirkungen eine Differenzierung. Dabei bietet sich die folgende Unter-
stellt sich insbesondere die Frage, ob der jeweilige Norm- scheidung an: Immer dann, wenn ein feststehender Tatbe-
zweck auf die Konstruktion der Selbstpfändung übertragbar stand vorliegt (wie eine Aufrechnungs- oder Anfechtungsla-
ist. ge), so ist der Inhaber des fristlosen Gestaltungsrechts gehal-
ten, dieses früh genug auszuüben und den Prozess bereits im
a) Prozessuale Unzulässigkeit der Aufrechnung Erkenntnisverfahren zu beenden. Nur so wird das Interesse
des Klägers und späteren Titelinhabers an einem vollstreck-
Da §§ 296, 531 ZPO nicht auf die Aufrechnungserklärung
baren Urteil gewahrt. Sobald das Gestaltungsrecht fristge-
anwendbar sind,8 kommt es alleine auf die Wirkung der Präk-
bunden ist (wie etwa bei einem Widerruf, § 355 Abs. 2 BGB)
lusion in § 767 Abs. 2 ZPO an. Sinn der Norm ist es, den Er-
oder an keinen besonderen Sachverhalt anknüpft (wie etwa
folg des Klägers aus dem Erkenntnis- in das Vollstreckungs-
bei einer ordentlichen Kündigung), kommt es zum Schutz des
verfahren zu übertragen und so die materielle Rechtskraft des
Schuldners auf dessen Ausübung an und § 767 Abs. 2 ZPO
Urteils9 zu sichern.10 In Bezug auf Gestaltungsrechte ist dabei
findet keine Anwendung.
entscheidend, ob auf deren Entstehung oder Ausübung abge-
Überträgt man diese Gedanken auf die vorliegende Situa-
stellt werden kann. Der oben skizzierte Streit wird hier nun
tion, so scheint sich die Wirkung des § 767 Abs. 2 ZPO auch
virulent, wenn sich die Argumente beider Ansichten auf die
auf die Konstruktion einer Selbstpfändung zu erstrecken. A
Situation der Selbstpfändung übertragen lassen.
kann keine Aufrechnung mehr erklären. Diese knüpft an
Einige Autoren in der Literatur11 verweisen dabei auf eine
einen feststehenden Tatbestand an (die Aufrechnungslage)
wesentliche Eigenschaft von Gestaltungsrechten. Der Sinn
und ist nicht fristgebunden. A hindert B sodann an einer
dieser Rechte beruht gerade auf deren Ausübung. Der Rechts-
wirksamen Forderungspfändung, indem er ihm mit Hilfe der
inhaber ist Herr der Gestaltung,12 was für eine Anknüpfung
Pfändung der Darlehensforderung zuvorkommt. Die Voll-
an die Gestaltungserklärung spricht. Andererseits, argumen-
streckbarkeit des Titels ist aus Sicht des B wieder unsicher.
tiert die Rechtsprechung,13 sei es unverkennbar, dass § 767
Diese Vorgehensweise bezweckt damit allein die Umgehung
der Präklusion und ist auf die gleichen Rechtsfolgen gerich-
7 tet, so dass die Selbstpfändung nach der oben aufgeführten
RGZ 20, 365 (370 f.); BGH NJW 2011, 2649 = Jus 2011,
Unterscheidung unzulässig sein müsste.
1032 (Besprechung von K. Schmidt) = IBR 2011, 1312 (Be-
Diese Argumentation verkennt jedoch, dass sich der
sprechung von Schwenker); Smid (Fn. 1), § 829 Rn. 77; Stö-
Gläubiger und Schuldner der Gegenforderung (im Beispiels-
ber, Forderungspfändung, 16. Aufl. 2013, Rn. 33; v. Gerkan,
fall A) in einer grundlegend anderen Situation befindet, als
Rpfleger 1963, 369; Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973,
§ 767 Abs. 2 ZPO voraussetzt. A hat selbst einen Vollstre-
271.
8 ckungstitel und kann hiermit in das Vermögen des B vollstre-
Siehe Fn. 3. Etwas anderes gilt, wenn der Beklagte nur auf
cken. § 767 Abs. 2 ZPO müsste daher zusätzlich die Wertung
eine bereits vor Prozessbeginn erklärte Aufrechnung Bezug
entnommen werden können, dass die Gegenforderung nicht
nimmt. Darin liegt keine Rechtsgestaltung.
9 zum Schuldnervermögen des B gehört. Mit anderen Worten:
§ 767 Abs. 2 ZPO gilt hingegen nicht bei einer vollstreckba-
§ 767 Abs. 2 ZPO dürfte nicht nur das Gestaltungsrecht präk-
ren Urkunde nach § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO, § 797 Abs. 4
ludieren, sondern müsste auch die Vollstreckungsrechte des
ZPO. Diese besitzen keine Rechtskraft. Einwendungen gegen
A einschränken. Diesen Zweck hat die Norm jedoch nicht.
Vollstreckungsbescheide nach § 794 Abs. 1 Nr. 4 ZPO kön-
Würde sie tatsächlich bestimmte Vermögensgegenstände von
nen hingegen wegen § 796 Abs. 2 ZPO ebenfalls präkludiert
der Vollstreckung ausschließen (hier die Darlehensforderung
sein.
10 des B), so würde für A in der Nichtausübung seines Gestal-
K. Schmidt/Brinkmann (Fn. 5), § 767 Rn. 73.
11 tungsrechts eine Sanktion liegen, obwohl die Anfechtung die
Etwa Lackmann, in: Musielak/Voit, Kommentar zur ZPO,
Möglichkeiten des A nur erweitern, nicht aber einschränken
12. Aufl. 2015, § 767 Rn. 37; Münzberg, in: Stein/Jonas,
will. In letzter Konsequenz läge in dieser Lesart des § 767
Kommentar zur ZPO, 23. Aufl. 2015, § 767 Rn. 32; Seiler,
Abs. 2 ZPO eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung ge-
in: Thomas/Putzo, Kommentar zur ZPO, 35. Aufl. 2015,
genüber sonstigen Dritten ohne Gestaltungsrechte und damit
§ 767 Rn. 22; M. Schwab, JZ 2006, 173; Fischer, VuR 2004,
ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG.14 Die Selbstpfändung ist
326 f.; Thran, JuS 1995, 1111 (1114).
12 daher im Rahmen des § 767 Abs. 2 ZPO zulässig.
K. Schmidt/Brinkmann (Fn. 5), § 767 Rn. 81 f., zum fol-
genden Absatz.
13 14
Etwa BGH NJW 2005, 2926. Oertmann, AcP 81 (1893), 61 (117).
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ZJS 3/2015
254
Die Selbstpfändung als Aufrechnungsersatz in der Zwangsvollstreckung ZIVILRECHT

b) Materielle Aufrechnungsverbote aus §§ 393, 394 BGB noch von der zusätzlichen Verzinsung seiner Forderung pro-
In dieser Konstellation ist es dem Vollstreckungsgläubiger15 fitieren - die eigentlich bezweckte Sanktionierung würde sich
(im Beispiel A) aus materiellen Gründen versagt, die Auf- in einen unverdienten Vorteil umwandeln. Dieser Aspekt
rechnung zu erklären. Ebenso wie oben stellt sich in Bezug spricht entscheidend für die Zulässigkeit der Selbstpfändung
auf die §§ 393, 394 BGB die Frage, ob sich die Wertungen im Rahmen des Aufrechnungsverbotes aus § 393 BGB.
der Normen auf die Selbstpfändung teleologisch übertragen
lassen. § 394 BGB bezweckt die Ausdehnung der Pfändungs- c) Vertragliches Aufrechnungsverbot
verbote aus der ZPO auf die Aufrechnung.16 Insoweit wird Möglich ist schließlich, dass die Aufrechnung durch einen
das Problem bereits im Ansatz abgeschnitten: Die Aufrech- Vertrag ausgeschlossen worden ist – sogenanntes pactum de
nung ist verboten, weil auch eine Pfändung dieser bestimm- non compensando. Deren Zulässigkeit folgt aus der Vertrags-
ten Forderung verboten ist. Eine Selbstpfändung ist daher gar freiheit.21 In Bezug auf die Selbstpfändung ist alleine frag-
nicht möglich. § 394 BGB normiert eine parallele Rechtslage lich, ob das Aufrechnungsverbot auch für die Pfändung der
zwischen Vollstreckungsrecht und materiellem Gestaltungs- Gegenforderung gelten soll. Da dies vom Parteiwillen ab-
recht. hängt, können an dieser Stelle nur allgemeine Überlegungen
Anders stellt sich die Situation bei § 393 BGB dar. Der für dessen Auslegung Platz finden. Zu Bedenken ist einer-
Deliktsgläubiger (und Vollstreckungsschuldner) soll in an- seits, dass die Selbstpfändung die verbotene Aufrechnung
gemessener Frist und ohne die Prüfung von Gegenansprüchen ersetzt und damit eine Situation herbeiführt, die nicht im
seine Rechte verfolgen können.17 § 393 BGB hat insoweit Interesse des verbotsbegünstigten Schuldners ist. Anderer-
eine soziale Komponente und beruht auf dem Gedanken des seits dürfte es praktisch nur zu einer Selbstpfändung kom-
verbotenen Rechtsmissbrauchs aus § 242 BGB.18 Der Schä- men, wenn der Schuldner keine anderen pfändbaren Vermö-
diger soll keine Möglichkeit haben, sich seiner Schadenser- gensgegenstände hat. Hier ergibt sich eine Parallele zum Fall
satzpflicht durch Aufrechnung entziehen zu können. Sonst der Insolvenz des Schuldners: Würde das Aufrechnungsver-
hätte er die Möglichkeit, die geschützten Rechtsgüter seines bot auch dort Geltung beanspruchen,22 so wäre dem Gläubi-
Schuldners beliebig bis zur Höhe seiner Forderung zu schä- ger das Recht genommen, seine Forderung über dem Niveau
digen. der Insolvenzquote zu verwerten.23 Es liegt in aller Regel
Gegen eine teleologische Erweiterung lässt sich in diesem nicht im Interesse des Gläubigers, in einer solchen Situation
Fall ähnlich wie oben zu § 767 Abs. 2 ZPO vorbringen, dass auf das einzig effektive Mittel zur Durchsetzung seiner For-
eine Enthaftung der Forderung aus dem Vermögen des derung zu verzichten. Vergleichbares kann im Falle der
Schuldners in § 393 BGB überhaupt nicht vorgesehen ist.19 Selbstpfändung angenommen werden, wenn24 sie das einzige
Es findet sich indes ein entscheidender Unterschied zu § 767 Mittel darstellt, die eigene Forderung durchzusetzen.
Abs. 2 ZPO: Konnte dort das Ergebnis noch mit dem fehlen-
den Sanktionscharakter der Norm begründet werden, verträgt d) Zwischenergebnis
sich dieses Argument nun nicht mehr mit dem Zweck des Es hat sich gezeigt, dass die Selbstpfändung ein probates
§ 393 BGB, der eine Sanktion enthält. Um die Sicherung des Mittel sein kann, wenn die Aufrechnung prozessual präklu-
Geschädigten auch im Rahmen einer Selbstpfändung zu er- diert oder gar materiell nach § 393 BGB verboten ist. Sie ist
halten, müsste § 393 BGB daher analog angewendet werden. in beiden Fällen zulässig. § 394 BGB hingegen verbietet die
Allerdings würde diese Vorgehensweise die konkrete Si- Selbstpfändung nicht, sondern konserviert lediglich deren
tuation außer Acht lassen, in der sich der Vollstreckungs- Unmöglichkeit. Im Rahmen eines vertraglichen Aufrech-
gläubiger befindet. Sobald der Geschädigte keine nennens- nungsverbots entscheidet hingegen der Parteiwille über eine
werten anderen Vermögensgegenstände hat, würde die Forde- Zulässigkeit.
rung des Gläubigers aufgrund ihrer Unverwertbarkeit zu-
nächst faktisch entwertet werden. Sobald der Gläubiger je-
doch seine eigene Schuld aus der unerlaubten Handlung er- es zu einer Forderungspfändung kommen. Der Anspruch
füllt, könnte er genau diesen Betrag wieder pfänden und sich ergibt sich aus § 675t BGB.
(wenn das Geld noch vorhanden ist) nach § 815 Abs. 1 ZPO 21
Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 16. Aufl.
ausliefern lassen.20 Der Gläubiger würde in diesem Fall sogar 2011, § 387 Rn. 201.
22
Gemäß § 94 InsO wird zugunsten des Gläubigers die schon
15
Zum Problem in der umgedrehten Konstellation (§ 393 vorher bestandene Aufrechnungslage in der Insolvenz erhal-
BGB beschränkt nur den Schuldner) noch weiter unten. ten. § 96 InsO verbietet diese für den umgedrehten Fall.
16 23
Schlüter, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. Gursky (Fn. 21), § 387 Rn. 248 m.w.N. zu Rechtsprechung
2012, § 394 Rn. 1. und Literatur.
17 24
Schlüter (Fn. 16), § 393 Rn. 1. Existieren noch andere pfändbare Vermögensgegenstände,
18
Dennhardt, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, so könnte sich der Gläubiger dem Vorwurf des Rechtsmiss-
Ed. 34, Stand: 1.2.2015, § 393 Rn. 1, hier auch zum folgen- brauchs nach § 242 BGB aussetzen: Das Ausnutzen einer
dem Text. Rechtsposition in dem Willen, vertragliche Vereinbarungen
19
Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973, 271 (273 Fn. 26). zu umgehen, stellt einen Verstoß gegen das Verbot missbil-
20
Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973, 271 (273 Fn. 26). ligter Rechtsausübung dar, vgl. Roth/Schubert, in: Münche-
Bei einer Überweisung an die Bank des Geschädigten würde ner Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 242 Rn. 235.
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255
AUFSÄTZE Marisa Drost/Alexander Kunerth

2. Zulässigkeit der Selbstpfändung bei zulässiger Aufrech- das Recht des Gläubigers, seine (Gegen-)Forderung mithilfe
nung staatlicher Gewalt durchzusetzen. Die Vollstreckungsabwehr-
Wesentlich umstrittener ist die Frage, ob die Selbstpfändung klage nach § 767 Abs. 1 ZPO bildet dann die letzte Möglich-
auch dann noch zulässig ist, wenn der Gläubiger eine Auf- keit für den Schuldner, Einreden30 gegen den materiellen An-
rechnung erklären kann. Der Beispielsfall ist daher abzuwan- spruch geltend zu machen. Bleibt dieser Rechtsbehelf erfolg-
deln: los, muss der Schuldner die Vollstreckung in sein Vermögen
A erfährt von der Abtretung der gegen ihn gerichteten dulden.
Darlehensforderung des C an B gemäß § 409 Abs. 1 S. 1 In Hinblick auf die Erfüllbarkeit der zu pfändenden
BGB. Bereits seit 6 Monaten befindet sich B mit der Erfül- (Haupt-)Forderung ist eine Besonderheit der Selbstpfändung
lung der titulierten Kaufpreisforderung in Zahlungsverzug zu beachten. Grundsätzlich steht dem Drittschuldner im Rah-
nach § 286 Abs. 1 BGB. A erklärt nicht die Aufrechnung, men eines Dreipersonenverhältnisses als materielle Einrede
sondern geht vollstreckungsrechtlich gegen B vor. B hat das die fehlende Fälligkeit gegenüber dem Vollstreckungsgläubi-
Fahrrad verschenkt und hat daher außer der Darlehensforde- ger zu.31 In einem Zweipersonenverhältnis wie hier ist der
rung gegen A keinerlei Vermögensgegenstände mehr. Drittschuldner der Vollstreckungsgläubiger selbst. Es genügt
Kern des Streites ist in diesem Fall das Rechtsschutzbe- daher wie bei der Aufrechnung die mögliche Erfüllbarkeit der
dürfnis des Gläubigers (hier A).25 Dieses fehlt immer dann, zu pfändenden Forderung.
wenn ein kürzerer, einfacherer oder billigerer Weg zum glei- Problematisch in Bezug auf das Rechtsschutzbedürfnis
chen Ziel zur Verfügung steht,26 hier mit Hilfe der Aufrech- scheint allein die weitere Voraussetzung der Aufrechnungs-
nung. Niemand soll Gerichte ohne Notwendigkeit bemühen erklärung (§ 388 BGB) zu sein. Während die Aufrechnung
dürfen.27 Methodisch sind daher die Voraussetzungen und die nach § 388 S. 1 BGB durch formlose Erklärung gegenüber
Rechtsfolgen von Aufrechnung und Selbstpfändung zu ver- dem Aufrechnungsgegner möglich ist,32 wird dem Gläubiger
gleichen. Nur wenn die Aufrechnung ohne wesentlichen bei der Pfändung der Gerichtsbeschluss und Zustellungsnach-
Mehraufwand zum gleichen Ziel wie die Selbstpfändung weis erteilt.33 Damit hat die formlose Erklärung der Aufrech-
führt, kann das Rechtsschutzinteresse verneint werden. nung grundsätzlich einen gegenüber der Pfändung geringeren
Beweiswert.34 Dieses Problem ließe sich allerdings über eine
a) Voraussetzungen von Aufrechnung und Selbstpfändung Erklärung mittels Einschreiben beheben, die dann einen ver-
gleichbaren Beweiswert hätte.
Um die Wirkung des § 389 BGB herbeizuführen, muss neben
Einen Sonderfall bildet die Situation, dass der Aufent-
der Aufrechnungserklärung (§ 388 BGB) eine Aufrechnungs-
haltsort des Schuldners unbekannt ist und auch nicht ermittelt
lage (§ 387 BGB) vorliegen. Diese setzt zwei gegenseitige
werden kann. Eine Erklärung mittels Einschreiben ist hier
und gleichartige Forderungen zum Zeitpunkt der Aufrech-
nicht möglich. Aufgrund des § 388 BGB muss die Aufrech-
nungserklärung (§ 388 S. 1 BGB) voraus, wobei die Haupt-
nungserklärung dem anderen Teil zwingend zugehen. Eine
forderung des Aufrechnungsgegners erfüllbar (§ 271 Abs. 1
bloße Buchverrechnung oder Ähnliches ohne Zugang genügt
BGB) und die Gegenforderung des Aufrechnenden fällig und
nicht.35 Daher könnte eine öffentliche Zustellung des Pfän-
durchsetzbar, mithin einredefrei (§ 390 BGB) sein muss.
dungs- und Überweisungsbeschlusses gemäß §§ 185 Nr. 1,
Die Selbstpfändung setzt ebenso wie die Aufrechnung
829 Abs. 2 ZPO möglich und insoweit von Vorteil sein.
zwei existierende28 Forderungen voraus, die sowohl gleichar-
Problematisch ist dabei indes, dass die Zustellung nach § 829
tig sind, als auch in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen.
Abs. 3 ZPO grundsätzlich an den Drittschuldner ergehen
Die Voraussetzungen „Fälligkeit und Durchsetzbarkeit der
muss, der nicht Partei ist.36 Im Regelfall ist eine öffentliche
Gegenforderung“ und „Erfüllbarkeit der Hauptforderung“
Zustellung daher mangels Anwendbarkeit des § 185 Nr. 1
gehen hingegen im formalisierten Vollstreckungsverfahren
ZPO ausgeschlossen. Die Situation im Rahmen einer Selbst-
auf.29 Aus dem bestandskräftigen Vollstreckungstitel folgt
pfändung bildet jedoch einen Ausnahmefall: Der Pfändungs-
gläubiger ist selbst Drittschuldner, so dass es logischerweise
25 zu keinem Fall der öffentlichen Zustellung kommen kann.
Für ein Fehlen LG Düsseldorf MDR 1964, 332; Schönke,
Vielmehr hat der Gläubiger sich den Beschluss selbst zuzu-
Das Rechtsschutzbedürfnis, 1950, S. 75. Dafür OLG Köln
stellen und zwar durch den Gerichtsvollzieher im Parteibe-
NJW-RR 1989, 190; v. Gerkan, Rpfleger 1963, 369 (370);
Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973, 271 (273); Stöber
(Fn. 7), Rn. 33.
26
Bacher, in Beck’scher Online-Kommentar zur ZPO,
30
Ed. 15, Stand: 1.1.2015, § 253 Rn. 29. K. Schmidt/Brinkmann (Fn. 5), § 767 Rn. 59.
27 31
Becker-Eberhard, in: Münchener Kommentar zur ZPO, BGH WM 1981, 305; Smid (Fn. 1), § 829 Rn. 71.
32
4. Aufl. 2013, Vor §§ 253 ff. Rn. 11; Rosenberg/Schwab/ Dennhardt (Fn. 18), § 388 Rn. 1 f.; Schlüter (Fn. 16), § 387
Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 89 Rn. 30 f. Rn. 1.
28 33
Mangels Rechtsscheintatbestand existiert keine Möglich- Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973, 271.
34
keit einer gutgläubigen Pfändung, BGH NJW 2002, 755; Vgl. auch v. Gerkan, RPfleger 1963, 369 (370).
35
Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, 10. Aufl. 2014, Schlüter (Fn. 16), § 388 Rn. 1.
36
Rn. 510. Smid (Fn. 1), § 829 Rn. 39, Wittschier, in: Musielak/Voit,
29
Brox/Walker (Fn. 28), Rn. 510. Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 185 Rn. 3.
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ZJS 3/2015
256
Die Selbstpfändung als Aufrechnungsersatz in der Zwangsvollstreckung ZIVILRECHT

trieb nach den §§ 192 Abs. 1, 193 Abs. 1 S. 1 ZPO.37 Inso- wenn er gegenüber seinem Schuldner von höheren Zinsen
weit bietet die Selbstpfändung einen effektiveren Weg als die und sonstigen Anspruchserhöhungen profitiert.
Aufrechnung und das Rechtsschutzbedürfnis liegt vor. Andererseits wurde bereits festgestellt, dass bei der hier
Allerdings ist zu beachten, dass der Fall des unbekannten untersuchten Fallkonstellation vor Pfändung und Überwei-
Aufenthaltsortes des Schuldners eine Ausnahme darstellt. Die sung stets eine Aufrechnungslage vorliegt. Es stellt sich daher
Selbstpfändung stellt im Regelfall keine höheren Vorausset- die Frage, ob sich aus dem Zweck der ex tunc-Wirkung in
zungen auf als die Aufrechnung, so dass das Rechtsschutzbe- § 389 BGB systematische Parallelen zu der Situation im Rah-
dürfnis regelmäßig nicht schon aus diesem Grund vorliegen men der Selbstpfändung ziehen lassen.
kann. Zweck des § 389 BGB ist es, dass sich der Schuldner mit
Entstehung der Aufrechnungslage, mithin rückwirkend, als
b) Rechtsfolgen von Aufrechnung und Selbstpfändung wirtschaftlich befreit ansehen darf.40 Diese Wirkung tritt
Entscheidend für das Vorliegen des Rechtsschutzbedürfnisses rechtlich allerdings erst mit Erklärung der Aufrechnung als
im Regelfall ist damit, ob die Rechtsfolge der Selbstpfändung Gestaltungsrecht ein.
für den Vollstreckungsgläubiger weiter reichen kann als die Bei der Selbstpfändung trotz zulässiger Aufrechnung
der Aufrechnung. Dies ist dann der Fall, wenn die Überwei- wollte der Gläubiger keine Aufrechnung erklären. Die Erfül-
sung nach § 835 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 2 ZPO nicht die gleiche lung der Forderung sollte zunächst mittels Leistungsklage
Wirkung wie eine Aufrechnung nach § 389 BGB hat. erreicht werden. Zur Pfändung der Gegenforderung kam es
schließlich, weil der Gläubiger keine anderen verwertbaren
Vermögensgegenstände vorgefunden hat. Sobald die Forde-
aa) Wirkung der Aufrechnung und Überweisung
rung zwischenzeitlich in ihrem Wert aufgrund von An-
Sowohl Aufrechnung als auch Pfändung und Überweisung spruchserhöhungen und Zinsanfall zugunsten des Klägers ge-
führen zur gegenseitigen Schuldtilgung, das heißt zum Erlö- stiegen ist, wird der Rechtsgedanke des § 389 BGB somit
schen der Forderungen. Bei der Aufrechnung folgt dies aus abgelehnt. Das spricht zunächst gegen eine Vergleichbarkeit
§ 389 BGB, bei der Zwangsvollstreckung mittels Selbstpfän- mit den Rechtsfolgen einer Aufrechnung.
dung aus § 835 Abs. 2 ZPO und der anschließenden Konfusi- Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass auch der
on. Schuldner als Gläubiger der Gegenforderung eines Schutzes
bedarf. Dieser gilt aufgrund der Rückwirkung der Aufrech-
bb) Zeitpunkt der Wirkungen nung als wirtschaftlich befreit. Fraglich ist damit, ob dem
Entscheidend ist allerdings, in welchem Zeitpunkt diese Wir- Schuldner bei einer Verzinsung zugunsten des Gläubigers der
kungen eintreten, ob also beide Befriedigungsmodalitäten ex Vorteil dieser Rückwirkung auch im Fall einer Selbstpfän-
tunc oder ex nunc wirken. Bedeutsam ist dies vor allem für dung des Gläubigers erhalten bleiben muss.
die Berechnung der Zinsen und sonstigen Anspruchserhö- Der Gesetzgeber sieht etwa in § 406 BGB einen Fall vor,
hungen.38 § 389 BGB bezieht die Wirkung der Aufrechnung bei welchem trotz Wegfalls der Aufrechnungslage weiterhin
auf den Zeitpunkt der Aufrechnungslage zurück und führt der Vertrauensschutz hinsichtlich der wirtschaftlichen
somit dazu, dass für die Zeit seit deren Eintritt keine Zinsen Schuldbefreiung gewährleistet ist. § 406 BGB kombiniert
mehr angefallen und schon bezahlte Zinsen zurückzuerstatten dabei die Rechtsgedanken aus den §§ 404, 407 BGB.41 Beide
sind. Auch spätere, nach dem Eintritt der Aufrechnungslage schützen den Schuldner vor einer Verschlechterung seiner
entstandene Anspruchserhöhungen sind irrelevant. § 835 Situation - sei es durch den Erhalt von Gegenrechten oder
Abs. 2 ZPO enthält hingegen keine ausdrückliche Anordnung dem Vertrauen, nur gegenüber dem bisherigen Gläubiger ver-
einer ex tunc-Wirkung, mehr noch deutet der Wortlaut des pflichtet zu sein. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass
§ 835 Abs. 2 ZPO („geht über“, „als befriedigt anzusehen“) „der Aufrechnungsberechtigte nicht durch nachträgliche Vor-
zunächst auf eine ex nunc-Wirkung hin. Hinzu kommt, dass gänge, die seiner Einflussmöglichkeit entzogen sind und sich
die Überweisung an Zahlung statt wie eine erzwungene Ab- in der Sphäre des Aufrechnungsgegners abspielen“,42 benach-
tretung nach § 398 S. 1 BGB wirkt39 - einem Verfügungsge- teiligt sein soll.
schäft, dass nach seinem Wortlaut in S. 2 („Mit dem Ab- Gemäß § 829 Abs. 1 S. 1 ZPO verliert der Vollstre-
schluss […]“) nur ex nunc wirken kann. Damit könnte die ckungsschuldner die Verfügungsbefugnis über seine Forde-
Selbstpfändung für den Gläubiger attraktiver erscheinen, rung und darf daher nicht mehr aufrechnen. Zwar nimmt der
Gläubiger auch hier dem Schuldner den Schutz der Aufrech-
nungslage durch einseitige Einleitung der Zwangsvollstre-
37 ckung, doch wurde dieses Verhalten gerade durch die Nicht-
Stöber (Fn. 7), Rn. 33, 526. Der Pfändungsgläubiger behält
so die Möglichkeit, über den konkreten Zeitpunkt der Selbst-
pfändung zu entscheiden.
38
Dennhardt (Fn. 18), § 389 Rn. 3; Rimmelspacher/Spellen-
40
berg, JZ 1973, 271 (272 f.), hier auch zum folgenden Text. Je Dennhardt (Fn. 18), § 389 Rn. 3. Es tritt mit anderen Wor-
nach Basiszinssatz ergibt sich für A ein Zinsanfall von ca. 20- ten eine „effektive Erfüllung“ ein.
41
25 €. Eine sonstige Anspruchserhöhung kann etwa eine Ver- Roth, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012,
tragsstrafe sein, die an den Verzugseintritt anknüpft. § 406 Rn. 1, hier auch zum folgenden Text.
39 42
Siehe auch Fn. 2. BGH NJW 1959, 599 (600).
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AUFSÄTZE Marisa Drost/Alexander Kunerth

zahlung seitens des Schuldners herausgefordert.43 Der geworden. Der Sinn des Rechtsschutzbedürfnisses besteht
Schuldner hat damit seinen Schutz verwirkt, womit die Auf- jedoch gerade darin, dem Gegner und auch dem Gericht un-
rechnungsmöglichkeit nach Wegfall der Aufrechnungslage nötige Mühe und Kosten zu ersparen. Eine Differenzierung
nicht mehr konserviert wird. In diesem Fall ist eine dem zwischen Regel- und Ausnahmefall würde diese Filterfunkti-
§ 389 BGB entsprechende Rückwirkung im Fall der Selbst- on in ihr Gegenteil verkehren. Es ist daher konsequenter, eine
pfändung zum Schutz des Schuldners nicht geboten. Selbstpfändung auch in diesem Fall zuzulassen.
Der entscheidende Unterschied zwischen Aufrechnung
und Selbstpfändung liegt demnach im Zeitpunkt der Wirkun- III. Zusammenfassung
gen, was vor allem für die Zinsberechnung und etwaige An- Es hat sich gezeigt, dass Selbstpfändung und Aufrechnung in
spruchserhöhungen zugunsten des Vollstreckungsgläubigers einer Wechselwirkung zueinander stehen. Die Selbstpfän-
von wesentlicher Bedeutung sein kann. Der Weg der Auf- dung kann dabei als prozessuales Gestaltungsrecht verstan-
rechnung führt dann nicht zum gleichen Ziel, womit das den werden. Bei einem Ausschluss der Aufrechnung aus pro-
Rechtsschutzbedürfnis bejaht werden kann. zessualen oder materiellen Gründen ist die Selbstpfändung
zulässig. Vertragliche Aufrechnungsverbote müssen hingegen
c) Aufrechnungsverbot aus § 393 BGB gegenüber Schuldner ausgelegt werden. Als Auslegungshilfe für die Zulässigkeit
Bisher waren beide Parteien zur Aufrechnung befugt oder der Selbstpfändung kann hier ein Vergleich mit dem Insol-
dem Gläubiger war diese nicht möglich. Fraglich ist letztlich venzverfall des Schuldners dienen. Sobald die Aufrechnung
noch, ob sich an den vorherigen Ergebnissen etwas ändert, zulässig ist, ergibt sich aus den unterschiedlichen Rechtsfol-
wenn nur der Schuldner wegen § 393 BGB nicht aufrechnen gen von Aufrechnung und Pfändung das Vorhandensein des
kann. Rechtsschutzbedürfnisses.
Die Situation ist nun die Folgende: Allein der Vollstre-
ckungsgläubiger ist als Gläubiger einer Forderung aus vor-
sätzlicher unerlaubter Handlung aufrechnungsberechtigt.
Dieser hat nun ein Wahlrecht. Mit Erklärung der Aufrech-
nung tritt die Wirkung des § 389 BGB und damit ein Verlust
von zwischenzeitlich angefallenen Zinsen und Anspruchser-
höhungen ein. Er wird damit seinen Interessen entsprechend
den Weg der Zwangsvollstreckung einschlagen, indem er
Leistung vom Schuldner inklusive aller Anspruchserhöhun-
gen verlangt und notfalls die Selbstpfändung betreibt. Die
Rechtsfolgen des § 389 BGB würden den Vollstreckungs-
gläubiger damit wirtschaftlich zwingen, auf sein Aufrech-
nungsrecht zu verzichten und damit sein Wahlrecht zwischen
beiden Methoden aufzugeben. Da sich der Vollstreckungs-
schuldner hier anders als im Regelfall nicht wirtschaftlich
befreit fühlen darf, erscheint eine teleologische Reduktion
des § 389 BGB gerechtfertigt. Indem man die Forderungen
bei zwischenzeitlicher Anspruchserhöhung lediglich ex nunc
erlöschen lässt, würde der oben festgestellte Unterschied
zwischen Aufrechnung und Pfändung nicht mehr bestehen
und das Wahlrecht des Gläubigers weiter erhalten. Selbst-
pfändung und Aufrechnung würden dann jedoch die gleichen
Rechtsfolgen nach sich ziehen.
Anknüpfend an den Ausgangspunkt ergibt sich dann aus
Sicht des Gläubigers ein Dilemma: Gleichen sich die Rechts-
folgen zu seinem Schutz, müsste zugleich sein Rechtsschutz-
bedürfnis bezüglich der Zwangsvollstreckung entfallen. Die-
ses Ergebnis überzeugt bereits wertungsmäßig nicht. Prozes-
sual müsste zudem das Vollstreckungsgericht in jedem Fall
einer Selbstpfändung klären, ob materiell ein Anspruch aus
den §§ 823 ff. BGB besteht und damit ein Ausnahmefall
vorliegt. Eine solche materielle Prüfung ist dem formalisier-
ten Zwangsvollstreckungsverfahren allerdings fremd. Dies
würde zu folgendem Widerspruch führen: Das Rechtsschutz-
bedürfnis fehlt, aber die Rechtslage ist noch komplizierter

43
Rimmelspacher/Spellenberg, JZ 1973, 271 (273), hier auch
zum folgenden Text.
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ZJS 3/2015
258
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
Von Dr. Claudio Franzius, Berlin/Hamburg*

Die Ankündigung des Bundesjustizministers für ein neues sig und erforderlich sein sowie dem Gebot der Normenklar-
Gesetz zur Einführung der umstrittenen Vorratsdatenspeiche- heit und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen
rung wirft Fragen nach den verfassungsrechtlichen Grenzen muss.
auf, die vor allem durch Art. 10 GG gezogen werden. Grund-
legend für den Datenschutz in Deutschland ist jedoch das 1. Schutzgegenstand
Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Was verbirgt Ausgangspunkt ist das verfassungsrechtliche Persönlichkeits-
sich hinter diesem Grundrecht und wie sollte es gedacht recht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Im Kern geht
werden? Der Datenschutz ist längst vor internationale He- es um eine Fortentwicklung des Rechts auf Achtung der
rausforderungen gestellt, die Lösungen nicht mehr allein vom Privatsphäre, wobei als Schutzgegenstand die Selbstbestim-
nationalen Recht erwarten lassen. mung des Einzelnen und als Gefährdungslage der konkrete
Verwendungszusammenhang von Daten ausgemacht wurde.
I. Einführung Weil die sozialen Bezüge und Verwendungszusammenhänge
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bildet eine aber nicht zum Gegenstand des Schutzbereichs erklärt, son-
zentrale Grundlage für den Datenschutz in Deutschland. Es dern bei den Schranken verortet werden, verselbständigte
wurzelt im berühmten Volkszählungsurteil des Bundesverfas- sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und
sungsgerichts aus dem Jahr 1983 (II.). Vorliegend wird die ließ den grundrechtlichen Freiheitsvoraussetzungsschutz zum
Struktur des Grundrechts erläutert und gezeigt, dass sich die Inhalt eines Grundrechts werden.3 Deshalb sind die eingriffs-
Rechtsprechung um Kontinuität bemüht (III.). Das gilt trotz abwehrrechtlichen Konturen des Rechts auf informationelle
der Kritik an der Vorstellung einer eigentumsanalogen Ver- Selbstbestimmung unscharf geblieben.4
fügungsbefugnis über die „eigenen“ Daten und der hierdurch Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist der
erzwungenen Verrechtlichung, der nur begrenzte Steuerungs- Schutzbereich durch die Befugnis des Einzelnen gekenn-
leistungen korrespondieren (IV.). Für eine Neukonzeption zeichnet, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Ver-
des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung lassen sich wendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.5 Schutz-
drei Strategien unterscheiden, die in den Kontext der über- gegenstand ist eine Datenverfügungsbefugnis, die zwar nicht
staatlichen Herausforderungen des Datenschutzes gestellt unmittelbar das grundrechtliche Schutzgut abbildet und damit
werden (V.). nicht um ihrer selbst willen geschützt ist, dessen abwehr-
rechtlicher Schutz dann aber schnell auf einen Mechanismus
II. Grundlegung zur Sicherung anderer Freiheiten verkürzt wird.6 Hält man
Das BVerfG hat im Volkszählungsurteil das Recht auf infor- demgegenüber an einem eigenständigen „Schutzbereich“ fest,
mationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemei- so fragt sich, ob seine Kennzeichnung als eigentumsanaloges
nen Persönlichkeitsrechts vor dem Hintergrund der „heutigen Informationsbeherrschungsrecht angemessen ist. Während
und künftigen Bedingungen der automatischen Datenverar- das allgemeine Persönlichkeitsrecht heute jedenfalls insoweit
beitung“ anerkannt.1 Dieses Grundrecht sichert dem Einzel- eine zurückhaltendere Schutzbereichsbestimmung erhält als
nen die Befugnis, grundsätzlich „selbst über die Preisgabe Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG kein allgemeines und
und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“ umfassendes (!) Verfügungsrecht über die Darstellung der
und „zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen eigenen Person7 zu entnehmen ist, der soziale Kontext viel-
persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.“ Zudem mehr an Bedeutung gewinnt, ist das beim Recht auf informa-
müssen Betroffene „wissen können, wer was wann und bei tionelle Selbstbestimmung bislang nur begrenzt der Fall und
welcher Gelegenheit über sie weiß“. Für die Rechtfertigung die Argumentationslast verlagert sich auf die Rechtferti-
des Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestim- gungsebene. Obwohl der Datenschutz kontextspezifisch auch
mung, das Eingang in viele Landesverfassungen2 gefunden
hat, statuiert das Gericht strenge Anforderungen: Jede Be- 3
schränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung Bull, ZRP 1998, 310 (312); Ladeur, DuD 2000, 12; Trute,
bedarf einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage, die in: Roßnagel (Hrsg.), Handbuch Datenschutzrecht, 2003,
aus Gründen des überwiegenden Allgemeininteresses zuläs- Kap. 2 Rn. 11 („ersichtlich zu weit“).
4
Krit. Ladeur, DÖV 2009, 45. Der Freiheitsbegriff des
Grundgesetzes erschöpft sich nicht in der Ausgrenzung eines
* Der Verf. ist Privatdozent an der Juristischen Fakultät der Raums eigenen Beliebens, sondern meint rechtlich geordnete
Humboldt-Universität zu Berlin. Freiheit, vgl. Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.),
1
BVerfGE 65, 1 (42). Grundlegend zuvor Podlech, in: Perels Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 31.
(Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, 1979, Gegen die Verkürzung auf die Staatsabwehrdoktrin auch
S. 50. Zur Rekonstruktion Steinmüller, RDV 2007, 158. Hoffmann-Riem, AöR 123 (1998), 513 (523 ff.).
2 5
Art. 33 BerlVerf; Art. 11 BrandenbVerf; Art. 12 Abs. 3-5 BVerfGE 65, 1 (42 f.); 118, 168 (184); 120, 274 (312).
6
BremVerf; Art. 6 Abs. 1-2 MVVerf; Art. 4 Abs. 2 NWVerf; So Britz, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft,
Art. 4a RPVerf; Art. 2 S. 2 SaarVerf; Art. 6 Abs. 1 Sachs- 2010, S. 561 (582).
7
AnhVerf; Art. 6 Abs. 2-4 ThürVerf. BVerfGE 101, 361 (380); 120, 180 (198).
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259
AUFSÄTZE Claudio Franzius

in den speziellen Freiheitsgarantien verortet und der Schutz- wahren, dessen Schutz sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt.12
bereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts für Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater
neue Inhalte geöffnet wird, bleibt dieser isoliert auf einzelne Lebensgestaltung gehört die Möglichkeit, innere Vorgänge
Daten ausgerichtet und der maßgebliche Bezugspunkt der wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, An-
Information wird erst auf der Ebene der Eingriffsrechtferti- sichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art ohne die Angst
gung im Rahmen der Abwägung relevant.8 zum Ausdruck zu bringen, dass staatliche Stellen dies über-
wachen.13 Um diesen Vorgaben gerecht zu werden, sind
2. Eingriffsrechtfertigungen Schutzkonzepte häufig zweistufig ausgestaltet. Auf der ersten
Unter Zugrundlegung eines weiten Eingriffsbegriffs, der Stufe hat eine gesetzliche Ermächtigung so weit wie möglich
nicht immer erkennen lässt, welcher Schritt der Datenerhe- sicherzustellen, dass Daten mit Kernbereichsbezug nicht
bung und -verarbeitung als rechtsrelevante Aktion heraus- erhoben werden. Bei heimlichen Zugriffen ist es jedoch prak-
zukristallieren und damit als Eingriff zu qualifizieren ist, tisch unvermeidbar, Informationen zur Kenntnis zu nehmen,
kommt es entscheidend auf die verfassungsrechtliche Recht- bevor ihr Kernbereichsbezug bewertet werden kann. Daher
fertigung an. Das BVerfG hat den Schrankenvorbehalt des muss auf der zweiten Stufe für hinreichenden Schutz in der
Art. 2 Abs. 1 GG für das Recht auf informationelle Selbstbe- Auswertungsphase gesorgt sein. Insbesondere müssen aufge-
stimmung präzisiert: fundene und erhobene Daten mit Kernbereichsbezug unver-
Maßgeblich sind die Grundsätze der Bestimmtheit und züglich gelöscht und ihre Verwertung ausgeschlossen wer-
Normenklarheit. Der Gesetzgeber habe Anlass, Zweck und den.14
Grenzen des Eingriffs hinreichend bereichsspezifisch, präzise In der eingriffsabwehrrechtlichen Konstruktion des
und normenklar festzulegen. Bediene sich der Gesetzgeber BVerfG spielt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine
unbestimmter Rechtsbegriffe, dürfen verbleibende Ungewiss- zentrale Rolle. Danach wird verlangt, dass der Grund-
heiten nicht so weit gehen, dass die Vorhersehbarkeit und rechtseingriff einem legitimen Zweck dient und als Mittel zu
Justiziabilität des Handelns der durch die Normen ermächtig- diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist.
ten staatlichen Stellen gefährdet sind.9 Erst allmählich wird Grundsätzlich dürfte gegenüber dem heimlichen Zugriff eine
klar, dass hier ein Spannungsverhältnis besteht: Je bestimm- offene Erhebung das mildere Mittel sein. Der Gesetzgeber
ter die Norm bereichsspezifisch zu fassen ist, desto weniger hält aber häufig nur die verdeckte Erhebung der Daten für
normenklar werden die Anforderungen des Datenschutzes für erfolgversprechend, so dass die Argumentationslast in die
den Einzelnen.10 Angemessenheitsprüfung verlagert wird. Hier darf die
Herausragende Bedeutung wird dem Grundsatz der Schwere des Eingriffs nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht
Zweckbindung zugesprochen: Das eingriffsrechtfertigende der ihn rechtfertigenden Gründe stehen.15 Der Gesetzgeber
Gesetz muss eine Bestimmung über die Zweckbindung ent- hat das Individualinteresse, das durch einen Grundrechtsein-
halten, wonach gewonnene Daten nur zu den Zwecken ver- griff beschnitten wird, den Allgemeininteressen, denen der
wendet werden dürfen, zu denen sie erhoben wurden. Auch Eingriff dient, angemessen zuzuordnen. Die Prüfung an die-
diese Konditionalprogrammierung scheint der Realität, wozu sem Maßstab kann ergeben, dass ein Mittel nicht zur Durch-
das anlasslose Sammeln von Daten durch private Unterneh- setzung von Allgemeininteressen angewandt werden darf,
men gehört, nur noch begrenzt gerecht werden zu können. weil die davon ausgehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen
Zwar geht das BVerfG davon aus, dass eine Sammlung nicht schwerer wiegen als die durchzusetzenden Belange.16
anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder nicht
bestimmbaren Zwecken verfassungswidrig wäre. Diesem III. Beispiele aus der Rechtsprechung
Verbot unterfalle eine vorsorglich anlasslose Speicherung 1. BVerfGE 65, 1 (Volkszählung)
von Telekommunikationsverkehrsdaten zur späteren anlass- Die Besonderheit des Rechts auf informationelle Selbstbe-
bezogenen Übermittlung und Verwertung jedoch nicht.11 stimmung liegt weniger darin, dass hier ein neues Grundrecht
Das Gesetz muss auch den verfassungsrechtlichen Maß- „erfunden“ wurde, sondern im Zusammenziehen mehrerer
gaben zum Schutz des Kernbereichs gerecht werden. Heimli- Argumentationsstränge aus der Rechtsprechung des Gerichts,
che Überwachungsmaßnahmen staatlicher Stellen haben den das schon in der Mikrozensus-Entscheidung unter Rückgriff
unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zu auf seine Menschenwürde-Rechtsprechung dem einzelnen
Bürger einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestal-
tung zugewiesen hat, der Einwirkungen der öffentlichen
8
Näher Albers, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voß-
kuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2.
12
Aufl. 2012, § 22 Rn. 68; v. Lewinski, Die Matrix des Daten- BVerfGE 6, 32 (41); 27, 1 (6); 32, 373 (378); 34, 238
schutzes, 2014, S. 17 ff. (245); 80, 367 (373); 109, 279 (313); 113, 348 (390).
9 13
BVerfGE 120, 274 (315 f.). BVerfGE 109, 279 (314).
10 14
Vgl. Kingreen/Kühling, JZ 2015, 213 (215 f.). BVerfGE 109, 279 (318); 113, 348 (391 f.).
11 15
BVerfGE 125, 260 (316); schärfer EuGH, Urt. v. 8.4.2014 Vgl. BVerfGE 90, 145 (173); 109, 279 (349 ff.); 113, 348
– C-293/12 und C-514/12 (Digital Rights Ireland u.a.). Zu (382).
16
den Unterschieden Spiecker gen. Döhmann, JZ 2014, 1109 BVerfGE 120, 274 (321 f.). Für ein Beispiel OVG Ham-
(1113). burg, NJW 2008, 96.
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ZJS 3/2015
260
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ÖFFENTLICHES RECHT

Gewalt entzogen sein soll.17 In den Schutzbereich des infor- durch staatlich eingesetzte Großrechenanlagen geschuldet
mationellen Selbstbestimmungsrechts fließen Elemente der gewesen sein, erweist sich aber angesichts der neuen Gefähr-
Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, der dungen durch private Akteure wie Facebook, Google oder
Selbstbestimmung im Sinne einer Bestimmungsbefugnis über andere Internetdienste als prekär, passt die Figur der Ein-
die „eigenen“ Daten und die Sicherung der Verhaltensfreiheit griffsabwehr doch grundrechtsdogmatisch für Privatrechtsbe-
„im Hinblick auf Unwissenheit über das Wisser Anderer über ziehungen nicht. Der genetische Code des Rechts auf infor-
die eigene Person.“18 Aber nicht bloß den Bezug zur Verhal- mationelle Selbstbestimmung liegt in der bipolaren Konstel-
tensfreiheit stellt das Gericht heraus, wenn es ausführt: lation eines für übermächtig gehaltenen Staates, dem die um
„Individuelle Selbstbestimmung setzt [...] voraus, dass individuelle „Selbstbestimmung“ angereicherte Handlungs-
dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende freiheit der Bürger einfach gegenübergestellt wird. Bis heute
oder zu unterlassende Handlungen einschließlich der Mög- hat das BVerfG eine überzeugende Antwort auf die verfas-
lichkeit gegeben ist, sich auch entsprechend dieser Entschei- sungsrechtlichen Fragen des Datenschutzes im Privatrecht
dung tatsächlich zu verhalten [...]. Mit dem Recht auf infor- nicht gefunden.21 Zwar liegt mit der Figur der Schutzpflich-
mationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsord- ten ein grundrechtsdogmatischer „Aufhänger“ bereit. Daraus
nung und eine diese ermöglichenden Rechtsordnung nicht folgt jedoch kein strikter Gesetzesvorbehalt für private Da-
vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was tenverarbeitungsvorgänge, sondern im Grunde nur, dass ein
wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsi- rechtlicher Rahmen zur tatsächlichen Sicherung des informa-
cher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert tionellen Selbstschutzes bereitgestellt wird.22
und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder
weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche 2. BVerfGE 120, 378 (Kfz-Kennzeichenerfassung)
Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa In einer Reihe von Entscheidungen hat das BVerfG den Ge-
die Teilnahme an einer Versammlung oder Bürgerinitiative setzesvorbehalt zum Anlass genommen, die Verantwortung
behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken des Gesetzgebers für die differenzierte Strukturierung von
entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung Datenverarbeitungsvorgängen hervorzuheben.23 Dass es, wie
seiner entsprechenden Grundrechte verzichten. Dies würde es im Volkszählungsurteil heißt, kein „belangloses“ Datum
nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen geben kann, wird dahingehend präzisiert, dass es auf den
beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbst- Verwendungskontext ankommt.24 Hierdurch wird unterstri-
bestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf chen, dass personenbezogene Daten erst in bestimmten Kon-
Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger texten zur Information werden und je nach Kontext eine
begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens völlig neue Bedeutung erhalten können.25
ist.“19 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wie es
Obwohl Selbstbestimmung nicht bloß individuell verstan- namentlich im informationsbezogenen Polizeirecht seinen
den, sondern auf das kollektive Gemeinwesen bezogen wird Niederschlag gefunden hat, erweitert den grundrechtlichen
und die freie Entfaltung der Persönlichkeit unter den Bedin- Schutz von Verhaltensfreiheit, indem es ihn schon auf der
gungen der Datenverarbeitung deshalb den Schutz des Ein-
zelnen gegen die unbegrenzte Erhebung, Speicherung und
Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten be-
Verwendung „seiner“ persönlichen Daten verlange, kon-
stimmen, aber keineswegs zwingend.
struiert das BVerfG das Recht auf informationelle Selbstbe- 21
Vgl. Bäcker, Der Staat 51 (2012), 91 (97 ff.).
stimmung als Eingriffsabwehrrecht und hält daran bis heute 22
BVerfG, Beschl. v. 17.7.2013 – 1 BvR 3167/08 = NJW
fest.20 Das mag der damals als neu empfundenen Gefährdung
2013, 3086.
23
Vgl. Bull, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bun-
17
BVerfGE 27, 1 (6) mit Bezugnahme auf BVerfGE 6, 32 desverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015,
(41); 6, 389 (433). S. 627.
18 24
Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 9. Zur Rekombination der Strän- BVerfGE 120, 378 (399). Das war in BVerfGE 65, 1 (45)
ge aus verschiedenen Zusammenhängen in der eingriffsab- undeutlich geblieben.
25
wehrrechtlichen Verbürgung eines Entscheidungsrechts über Deshalb kann die Begrenzung der Verwendung eine Spei-
die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten Albers cherung rechtfertigen, vgl. mit Blick auf die Speicherung und
(Fn. 8), § 22 Rn. 61. anschließender Übermittlung von personenbezogenen Tele-
19
BVerfGE 65, 1 (42 f.), Hervorhebungen des Verf. kommunikationsdaten BVerfGE 125, 260 (327 f.): „Eine
20
Krit. Albers, in: Haratsch/Kugelmann/Repkewitz (Hrsg.), Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten [...]
Herausforderungen an das Recht der Informationsgesell- setzt gesetzliche Regelungen zur Verwendung dieser Daten
schaft, 1996, S. 113. Zum „Sprung in der Argumentation“ voraus. Die verhältnismäßige Ausgestaltung dieser Verwen-
auch Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 9 mit Fn. 40; Bull, Informatio- dungsregeln entscheidet damit nicht nur über die Verfas-
nelle Selbstbestimmung – Vision oder Illusion?, 2. Aufl. sungsmäßigkeit dieses einen eigenen Eingriff begründenden
2011, S. 33 f. Danach ist es eine Sache, dass die Sammlung Bestimmungen selbst, sondern wirkt auf die Verfassungsmä-
und Verwendung von Informationen über Individuen nicht ßigkeit schon der Speicherung als solcher zurück.“ Hieran
unbegrenzt erlaubt sein kann, die daraus entwickelte Schluss- kann ungeachtet aller Zweifelsfragen eine neue Regelung der
folgerung, der Einzelne müsse grundsätzlich selbst über die Vorratsdatenspeicherung anknüpfen.
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261
AUFSÄTZE Claudio Franzius

Stufe der Persönlichkeitsgefährdung beginnen lässt. Hier hat gen des BVerfG zum Einschüchterungseffekt der Vorratsda-
es den Anschein, als werde der Verzicht auf einen konkreten tenspeicherung33 Bezug nimmt.34
Nachteilsbezug26 durch den Hinweis auf die fehlende Be-
nennbarkeit konkret bedrohter Rechtsgüter kompensiert. Es 3. BVerfGE 120, 274 (Online-Durchsuchung)
kommt zu einem in das Vorfeld verlagerten Gefährdungs- In seinem Urteil zur heimlichen Infiltration privater Compu-
schutz. Einer vollständigen Entkoppelung von möglichen ter hat das BVerfG die Grenzen seiner Konzeption des grund-
Rechtsgutverletzungen wird dadurch vorgebeugt, dass eine rechtlichen Datenschutzes erkannt und einer „Überfrachtung“
besondere Gefährdungslage verlangt wird.27 des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung vorzubeu-
Das Urteil verdeutlicht die abwehrrechtliche Konstruktion gen versucht. Werde ein informationstechnisches System
des informationellen Selbstbestimmungsrechts und macht die zum Zweck der Telekommunikationsüberwachung technisch
Anforderungen des Gesetzesvorbehalts hinsichtlich der Be- infiltriert, so ist mit der Infiltration die entscheidende Hürde
stimmtheit der gesetzlichen Grundlage von der Intensität des genommen, um das System insgesamt auszuspähen.
Eingriffs abhängig, die durch das Zweckbindungserfordernis Das BVerfG arbeitet heraus, dass den dadurch bewirkten
abgemildert wird. Weil die Anforderungen an die Zweckfest- spezifischen Gefährdungen der Persönlichkeit weder durch
legung der Minderung der Eingriffsintensität und nur mittel- Art. 10 Abs. 1 GG noch durch Art. 13 Abs. 1 GG hinreichend
bar der Sicherung der Parlamentsverantwortung dienen, kön- begegnet werden könne. Danach schützt Art. 10 GG die lau-
ne die Festlegung auch administrativ erfolgen.28 Auch der fende, nicht aber die abgeschlossene Kommunikation. Art. 13
Auskunftsanspruch sowie allgemein die Einräumung von GG schütze nur die räumliche Privatsphäre, nicht aber die
Kenntnis- und Einflussrechten der Betroffenen können gera- Infiltration eines PC außerhalb der Wohnung. Auch das all-
de bei heimlicher Datenverarbeitung aus Verhältnismäßig- gemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht
keitsgesichtspunkten geboten sein. Das mildert den so ge- auf Schutz der Privatsphäre reiche nicht aus, um angemesse-
nannten chilling effect, aus Sorge vor einer Speicherung ab- nen Schutz zu gewährleisten:
weichender Verhaltensweisen durch solche Verhaltensweisen „In seiner Ausprägung als Schutz der Privatsphäre ge-
seine Grundrechte in Anspruch zu nehmen.29 währleistet das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Einzel-
In jüngeren Entscheidungen hat das BVerfG diesen Ein- nen einen räumlich und thematisch bestimmten Bereich, der
schüchterungseffekt hervorgehoben.30 So vermittelt dem Ge- grundsätzlich frei von unerwünschter Einsichtnahme bleiben
richt zufolge die automatische Erfassung von Kfz-Kenn- soll […]. Das Schutzbedürfnis des Nutzers eines informati-
zeichen die Eindruck ständiger Kontrolle. Das „sich einstel- onstechnischen Systems beschränkt sich jedoch nicht allein
lende Gefühl des Überwachtwerdens“ könne zu Einschüchte- auf Daten, die seiner Privatsphäre zuzuordnen sind. Eine
rungseffekten und in der Folge zu Beeinträchtigungen bei der solche Zuordnung hängt zudem häufig von dem Kontext ab,
Ausübung von Grundrechten führen. Dadurch seien nicht nur in dem die Daten entstanden sind und in den sie durch Ver-
die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen betrof- knüpfung mit anderen Daten gebracht werden. Dem Datum
fen, sondern auch das Gemeinwohl, weil „die Selbstbestim- selbst ist vielfach nicht anzusehen, welche Bedeutung es für
mung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Hand- den Betroffenen hat und welche es durch Einbeziehung in
lungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten andere Zusammenhänge gewinnen kann. Das hat zur Folge,
freiheitlichen Gemeinwesens“ ist.31 Dass es hierbei nicht dass mit der Infiltration des Systems nicht nur zwangsläufig
allein um deutsche Befindlichkeiten geht, wir es also mit private Daten erfasst werden, sondern der Zugriff auf alle
keiner querelle d’ allemand zu tun haben, dokumentiert das Daten ermöglicht wird, so dass sich ein umfassendes Bild
Urteil des EuGH zur Grundrechtswidrigkeit der Vorratsda- vom Nutzer des Systems ergeben kann.“35
tenspeicherungsrichtlinie, das nach den Schlussanträgen von Weil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf
Generalanwalt Pedro Cruz-Villalón32 explizit auf Ausführun- punktuelle Datenerhebungen ausgelegt ist, biete es keinen
ausreichenden Schutz vor den Gefahren, die durch die Nut-
26
Krit. Bull (Fn. 20), S. 92. zung informationstechnischer Systeme bedingt sind. Wer
27
Vgl. Britz (Fn. 6), S. 578 ff. informationstechnische Systeme nutzt, ist gezwungen, dem
28
Vgl. Britz (Fn. 6), S. 584. System persönliche Daten zu liefern. Werde auf dieses Sys-
29
Siehe auch Masing, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechts- tem zugegriffen, verfüge der Zugreifende auf Anhieb über
wissenschaft, 2010, S. 467 (490): „Besteht die Gefahr, dass einen potenziell großen und aussagekräftigen Datenbestand
jede Abweichung vom common sense festgehalten wird, ent- und sei auf weitere Datenerhebungs- oder Datenverarbei-
steht ein Anpassungsdruck, der individuell Zivilcourage hem- tungsmaßnahmen nicht mehr angewiesen. Insofern bestehe
men und gesellschaftlich die Innovationskraft der Freiheit bei Anwendung des Rechts auf informationelle Selbstbe-
konterkarieren kann.“ stimmung eine Schutzlücke. Diese Lücke schloss das BVerfG
30
BVerfGE 113, 29 (46 f.); 115, 166 (188); 120, 378 (402); in der Entscheidung zur Online-Durchsuchung, indem es das
krit. Bull (Fn. 23), S. 641 ff.
31 33
BVerfGE 120, 378 (430); krit. Nettesheim, VVDStRL 70 BVerfGE 125, 260 (320); anders die abw. Meinung des
(2011), 7 (28 f.); Bull (Fn. 20), S. 63 ff. Richters Eichberger, BVerfGE 125, 364 (366).
32 34
EuGH (Generalanwalt Cruz-Villalón), Schlussanträge v. EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12 und C-514/12 (Digital
12.12.2013 – C-293/12 und C-514/12 (Digital Rights Ireland Rights Ireland u.a.), Rn. 37.
35
u.a.), Rn. 52, 72. BVerfGE 120, 274 (311 f.).
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ZJS 3/2015
262
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ÖFFENTLICHES RECHT

Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität nen. Deshalb fokussiert die Kritik auf die abwehrrechtliche
informationstechnischer Systeme aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Konstruktion des Grundrechts, womit weder neue Gefähr-
Abs. 1 GG entwickelt: dungen durch private Unternehmen angemessen in den Griff
„Soweit kein hinreichender Schutz vor Persönlichkeitsge- zu bekommen sind noch die maßgebliche Grundrechtsfunkti-
fährdungen besteht, die sich daraus ergeben, dass der Einzel- on für die Ausgestaltung des einfachen Rechts benannt ist.
ne zu seiner Persönlichkeitsentfaltung auf die Nutzung in-
formationstechnischer Systeme angewiesen ist, trägt das 1. Eigentumsanaloge Verfügungsbefugnis
allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Schutzbedarf in seiner Zwar hat das BVerfG schon im Volkszählungsurteil die sozi-
lückenfüllenden Funktion über seine bisher anerkannten ale Dimension von Informationsvorgängen herausgestellt.
Ausprägungen hinaus dadurch Rechnung, dass es die Integri- Der Einzelne habe kein Recht im Sinne einer absoluten, un-
tät und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme eingeschränkten Herrschaft über „seine“ Daten; er ist viel-
gewährleistet. Dieses Recht fußt gleich dem Recht auf infor- mehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfal-
mationelle Selbstbestimmung auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 tende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. In-
Abs. 1 GG. Es bewahrt den persönlichen und privaten Le- formation, auch soweit sie personenbezogen ist, stelle kein
bensbereich der Grundrechtsträger vor staatlichem Zugriff im Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem
Bereich der Informationstechnik auch insoweit, als auf das Betroffenen allein zugeordnet werden kann. Allerdings hat
informationstechnische System insgesamt zugegriffen wird das Gericht die soziale Dimension von Informationsverarbei-
und nicht nur auf einzelne Kommunikationsvorgänge oder tungsvorgängen grundrechtsdogmatisch nicht im Schutzbe-
gespeicherte Daten.“36 reich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ver-
Dieses, mitunter missverständlich als Computer-Grund- ortet, sondern als Problem kollidierender Rechte in der
recht bezeichnete Recht schützt das Interesse des Nutzers, Schrankendogmatik verarbeitet. Damit erscheint das informa-
dass die von einem informationstechnischen System erzeug- tionelle Selbstbestimmungsrecht als eine absolute Verfü-
ten, verarbeiteten und gespeicherten Daten vertraulich blei- gungsbefugnis, die wie andere Grundrechte zugunsten ande-
ben. Erkennbar stellt das Gericht auf die Systemanforderun- rer Rechte gegebenenfalls zurückstehen muss.
gen ab und spezifiziert die Angemessenheitsprüfung. Der Ein so weiter Schutzbereich ist aber schlecht zu begrün-
gesetzlich geregelte Eingriffsanlass muss nach Rang und Art den. Eigentumsanaloge Informationsbeherrschungsrechte, die
der Gefährdung der Schutzgüter ein hinreichendes Gewicht ein Recht auf das „Haben“ von Informationen beeinhalten
aufweisen. Online-Durchsuchungen dürfen nur zum Schutze würden, liefen darauf hinaus, dem Einzelnen ein Recht an
überragend wichtiger Rechtsgüter erfolgen. Das können der Beobachtungen und Sinnkonstruktionen anderer zuzuwei-
Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder Landes, die sen.39 Das kann schon vor dem Hintergrund der anderen
Integrität von Leib, Leben und Freiheit oder schwere Strafta- Grundrechtspositionen nicht sein40 und vernachlässigt den
ten sein. Was jedoch ein „informationstechnisches System“ sozialen Kontext, in den Informationen gestellt sind, ja da-
ist und wie „Vertraulichkeit“ oder „Integrität“ zu bestimmen durch überhaupt erst zu einer Information werden. Das muss
sind, bleibt nach der Entscheidung des BVerfG unsicher und keinen Abschied vom grundrechtlichen Datenschutz bedeu-
hat im Schrifttum zur Kritik geführt.37 Trotz dieser offenen ten. Die Vielfalt der Schutz- und Ordnungsbedürfnisse kann
Fragen besteht eine Leistung des Rechts auf Gewährleistung von der Grundrechtsdogmatik dadurch verarbeitet werden,
der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer dass Gewährleistungsgehalte mit Hilfe überindividueller Per-
Systeme darin, dass nunmehr auch in der Rechtsprechung des spektiven formuliert werden.
BVerfG deutlich wird, mit einem auf Entscheidungsbefugnis-
se des Einzelnen fokussierten Schutzkonzept nicht immer 2. Verrechtlichung ohne Steuerungsleistungen
weiter zu kommen.38
Inzwischen wird immer klarer, dass die Konzeption des
BVerfG mit der Fokussierung auf die Eingriffsabwehr an
IV. Kritik und Neukonzeption
Grenzen stößt und der reale Gewinn an Freiheitsschutz
Seit Jahren richtet sich die konzeptionelle Kritik am Recht durchaus bestritten werden kann. Konzentriert man die Fra-
auf informationelle Selbstbestimmung auf die Konstruktion gen des Datenschutzes auf die abwehrrechtlichen Gehalte der
einer eigentumsanalogen Befugnis an etwas, was nur als Grundrechte, liegen die Folgen auf der Hand, mögen sie
sozialer Vorgang angemessen begriffen werden könne. Der mitunter auch zu drastisch beschrieben werden. Es droht eine
vom BVerfG garantierte Schutz der Grundrechtsträger erfor- Verrechtlichung, weil der Eingriff in den „Schutzbereich“ des
dert das Mitdenken von Kontexten und die Berücksichtigung Rechts auf informationelle Selbstbestimmung den Gesetzes-
kontextual gefasster mehrdimensionaler Grundrechtspositio-

36 39
BVerfGE 120, 274 (313). Vgl. Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 19; Albers, Rechtstheorie 33
37
Statt vieler Britz, DÖV 2008, 411 (413 ff.); Eifert, NVwZ (2002), 61 (81).
40
2008, 521 (522 ff.). Das kulminiert in der Feststellung, eine unmittelbar an die
38
Zum objektiv-rechtlichen Rahmen des subjektiven Rechts individuelle Verfügungsbefugnis anknüpfende Konzeption
auf „Gewährleistung“ der Integrität und Vertraulichkeit in- gewähre Unmögliches (Informationsverfügungsbefugnis)
formationstechnischer Systeme Hoffmann-Riem, JZ 2014, 53 oder normativ nicht Erforderliches (Datenverfügungsbefug-
(57); siehe auch Ladeur, DÖV 2009, 45 (54 f.). nis), vgl. Britz (Fn. 6), S. 567 f.
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263
AUFSÄTZE Claudio Franzius

vorbehalt auslöst.41 Ein Blick in die Standardbefugnisse des mung, dessen Erstreckung in den öffentlichen Raum über den
Polizei- und Ordnungsrechts veranschaulicht den Zuwachs an Schutz der Privatsphäre hinausgehe.45 Werde wegen der
rechtlichen Regelungen zur Legitimierung des informations- großen „Streubreite“ einer Maßnahme und schon wegen des
bezogenen Handelns der Polizei und Ordnungsbehörden. Das bloßen „Gefühls“ des Überwachtwerdens ein Eingriff mit
Bestimmtheitserfordernis für die Rechtfertigung von Eingrif- erheblichem Gewicht bejaht, gingen die Konturen des Ein-
fen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung tritt in griffsabwehrrechts verloren. Vorgeschlagen wird kein Um-
ein Spannungsverhältnis zur Normenklarheit, ist es den Be- bau der Konzeption, aber eine Rückbesinnung auf die
troffenen angesichts der verstreuten Regeln im Bundesdaten- Schutzgüter der Privatheit und Verhaltensfreiheit mit der
schutzgesetz und der Zunahme an bereichsspezifischen Rege- Abwehr von Gefährdungen und Verletzungen der Persön-
lungen in sachgebietsbezogenen Gesetzen doch kaum noch lichkeit.46 Auch der extrem weite Eingriffsbegriff, der die
möglich, die Anforderungen für die Erhebung, Verwertung „Illusion“ zur Grundrechtskategorie erhebe und bereits „ein
und Weitergabe von Daten zu erkennen. Gefühl des Überwachtwerdens“ den Eingriff indizieren lasse,
Mit anderen Worten: Es droht nicht bloß eine Verrechtli- müsse überdacht werden.47 Die notwendige Konturierung des
chungsfalle.42 Angesichts des sich schnell verändernden tech- Schutzbereichs könne nur durch eine stärkere Rückkoppelung
nischen, sozialen und wirtschaftlichen Kontexts laufen die des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung an das
Regelungen des Datenschutzes auch Gefahr, ihre Steuerungs- allgemeine Persönlichkeitsrecht zurückgewonnen werden und
kraft einzubüßen. Mehr Recht bedeutet nicht stets bessere der Eingriffsbegriff bedürfe der Revision, weil anderenfalls
Steuerungsfähigkeit.43 Obwohl eine Stärke des Datenschutzes nahezu jeder staatliche Umgang mit personenbezogenen
in der Einbeziehung des sozialen Umfelds gesehen werden Daten ohne oder gegen den Willen des Betroffenen als Ein-
konnte, droht das Recht auf informationelle Selbstbestim- griff qualifiziert werden müsse und damit dem Vorbehalt des
mung an der Realität aufzulaufen, soweit es nicht gelingt, den Gesetzes unterstellt wäre.48
wachsenden Differenzierungsbedarf grundrechtlich aufzufan- Die Folge wäre ein enges Verständnis des Datenschutz-
gen. Statt Forderungen nach dem einen Grundrecht auf Da- rechts ohne größere Auswirkungen auf die Informationsord-
tenschutz nachzugeben, wird man dem Charakter des Daten- nung. Deren Ausgestaltungsvorgaben müssen dann aus ande-
schutzrechts als Querschnittsmaterie auch grundrechtsdogma- ren Grundrechten entwickelt werden, wofür das Persönlich-
tisch zu entsprechen haben. Die Aufgabe der Wissenschaft keitsrecht mit dem Schutz der Privatsphäre einen konzeptio-
liegt darin, die Beharrungskräfte der Rechtsprechung auf ihre nell begrenzten Ansatz liefern würde. Auch der EuGH hat
Stimmigkeit zu überprüfen, die Folgen zu überdenken und sein grundlegendes Datenschutz-Urteil in der Rechtssache
Neukonzeptionen in die Diskussion über das eigentümliche Google Spain49 im Wesentlichen auf Art. 7 GRCh mit dem
Recht auf informationelle Selbstbestimmung einzuspeisen. Schutz der Privatsphäre gestützt, obwohl der Datenschutz in
Art. 8 GRCh eine eigene grundrechtliche Absicherung ge-
3. Ansätze einer Neukonzeption funden hat. Es kann nach der Rechtsprechung des BVerfG
Wie aber sehen solche Neukonzeptionen aus? Im Wesentli- aber nicht allein auf die Sphären des abgestuften Persönlich-
chen lassen sich heute drei Strategien unterscheiden. Sie keitsschutzes (Intim-, Privat- und Sozial- bzw. Öffentlich-
haben unterschiedliche Implikationen für die Rolle des keitssphäre) ankommen. Vielmehr sind die unterschiedlichen
Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und den Daten- Verwendungskontexte mit dem jeweiligen Gefährdungspo-
schutz. tential in den Blick zu nehmen.50 Eben das vermag die Auf-
spaltung des Schutzes in speziell normierte Freiheitsrechte
a) Reduzierung auf Missbrauchsschutz? einerseits und die am „Sphärenschutz“ anknüpfende Persön-
lichkeitsentfaltung andererseits nur begrenzt zu leisten. Dies
Die erste Option wäre eine „Abrüstung“ verfassungsrechtli-
umso mehr, wenn auf eine ex ante Steuerung der Verwen-
cher Vorgaben.44 Den Mittelpunkt der Kritik bildet die
„Überdehnung“ des Rechts auf informationelle Selbstbestim-

41
Zur Rationalität dieses Vorgehens vgl. Masing (Fn. 29),
45
S. 487 ff. Im Urteil zur automatischen Kennzeichenerfassung hat das
42
Von der „Verrechtlichung des Alltäglichen“ spricht Hoff- BVerfG bekräftigt, dass der grundrechtliche Schutz nicht
mann-Riem, AöR 123 (1998), 513, (527 f.); Bull (Fn. 20), schon deshalb entfällt, weil die betroffene „Information“
S. 48; ausf. Bechler, Informationseingriffe durch intranspa- öffentlich zugänglich ist, vgl. BVerfGE 120, 378 (399).
46
renten Umgang mit personenbezogenen Daten, 2010, S. 41 ff. Statt vieler Schoch (Fn. 43), S. 1507 f.
43 47
Am Beispiel des Rechts auf „Vergessenwerden“ Spiecker Schoch (Fn. 43), S. 1509.
48
gen. Döhmann, KritV 2014, 28. Zum Vollzugsproblem auch Schoch (Fn. 43), S. 1509, 1512. Ähnlich Bull (Fn. 20),
Schoch, in: FS Stern, 2012, S. 1491 (1499, 1508), wonach die S. 40 ff., 57 ff., 94 ff. Zu weit Nettesheim (VVDStRL 70
Überforderung des Gesetzgebers am Ende zur faktischen Un- [2011], 7 [43]), der auf einen Privatsphärenschutz in öffentli-
wirksamkeit des geschaffenen Rechts führen könne. chen Räumen ganz verzichten will.
44 49
Vgl. Bull (Fn. 20), S. 36 ff., der sich pauschal gegen die EuGH, Urt. v. 13.5.2014 – C-131/12 (Google Spain),
Ableitung von Prinzipien des Datenschutzrechts aus der Ver- Rn. 80 ff.
50
fassung wendet. Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 10 f.
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ZJS 3/2015
264
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ÖFFENTLICHES RECHT

dungskontexte zugunsten eines ex post Rechtsschutzes ver- zelt. Dafür greife die Verankerung allein im allgemeinen
zichtet würde.51 Persönlichkeitsrecht zu kurz, weil sich die Notwendigkeit des
Reduziert man das Recht auf informationelle Selbstbe- Schutzes häufig auf Aspekte äußerer Entfaltungsfreiheit stüt-
stimmung auf einen Missbrauchsschutz, wäre die Reichweite ze, die durch die speziellen Freiheitsrechte und subsidiär die
des Datenschutzrechts begrenzt. Die maßgeblichen Vorgaben allgemeine Handlungsfreiheit, nicht aber das verfassungs-
für die Informationsordnung müssten anderswo gesucht wer- rechtliche Persönlichkeitsrecht geschützt werden.54
den. Das wäre deutlich mehr als eine bloße Nachjustierung, Die soziale Dimension von Informationen hat das BVerfG
sondern würde die bereits vorhandenen Strukturierungspoten- bereits im Volkszählungsurteil anerkannt, aber grundrechts-
tiale des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung für die dogmatisch als ein Problem kollidierender Rechte in der
Ausgestaltung des Datenschutzes als Bestandteil der Informa- Schrankendogmatik verarbeitet. Gerade das impliziert die
tionsordnung verspielen. Annahme eines Rechts, das missverständlich als Verfü-
gungsbefugnis über die „eigenen“ Daten verstanden wird.
b) Datenschutz als instrumentelle Freiheit? Wichtig wird in dieser Neukonzeption die Unterscheidung
Ähnlich argumentiert die Kritik an der Grundkonzeption, zwischen Selbstbestimmung als materielles Recht und in-
soweit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als strumentelles Recht. Das Recht auf informationelle Selbstbe-
Gewährleistung „um ihrer selbst willen“ verstanden wird. stimmung sei nur letzteres, verstanden als Sicherung von
Gabriele Britz stellt im Anschluss an Marion Albers heraus, Verhaltensfreiheit. Es sei konzeptionell auf den Schutz ande-
dass es eine eigentumsanaloge Informationsverfügungsbe- rer, eben der gefährdeten Freiheiten ausgerichtet und deshalb
fugnis nicht geben könne, weil Informationen ein antizipier- ein akzessorisches Recht. Wegen der Ausrichtung auf den
tes oder real vollzogenes soziales Phänomen fremder Sinn- Schutz anderer Freiheiten werde nicht jede Informationsmaß-
konstruktion über personenbezogene Daten sind. Subjektive nahme vom Grundrecht auf informationelle Selbstbestim-
Beobachtungen und Sinnkonstruktionen anderer ließen sich mung erfasst, sondern nur solche, die eine Freiheit konkret
schlicht nicht beherrschen. Demgegenüber wäre ein Beherr- beeinträchtigen oder die besondere Gefahr einer Freiheitsbe-
schungsrecht an personenbezogenen Daten zwar „interakti- einträchtigung begründen.
onsfrei“ zu denken. Beeinträchtigungen resultieren aber erst Ist aber noch nicht erkennbar, welches Rechtsgut nachtei-
aus der Beobachtung und subjektiven Interpretation dieser lig betroffen ist, vermag ein bloß akzessorischer Schutz nicht
Daten durch andere und deren daran anschließende Erwar- zu überzeugen. Für abstrakte Gefährdungslagen bleibt ein
tungen und Maßnahmen bzw. aus der Antizipation von Beo- selbstständiger Schutz über Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1
bachtung und nachteiliger Folge. Gefährdungen und Beein- GG unverzichtbar, mag dieser auch weniger abwehrrechtlich
trächtigungen entstehen eben erst in den Verwendungskon- als objektivrechtlich zu begründen sein, worüber sich ein
texten, in denen Informationen über Betroffene generiert differenziertes Schutzkonzept mit subjektivrechtlichen Ein-
werden.52 Erst auf diese Verwendungszusammenhänge könne schlägen entwickeln ließe. Versteht man das Recht auf infor-
sich der Grundrechtsschutz im Kern beziehen, nicht auf die mationelle Selbstbestimmung demgegenüber allein instru-
Preisgabe von Daten an sich. mentell, wäre das Datenschutzrecht als solches kaum in der
Daraus wird nun aber gefolgert, das Recht auf informati- Lage, wesentliche Beiträge zur Ausgestaltung der Informati-
onelle Selbstbestimmung sei nur ein instrumentelles Recht im onsordnung zu leisten. Wir könnten den Datenschutz getrost
Dienste anderer Freiheitsgewährleistungen.53 An die Stelle den Experten überlassen.
einer eigentumsanalog konzipierten ursprünglichen Verfü-
gungsbefugnis tritt eine Konzeption, die im Recht auf infor- c) „Zweiebenenkonzeption“ für den Daten- und Informa-
mationelle Selbstbestimmung eine dienende Freiheit versteht, tionsumgang
die zur Sicherung anderer Verhaltensfreiheiten zum Einsatz Statt die Strukturierungsvorgaben allein unter Verhältnismä-
kommt. Das kulminiert in der Feststellung, die Abstützung ßigkeitsgesichtspunkten zu entwickeln, setzt die „Zweiebe-
auf den Gedanken der Selbstbestimmung sei missverständ- nenkonzeption“ auf objektivrechtliche Pflichten, die nicht
lich: Die Einräumung einer Datenverfügungsbefugnis als bloß punktuell bei Eingriffen in den nebulösen Schutzbereich
rechtliches Instrument zur Regulierung der Entstehung und des informationellen Selbstbestimmungsrechts subjektiv an-
Verwendung von Informationen könne mittelbar materielle gestoßen werden, sondern eine vorgelagerte Strukturierungs-
Selbstbestimmung fördern. Aber eine eigenständige Kompo- funktion haben, die für bestimmte Fragen subjektivrechtlich
nente des Selbstbestimmungsgedankens werde die Datenver- aufgeladen sein kann.55
fügungsbefugnis nicht. Die informationelle Selbstbestim- Diese Konzeption sieht in den speziellen Freiheitsgewähr-
mung sei lediglich ein Mittel der Sicherung von Verhaltens- leistungen des Grundgesetzes wichtige Anküpfungspunkte
freiheit, die ihrerseits im Selbstbestimmungsgedanken wur- für den Datenschutz. Allerdings verdeutlichen gerade die
Nachbarwissenschaften die Selektivität des traditionellen
51
Dagegen auch Spindler, Persönlichkeitsschutz im Internet: Freiheitsschutzes, der die soziale Konstitution der Freiheit
Anforderungen und Grenzen einer Regulierung, Gutachten F weitgehend ausblendet. Erforderlich ist ein um die Sozialität
zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, F 101 f.
52 54
Britz (Fn. 6), S. 567. Britz (Fn. 6), S. 573.
53 55
Vgl. Britz (Fn. 6), S. 566 ff.; Poscher, in: Gander (Hrsg.), Grundlegend Albers, Informationelle Selbstbestimmung,
Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012, S. 167 (178 ff.). 2005, passim.
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265
AUFSÄTZE Claudio Franzius

des Individiuums erweiteres Grundrechtsverständnis, das den Mit dieser Konzeption des Rechts auf informationelle
Schutz im Hinblick auf den Umgang anderer mit personenbe- Selbstbestimmung wäre es möglich, das überkommene Da-
zogenen Informationen einschließen muss. Das gilt auch für tenschutzrecht informationsregulatorisch, aber nach Gefähr-
die Aktivierung von Art. 2 Abs. 1 GG zum Schutz personel- dungslagen und Sachbereichen differenziert, fortzuentwi-
ler Identität, Individualität oder sozialer Positionen. ckeln. Weder ein enges (oben a) noch ein instrumentelles
Die Pointe liegt freilich in der Erweiterung der abwehr- (oben b), sondern nur ein den Umgang mit Informationen
rechtlichen Perspektive. Abwehrrechtliche Gehalte sind im regulierendes Datenschutzrecht dürfte im Lichte des Rechts
Hinblick auf den Umfang mit personenbezogenen Daten bei auf informationelle Selbstbestimmung und der Judikatur des
den Schutzbereichen der Freiheitsrechte anzudocken, doch BVerfG eine angemessene Folie für seine Neukonzeption
auf der vorgelagerten Ebene bestehe eine aus dem Recht auf sein.60 Das aber verlangt, die informationelle Selbstbestim-
informationelle Selbstbestimmung folgende objektivrechtli- mung im Vorfeld von Gefährdungen spezieller Freiheitsrech-
che Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung eines kommuni- te in den objektivrechtlichen Schichten als Vorgabe an den
kative Selbstbestimmung sichernden Informationsumgangs.56 Gesetzgeber zu spezifizieren. Erforderlich ist ein „mehrdi-
Wie auch anderswo schließen objektiven Strukturierungs- mensionales Konzept, das sein Gravitationszentrum in der
pflichten das Entstehen subjektiver Rechtspositionen nicht kommunikativen Selbstbestimmung der Persönlichkeit hat
aus. So macht es Sinn, die phasenübergreifenden Maßgaben und deren Leitbild nicht das Datengeheimnis, sondern die
der Zweckfestlegung und der Zweckbindung ebenso wie das Wahrung von Selbstbestimmung in einer Datenverkehrsord-
Regelungselement der Erforderlichkeit weniger aus dem nung“ ist.61 Gerade für die neue Welt des Datenschutzes mit
Übermaßverbot als Konsequenz individueller Entscheidungs- den Herausforderungen durch Big Data kommt es darauf an,
rechte hinsichtlich persönlicher Daten zu entwickeln, sondern von der Fokussierung auf Begrenzungen der Datenerhebung
aus objektivrechtlichen Verpflichtungen des Gesetzgebers. und -verwertung Abstand zu nehmen und stärker die Ord-
Aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG folgt auf einer nungsfunktionen des Rechts unter der Ermöglichungsfunkti-
grundlegend vorgelagerten Ebene die Verpflichtung zu einer on technischer und selbstregulativer Schutzmechanismen
sachgerechten und transparenzsichernden Gestaltung des herauszustellen. Der Verzicht auf informationelle Selbstbe-
Umgangs mit personenbezogenen Informationen und Daten, stimmung bzw. dessen Aufgehen im Persönlichkeitsrecht
aber mit Blick auf die „Wissenskomponente“ freier Entfal- zugunsten einer Vorfeldsicherung spezieller Verhaltensfrei-
tung der Persönlichkeit auch zur Gewährleistung individuel- heiten würde den Datenschutz demgegenüber um eine wich-
ler Kenntnismöglichkeiten und Einflusschancen als Leis- tige Grundlage der Freiheitssicherung berauben.
tungsrechte.57 Hinzu kommen Anforderungen an die Institu- Stattdessen müsste ein anspruchsvolles Konzept von Da-
tionalisierung adäquater Kontrollen, deren unionsrechtlich tenschutz, das wichtige Impulse für die Ausgestaltung der
geforderte „Unabhängigkeit“ mit sachlichen Anforderungen Rechtsordnung als Informationsordnung liefern könnte, ein
an eine wirksame Datenschutzkontrolle gerechtfertigt werden auf die jeweiligen Gefährdungslagen reagierendes, aber viel-
kann.58 schichtiges Bündel von Maßgaben und Rechten im Hinblick
Demnach ist keine „Instrumentalität“ zugunsten anderer auf den Umgang mit personenbezogenen Informationen und
Freiheiten gefragt. Vielmehr sind passende „Abstimmungen“ Daten entwickeln.62 Das Recht auf informationelle Selbstbe-
mit anderen informationsbezogenen Verfassungsvorgaben stimmung bildet hierfür einen wichtigen Ausschnitt, worüber
erforderlich, um zu einer angemessenen verfassungsrechtli- sich die Regelungen des einfachen Rechts problemgerecht
chen Determination der einfachrechtlichen Ebene zu gelan- gestalten und angemessen koordinieren ließen. Auf diese
gen. Soweit am grundrechtlichen Topos „informationeller Weise könnten die Bausteine des Datenschutzrechts konsis-
Selbstbestimmung“ festgehalten wird, kann dafür weder tenter an grundrechtliche Vorgaben und das weder aufzuge-
allein der Gedanke der Persönlichkeitsentfaltung in der Pri- bende noch zu überschätzende Recht auf informationelle
vatsphäre noch ein übergreifender Aspekt der „Selbstbe- Selbstbestimmung angeknüpft werden.
stimmung“ die Funktion eines Leitbildes übernehmen. Ge-
fährdungen des informationellen Selbstbestimmungsrechts ist V. Internationale und europäische Herausforderungen
durch aus seinen objektivrechtlichen Schichten entwickelten Die geschilderten Neukonzeptionen sind vor die internationa-
Anforderungen zu begegnen, die sich auf die Verwendungs- len und europäischen Herausforderungen des Datenschutzes
zusammenhänge beziehen, worüber Vorgaben an die Gesetz- gestellt. Angesprochen seien nur der NSA-Datenskandal, die
gebung für die Gestaltung von Informationszusammenhängen
formuliert werden können, die dem Einzelnen durch Transpa-
„signifikante Schutzbereichsverkürzung“ oder in anderer
renz, Nachvollziehbarkeit und Beschränkung auf das Erfor-
Weise eine „Entleerung“ des allgemeinen Persönlichkeits-
derliche die nötigen Selbstdarstellungsmöglichkeiten si-
rechts bewirken, lässt sich entgegen Schoch (Fn. 43),
chert.59
S. 1499 f. nicht darlegen. Es geht nicht darum, den Freiheits-
schutz zu schmälern, sondern zu stärken.
56 60
Abl. Nettesheim, VVDStRL 70 (2011), 7 (29). Albers, Rechtstheorie 33 (2002), 61 (81 f.); zust. Cornils,
57
Albers (Fn. 8), § 22 Rn. 78 ff. in: Hain u.a. (Hrsg.), Datenschutz im digitalen Zeitalter,
58
Vgl. Roßnagel, ZD 2015, 106. 2015, S. 11 (37 f., 55 f.).
59 61
Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 32. Frühzeitig bereits ders., JZ Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 6.
62
1998, 822 (825 f.). Dass Formen der Kontextsteuerung eine Albers (Fn. 55), S. 357 ff.; dies. (Fn. 8), § 22 Rn. 69 ff.
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ZJS 3/2015
266
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ÖFFENTLICHES RECHT

Sorge einer Verdrängung mitgliedstaatlicher Grundrechte kann von der Kommission überprüft und gegebenenfalls
durch die europäische Datenschutzgrundverordnung und das aufgehoben werden.67 Zudem verleiht Art. 3 Abs. 1 dieser
Phänomen von Big Data. Entscheidung den Datenschutzbehörden der Mitgliedstaaten
die Befugnis, zum Schutz von Privatpersonen bei der Verar-
1. NSA und die Folgen beitung personenbezogener Daten die Datenübermittlung an
Die durch Edward Snowden angestoßenen Enthüllungen über eine Organisation auszusetzen, wenn eine hohe Wahrschein-
die globale Überwachungspraxis der Geheimdienste werfen lichkeit besteht, dass die Grundsätze des Datenschutzes ver-
Fragen auf, für die es keine einheitliche Antwort gibt. Dass letzt werden. Verwiesen wird auf die Befugnisse der nationa-
sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in len Datenschutzbehörde und damit auf § 38 Abs. 5 BDSG,
Deutschland nur begrenzt eignet, die heimliche Tätigkeit der wonach die Landesdatenschutzbehörde zur Gewährleistung
US-amerikanischen National Security Agency (NSA) rechts- der Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen
staatlich zu disziplinieren, versteht sich von selbst. Aber auch Maßnahmen zur Beseitigung festgestellter Verstöße bei der
das Völkerrecht stößt an Grenzen. Die völkerrechtlichen Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener
Regeln zum Datenschutz gewähren keine individuellen Rech- Daten anordnen kann. Das bedeutet, dass ungeachtet aller
te gegen Überwachungsmaßnahmen von Nachrichtendiens- faktischen Schwierigkeiten schon de lege lata einem Unter-
ten.63 Das wirft die Frage nach der Rolle des europäischen nehmen, das amerikanische Cloud-Dienste wie Dropbox oder
Unionsrechts auf.64 iCloud einsetzt, die Übermittlung von Personaldaten in diese
Es liegt auf der Hand, dass die Schutzmechanismen des Dienste untersagt werden kann.68
Unionsrechts gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäi- Man kann sich fragen, ob der NSA-Skandal als Symbol
schen Union leichter durchsetzbar sind als gegenüber den der Internationalisierung der Herausforderungen des Daten-
USA. Mit Blick auf das TEMPORA-Programm des briti- schutzes zu einer Renaissance der grundrechtlichen Schutz-
schen Geheimdienstes GCHQ kommt ein Vertragsverlet- pflichten führen wird.69 Das betrifft weniger die verfassungs-
zungsverfahren nach Art. 258 AEUV gegen Großbritannien rechtliche Ebene, wo die Figur grundsätzlich anerkannt, wenn
mit der Begründung in Betracht, dass die umfassende und auch nur schwer gegenüber dem Gesetzgeber operationali-
anlasslose Überwachung überwiegend ausländischer Kom- sierbar ist.70 Effektiveren Schutz könnte die Aktivierung
munikationsteilnehmer gegen das Datenschutzgrundrecht unionsrechtlicher Schutzpflichten bieten. Zwar ist die Recht-
(Art. 8 GRCh) und das Diskriminierungsverbot aus Gründen sprechung bislang durch Zurückhaltung in der Annahme
der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) verstößt.65 grundrechtlicher Schutzpflichten gekennzeichnet. Weil das
Aber auch Legalitätsbekundungen der amerikanischen europäische Datenschutzrecht jedoch durch einen grundsätz-
Behörden mit Blick auf die Aktivitäten der NSA66 sind uni- lichen Gleichklang der Anforderungen gegenüber staatlichen
onsrechtlich nicht einfach hinzunehmen. So ist nach Art. 25 und privaten Akteuren geprägt ist, das Handeln privater Ak-
Abs. 1 der Datenschutz-Richtlinie die Übermittlung perso- teure aber diesseits einer Zurechnung zum Staat nicht als
nenbezogener Daten in einen Drittstaat nur zulässig, wenn Eingriff gewertet werden kann, könnte sich gerade der Daten-
dieser ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet. In der
Safe-Harbor-Absprache haben sich die USA verpflichtet, die 67
So die Art. 29-Arbeitsgruppe nach Art. 29 Datenschutz-
europäischen Datenschutzstandards einzuhalten, was die Richtlinie in einem Brief v. 13.8.2013, abrufbar unter
Europäische Kommission veranlasste, durch die Entschei- http://ec.europa.eu/justice/data-protection/article-29/documen
dung 2000/250/EG festzustellen, dass aus EU-Sicht ausrei- tation/other-document/files/2013/20130813_letter_to_vp_red
chende Datenschutzstandards in den USA bestehen. Diese ing_final_en.pdf. (22.5.2015). Siehe auch Dix, Safe Harbor
Entscheidung, die eine zentrale Grundlage für ökonomische am Ende? Eine Betrachtung aus aufsichtsbehördlicher Sicht,
Transaktionen amerikanischer Unternehmen in der EU bildet, Vortrag beim 9. Europäischen Datenschutztag am 28.1.2015
in Berlin, ebenfalls im Internet abrufbar unter
63
Näher Aust, AVR 52 (2014), 375. http://www.datenschutz-berlin.de/attachments/1089/741_943
64
Näher Ewer/Thienel, NJW 2014, 30. _1.pdf? (22.5.2015)
65 68
Vgl. Schmahl, JZ 2014, 220 (226); Mayer, Mit Europarecht So die gemeinsame Erklärung der Datenschutzbeauftragten
gegen die amerikanischen und britischen Abhöraktionen?, des Bundes und der Länder vom Juli 2013, vgl. Pressemittei-
Teil 2: GCHQ, VerfBlog 2013/11/18, abrufbar unter lung v. 24.7.2013, abrufbar unter http://www.datenschutz-
http://www.verfassungsblog.de/mit-europarecht-gegen-ameri bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen236.c.9283.de
kanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-2-gchq (22.5.2015). Zum Ganzen Mayer, Mit Europarecht gegen die
(22.5.2015). Soweit ein Grundrecht vor dem Inkrafttreten der amerikanischen und britischen Abhöraktionen?, Teil 1: NSA,
Charta oder als Ausprägung sekundärrechtlicher Vorschriften VerfBlog 2013/11/18, im Internet abrufbar unter
anerkannt war, kommt es auf das im Protokoll Nr. 30 erklärte http://www.verfassungsblog.de/mit-europarecht-gegen-ameri
Opt Out des Vereinigten Königreichs nicht an, vgl. EuGH, kanischen-und-britischen-abhoeraktionen-teil-1-nsa.
Urt. v. 21.12.2011 –C-411/10 und C-493/10 (N.S./Secretary (22.5.2015)
69
of State for the Home Department) = Slg 2011, I-13991, Rn. Zu den Grenzen Lenski, ZG 2014, 324.
70
122. Zu den Schutzpflichten des Staates im vorliegenden Kon-
66
Zur Diskussion in den USA Gärditz/Stuckenberg, JZ 2014, text Hoffmann-Riem, JZ 2014, 53 (56 f.); Deiseroth, DVBl
209. 2015, 197 (199 ff.); Hahn/Johannes/Lange, DuD 2015, 71.
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267
AUFSÄTZE Claudio Franzius

schutz für eine Aktivierung datenschutzrechtlicher Schutz- Mitgliedstaaten die Einzelheiten der Erlaubnistatbestände
pflichten anbieten. Ein Beispiel liefert der Facebook- selbst zu regeln. Zudem reduzierte das Parlament die Fülle an
Datentransfer in die USA bzw. die NSA für das PRISM- Befugnissen der Kommission zur delegierten Rechtssetzung
Überwachungsprogramm. Hier wird mit Spannung das Urteil nach Art. 290 AEUV und für Durchführungsrechtsakte nach
des EuGH in der Rechtssache Schrems erwartet.71 Art. 291 Abs. 2 AEUV. Stattdessen ist ausdrücklich ein Um-
setzungsspielraum der Mitgliedstaaten vorgesehen, was man-
2. Europäische Datenschutzgrundverordnung: Verdrängung cher Kritik die Grundlage nimmt.75 Auch die Betroffenen-
des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung? rechte sind präziser geregelt. Dazu gehört die semantische
Ferner muss gesehen werden, dass das geltende Datenschutz- Abrüstung im Hinblick auf das in Art. 17 des ursprünglichen
recht veraltet ist. Das gilt auch für die europäische Daten- Verordnungsentwurfs vorgesehene Recht einer Person, ver-
schutz-Richtlinie, die aus einer Zeit stammt, in der die heuti- gessen zu werden, das in seiner starken Fassung mit einer
gen technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Verpflichtung des Verarbeiters, dafür zu sorgen, dass die
Datenspeicherung und -verwertung noch nicht bekannt wa- verbreitete Information auch bei denen gelöscht wird, an die
ren. Soll die Weiterentwicklung des Datenschutzes nicht der Daten übermittelt wurden, kaum praktikabel gewesen wäre.76
Rechtsfortbildung des EuGH überlassen bleiben, wäre ein Es ist auch nicht so, dass mit einem Inkrafttreten der Da-
zügiger Abschluss der Verhandlungen zu der seit Jahren tenschutzgrundverordnung die Rechtsprechung des BVerfG
diskutierten, aber namentlich von Deutschland blockierten zum informationellen Selbstbestimmungsrecht obsolet wird.
Datenschutzgrundverordnung wünschenswert. Dass mit der Neuregelung des Datenschutzes auf Unionsebe-
Gewiss stellt sich aus deutscher Sicht eine Reihe an Fra- ne der nationale Grundrechtsschutz verloren gehe, lässt sich
gen. So ist der Bundesrat mit einer Subsidiaritätsrüge nach so pauschal nicht sagen. Soweit die Datenschutzgrundverord-
Art. 12 EUV i.V.m. Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der nung den Mitgliedstaaten explizit Spielräume belässt, werden
Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit der die Unionsgrundrechte nicht verdrängt, aber die Anwendung
Wahl des Instruments einer Verordnung nach Art. 288 Abs. 2 nationaler Grundrechte auch nicht versperrt.77 Zwar bleiben
AEUV mit dem Versuch einer Vollregelung des Datenschut- Unsicherheiten, die nicht zuletzt dadurch befördert wurden,
zes für den öffentlichen und nicht-öffentlichen Bereich ent- dass sich das BVerfG veranlasst sah, die Anwendung der
gegen getreten.72 Die bereichsspezifischen Regelungen für Unionsgrundrechte im Fall der Antiterrordatei ohne Not
den Umgang mit personenbezogenen Daten würden unterlau- auszuschließen.78 Wer aber mit der Verteidigung europäi-
fen und durch die Datenschutzgrundverordnung hinfällig. Mit scher Datenschutzstandards in der Welt mit guten Gründen
der Zentralisierung der Datenschutzrechtsetzung entfielen auf das Unionsrecht setzt, erhält – gewissermaßen als Schat-
nationale Umsetzungsspielräume, in denen die nationalen ten79 – die Unionsgrundrechte, die in der Hand des EuGH
Grundrechte gelten. Vielfach wird die Sorge formuliert, da- keine Bedrohung für die Grundrechtskulturen der Mitglied-
mit wären Ausgestaltungsvorgaben nicht mehr dem Recht auf staaten darstellen und das Recht auf informationelle Selbstbe-
informationelle Selbstbestimmung, sondern nur noch dem stimmung auch nicht verkürzen müssen.
substanziell für schwächer gehaltenen Datenschutzgrundrecht
aus Art. 8 GRCh zu entnehmen.73
Aber es muss gesehen werden, dass die Kritik in weiten
Teilen aufgegriffen wurde und eine Reihe von Öffnungen für des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz
nationale Regelungen vorgesehen ist. Zwar bleibt es bei den natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener
abstrakten Erlaubnistatbeständen des Art. 6 des Verord- Daten und zum freien Datenverkehr = P7_TA-
nungsvorschlags. Aber Art. 6 Abs. 3 lit. b in der Fassung der PROV(2014)0212.
Entschließung des Europäischen Parlaments74 erlaubt den 75
Vgl. Albrecht, in: Hain u.a. (Hrsg.), Datenschutz im digita-
len Zeitalter, 2015, S. 133 ff.; anders, aber wenig überzeu-
71
Az. C-362/14. Es handelt sich um ein Vorabentscheidungs- gend Pötters, RDV 2015, 10.
76
ersuchen des Irischen High Court, demzufolge es Beweise Vgl. Hornung/Hofmann, JZ 2013, 163.
77
gebe, dass Facebook der NSA den massenhaften und undiffe- Vgl. Franzius, EuGRZ 2015, 139 (141 ff.); skeptischer
renzierten Zugriff auf persönliche Daten ermögliche. Inso- Cornils (Fn. 60), S. 14 ff.
78
weit stellt sich die Frage, ob die Europäische Kommission BVerfGE 133, 277 (316); dazu Volkmann, Jura 2014, 820.
den grundrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 8 GRCh durch Umgekehrt lässt der EuGH bislang wenig Bereitschaft erken-
eine Aufhebung der Entscheidung 2000/250/EG zur Safe- nen, den Mitgliedstaaten die Ausfüllung sekundärrechtlicher
Harbor-Absprache mit den USA entsprechen muss. Spielräume nach nationalen Grundrechten zu überlassen, vgl.
72
BR-Drs. 52/12, S. 1. EuGH, Urt. v. 24.11.2011 – C-468/10 und C-469/10
73
Statt vieler Masing, SZ v. 9.1.2011, S. 10, abrufbar unter: (ASNEF), Rn. 40, 43.
79
http://www.datenschutzbeauftragter-online.de/wp-content/upl Lenaerts, AnwBl 2014, 772 mit dem zweifelhaften Bild, so
oads/2012/01/20120109_SZ_Masing_Datenschutz.pdf wie ein Gegenstand die Konturen seines Schattens forme,
(22.5.2015); Roßnagel, DuD 2012, 553 f.; Roßnagel/ bestimme auch das Unionsrecht die Konturen der Charta.
Kroschwald, ZD 2014, 495. Danach formen nicht die Grundrechte das System, sondern
74
Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments das System die Reichweite der Grundrechte, krit. Callewaert,
vom 12. März 2014 zu dem Vorschlag für eine Verordnung ZEuS 2014, 79 (89 f.).
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ZJS 3/2015
268
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ÖFFENTLICHES RECHT

3. Informationelle Selbstbestimmung im Zeichen von Big Hans-Heinrich Trute hingewiesen hat, der Zuwachs an In-
Data formationsvorgängen mit personenbezogenen Daten im welt-
Weder die Reaktionen auf die NSA-Affäre noch die EU- weiten Maßstab neue Gefährdungen durch weitreichende
Datenschutzgrundverordnung liefern zufriedenstellende Ant- „Möglichkeiten der Dokumentation und Manipulation digita-
worten auf die zentralen Herausforderungen durch Big Data, lisierter personenbezogener Informationen, ihrer Kommerzia-
die sich durch drei Dimensionen charakterisieren lässt: Ers- lisierung und eines eher inkrementalen Verlustes von Freiheit
tens verweist Big Data auf das quantitative Anwachsen von durch Gewöhnung, Anpassung und Konventionsbildung“ zur
Datensätzen auf der globalen Ebene. Die Informationsgesell- Folge.83 Hier eine Verantwortung hoheitlicher Stellen hervor-
schaft produziert immer mehr Daten, die immer leichter und zuheben, hat wenig mit Paternalismus zu tun, muss aber die
kostengünstiger gespeichert werden können. Zweitens – und veränderten gesellschaftlichen Einstellungen zur Kenntnis
hier liegt der Kern von Big Data – wird mit der technischen, nehmen. Die Frontstellung liegt weniger in der Abwehr staat-
wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeit gerechnet, immer licher Datenerhebung, sondern unter der Nivellierung der
detailliertere Informationen aus diesen Datensätzen und ihrer Entgegensetzung staatlicher oder privater Datenschutz- und
Verknüpfbarkeit herauslesen zu können, nicht zuletzt um auf Datennutzungsinteressen in der Nachfrage nach Informati-
dieser Grundlage Persönlichkeitsprofile zu entwickeln und onsteilhabe des Bürgers an Informationsbeständen sowie im
auf das Verhalten der Menschen Einfluss zu nehmen. Damit Neuzuschnitt der Schutzmechanismen vor privatem Daten-
verbunden erodieren drittens überkommene Vorstellungen hunger.
von Kausalität. Es geht Big Data nicht einfach um die Maxi- Erforderlich wird ein transnationales Datenschutzrecht,
mierung von Wissen, sondern um Wahrscheinlichkeiten, die das stärker als bisher auf die Zunahme privater Gefährdungen
sich mit Hilfe von neuen Algorithmen berechnen lassen. Soll der Selbstbestimmung zugeschnitten ist, aber auch die uni-
darüber die Zukunft vorhersehbar werden, brauche es eine ons- und völkerrechtlichen Schutzmechanismen in den Blick
weitreichende Erfassung von Daten, die sich durch Zweck- zu nehmen hat, ohne dadurch deren Aufnahme und Einbet-
bindungen nur schwer rechtsstaatlich disziplinieren lassen. tung im nationalen Datenschutzrecht zu vernachlässigen.84
Insoweit bricht Big Data mit einem zentralen, gerade aus Insoweit hat die Ausdifferenzierung der Regulierungskonzep-
dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung entwickel- te neben der Bedeutung privater Gefährdungspotentiale die
ten Prinzip des Datenschutzrechts, weil Daten ohne Zweck Ebenenverschränkungen zu berücksichtigen, was zu der Fra-
gesammelt und miteinander verknüpft werden. Das gebietet ge führt, inwieweit den nationalen Zielen des Datenschutzes
weniger die Verlängerung des „Abwehrdenkens“ in die wirt- auf Unionsebene entsprochen werden kann. Hierfür sollte
schaftlich lukrative Welt von Big Data, sondern vielmehr die man sich von der Vorstellung einer pauschalen Übertragung
Suche nach neuen Trennungs- und Verknüpfungsregeln, die des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auf die
sich nur aus den objektiven Schichten informationeller Unionsebene lösen.85 Die never ending story um die Vorrats-
Selbstbestimmung entwickeln lassen dürften. Jedenfalls wer- datenspeicherung86 zeigt, dass effektiver Schutz auch vom
den moderne Regulierungskonzepte des Internets sich kaum EuGH87 zu erwarten ist, der in seinem Google-Urteil88 trotz
allein in den tradierten, aber nicht auf die Online-Welt von aller Kritik89 seine Bereitschaft für innovative Lösungen
Big Data – mit den wirtschaftlichen Konzepten des Profiling
und Scoring80 – zugeschnittenen Bausteinen eines urheber- zu bekommen. Datenschutzrecht ist nicht nur Technikrecht,
rechtsähnlichen Rechts auf informationelle Selbstbestim- sondern auch Wettbewerbsrecht.
mung ausbuchstabieren lassen. 83
Trute (Fn. 3), Kap. 2 Rn. 4.
Datenschutz, so formuliert es Johannes Masing, schützt 84
Allg. Franzius, Recht und Politik in der transnationalen
schon dann, wenn es noch nicht wehtut.81 Das sei die Pointe Konstellation, 2014, S. 96 ff.
des Datenschutzes, denn „wenn wir warten, bis sich die ge- 85
Anders Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/
speicherten Daten unmittelbar in Maßnahmen niederschla- AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 8 GRCh Rn. 1, der von der Exis-
gen, brauchen wir eigentlich keinen Datenschutz, sondern nur tenz eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auf
Schutz gegen die Maßnahmen“. Freilich symbolisiert Big Unionsebene ausgeht. Der EuGH nimmt Anleihen an der
Data das Paradox, dass Bürger trotz der Datenakkumulation, vom BVerfG entwickelten Figur, versteht informationelle
die über Präferenzen und damit auch Eigenschaften der Nut- Selbstbestimmung aber anders.
zer vermehrt Auskunft gibt, personenbezogene Daten mehr 86
Anders Leutheusser-Schnarrenberger (DuD 2014, 589) mit
oder weniger freiwillig preisgeben.82 Insoweit hat, worauf der Hoffnung auf ein Ende der Debatte. Davon kann heute,
nachdem ein Vorschlag für eine deutsche Regelung einer an-
lasslosen, aber begrenzten Vorratsdatenspeicherung angekün-
80
Unergiebig BGH, Urt. v. 28.1.2014 – VI ZR 156/13 = digt ist, keine Rede mehr sein.
87
NVwZ 2014, 747. Nachdrücklich Bäcker, Jura 2014, 1263.
81 88
Masing, VVDStRL 70 (2011), 86. EuGH, Urt. v. 13.5.2014 – C-131/12 (Google Spain),
82
Ob die in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Rn. 99.
89
Facebook vorgesehene Einwilligung für die Weitergabe per- Befürchtet wird, dass die Balance zwischen Kommunikati-
sonenbezogener Daten ausreicht, kann bezweifelt werden. onsfreiheit und Persönlichkeitsschutz aus den Augen gerät,
Hier müsste es darum gehen, die datenschutzrechtlichen vgl. Masing, Vorläufige Einschätzung der Google-
Gehalte des europäischen Kartellrechts stärker in den Blick Entscheidung des EuGH, VerfBlog 2014/8/14, abrufbar unter
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269
AUFSÄTZE Claudio Franzius

unter Beweis gestellt hat. Das Recht auf informationelle


Selbstbestimmung wird dadurch nicht verdrängt, in seiner
Bedeutung für die Anleitung des Gesetzesrechts aber relati-
viert. Ob es ratsam ist, auf einen Export dieser dogmatischen
Figur zu setzen, erscheint zweifelhaft. Dass die informatio-
nelle Selbstbestimmung auf Unionsebene nicht schutzlos ist,
wird kaum zu bestreiten sein, mag man auch gut beraten sein,
sich nicht allein auf das Unionsrecht und den EuGH zu ver-
lassen.

http://www.verfassungs-blog.de/ribverfg-masing-vorlaeufige-
einschaetzung-der-google-entscheidung-des-eugh
(22.5.2015). Positivere Einordnung: Spiecker gen. Döhmann,
in: Hain u.a. (Hrsg.), Datenschutz im digitalen Zeitalter,
2015, S. 61 (78 ff.).
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ZJS 3/2015
270
Flug 4U 9525
Anlass für eine Reform der ärztlichen Schweigepflicht?

Von Wiss. Mitarbeiterin Beryll Krenkel, LL.M. (London), Mainz*

Die These, dass der Kopilot des Germanwings-Flugs 4U her entgegen.3 So betonte Rogall, dass ein allgemeinschüt-
9525 den Airbus absichtlich an den Bergen der Alpen hat zender Charakter der ärztlichen Schweigepflicht schon nicht
zerschellen lassen, gilt mittlerweile als erhärtet. Der Mann mit der Historie der Norm vereinbar sei.4
soll den Absturz u.a. aus suizidalen Motiven herbeigeführt Tatsächlich wurde die ärztliche Schweigepflicht bereits
haben. Er befand sich wegen Depressionen oder zumindest durch das Preußische Strafgesetzbuch in § 155 PrStGB als
depressionsähnlichen Erkrankungen in Behandlung. An dem individualschützende Norm dem Abschnitt „Verletzung der
Absturztag war er krankgeschrieben – er flog trotzdem und Ehre“ zugeordnet und behielt auch in weiteren Kodifizierung-
tötete sich selbst und 149 weitere Personen. Nahezu zwangs- en eine systematische Stellung, die auf einen individualschüt-
läufig drängte sich die Frage auf, ob die Tragödie nicht hätte zenden Charakter hindeutet.5 Ebenso ist § 203 StGB als eine
verhindert werden können, wenn der behandelnde Arzt die Tat gegen den „persönlichen Lebens- und Geheimbereich“
Fluggesellschaft über den psychischen Befund des Kopiloten dem 15. Abschnitt des StGB zugeordnet und schließt sich un-
informiert hätte. Schnell wurden Forderungen laut, die ärzt- mittelbar den Beleidigungsdelikten des 14. Abschnitts an,
liche Schweigepflicht müsse „gelockert“ werden, um derarti- welche zweifelsfrei einen Schutz von Individualrechtsgütern
ge Szenarien zukünftig zu verhindern. Führt man sich diese bezwecken. Die Ausgestaltung als Antragsdelikt in § 205
Diskussion vor Augen, könnte man fast glauben, die ärztliche Abs. 1 StGB spricht ebenfalls gegen die These, dass der
Schweigepflicht gelte de lege lata absolut, selbst wenn ein Bruch der Schweigepflicht Rechtsgüter der Allgemeinheit
Patient eine Gefahr für Dritte darstellt. Doch der Eindruck verletzt. Besonders deutlich vermag aber der verfassungs-
täuscht. Dieser Beitrag möchte daher Unklarheiten über rechtliche Kontext den individualschützenden Charakter von
Grundlagen und Durchbrechungen der Schweigepflicht aus- § 203 Abs. 1 StGB zu belegen. Das BVerfG leitete in seinem
räumen. Zugleich soll dargelegt werden, warum die disku- sog. „Volkszählungsurteil“ das besondere sphärenübergrei-
tierte „Lockerung“ der ärztlichen Schweigepflicht aus recht- fende Recht auf informationelle Selbstbestimmung von dem
licher Sicht bedenklich erscheint. Allgemeinen Persönlichkeitsrecht her.6 Demnach steht es
jedem Einzelnen frei über die „Preisgabe und Verwendung
I. Grundlagen der Schweigepflicht seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“7 Im Zusammen-
Die Schweigepflicht eines Arztes und Berufspsychologen er- hang mit medizinischen Daten bedeutet dies, dass alle Infor-
gibt sich aus dem zivilrechtlichen Behandlungsvertrag, dem mationen über Anamnese, Diagnose oder sonstige ärztliche
Berufsrecht, vorwiegend aber aus dem Strafrecht.1 Die zent- Maßnahmen der Privatsphäre angehören und der Wille des
rale Norm der Schweigepflicht eines Berufsgeheimnisträgers Einzelnen, solche Daten vor fremden Einblicken zu bewah-
ist in § 203 StGB zu erblicken. ren, Achtung verdient.8 Der Staat muss nicht nur seinerseits
dieses Grundrecht respektieren, sondern ist über den verfas-
1. Schutzgut der Schweigepflicht sungsrechtlichen Schutzauftrag ebenfalls gehalten, Verlet-
zungen durch Privatpersonen zu verhindern.9 § 203 Abs. 1
Über das Schutzgut der strafrechtlichen Schweigepflicht be-
StGB setzt diesen Schutzauftrag für die besonders sensiblen
steht eine geradezu alteingesessene Uneinigkeit. Nach der
medizinischen Daten um und gilt als verfassungsrechtliche
maßgeblich von Lenckner und Bockelmann zuweilen vertre-
Konkretisierung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.10
tenen „sozialen Theorie“ soll der Geheimnisschutz letztend-
Der Sinn und Zweck der ärztlichen Schweigepflicht besteht
lich den sozialen Belangen der Allgemeinheit dienen. An-
somit darin, einen individualistischen Geheimnisschutz zu
hänger dieser Theorie argumentierten, dass die strafbewehrte
gewähren, der darüber hinaus die Grundvoraussetzung für
Schweigepflicht ein Vertrauen der Allgemeinheit in die Dis-
eine ungestörte Beziehung zwischen Arzt/Berufspsychologe
kretion der Heilberufe schaffe und somit die Funktionsfähig-
keit der Gesundheitsversorgung sicherstelle.2 Dieser Auffas-
sung traten Anhänger der sog. „Individualschutzlehre“ seit je- 3
Schünemann, ZStW 90 (1978), 11 (13); Rogall, NStZ 1983,
1 (4).
4
* Die Verf. ist Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Straf- Rogall, NStZ 1983, 1 (4).
5
und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Volker Erb an der Johan- Vgl. Beseler, Kommentar über das Strafgesetzbuch für die
nes-Gutenberg-Universität Mainz und schreibt dort ihre Dis- Preußischen Staaten, 1851, S. 321; Theuner, Die ärztliche
sertation über materiell-rechtliche Probleme der ärztlichen Schweigepflicht im Strafrecht, 2009, S. 50 ff.
6
Schweigepflicht. BVerfG NJW 1984, 419 (422).
1 7
Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann BVerfG NJW 1984, 419 (422).
8
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 6, 12. BVerfG NJW 1972, 1123 (1124).
9
Aufl. 2009, § 203 Rn. 10 ff. BVerfG NJW 1958, 257; Di Fabio, in: Maunz/Dürig,
2
Lenckner, NJW 1965, 321 (322); ders., in: Schönke/ Grundgesetz, Kommentar, 73. Lfg., Stand: Dezember 2014,
Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 27. Aufl. 2006, Art. 2 Rn. 135 ff.
10
§ 203 Rn. 3; Bockelmann, in: Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch der BT-Drs. 7/550, S. 235; Schünemann, ZStW 90 (1978), 11
gerichtlichen Medizin, 3. Aufl. 1967, S. 15. (19, 27).
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271
AUFSÄTZE Beryll Krenkel

und Patient bildet.11 Die sozialen Belange, wie etwa die zen.16 Die psychische Erkrankung eines Piloten stellt eine
Funktionsfähigkeit der Gesundheitsversorgung, sind bloße solche Tatsache dar, sofern noch nicht ein unüberschaubarer
Schutzreflexe und nicht integraler Bestandteil des individua- bzw. unkontrollierbarer Kreis von Personen Kenntnis von der
listischen Geheimnisschutzes. Entgegenstehende Aufklä- Krankheit hat. Die h.A. fordert zudem, dass der Betroffene an
rungsinteressen der Allgemeinheit können den generellen der Geheimhaltung der Tatsache ein aus subjektiver Perspek-
tatbestandlichen Schutz eines Patientengeheimnisses daher tive verständliches Interesse aufweist.17 Dieses normative
nicht in Frage stellen.12 Allerdings lässt sich ebenfalls dar- Geheimnismerkmal soll lediglich als Korrektiv fungieren, um
über streiten, welchen genauen Inhalt das von § 203 Abs. 1 übergezogenen „Flausen“ und „Launen“ eines Patienten an
StGB geschützte Individualrechtsgut haben soll. Früher wur- der Geheimhaltung den Boden zu entziehen.18 Einem Piloten
de vorwiegend vertreten, dass das besondere, freiwillig ge- wird man ein verständliches Interesse an der Geheimhaltung
wählte Vertrauensverhältnis zwischen Berufsgeheimnisträger seiner medizinischen Konditionen jedoch nicht versagen kön-
und Geheimnisinhaber das Schutzgut des § 203 Abs. 1 StGB nen. Das Geheimhaltungsinteresse einer erkrankten Person
sei.13 Diese Auffassung lässt sich vor dem verfassungsrecht- drängt sich sogar geradezu auf, wenn ihr Gesundheitszustand
lichen Hintergrund von § 203 Abs. 1 StGB aber nicht mehr berufliche Implikationen haben kann. Die psychische Erkran-
halten. Wären nur freiwillig gewählte Vertrauensbeziehungen kung eines Piloten stellt folglich ein straftatbestandliches
vom Schutz des § 203 Abs. 1 StGB erfasst, stünde der Ge- Geheimnis im Sinne von § 203 Abs. 1 StGB dar.
heimnisschutz von Personen, die sich zwangsweise von Ärz- Des Weiteren erfordert der Tatbestand, dass die Erkran-
ten oder Psychologen untersuchen und behandeln lassen kung dem Berufsgeheimnisträger „als“ Arzt bzw. Berufspsy-
müssen (wie etwa Piloten, die sich Einstellungsuntersuchun- chologe anvertraut oder sonst bekannt geworden ist. Zwi-
gen der Fluggesellschaften sowie Untersuchungen durch schen dem Berufsgeheimnisträger und dem Patienten muss
„Fliegerärzte“ zu unterziehen haben) in Frage. Aber auch gemäß dem Schutzgut der Schweigepflicht hierfür jedoch
diese Personen sind Grundrechtsträger von Art. 2 Abs. 1 kein besonderes Vertrauensverhältnis bestehen. Vielmehr un-
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Die Schweigepflicht eines Arztes terliegt jeder Arzt oder Berufspsychologe, der einer Person
oder Berufspsychologen kann daher nicht von einem freiwil- funktional in seiner beruflichen Eigenschaft gegenübertritt,
lig gewählten Vertrauensverhältnis abhängen.14 Das Schutz- der strafrechtlichen Schweigepflicht.19 Deswegen ist nicht
gut der Schweigepflicht ist vielmehr in dem individuellen nur der „private“ Arzt oder Psychotherapeut des Piloten,
Interesse bzw. Willen des Patienten an der Geheimhaltung zu sondern auch der Psychologe, der Einstellungsuntersuchun-
erblicken.15 gen für die Fluggesellschaften durchführt, sowie der „Flie-
gerarzt“, der Flugtauglichkeitszeugnisse ausstellt, zunächst
2. Straftatbestandlicher Umfang der Schweigepflicht durch § 203 Abs. 1 StGB zur Verschwiegenheit über psychi-
Der straftatbestandliche Umfang der Schweigepflicht ist dem sche Erkrankungen des Piloten verpflichtet.
Schutzgut entsprechend extensiv zu verstehen. § 203 Abs. 1
Nr. 1 und Nr. 2 StGB verbieten Ärzten und Berufspsycholo- II. Durchbrechungen der Schweigepflicht de lege lata
gen Geheimnisse, welche ihnen anvertraut wurden oder sonst Dieser grundsätzliche Geheimnisschutz verhindert allerdings
bekanntgeworden sind, unbefugt zu offenbaren. Als Geheim- nicht, dass die Schweigepflicht eines Berufsgeheimnisträgers
nisse gelten dabei alle Tatsachen, die eine andere Person im Einzelfall auf Ebene der Rechtswidrigkeit durchbrochen
betreffen und die zudem einen geheimen Charakter besit- werden kann.

11
Schünemann (Fn. 1), § 203 Rn. 14 ff.; Fischer, Strafge- 1. Entbindung von der Schweigepflicht
setzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 62. Aufl. 2015, Zunächst kann ein Geheimnisinhaber stets in die Offenbarung
§ 203 Rn. 2. seiner Geheimnisse rechtfertigend einwilligen und so den
12
Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Arzt oder Psychologen von der Schweigepflicht entbinden.20
Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 203 Rn. 7; OLG Schleswig
NJW 1985, 1090 (1092); Schünemann (Fn. 1), § 203 Rn. 27;
16
Fischer (Fn. 11), § 203 Rn. 6; Braun, in: Roxin/Schroth Lenckner/Eisele (Fn. 12), § 203 Rn. 5, 7; Kargl, in:
(Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar,
S. 222 (233); Rogall, NStZ 1983, 1 (4). Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 203 Rn. 6.
13 17
RGSt 13, 60 (62, 63); Kohlhaas, GA 1958, 65 (66); Poiger, OLG Hamm NJW 2001, 1957 (1958); OLG Köln NJW
NJW 1954, 1107. 2000, 3656; Küper/Zopfs, Strafrecht, Besonderer Teil, 9.
14
OLG Köln NJW 2000, 3656 (3657); Braun (Fn. 12), Aufl. 2015, Rn. 255; Cierniak/Pohlit (Fn. 15), § 203 Rn. 20;
S. 238; Bosch, Jura 2013, 780 (783). Spickhoff, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, Kommentar,
15
Ob der Wille oder das Interesse Schutzgut des § 203 Abs. 1 2. Aufl. 2014, § 203-205 StGB Rn. 2.
18
StGB ist, bleibt weiterhin umstritten (vgl. Cierniak/Pohlit, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 5. Aufl. 2015,
Joecks/Miebach [Hrsg.], Münchener Kommentar zum Straf- § 8 I. Rn. 363.
19
gesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 203 Rn. 1 ff.). Der Streit BGH NStZ 1993, 142; OLG Köln NJW 2000, 3656 (3657);
wirkt sich jedoch vorwiegend auf die rechtliche Handhabung Cierniak/Pohlit (Fn. 15), § 203 Rn. 40.
20
von Drittgeheimnissen aus und kann daher an dieser Stelle H.A. rechtfertigende Einwilligung (Ulsenheimer [Fn. 18],
offen gelassen werden. § 8 I. Rn. 373; Heger, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch,
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ZJS 3/2015
272
Flug 4U 9525 STRAFRECHT

Die Einwilligung muss nicht immer ausdrücklich erklärt (EU) Nr. 1178/201125 sowie dem Luftverkehrsgesetz
werden, sondern kann sich auch aus den Umständen des (LuftVG) und der Verordnung über Luftfahrtpersonal (Luft-
Einzelfalls ergeben.21 Eine derartige Entbindungserklärung PersV) müssen sich Piloten zum Erwerb sowie zum Erhalt
wird zumindest stillschweigend im Zusammenhang mit der ihrer Fluglizenz von staatlich anerkannten „Fliegerärzten“ auf
Bewerbung zur Pilotenausbildung abgegeben. Wer sich bei ihre medizinische Flugtauglichkeit untersuchen lassen. An
der Lufthansa oder ihren Tochterunternehmen (wie z.B. die medizinische Flugtauglichkeit eines Piloten werden eben-
Germanwings) bewirbt, muss sich sowohl der Berufsgrund- falls psychische Anforderungen gestellt.26 Fluguntauglich
untersuchung (BU) als auch der Firmenqualifikation (FQ) des wird ein Pilot infolge von psychiatrischen Erkrankungen, wie
Deutschen Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin unter- etwa einer Schizophrenie. Psychische Probleme, die, wie et-
ziehen.22 Im sog. FQ-Test werden die Persönlichkeitsmerk- wa Depressionen, in das Fachgebiet der Psychologie fallen,
male der Kandidaten unter anderem durch Psychologen ge- führen hingegen nicht zwangsläufig zur Versagung der medi-
testet. Der Bewerber nimmt an solchen Untersuchungen ge- zinischen Flugtauglichkeit. Die Flugtauglichkeit kann jedoch
rade zu dem Zweck teil, dass seine Eigenschaften und Quali- im Falle von psychischen Auffälligkeiten durch eine neurolo-
fikationen festgestellt und dem potentiellen Ausbilder – der gische oder psychiatrische Spezialuntersuchung überprüft
Lufthansa oder ihren Tochtergesellschaften – übermittelt werden.27 Die Schweigepflicht von Ärzten, die solche Flug-
werden. In der freiwilligen Partizipation ist somit jedenfalls tauglichkeitsuntersuchungen durchführen, ist gegenüber dem
eine stillschweigende Entbindungserklärung des zukünftigen Fluglizenzgeber – dem Luftfahrtbundesamt – bereits weitest-
Piloten zu erblicken.23 Der Psychologe, der die Bewerber gehend durchbrochen. § 32 LuftVG i.V.m. § 21 LuftPersV
testet, ist folglich nicht durch seine Schweigepflicht daran bilden spezialgesetzliche Offenbarungspflichten, nach denen
gehindert, Untersuchungsergebnisse mit der Fluggesellschaft ein „Fliegerarzt“ dem Luftfahrtbundesamt mitzuteilen hat,
zu teilen. wenn ein Pilot für fluguntauglich befunden wurde.
Eine darüber hinausgehende spezialgesetzliche Pflicht,
2. Offenbarungspflichten und -befugnisse als Rechtferti- nach der jegliche psychische Erkrankung den Fluggesell-
gungsgründe schaften oder sonstigen Stellen zu melden wäre, existiert
Der Pilot dürfte hingegen wenig geneigt sein, seinen eigenen weder für „Fliegerärzte“ noch für den „privaten“ Arzt/Psy-
Arzt/Psychotherapeut oder „Fliegerarzt“ von der Schweige- chologen des Piloten. Offenbarungspflichten und -befugnisse
pflicht zu befreien, wenn es um Krankheiten geht, die seine können sich aber, auch ohne ein derartiges Gesetz, aus dem
Fähigkeit zur sicheren Berufsausübung beeinträchtigen kön- Strafgesetzbuch ergeben.
nen. Dies bedeutet aber nicht, dass die Schweigepflicht dieser
Berufsgeheimnisträger absolut gilt. Ihre Verschwiegenheits- b) Strafrechtliche Offenbarungspflichten: §§ 138, 139 Abs. 3
pflicht kann durch spezialgesetzliche sowie strafrechtliche S. 2 StGB
Offenbarungspflichten oder -befugnisse durchbrochen wer- Plant ein Patient bestimmte Straftaten, ist die Schweigepflicht
den. eines jeden Arztes und Psychologen durchbrochen. § 138
StGB normiert eine strafbewehrte Pflicht, bevorstehende,
a) Spezialgesetzliche Offenbarungspflichten enumerativ aufgezählte Straftaten anzuzeigen. Wegen der
Für zahlreiche Fallkonstellationen hat der Gesetzgeber bereits hohen Bedeutung der Schweigepflicht ist die Anzeigepflicht
spezialgesetzliche Offenbarungspflichten erlassen. So ist et- eines Berufsgeheimnisträgers durch § 139 Abs. 3 S. 2 StGB
wa jeder Arzt durch das Infektionsschutzgesetz verpflichtet, bezüglich vieler Delikte zwar dergestalt relativiert, dass sich
bestimmte ansteckende Krankheiten seiner Patienten zu mel- ein Arzt oder Psychologe lediglich bemühen muss, den Täter
den.24 Ebenso existieren auf dem Gebiet der Flugmedizin von der Ausführung der Tat abzubringen. Mord oder Tot-
spezialgesetzliche Offenbarungspflichten. Gemäß der VO schlag sind jedoch nicht Gegenstand dieser Einschränkung,
sodass der Arzt oder Psychologe zu der Anzeige solcher
Taten stets verpflichtet ist.28 Erfährt der Arzt oder Psychologe
Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 203 Rn. 18; Spickhoff [Fn. 17], glaubhaft, dass sein Patient infolge einer psychischen Er-
§ 205 StGB Rn. 34); a.A. tatbestandausschließendes Einver- krankung plant, andere Menschen durch die Herbeiführung
ständnis (Weidemann, in: von Heintschel-Heinegg [Hrsg.], eines Flugzeugabsturzes zu töten, muss er sein Schweigen
Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: brechen.
10.11.2014, § 203 Rn. 33 ff.; Cierniak/Pohlit [Fn. 15], § 203
25
Rn. 55, 58). Anhang IV [Teil-Med] = ABl. EU 2011 Nr. L 311, S. 173.
21 26
Spickhoff (Fn. 17), § 205 StGB Rn. 24. MED.B.001 (Acceptable Means of Compliance and Guid-
22
Website des Deutschen Instituts für Luft- und Raumfahrt- ance Material to Part-MED) zu der Verordnung (EU)
medizin, im Internet abzurufen unter Nr. 1178/2011 = ABl. EU 2011 Nr. L 311, S. 178.
27
http://www.dlr.de/me/desktopdefault.aspx/tabid-5051/8499_r MED.B.001 zu der Verordnung (EU) Nr. 1178/2011= ABl.
ead-14806/ (28.5.2015). EU 2011 Nr. L 311, S. 178.
23 28
Vgl. Braun (Fn. 12), S. 245. Hohmann, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kom-
24
Siehe hierzu §§ 7 ff. Infektionsschutzgesetz (IfSG); mentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 3, 2. Aufl. 2012, § 139
Heberer, Das ärztliche Berufs- und Standesrecht, 2. Aufl. Rn. 15-21; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 12),
2001, S. 321, 323. § 139 Rn. 5.
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273
AUFSÄTZE Beryll Krenkel

c) Offenbarungsbefugnisse als Rechtfertigungsgründe: § 34 Piloten, wie etwa um die Depression bzw. das depressions-
StGB ähnliche Leiden des Kopiloten des Germanwings-Flugs 4U
Weiterhin kann § 34 StGB die Geheimnisoffenbarung eines 9525, geht. Es ist anzuzweifeln, ob in diesen Fällen festge-
Arztes oder Psychologen rechtfertigen, wenn diese zur Ab- stellt werden kann, dass von dem Piloten eine notstandsfähi-
wehr einer konkreten Gefahr für ein wesentlich höherrangi- ge Gefahr ausgeht. Hierfür müsste es nach den konkreten
ges Rechtsgut erforderlich ist. beispielsweise in einem Fall tatsächlichen Umständen wahrscheinlich sein, dass es zum
bejaht, in dem eine Patientin durch ihre krankheitsbedingte Eintritt eines schädigenden Ereignisses – dem suizidal moti-
Fahruntüchtigkeit eine Gefahr für Leib und Leben anderer vierten Flugzeugabsturz – kommt.33 Aber auch ein Mensch
Verkehrsteilnehmer darstellte und sich von einer weiteren mit Depressionen und suizidalen Gedanken kann sich im
Straßenverkehrsteilnahme nicht abbringen ließ.29 Rahmen seiner Autonomie grundsätzlich frei für oder gegen
Sollte infolge einer Erkrankung des Piloten eine Gefahr eine Schädigung von anderen Menschen entscheiden. Nicht
für Leib und Leben von Flugzeuginsassen und -besatzung jeder suizidale Pilot wird ein bemanntes Flugzeug für seine
bestehen, wird eine Offenbarung dieser Krankheit demnach Selbsttötung benutzen. Zwar kann der Wahrscheinlichkeits-
regelmäßig ebenfalls eine Notstandshandlung des Arztes oder grad des Eintritts des schädigenden Ereignisses umso gerin-
Psychologen darstellen, die den Anforderungen des § 34 ger sein, je größer das drohende Schadensausmaß und ge-
StGB entspricht. Allerdings müsste der Bruch der Schweige- wichtiger das betroffene Rechtsgut ist – womit bereits eine
pflicht das relativ mildeste Mittel zum Schutz der Flugsicher- relativ geringe Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugabsturzes
heit darstellen.30 Eine Geheimnisoffenbarung gegenüber der für eine notstandsfähige Gefahr ausreicht.34 Jedoch bleibt
Fluggesellschaft oder anderen Behörden wird dieser Anforde- zweifelhaft, ob die psychische Erkrankung als einziger kon-
rung grundsätzlich nur entsprechen, wenn der Pilot auch nach kreter Umstand die Schädigung von Leib und Leben anderer
einer Konfrontation nicht von seiner Berufsausübung absieht. Personen wahrscheinlich genug macht. Dass sich eine Gefahr
Sollte sich der Pilot uneinsichtig zeigen, wird der Bruch der für die Flugsicherheit nicht aus jedem psychischen Problem
Schweigepflicht zum Schutze der Flugsicherheit regelmäßig eines Piloten herleiten lässt, bestätigen auch die Vorschriften
auch der Interessen- und Güterabwägung des § 34 StGB über die medizinischen Anforderungen an die Flugtauglich-
standhalten. Gewiss steht auf Eingriffsseite zwar ein gewich- keit. Psychische Leiden, die keine psychiatrischen Krankhei-
tiges Rechtsgut in Gestalt des geschützten Selbstbestim- ten darstellen, führen nämlich – im Gegensatz zu vielen ande-
mungsrechts des Patienten. Weiterhin basiert auf diesem ren medizinischen Konditionen – nicht zwangsläufig zur
Geheimnisschutz die ungestörte Beziehung zwischen Patient medizinischen Fluguntauglichkeit eines Piloten.35 Dies unter-
und Arzt/Berufspsychologe und kann durch eine Indiskretion scheidet den Fall eines depressiven Piloten von dem Fall, der
des Berufsgeheimnisträgers in Frage gestellt werden. Unter- von dem BGH zur Geheimnisoffenbarung zum Schutze der
schätzt werden darf auch nicht das Ausmaß an Schäden, das Verkehrssicherheit entschieden wurde. In diesem Fall stand
für den Piloten mit einer Geheimnisoffenbarung einhergeht. die krankheitsbedingte Fahruntüchtigkeit der Patientin auf-
Die Offenbarung eines Geheimnisses ist nicht nur ein irrever- grund einer psychiatrischen Erkrankung nämlich fest.36 Der
sibel Vorgang, sie kann darüber hinaus für den Geheimnisbe- Arzt oder Psychologe wird die Gefahr, die von einem Piloten
troffenen schwere negative berufliche und zwischenmensch- mit Depressionen ausgeht, daher vielmehr an weiteren kon-
liche Folgen haben. Allerdings steht dem Geheimnisschutz kreten Anhaltspunkten des Einzelfalls festmachen müssen,
des Piloten in der Interessen- und Güterabwägung des § 34 wie etwa konkret geäußerten Phantasien, Absichten o.Ä.
StGB das Leben der Flugzeuginsassen und -besatzung und Sollte eine Gefahr aber feststellbar sein, wird die Geheimnis-
damit das Rechtsgut von höchstem Rang unter den Persön- offenbarung nach den zuvor dargestellten Grundsätzen re-
lichkeitswerten gegenüber.31 Aus diesem abstrakten Wertge- gelmäßig durch § 34 StGB gerechtfertigt sein.
fälle ergibt sich bereits eine überaus starke Tendenz in der
Abwägung zu Gunsten des Lebens.32 Weiterhin ist zu berück- III Reformbedürftigkeit?
sichtigen, dass der Pilot durch seine fortgeführte Berufsaus- De lege lata sind die rechtlichen Rahmenbedingungen gege-
übung selbst die Quelle der Gefahr darstellt. Der Schutz von ben, um bestehende Gefahren abzuwenden, die von Piloten
Leib und Leben der Flugzeuginsassen und -besatzung wird mit psychischen Erkrankungen für die Flugsicherheit ausge-
somit den Geheimnisschutz des Piloten im Falle einer Gefahr hen.
wesentlich überwiegen.
Jedoch dürfte die Bejahung einer Notstandslage ein Prob-
lem darstellen, wenn es um psychische Erkrankungen des 33
BGHSt 18, 271 (272); 48, 255 (258); Erb (Fn. 29), § 34
Rn. 60; Momsen, in: von Heintschel-Heinegg (Fn. 20), § 34
29
BGH NJW 1968, 2288 (2290); Ulsenheimer (Fn. 18), § 8 I. Rn. 4.
34
Rn. 376; Erb, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kom- Vgl. BGHSt 18, 271 (272); Erb (Fn. 29), § 34 Rn. 71;
mentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 34 Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos
Rn. 112; siehe auch OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 8.7.1999 Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, § 34
– 8 U 67/99 = NStZ 2001, 150. Rn. 39.
30 35
Vgl. Erb (Fn. 29), § 34 Rn. 93. MED.B.001 der Verordnung (EU) Nr. 1178/2011= ABl.
31
Erb (Fn. 29), § 34 Rn. 112. EU 2011 Nr. L 311, S. 178.
32 36
Erb (Fn. 29), § 34 Rn. 113. BGH NJW 1968, 2288.
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ZJS 3/2015
274
Flug 4U 9525 STRAFRECHT

Dem Gesetzgeber steht es natürlich frei, von seinem legis- stehen, einer Ansteckungsgefahr aus, ob er will oder nicht.
lativen Gestaltungsspielraum Gebrauch zu machen und wei- Ebenso hat sich in Fällen des § 138 StGB die Gefahr bereits
tere Offenbarungspflichten und -befugnisse zu schaffen. konkretisiert, da sich der Patient im Zuge einer autonomen
Denkbar wäre der Erlass einer konkretisierenden Offenba- Entscheidung zur Begehung einer Straftat entschlossen hat.
rungsbefugnis, die dem Arzt oder Psychologen die Abwä- Jegliches psychische Leiden in einem gefahrenträchtigen
gung des § 34 StGB für diese spezielle Fallkonstellation Beruf zur alleinigen Voraussetzung einer Offenbarungspflicht
vorgibt und erleichtert, wie dies etwa durch die Kinder- oder -befugnis zu machen, wäre hingegen wegen der Unge-
schutzgesetze für Fälle der Kindeswohlgefährdung geschehen wissheit einer Gefahr eine unverhältnismäßige Einschrän-
ist.37 So könnte eine spezialgesetzliche Offenbarungsbefugnis kung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung.
zukünftig Ärzte und Psychologen ermächtigen, psychische
Erkrankungen von Piloten zu melden, wenn dies erforderlich IV. Zusammenfassung
ist, um eine Gefahr für Leib und Leben der Flugpassagiere Es liegt nicht an einer mangelnden rechtlichen Einschränkung
und -besatzung abzuwenden. Doch es verbliebe auch mit der ärztlichen Schweigepflicht, dass die Tragödie des Ger-
einem solchen Gesetz stets das Problem, dass es im Einzelfall manwings-Fluges 4U 9525 nicht verhindert werden konnte.
nur schwer feststellbar sein wird, ob eine Gefahr überhaupt Die berufsgeheimnisrechtlichen Rahmenbedingungen zur
besteht. Im Nachhinein weiß man, dass vom Kopiloten des Abwendung von Gefahren für die Flugsicherheit existieren
abgestürzten Germanwings-Fluges 4U 9525 eine Gefahr bereits. Psychologen, die Bewerber der Pilotenausbildung
ausging. Eine Geheimnisoffenbarung wäre durch § 34 StGB testen, sind gegenüber der Fluggesellschaft von ihrer Schwei-
gerechtfertigt gewesen. Jedoch schien keiner der Ärzte die gepflicht entbunden. Ferner sind „Fliegerärzte“ spezialgesetz-
Gefahr zu erkennen, was nicht überrascht, weil ein vollstän- lich verpflichtet, dem Luftfahrtbundesamt die medizinische
diger „Blick in den Kopf“ eines Patienten auch Psychologen Fluguntauglichkeit eines Piloten mitzuteilen. Darüber hinaus
und Ärzten unmöglich ist. Konkrete Anhaltspunkte für eine muss ein jeder Berufsgeheimnisträger gemäß §§ 138, 139
Gefahr kann oft nur der Patient selbst durch die Offenlegung Abs. 3 S. 2 StGB sein Schweigen brechen, wenn zu seiner
seiner Gedankenwelt liefern. Dieses Problem ist tatsächlicher Kenntnis gravierende Straftaten, wie die Verursachung eines
Natur. Flugzeugabsturzes, bevorstehen. Weiterhin ist die Offenba-
Diese Problematik kann auch nicht rechtlich umgangen rung von psychischen Erkrankungen eines Piloten durch § 34
werden, indem eine Offenbarungsbefugnis oder -pflicht ge- StGB gerechtfertigt, wenn dies erforderlich ist, um eine Ge-
schaffen wird, die auf das Vorliegen einer Gefahr verzichtet fahr für Leib und Leben von Flugzeuginsassen und -be-
und allein psychische Auffälligkeiten von Personen in gefah- satzung abzuwenden.
renträchtigen Berufen voraussetzt. Denn so sehr der Wunsch Der Grund, warum sich Szenarien wie der Absturz des
nach einer absoluten Sicherheit infolge von Tragödien – wie Germanwings-Fluges 4U 9525 dennoch nicht immer verhin-
der des Absturzes des Germanwings-Fluges – aufkommen dern lassen, liegt darin, dass das Bestehen einer Gefahr nur
mag, genügt dieser Wunsch in einem liberalen Rechtsstaat schwer festgestellt werden kann. Psychische Auffälligkeiten
nicht zur unbegrenzten Einschränkung von Individualfreihei- eines Piloten können für sich allein genommen nämlich noch
ten. Der gesetzgeberische Spielraum endet vielmehr dort, wo keine Gefahr für Rechtsgüter Dritter begründen. Dies ist kein
die Grenze zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das Problem, das rechtlich gelöst werden kann. Das Grundrecht
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung überschrit- eines Menschen auf informationelle Selbstbestimmung darf
ten wird.38 Ein Gesetz, das Berufsgeheimnisträger verpflich- nicht schon deswegen gravierend eingeschränkt werden, weil
tet oder befugt, psychische Krankheiten zu melden, ohne eine sich der Grundrechtsträger zu einer Schädigung von Rechts-
Gefahr vorauszusetzen, würde diese Grenze überschreiten. gütern Dritter entschließen könnte. Eine absolute Sicherheit
Der Geheimnisschutz der betroffenen Grundrechtsträger wäre kann kein Rechtssystem garantieren. So verständlich der
durch ein solches Gesetz ausnahmslos eingeschränkt, obwohl Wunsch auch sein mag, Tragödien wie die des Absturzes des
es wahrscheinlich ist, dass mangels Gefahr überhaupt keine Germanwings-Fluges 4U 9525 in Zukunft verhindern zu kön-
Kollisionslage mit anderen Rechtsgütern besteht. Denn psy- nen, kann diesem Wunsch nicht mit einer weiteren Durchbre-
chische Erkrankungen begründen wegen der verbleibenden chung der ärztlichen Schweigepflicht entsprochen werden.
Autonomie des Menschen nicht zwangsläufig eine Gefahr für
Rechtsgüter Dritter. Die Prävalenz von Straftaten ist bei de-
pressiven Menschen nicht höher als bei der Normalbevölke-
rung.39 Dies unterscheidet die Situation eines psychisch kran-
ken Piloten von den offenbarungspflichtigen Situationen, die
beispielsweise vom Infektionsschutzgesetz oder § 138 StGB
erfasst werden. Ein Patient, der mit einer ansteckenden
Krankheit infiziert ist, setzt Personen, die mit ihm in Kontakt

37
Vgl. BT-Drs. 17/6256, S. 20 zu § 4 des Kinderschutz-
Kooperations-Gesetzes des Bundes (KKG).
38
BVerfG NJW 1972, 1123 (1124).
39
Göppinger, Kriminologie, 6. Aufl. 2008, § 7 C. Rn. 66.
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275
Übungsfall: HALEC
Von Anja Nitschke, Dr. Carsten Hörich, Halle (Saale)*

Ausgangsfall Für die Bearbeitung sind für die Beurteilung der Maß-
Im Verlauf der Händel-Festspiele 2012 werden an mehreren nahmen des Krisenstabes allein die Regelungen des SOG
Tagen insgesamt 25 Personen im Alter von 15 bis 70 Jahren LSA zugrunde zulegen.
in das Universitätsklinikum eingeliefert, die an einer akuten
Darminfektion leiden. Drei ältere Patienten versterben nach Erweiterung
wenigen Tagen. Untersuchungen durch Spezialisten ergeben, Eine Woche später wurden weitere Infektionen bekannt,
dass es sich um eine neue Variante das Erregers EHEC han- weshalb der Krisenstab eine erneute Untersuchung der Firma
delt, dem sie den Namen HALEC geben. Unmittelbar nach- A vornehmen lässt. Dabei wird festgestellt, dass die Ursache
dem die Oberbürgermeisterin der Stadt X in Sachsen-Anhalt der Infektion dort lag. Da der Krisenstab mit der Schlie-
von den Vorfällen erfahren hat, bildet sie einen Krisenstab, ßungsverfügung zugleich eine Verzehrwarnung hinsichtlich
an dem der Leiter des Ordnungsamtes, ein Vertreter des städ- der Produkte der Firma B in einer Pressemeldung herausge-
tischen Gesundheitsamtes sowie ein spezialisierter Professor geben hat, sind der B Aufträge im Wert von 150.000 € ge-
der Universitätsklinik beteiligt sind. kündigt worden. Neue Aufträge sind bis zur Aufklärung nicht
Nach Auskunft der behandelnden Ärzte ist davon auszu- erteilt worden. Daher verlangt sie von der Stadt X Ersatz des
gehen, dass die Infektion durch die Nahrungsaufnahme ver- Schadens i.H.v. 15.000 €, was dem Gewinn aus den gekün-
ursacht wurde. Bei der durch den Krisenstab angeordneten digten Aufträgen entspricht. Darüber hinaus verlangt die
Befragung der Betroffenen stellt sich heraus, dass alle an Firma B 25.000 € mit der Begründung, dass dies dem Ge-
einer Gala-Veranstaltung teilgenommen haben, die ein Buffet winn in der Zeit bis zur Aufklärung des Fehlers entspricht,
der Catering-Firma „Grün und Gesund“ (GUG) bereithielten. den sie in diesem Zeitraum gewöhnlich erzielt hätte.
Daraufhin ordnet er gegenüber der GUG an, Proben der ver- Da die Stadt X eine eigene Verantwortung abstreitet, er-
wendeten Lebensmittel sicherzustellen, alle Mitarbeiter ge- hebt die Firma B nach erfolglosem Widerspruch fristgerecht
sundheitlich zu untersuchen und Auskunft über die Lieferan- Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht. Prüfen Sie
ten, deren Waren für das entsprechende Buffet verwendet in einem Gutachten Zulässigkeit und Begründetheit dieser
wurden, zu erteilen. Klage.
Die zwei Tage später folgenden Untersuchungsergebnisse
belegen, dass die Ursache im für das Buffet verwendeten Hinweis: Sollte eine Unzulässigkeit dieser Klage festge-
Rindfleisch lag. Da das Rindfleisch ausschließlich von zwei stellt werden, ist die Begründetheit in einem Hilfsgutach-
Erzeugern, den Betrieben A und B, geliefert wurde, werden ten zu prüfen.
die Betriebe untersucht und jeweils Proben genommen. Die
Untersuchungen führt das private Labor L im Auftrag der Lösung
Stadt X durch. Dabei kommt es zu einer Verwechslung der A. Frage 1
Proben, weshalb L dem Krisenstab fälschlicherweise mitteilt,
I. Sicherstellung verwendeter Lebensmittel
dass die HALEC-Verseuchung auf die Produkte der Firma B
zurückzuführen ist. Daraufhin ordnet der Krisenstab die so- 1. Ermächtigungsgrundlage
fort vollziehbare Schließung der Firma B an. Der Inhaber der Nach § 45 Nr. 1 SOG LSA1 können die Sicherheitsbehörden
Firma B lässt seine Tiere und Produkte nochmals von dem und die Polizei eine Sache sicherstellen, um eine gegenwärti-
Spezialisten S untersuchen, der keine Belastung mit HALEC ge Gefahr abzuwehren.
feststellen kann. Das wird auch dem Krisenstab mitgeteilt,
der darin allerdings nur eine taktische geschäftspolitische 2. Formelle Rechtmäßigkeit
Maßnahme sieht und insoweit nicht bereit ist, eine erneute a) Zuständigkeit
Untersuchung durchzuführen.
Grundlegend ist nach §§ 89 Abs. 2, 1 Abs. 1 S. 1 SOG LSA
die Gemeinde für die Aufgaben der Gefahrenabwehr sachlich
Fragestellungen
zuständig.2 Vorliegend hat der Krisenstab die Maßnahme
1. Sind die Maßnahmen des Krisenstabs der Stadt X gegen-
über der Firma GUG rechtmäßig?
2. Die Firma B möchte sich gegen die Schließung, die 1
aufgrund der Verwechslung der Proben angeordnet wurde, Wortgleiche Regelungen finden sich in nahezu allen ande-
wehren – nicht zuletzt, weil ihr erhebliche finanzielle Einbu- ren Landesgesetzen; Ausnahmen hiervon: § 26 Abs. 1
ßen mit jedem weiteren Tag der Schließung drohen. Wie SächsPolG; § 23 Abs. 1 BremPolG; § 32 Abs. 1 PolG, wo-
kann sie das schnellst möglich erreichen? nach „die Polizei [...] eine Sache sicherstellen (kann), wenn
dies erforderlich ist, um den Eigentümer oder den rechtmäßi-
gen Inhaber der tatsächlichen Gewalt vor Verlust oder Be-
* Die Autorin Nitschke ist Referendarin am OLG Bezirk schädigung der Sache zu schützen.“
2
Frankfurt am Main. Der Autor Hörich ist wiss. Mitarbeiter Grundlegend zur Zuständigkeit: Schoch, in: Schmidt-
am Lehrstuhl für Öffentliches Recht von Prof. Dr. Kluth an Aßmann/Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht,
der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 2008, Kap. 2 Rn. 263 ff. Darin finden sich zahlreiche Litera-
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ZJS 3/2015
276
HALEC ÖFFENTLICHES RECHT

angeordnet. Hierbei handelt es sich um ein Gremium der den für die Gesundheit und das Leben vieler Personen stellen
Stadt X, welches nach § 3 Nr. 7 i.V.m. § 82 Abs. 1 Nr. 1 eine solche Gefahr dar.
SOG LSA als allgemeine Sicherheitsbehörde zu klassifizie-
ren ist. b) Gegenwärtigkeit der Gefahr
Die örtliche Zuständigkeit bemisst sich nach § 88 Abs. 1 Gegenwärtig ist eine Gefahr gemäß § 3 Nr. 3 lit. b SOG LSA,
S. 2 SOG LSA, wonach die Behörde, in deren Bezirk die zu wenn das schädigende Ereignis bereits begonnen hat oder
schützenden Interessen verletzt oder gefährdet werden, zu- unmittelbar bzw. in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit
ständig ist. In der Stadt X kam es im Zeitpunkt der Festspiele grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht.6 Es wurden be-
zu einem erhöhten Aufkommen von erkrankten und lebensge- reits mehrere Personen durch die Infektionsquelle mit dem
fährdeten Personen. Örtlich und sachlich zuständig ist damit Virus infiziert. Das schädigende Ereignis hat also bereits
die Stadt X. begonnen und die Gefahr ist gegenwärtig im Sinne von § 3
Nr. 3 lit. b SOG LSA.
b) Verfahren
Grundsätzlich ist gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG eine Anhörung c) Störer
der Befragten als Adressaten von belastenden Verwaltungs- Gemäß § 8 Abs. 1 SOG LSA ist die Maßnahme gegen den
akten notwendig. Diese erfolgte hier nicht. Bei Gefahr im Inhaber der tatsächlichen Gewalt zu richten.7 Vorliegend geht
Verzug wird in § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG eine Ausnahme die Gefahr von den Lebensmitteln aus, welche die Firma
vom Anhörungserfordernis gemacht. Gefahr im Verzug be- GuG z.B. zur Herstellung von Buffets auf größeren Veran-
steht dabei, wenn der durch die Anhörung bedingte Zeitver- staltungen verwendet. Damit ist die GuG Zustandsstörer nach
lust auch bei Gewährung kürzester Anhörungsfristen mit § 8 Abs. 1 SOG LSA.8
hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass die zu tref-
fende Regelung zur Zielerreichung zu spät käme.3 Mit der d) Sicherstellungsanordnung
Sicherstellung sollte die Verhinderung einer weiteren Ver-
Der Sicherstellung als hoheitliche Begründung der tatsächli-
breitung verunreinigter Lebensmittel ohne zeitliche Verzöge-
chen Gewalt über eine Sache muss eine Anordnung voraus-
rung erreicht werden. Eine vorherige Anhörung hätte dem
gehen. Das ist vorliegend erfolgt.
entgegengestanden. Damit bestand Gefahr im Verzug und
von einer Anhörung konnte abgesehen werden.
e) Ermessen/Verhältnismäßigkeit gemäß §§ 5, 6 SOG LSA
c) Form Schließlich muss die Sicherstellung gemäß § 5 Abs. 1, Abs. 2
SOG verhältnismäßig sein. Sie ist geeignet den legitimen
Es gelten keine besonderen Formvorschriften (vgl. § 37
Zweck – nämlich die Abwehr der Infektionsgefahr durch die
Abs. 2 VwVfG). Wird ein Verwaltungsakt schriftlich erteilt,
Lebensmittel – zu verwirklichen. Ein milderes Mittel ist nicht
muss er jedoch begründet werden (§ 39 VwVfG).
ersichtlich. Fraglich ist, ob sie auch angemessen ist. Es be-
stand die Gefahr einer Epidemie, die eine sehr hohe Zahl an
d) Ergebnis
Menschen beeinträchtigen kann. Betroffen und gefährdet sind
Die Sicherstellung erfolgte somit formell rechtmäßig. dabei die Rechtsgüter des Lebens und der Gesundheit zahl-
reicher Personen, denen im Vergleich zu den betroffenen
3. Materielle Rechtmäßigkeit Eigentumspositionen der Firma GuG ein schwereres Gewicht
Eine Sache kann nach Maßgabe des § 45 Abs. 1 Nr. 1 SOG zukommt. Infolgedessen ist die Sicherstellung angemessen
LSA sichergestellt werden, wenn eine gegenwärtige Gefahr und die Verhältnismäßigkeit gewahrt. Schließlich lässt sich
für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren ist.4 auch kein Fehler in der Ausübung des pflichtgemäßen Er-
messens (vgl. § 6 Abs. 1 SOG, § 114 VwGO) erkennen.
a) Gefahr für die öffentliche Sicherheit5
Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit liegt gemäß § 3 4. Ergebnis
Nr. 1, Nr. 3 lit. a SOG LSA vor, wenn im konkreten Fall die Die Sicherstellung ist damit formell und materiell rechtmä-
hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer ßig.
Zeit für die aufgezählten Rechtsgüter ein Schaden eintreten
wird. Die Infektionsquelle und der dadurch absehbare Scha-
6
Vgl. auch § 3 Abs. 3 Nr. 2 SOG M-V; § 2 Nr. 1b Nds. SOG.
7
turnachweise für die konkreten Regelungen in den verschie- Vgl. § 14 ASOG Bln; § 6 BbgPolG, § 8 SOG; § 7 HSOG;
denen Bundesländern. § 70 SOG M-V; § 5 PolG NRW; § 5 POG; § 5 SPolG; § 219
3
BVerwG, Urt. v. 1.12.1983 – 3 C 27/82; Hermann, in: LVwG SH; § 8 ThürPAG; § 5 SächsPolG; § 6 BremPolG; § 7
Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), BeckOK VwVfG, § 28 Rn. 24. Nds. SOG; § 7 PolG; Art. 8 PAG.
4 8
Zur Sicherstellung Schoch (Fn. 2), Kap. 2 Rn. 235 ff. Geht man hingegen davon aus, dass letztlich die Firma GuG
5
Im SOG LSA sind die Gefahrenbegriffe in § 3 Nr. 3 SOG der die Gefahr verursachende Akteur ist, weil sie die Le-
LSA legal definiert; Legaldefinitionen finden sich sonst nur bensmittel erst durch Verarbeitung in den Verkehr bringt, ist
in § 3 Abs. 3 SOG M-V, § 2 Nr. 1 Nds. SOG; allgemein zum maßgebend auf § 7 Abs. 1 SOG LSA abzustellen. So könnte
Begriff der Gefahr Schoch (Fn. 2), Kap. 2 Rn. 84 ff. die GuG auch als Handlungsstörerin gewertet werden.
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277
ÜBUNGSFALL Anja Nitschke/Carsten Hörich

II. Gesundheitsuntersuchung aller Mitarbeiter der Firma zeibehörde handeln. Gemäß § 3 Nr. 9 SOG LSA umfasst die
GuG Polizei institutionell Polizeibehörden und Polizeidienststel-
1. Ermächtigungsgrundlage len. Der Krisenstab ist weder Teil der in § 76 SOG genannten
Polizeibehörde, noch kann er einer Polizeidienststelle zuge-
Einschlägige Ermächtigungsgrundlage für die Untersu-
ordnet werden. Der Krisenstab ist mithin kein Teil der Polizei
chungsanordnung ist § 41 Abs. 5 SOG LSA.
und durfte die körperliche Untersuchung nicht anordnen.
2. Formelle Rechtmäßigkeit
b) § 13 SOG LSA als Ermächtigungsgrundlage für die Unter-
Die Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formanforderungen suchung?
wurden gewahrt.9
Fraglich ist, ob die Anordnung des Krisenstabes auf § 13
SOG LSA als Ermächtigungsgrundlage gestützt werden
3. Materielle Rechtmäßigkeit
kann. Bei § 41 Abs. 5 SOG LSA handelt es sich um eine
a) Voraussetzungen des § 41 Abs. 5 S. 1 SOG LSA Standardmaßnahme des Polizei- und Ordnungsrechtes, die
Nach Maßgabe des § 41 Abs. 5 S. 1 SOG LSA kann eine ihrerseits abschließende Regelungen trifft und einen Rück-
Person bei Gefahr für deren Leib, Leben oder Gesundheit griff auf die Generalklausel verbietet.14 Da die Anordnung
körperlich untersucht werden.10 des Krisenstabes nach § 41 Abs. 5 SOG LSA rechtswidrig ist,
darf sie nicht auf § 13 SOG LSA gestützt werden.
aa) Gefahr für Freiheit, Leib oder Leben des Untersuchten
Eine Gefahr für Leib oder Leben ist gemäß § 3 Nr. 3 lit. d c) Zwischenergebnis
SOG LSA eine Gefahr, bei der eine nicht nur leichte Körper- Die Gesundheitsuntersuchung ist rechtswidrig.
verletzung oder der Tod einzutreten drohen. Die Mitarbeiter
der GuG sind mit den Lebensmitteln, die Ursache für bereits III. Auskunftserteilung über Lieferanten und Waren bei
eingetretene Gesundheitsschädigungen und den Tod einiger Befragung
Patienten sind, in Kontakt gekommen. Insoweit kann eine 1. Ermächtigungsgrundlage
Gefahr für Leib oder Leben nicht ausgeschlossen werden.11
Gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 SOG LSA können Befragungen
durchgeführt werden, sofern tatsächliche Anhaltspunkte die
bb) Richterliche Anordnung oder Gefahr im Verzug
Annahme rechtfertigen, das der Betreffende sachdienliche
Eine körperliche Untersuchung darf grundsätzlich nur mit Angaben zur Aufklärung machen kann. Einschlägige Er-
richterlicher Anordnung durchgeführt werden.12 Eine solche mächtigungsgrundlage ist mithin § 14 Abs. 1, Abs. 2 SOG.15
liegt nicht vor. Gemäß § 41 Abs. 5 S. 4 SOG LSA darf die
Anordnung bei Gefahr im Verzug auch durch die Polizei 2. Formelle Rechtmäßigkeit
erfolgen.13 Hier hat der Krisenstab die Maßnahme angeord-
Die Befragung erfolgte formell rechtmäßig.16
net. Es müsste sich daher bei dem Krisenstab um eine Poli-
3. Materielle Rechtmäßigkeit
9
Vgl. dazu A. I. 2., Da sich hier keine Änderungen für die a) Konkrete Gefahr für öffentliche Sicherheit
Verfahrens-, Form und Zuständigkeitsanforderungen erge- Eine konkrete Gefahr im Sinne des § 3 Nr. 3 lit. a SOG liegt
ben, kann der Bearbeiter auf seine bereits getätigten Ausfüh- vor.17
rungen verweisen.
10
In einigen Bundesländern finden sich entsprechende Vor- b) Tatsächliche Anhaltspunkte für die Möglichkeit sachdien-
schriften: § 15 Abs. 4 S. 1 SOG; § 36 Abs. 5 S. 1 HSOG; licher Angaben
§ 17a S. 1 SPolG; § 18 Abs. 3 S. 1 POG; differenzierter § 53
Zudem müssen tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme
Abs. 4 S. 1 SOG M-V; § 22 Abs. 4 S. 1 Nds. SOG.
11 rechtfertigen, dass der Adressat der Maßnahme sachdienliche
Hier kommt es maßgebend darauf an, dass der Bearbeiter
Angaben zur Aufklärung des Sachverhaltes machen kann.
beachtet, dass die Gefahr für die Untersuchten besteht, da
Die Firma GuG kennt die Lieferanten der Waren, weshalb
§ 41 Abs. 5 SOG LSA keine Rechtsgrundlage für eine Unter-
davon auszugehen ist, dass sie sachdienliche Angaben ma-
suchung zum Schutz Dritter bietet. Dass die Maßnahme zu-
chen können.
gleich der Identifikation der Gefahrenquelle dient, steht dem
hier aber nicht im Wege.
12
§ 45 Abs. 5 S. 2 SOG LSA; vgl. auch § 15 Abs. 4 S. 3
SOG; § 36 Abs. 5 S. 2 HSOG; § 17a S. 3 SPolG; § 18 Abs. 3
S. 3 POG; § 53 Abs. 4 S. 5 SOG M-V; § 22 Abs. 4 S. 3 Nds.
14
SOG. Vgl. Schoch (Fn. 2), Kap. 2 Rn. 56 m.w.N.
13 15
Vgl. § 15 Abs. 4 S. 6 SOG; § 17a S. 6 SPolG; § 53 Abs. 4 Allgemein zum Auskunftsverlangen Schoch (Fn. 2), Kap. 2
S. 6 SOG M-V; In den Gesetzen der Bundesländer Nieder- Rn. 196 ff.; vgl. andere Landesregelungen z.B.: § 13 Brem-
sachsen und Rheinland-Pfalz ist eine nachträgliche richterli- PolG; § 20 PolG; § 12 HSOG; § 28 SOG M-V; § 9a POG.
16
che Bestätigung vorgesehen: § 22 Abs. 4 S. 5 Nds. SOG; Vgl. Ausführungen unter A. I. 2.
17
§ 18 Abs. 3 S. 6 POG. Siehe dazu A. I. 3. a).
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ZJS 3/2015
278
HALEC ÖFFENTLICHES RECHT

c) Auskunftspflicht gegenüber den §§ 80, 80a VwGO subsidiär ist, § 123 Abs. 5
Eine Auskunftspflicht besteht gemäß § 14 Abs. 2 S. 1 SOG VwGO.20 Damit könnte die B das Ziel, die Schließungsver-
LSA für den in §§ 7, 8 SOG LSA genannten Personenkreis. fügung aufzuheben, durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5
Die Firma GuG ist als Inhaberin der tatsächlichen Gewalt VwGO erreichen, indem sie gegen die sofortige Vollziehbar-
über die verunreinigten Nahrungsmittel Störer im Sinne des keit der Schließungsverfügung vorgeht. Die Firma B wäre
§ 8 SOG.18 Damit ist sie auskunftspflichtig. danach dazu berechtigt, ihre Tätigkeit zumindest vorläufig
wieder aufzunehmen. Dieser Antrag kann aber nur Erfolg
d) Ermessen/Verhältnismäßigkeit haben, wenn die Patt-Situation zwischen den beiden Untersu-
chungsergebnissen überwunden würde. Der Nachweis der
Die Mitarbeiter verfügen über sachdienliche Informationen
Rechtswidrigkeit hängt dabei allein davon ab, dass die Feh-
hinsichtlich der Warenlieferanten. Die Befragung ist geeignet
lerhaftigkeit der Untersuchung durch das Labor L nachgewie-
den legitimen Zweck – Abwehr der Infektionsgefahr – zu
sen wird. Diese Frage kann das Verwaltungsgericht nicht
verwirklichen. Ein milderes Mittel ist nicht ersichtlich. Die
eigenständig entscheiden, sondern müsste ebenfalls einen
Epidemie kann eine sehr hohe Zahl an Menschen beeinträch-
Gutachter einsetzen. Deshalb zielt der Antrag der Firma B
tigen. Daher ist die Befragung auch angemessen. Ein Fehler
zutreffend auf eine Verpflichtung der Stadt Halle zur Vor-
in der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens (vgl. § 6
nahme einer erneute Untersuchung ab. Ein abweichendes Er-
Abs. 1 SOG, § 114 VwGO) ist nicht erkennbar.
gebnis im Rahmen einer erneuten Untersuchung der Proben
würde dann eine Aufhebung der Schließungsverfügung au-
4. Ergebnis
tomatisch nach sich ziehen.
Die Befragung ist damit formell und materiell rechtmäßig. Vor diesem Hintergrund erscheint es ausnahmsweise an-
gemessen, einen Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO, gerichtet
B. Frage 2 auf die Verpflichtung der Stadt Halle zur erneuten Untersu-
I. Zulässigkeit chung der Proben, zuzulassen. Dabei zielt der Antrag auf die
1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs einstweilige Änderung des bestehenden Zustandes, womit es
sich um eine Regelungsanordnung im Sinne von § 123 Abs. 1
Eine aufdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich.
S. 2 VwGO handelt.21
Gemäß § 40 Abs. 1 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg er-
öffnet, wenn es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, 3. Antragsbefugnis
nicht verfassungsrechtlicher Art handelt und keine abdrän-
gende Sonderzuweisung einschlägig ist. Die Streitigkeit ist Die Firma B müsste antragsbefugt sein, § 42 VwGO analog.22
öffentlich-rechtlich, wenn sie nach Maßgabe des öffentlichen Hierzu müsste sie geltend machen können, in eigenen Rech-
Rechts zu entscheiden ist.19 Streitentscheidend sind hier ten verletzt zu sein. Durch die bestehende Betriebsschließung
Normen des SOG LSA und damit Normen des öffentlichen kann B ihren Tätigkeiten nicht mehr nachgehen und erleidet
Rechts. Mangels Beteiligung von Verfassungsorganen liegt erhebliche wirtschaftliche Nachteile. Eine Verletzung der
auch eine nicht verfassungsrechtliche Streitigkeit vor. Rechte aus Art. 12 Abs. 1 GG kann daher nicht von vornher-
Schließlich ist keine abdrängende Sonderzuweisung ersicht- ein ausgeschlossen. Damit kann die Antragsbefugnis aus
lich. Damit ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Art. 12 Abs. 1 GG abgeleitet werden.23

20
2. Statthafte Antragsform Als Faustregel kann sich gemerkt werden, dass § 123
Die statthafte Antragsart richtet sich nach dem Antragsbegeh- Abs. 1 VwGO grundsätzlich zur Anwendung gelangt, wenn
ren. Die Firma B begehrt letztlich die Aufhebung der Schlie- eine Verpflichtungs-, Unterlassungs-, Leistungs- oder Fest-
ßungsverfügung. Für eine solche Aufhebung müsste die auf- stellungsklage in der Hauptsache statthaft wäre. Entsprechen-
grund der fehlerhaften Untersuchung vorhandene Tatsachen- des gilt für den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bei Anfech-
grundlage durch eine erneute Prüfung korrigiert werden. tungsklagen, vgl. insgesamt dazu VGH München, Beschl. v.
Fraglich ist, wie sie dieses Ziel schnellstmöglich erreichen 27.7.2007 – 8 CS 07.1023; Kuhla, in: Bader/Ronellenfitsch
kann. (Hrsg.), BeckOK VwGO, § 123 Rn. 11; Allerdings gilt diese
Vorläufigen Rechtschutz gewähren §§ 80, 80a VwGO Annahme nicht ausnahmslos.
21
und § 123 VwGO, wobei das Verfahren nach § 123 VwGO Vgl. dazu allgemein Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/
Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 123 Rn. 49 f.
22
Zur Antragsbefugnis im Rahmen des einstweiligen Recht-
18
Siehe dazu A. I. 3. c); Falls der Bearbeiter unter entspre- schutzes Schoch (Fn. 21), § 123 Rn. 107 f.; Kuhla (Fn. 20),
chender Argumentation in der GuG einen Handlungsstörer § 123 Rn. 35 ff.
23
erblickt, so ist dieser auch von § 14 SOG LSA als Auskunfts- Bereits an dieser Stelle könnte der Bearbeiter auf einen
verpflichteter erfasst. möglichen Aufhebungsanspruch aus § 48 Abs. 1 VwVfG
19
Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), oder auf einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfah-
VwGO, § 40 Rn. 204; ausführlich zu den Theorien und der rens nach § 50 VwVfG abstellen (Dazu C. II. 1.). Dennoch
Frage, in welchem Umfang diese zur Anwendung gelangen genügt auch eine allgemein gehaltene Lösung, die auf Art. 12
Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwal- GG Bezug nimmt, den gesetzlichen Anforderungen an die
tungslehre, § 2 Rn. 67 ff. Antragsbefugnis.
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279
ÜBUNGSFALL Anja Nitschke/Carsten Hörich

4. Antragsgegner 2. Anordnungsgrund
Der Antrag ist gemäß § 78 Nr. 1 VwGO analog gegen den Die Anordnung muss notwendig sein, um wesentliche Nach-
Bund, das Land oder die Körperschaft, deren Behörde die teile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern, § 123
Untersuchung angeordnet und die Schließungsverfügung Abs. 1 S. 2 VwGO.29 Der Firma B drohen aufgrund der
erlassen hat, zu richten.24 Vorliegend ordnete der Krisenstab Schließung erhebliche finanzielle, existenzbedrohende Ein-
die Maßnahmen an. Deren Rechtsträger ist die Stadt H, die bußen. Mit jedem weiteren Tag der Schließung erhöht sich
insoweit der richtige Antragsgegner ist. diese Gefahr. Zu beachten ist weiterhin die Nachhaltigkeit
der Beeinträchtigung der Betriebsausübung, da diese die
5. Beteiligtenfähigkeit Möglichkeit eines späteren Ausgleichs der erlittenen Einbu-
Antragsgegner und Antragssteller müssten beteiligtenfähig ßen als fraglich erscheinen lässt.30 Damit würden ohne die
sein. In Bezug auf die Firma B folgt diese aus § 61 Nr. 1 Anordnung wesentliche Nachteile eintreten. Mithin liegt ein
VwGO.25 Entsprechendes gilt für die Stadt H. Anordnungsgrund vor.

6. Zwischenergebnis 3. Keine Vorwegnahme der Hauptsache


Damit ist der Antrag zulässig. Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist nicht ersichtlich.

II. Begründetheit des Eilantrags 4. Ergebnis


Der Antrag nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO ist begründet, Damit ist der Antrag zulässig und begründet.
wenn eine einstweilige Anordnung zur Regelung des vorläu-
figen Zustandes hinsichtlich des streitigen Rechtsverhältnis- C. Lösung zur Erweiterung
ses nötig ist, um wesentliche Nachteile abzuwehren. Im Anknüpfungspunkt der Klage vor dem Verwaltungsgericht ist
Rahmen der Begründetheit ist zu prüfen, ob ein Anordnungs- nicht die Betriebsschließung, sondern die Verzehrwarnung.
anspruch und ein Anordnungsgrund glaubhaft vorliegen.26
I. Zulässigkeit der Klage vor dem Verwaltungsgericht
1. Anordnungsanspruch Die Firma B macht hier einen Schadensausgleich aus § 69
Es bedarf zunächst eines materiellen Anspruchs, den die Abs. 1 S. 2 SOG geltend. Aufgrund der Sonderzuweisung des
Firma B als Antragstellerin in der Hauptsache verfolgt.27 Eine § 75 SOG LSA für polizeirechtliche Ansprüche auf Scha-
materiell-rechtliche Rechtsposition, aus der sich vorliegend densausgleich an die ordentliche Gerichtsbarkeit ist der Ver-
ein Anspruch auf erneute Untersuchung ableiten lässt, folgt waltungsrechtsweg ausgeschlossen. Auch für ein Schadener-
aus dem sog. Folgenbeseitigungsanspruch. Dieser ist zwar in satzverlangen aus Amtspflichtverletzung, Art. 34 GG i.V.m.
erster Linie auf die Aufhebung des Verwaltungsaktes gerich- § 839 BGB, ist der Verwaltungsrechtsweg wegen der Son-
tet, durch den die Betriebsschließung verfügt wurde. Er derzuweisung des Art. 34 S. 3 GG ausgeschlossen.
schließt aber auch als „Minus“ und als verfahrensrechtliche Es liegen somit zwei abdrängende Sonderzuweisungen
Voraussetzung den Anspruch auf erneute Untersuchung we- vor und die Zulässigkeit der Klage vor dem Verwaltungsge-
gen der vorliegenden Zweifel ein. richt ist zu verneinen. Das Verwaltungsgericht wird die Klage
Weiter ist ein Anspruch aus § 48 Abs. 1 VwVfG denkbar. gemäß § 83 S. 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 S. 1 GVG an das
Dieser ist auch auf nicht bestandskräftige Verwaltungsakte Landgericht Halle verweisen.
anwendbar und begründet einen Anspruch auf Aufhebung Die Begründetheit des Anspruchs ist somit im Hilfsgut-
eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes – jedenfalls in Form achten zu prüfen.
eines Anspruchs auf Ermessensbetätigung, wozu dann auch
die erneute Beweiswürdigung gehört.28

24
Vgl. zur Frage der Bestimmung des Antragsgegners im
Vorläufigen Rechtsschutz Meissner, in: Schoch/Schmidt-
Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 78 Rn. 53 f.
25
Wegen mangelnder Angaben über die Rechtsform der
Firma kann offen bleiben, ob eine natürliche oder juristische
Person vorliegt.
26
§ 123 Abs. 3 i.V.m. § 921 ZPO. Dazu Kuhla (Fn. 20), Untersuchung aus § 51 VwVfG, wobei auf das Vorliegen
§ 123 Rn. 59 ff. eines neuen Beweismittels in Gestalt der Untersuchungser-
27
Vgl. Schoch (Fn. 21), § 123 Rn. 69. Wichtig für die vorlie- gebnisse des S abzustellen wäre. Problematisch ist der Rekurs
gende Bewertung ist, dass ein nicht nur auf die Aufhebung, auf diese Vorschrift aber, weil der Verwaltungsakt noch nicht
sondern auch auf den Verfahrensschritt bezogener Anspruch bestandskräftig ist. Deshalb scheidet auch dieser Weg i.E.
gesucht und herausgearbeitet wird. aus.
28 29
Aus dem Amtsermittlungsgrundsatz des § 24 VwVfG lässt Zum Gesamten vgl. Kuhla (Fn. 20), § 123 Rn. 126 ff.
30
sich eine subjektiv-rechtliche Position nicht ableiten. Denk- Vgl. Kuhla (Fn. 20), § 123 Rn. 129 mit zahlreichen weite-
bar wäre noch die Ableitung eines Anspruchs auf erneute ren Nachweisen.
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ZJS 3/2015
280
HALEC ÖFFENTLICHES RECHT

II. Hilfsgutachten: Begründetheit der Klage vor dem ler und Verschulden des Verwaltungshelfers der Verwaltung
Landgericht wie eigenes Handeln zuzurechnen, denn die Verlagerung der
1. Schadensausgleich gemäß § 69 Abs. 1 S. 2 SOG Aufgabenerfüllung durch die Verwaltung auf Private darf
nicht zu Lasten des Bürgers erfolgen. Das gilt auch im Rah-
Gemäß § 69 Abs. 1 S. 2 SOG31 ist demjenigen, der durch eine
men der Gefahrermittlung. Wenn die Sicherheitsbehörde bei
rechtswidrige Maßnahme der Polizei oder der Sicherheitsbe-
der Erstellung der Gefahrenprognose einen Verwaltungshel-
hörden eine Einschränkung in seinen Rechten erleidet der
fer einbezieht, so muss der Maßstab des besonnenen und
hieraus entstandene Schaden zu ersetzen.32
pflichtbewussten Beamten auch auf das Handeln des Verwal-
tungshelfers erstreckt werden.38
a) Rechtswidrige Maßnahme
Im vorliegenden Fall wurden die Proben von Mitarbeitern
Eine rechtswidrige Maßnahme liegt vor, wenn die Verzehr- des Labors verwechselt. Obwohl dazu keine näheren Einzel-
warnung rechtswidrig ist.33 heiten mitgeteilt werden, stellt eine solche falsche Zuordnung
eine grobe Fahrlässigkeit und Pflichtverletzung dar. Der
aa) Ermächtigungsgrundlage Krisenstab muss sich diese Fehler des Labors zurechnen
Weder die spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlagen (auf- lassen und hat somit nicht pflichtgemäß gehandelt. Es liegt
grund des Bearbeitervermerks) noch eine polizeiliche Stan- deshalb keine Anscheins-, sondern eine Scheingefahr vor.39
dardmaßnahme kommen in Betracht. Vielmehr ist die Gene-
ralklausel des § 13 SOG einschlägig. dd) Ergebnis
Die Maßnahme ist deshalb materiell rechtswidrig.
bb) Formelle Rechtmäßigkeit
Die Verzehrwarnung erfolgte formell rechtmäßig. Alternativprüfung: Wenn ein Bearbeiter zu dem Ergebnis
kommt, dass eine (Anscheins-) Gefahr im Sinne des § 3
cc) Materielle Rechtmäßigkeit Nr. 3 lit. a SOG LSA vorliegt, so ist im Rahmen der wei-
Hierfür muss eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicher- teren Prüfung auf folgende Punkte zu achten: Die Firma B
heit vorliegen.34 Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit ist mangels Sachgewalt über die vermeintlich kontami-
beruht dabei auf einer Prognose.35 Eine konkrete Gefahr kann nierten Lebensmittel bzw. mangels Verhaltensverantwort-
auch vorliegen, wenn irrtümlich das Vorliegen einer Gefahr lichkeit nicht Störerin.
angenommen wird, sofern die Prognose auf einer pflichtge-
mäßen, verständigen und besonnenen Einschätzung beruht.36 b) Beschränkung der Rechte der B?
Die Schließungsanordnung ist auf die Gefahr bezogen, wel- Problematisch ist, dass die Verzehrwarnung an die Verbrau-
che vermeintlich von den Lebensmitteln der Firma B ausgeht. cher adressiert und nicht direkt an die B gerichtet ist. Fraglich
Dass die Lebensmittel in Wahrheit nicht mit Bakterien kon- ist daher, ob die B in ihren Rechten beschränkt ist, da sonst
taminiert waren, war dem Krisenstab selber nicht bekannt. der Anspruch nach § 69 Abs. 1 S. 2 SOG LSA entfallen wür-
Vielmehr beruhte diese Fehleinschätzung auf den Fehlern des de.
Labors. Fraglich ist nunmehr, ob sich der Krisenstab diesen In Betracht kommt eine mittelbare Beeinträchtigung der
Fehler zurechnen lassen muss, was eine nicht pflichtgemäße Berufsfreiheit der B aus Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19
Einschätzung der Gefahr bedeuten und die Anscheinsgefahr Abs. 3 GG. Diese schützt die unternehmerische Tätigkeit der
entfallen lassen würde. B. Allerdings stellt die Verbreitung zutreffender und sachlich
Bei der Beauftragung des privaten Labors handelt es sich gehaltener Informationen am Markt kein Grundrechtseingriff
um die Einbeziehung eines Verwaltungshelfers in die Erfül- dar, auch wenn sich das nachteilig für einen Marktteilnehmer
lung einer Verwaltungsaufgabe.37 In diesen Fällen sind Feh- auswirkt.40 Hier werden aber gerade falsche Informationen
verbreitet. Daher sind die allgemeinen Kriterien eines Ein-
griffs anzuwenden. Die Warnung vor den Nahrungsmitteln
31
Vgl. § 64 Abs. 1 S. 2 HSOG; § 68 Abs. 1 S. 2 SPolG; § 68 der B wird aufgrund ihrer Brisanz einen weiten Personenkreis
Abs. 1 S. 2 POG; § 80 Abs. 1 S. 2 Nds. SOG.
32
Vgl. allgemein zu den Grundsätzen der Kostentragung im
Gefahrenabwehrrecht Kluth, in: Kluth (Hrsg.), Landesrecht Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, 7. Aufl.
Sachsen-Anhalt, 2. Aufl. 2010, § 3 Rn. 421 ff. 2010, § 67 Rn. 24 ff.
33 38
Folgend ist daher inzident die Rechtmäßigkeit der Ver- So im vergleichbaren Fall der fehlerhaften Laboruntersu-
zehrmaßnahme zu prüfen. chung von BSE-Proben, BGH NJW 2005, 286 (287);
34
Zum Gefahrenbegriff siehe B. I. 3. a). Pietzcker, AöR 132 (2007), 393 (399).
35 39
Mit anderen Worten ist der Beurteilungszeitpunkt der Zeit- Eine Begründung der Gefahr unter Verweis auf die konta-
punkt des polizeilichen Einschreitens, so Kluth (Fn. 32), § 3 minierten Lebensmittel ist fehlerhaft, da für die Prüfung der
Rn. 139. Maßnahme gegen Firma B es allein darauf ankommt, ob ihr
36
Vgl. näher zur Anscheinsgefahr Kluth (Fn. 32), § 3 Fleisch eine Gefahr darstellt.
40
Rn. 152. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 12 Rn. 19. Vgl.
37
Ein Überblick über die Formen der Ausführung von Ver- Ruffert, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 12
waltungshandeln durch Beauftragung Privater findet sich in Rn. 59 ff.
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281
ÜBUNGSFALL Anja Nitschke/Carsten Hörich

erreichen und das Ansehen der B erheblich schmälern. Die Krisenstab wurde durch die Stadt Halle einberufen und mit
unternehmerische Tätigkeit wird ohne sachlichen Grund aus der Aufgabe der Abwehr der Infektionsgefahr betraut. Auch
der Sphäre des Unternehmens erheblich erschwert. Damit ist hat die Stadt Halle den Professor in den Krisenstab gerufen.
die B in ihrer Berufsausübung beeinträchtigt und es liegt ein Damit ist die Stadt Halle passiv legitimiert.
Eingriff und somit eine Inanspruchnahme vor.41
b) In Ausübung eines öffentlichen Amtes44
c) Schaden Die Betriebsschließung wurde durch den Krisenstab ange-
Fraglich ist, welche Schadensposten ersatzfähig sind. Einer- ordnet. Aufgabe des Krisenstabes ist die hoheitliche Funktion
seits verlangt B den entgangenen Gewinn aus den Aufträgen, der Gefahrenabwehr. Insofern übt er ein öffentliches Amt
die infolge der Betriebsschließung gekündigt wurden aus.45
(15.000 €) und andererseits den entgangenen Gewinn, der im
Zeitraum der Schließung gewöhnlich erzielt worden wären c) Verletzung einer einem Dritten gegenüber obliegenden
(25.000 €). Art und Umfang des Schadensausgleichs bemes- Amtspflicht
sen sich nach § 70 SOG LSA. Demnach wird der Ausgleich Jedem Amtsträger obliegt die Pflicht zu sorgfältigem Verhal-
nur für Vermögensschäden gewährt (§ 70 Abs. 1 S. 1 SOG). ten gegenüber Dritten und zwar auch dann, wenn er nur im
Entgangener Gewinn wird für den Ausfall des gewöhnlichen Interesse der Allgemeinheit tätig wird.46 Das Labor hat die
Verdienstes ausgeglichen. Proben verwechselt. Eine solche Verwechslung ist vermeid-
Damit sind beide Schadensposten von § 70 SOG LSA bar und offenbart mangelnde Sorgfalt. Diese Pflichtverlet-
umfasst. Beide Schäden gehen nicht über den Ausfall des zung muss sich der Krisenstab zuzurechnen lassen. Eine
gewöhnlichen Dienstes hinaus und stehen mit der Maßnahme Amtspflichtverletzung des Krisenstabes liegt vor.
der Sicherheitsbehörde im unmittelbaren Zusammenhang.
Damit greift der Ausschlussgrund des § 70 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 d) Kausalität
und Alt. 2 SOG LSA nicht.
Die Schadensfolgen sind der Anstellungskörperschaft nur
dann zuzurechnen, wenn sie durch das Verhalten eines
d) Ergebnis
Amtswalters verursacht wurde. Hier ist auf die Adäquanz-,
B hat gegen die Stadt einen Anspruch auf Zahlung von insge- nicht die Äquivalenztheorie zurückzugreifen.47 Demnach
samt 40.000 € aus § 69 Abs. 1 S. 2 SOG LSA. muss die Handlung im Allgemeinen und nicht nur unter be-
sonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem
2. Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung aus Art. 34 regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden
GG i.V.m. § 839 BGB42 Umständen zur Herbeiführung des Erfolges geeignet sein.
Gemäß Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB hat der Hoheitsträger Eine pflichtwidrige und falsche Gefahrenprognose durch eine
den Schaden zu ersetzen, der entsteht, wenn in Ausübung Sicherheitsbehörde ist regelmäßig geeignet die Inanspruch-
eines öffentlichen Amtes eine gegenüber einem Dritten be- nahme eines unbeteiligten Dritten anstelle des Störers zu
stehende Amtsplicht verletzt wird. verursachen. Damit ist die haftungsbegründende Kausalität
gegeben.
a) Passivlegitimation
Nach Art. 34 S. 1 GG haftet die Körperschaft, in deren Dienst e) Verschulden
der Amtswalter steht. Amtswalter ist der die Verzehrwarnung Eine Amtshaftung nach § 839 BGB tritt nur bei vorsätzli-
herausgebende Krisenstab. Allerdings stehen nur zwei Ange- chem oder fahrlässigen Handeln des Amtswalters in Be-
hörige des Krisenstabes im Dienst der Stadt. Der Professor ist tracht.48 Für ein vorsätzliches Handeln liegen hier keine An-
Angestellter der Universität, welche nicht Teil der Stadtver- haltspunkte vor. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr er-
waltung ist. Fraglich ist, ob bzgl. dessen Dienstausübung forderliche Sorgfaltspflicht außer Acht lässt. Der Krisenstab
ebenfalls die Stadt Halle passivlegitimiert ist. Wird eine Pri- hat aufgrund der Auskunft des Labors gehandelt. Das Labor
vatperson im Rahmen der Erfüllung öffentlicher Aufgaben hat nach den Regeln der wissenschaftlichen Sorgfalt zu han-
tätig, so ist der Hoheitsträger passiv legitimiert, der die öf- deln, welche eine Verwechslung von Proben ausschließt.
fentliche Aufgabe an die Privatperson übertragen hat.43 Der
44
Die Rechtsstellung des Handelnden ist dabei unbeachtlich;
41
Dieser Punkt könnte im Gutachten auch knapper abgehan- entscheidend ist seine Tätigkeit, Wolff/Bachof/Stober/Kluth
delt werden. (Fn. 37), § 67 Rn. 15 ff.
42 45
§ 69 Abs. 4 SOG stellt klar, dass Ersatzansprüche aus Das Labor handelt nicht in Ausübung eines öffentlichen
Amtspflichtverletzung auch bei Vorliegen der Voraussetzun- Amtes und kann nicht unter dieses Tatbestandsmerkmal sub-
gen des § 69 Abs. 1 SOG unberührt bleiben. Diese Ansprü- sumiert werden. Das Handeln des Labors muss die Stadt sich,
che sind hier daher zu prüfen. wie oben angemerkt, zurechnen lassen.
43 46
Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 37), § 67 Rn. 137. So auch Reinert, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), BeckOK BGB, § 839
die st. Rspr. des BGH. Eine Diskussion der weiteren hierzu Rn. 36; Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 37), § 67 Rn. 54 ff.
47
vertretenen Theorien war hier überflüssig, da alle Ansichten Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 37), § 67 Rn. 87 f.
48
zum selben Ergebnis kommen. Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 37), § 67 Rn. 93.
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ZJS 3/2015
282
HALEC ÖFFENTLICHES RECHT

Diese Regeln wurden nicht eingehalten. Damit hat das Labor,


was sich der Krisenstab als Amtswalter zurechnen lassen
muss, die Amtspflichtverletzung fahrlässig verschuldet.

f) Haftungsprivileg
Zwar steht B ein Anspruch nach § 69 Abs. 1 S. 2 SOG LSA
zu, allerdings greift die Subsidiaritätsklausel nicht, wenn ein
Ersatzanspruch gegen eine Körperschaft des öffentlichen
Rechts besteht.49 Der Ersatzanspruch nach § 69 Abs. 1 S. 2
SOG LSA besteht gegen die Stadt Halle, einer Körperschaft
des Öffentlichen Rechts. Das Haftungsprivileg des § 839
Abs. 1 S. 2 BGB greift nicht.

g) Schaden
Der ersetzbare Schaden bemisst sich nach §§ 249-255, 842-
847 BGB. Als entgangen im Sinne des § 252 BGB gilt der
Gewinn, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge
oder nach den besonderen Umständen, insb. nach den getrof-
fenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit
erwartet werden konnte. Der Gewinn von 15.000 €, der infol-
ge der Kündigung verloren gegangen ist, konnte mit Wahr-
scheinlichkeit erwartet werden und ist daher ersatzfähig. Er
ist infolge der Amtspflichtverletzung verloren gegangen (haf-
tungsausfüllende Kausalität). Auch der Gewinn von 25.000 €,
den B im Zeitraum bis zur Aufklärung des Fehler gewöhnlich
erzielt hätte, konnte mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden
und ist also ersatzfähig.

h) Ergebnis
B hat gegen die Stadt einen Anspruch auf Zahlung von
40.000 € aus Art. 34 GG, § 839 BGB.

3. Schadensausgleich aus weiteren Anspruchsgrundlagen?


Ein Schadensausgleich aus weiteren Anspruchsgrundlagen
kommt hier nicht in Betracht.

D. Gesamtergebnis
Bzgl. der vom Krisenstab ergriffenen Maßnahmen sind die
Sicherstellungsanordnung und das Auskunftsverlangen for-
mell und materiell rechtmäßig. Gegen die Schließungsverfü-
gung kann sich die B im Wege des § 123 Abs. 5 VwGO weh-
ren. Der Antrag hat Aussicht auf Erfolg.
Die B hat gegen die Stadt Halle einen Anspruch auf
Schadenersatz i.H.v. 40.000 € gemäß § 69 Abs. 1 S. 2 SOG
LSA und § 839 BGB i.V.m. Art. 14 GG.

49
Staudinger, in Schulze u.a. (Hrsg.), BGB, 7. Aufl. 2012,
§ 839 Rn. 31.
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283
Übungsfall: In der Gosse
Von Prof. Dr. Georg Steinberg, Leonie Schönemann, Wiesbaden*

Dieser Fall wurde an der EBS – Universität für Wirtschaft Lösungsvorschlag zur Strafbarkeit des J
und Recht Wiesbaden im Frühjahrstrimester 2015 in der A. Ausgangsfall
kleinen Übung (2. Trimester) im Strafrecht gestellt. Die Be-
I. Strafbarkeit nach § 222 StGB wegen der Kollision
arbeitungszeit betrug 120 Minuten. Von den 49 Teilnehme-
rinnen und Teilnehmern bestanden 36 (= 73 %) die Klausur, J könnte sich nach § 222 StGB strafbar gemacht haben, in-
der Notendurchschnitt lag bei 4,87 Punkten. dem er mit seinem Auto mit dem F kollidierte.

Sachverhalt Hinweis: Aufgrund der chronologischen Abfolge der Er-


eignisse und weil die Kollision Anknüpfungspunkt für die
Joachim (J) fuhr am frühen Morgen des 25.11.2014 mit dem
spätere Haftung als Garant sein kann, ist zwingend die
Auto von einer Feier bei Freunden, wo er bis um 03.00 Uhr
hiesige Prüfungsreihenfolge zu wählen. Eine Strafbarkeit
einige Gläser Bier getrunken hatte, nach Hause. Dabei kolli-
nach § 212 Abs. 1 StGB bezogen auf die Kollision zu
dierte er um 05.00 Uhr mit dem Fußgänger Florian (F), der
prüfen, ist überflüssig, da J insoweit evidentermaßen vor-
volltrunken auf die Straße getorkelt war. F fiel schwer ver-
satzlos handelte.
letzt in die Gosse. Wäre J nicht übermüdet und alkoholisiert
gewesen, hätte er schneller reagieren und ausweichen kön-
1. Tatbestand
nen, so dass F unverletzt geblieben wäre.
J stieg aus seinem Auto. Sein erster Impuls war, sofort a) Kausale Erfolgsherbeiführung
mit seinem Handy Hilfe herbeizuholen. Er entschied sich Der tatbestandsmäßige Erfolg des § 222 StGB ist mit dem
dann aber aus Angst vor den Folgen des Geschehenen statt- Tod des J eingetreten. Die Handlung des J, dass er das Fahr-
dessen rasch weiterzufahren, obwohl er erkannte, dass F noch zeug führte und mit F kollidierte, müsste kausal gewesen
zu retten war, wenn er Hilfe erhielt, sonst jedoch seinen Ver- sein, dürfte also nicht hinweggedacht werden können, ohne
letzungen erliegen werde. Letzteres nahm J hin. Auch ging er dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.1 Ohne die
davon aus, sich allenfalls wegen unterlassener Hilfeleistung Kollision wäre F nicht auf diese Weise gestorben, sodass J
strafbar zu machen. den Tatbestandserfolg kausal herbeiführte.
Einige Minuten nachdem J verschwunden war, kam die
Ehefrau Edith (E) des Weges, die (wieder einmal) auf der b) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorher-
Suche nach dem oftmals nächtens zechenden F war. Als E sehbarkeit des Erfolgseintritts
den F in der Gosse liegen sah, beschloss sie, keine Hilfe J müsste objektiv sorgfaltswidrig gehandelt, also die im Ver-
herbeizuholen, sondern nach Hause zu gehen, obwohl auch kehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen haben.2 Der
sie erkannte, dass F lebensgefährlich verletzt war. Auch sie generelle Sorgfaltsmaßstab ergibt sich aus den Anforderun-
nahm in Kauf, dass F versterben werde, was dann auch ge- gen, die bei ex ante-Betrachtung der Gefahrenlage an einen
schah. besonnenen und gewissenhaften Menschen zu stellen sind,
Die polizeilicherseits veranlasste Blutentnahme um 10.00 der dem Verkehrskreis des Täters angehört und sich in seiner
Uhr desselben Tages ergab bei J eine Blutalkoholkonzentrati- konkreten Lage befindet.3
on von 0,5 Promille. Eine Sorgfaltspflichtverletzung könnte sich aus der Alko-
holisierung des J ergeben. J hatte um 10.00 Uhr, also fünf
Bearbeitervermerk Stunden nach der Kollision, eine Blutalkoholkonzentration
Prüfen Sie die Strafbarkeit des J nach den §§ 212, 222 StGB. (BAK) von 0,5 Promille. Legt man – zu seinen Gunsten –
Die Strafbarkeit der E ist nicht zu prüfen. den medizinisch minimal möglichen Abbauwert von 0,1 Pro-
mille pro Stunde zugrunde,4 so hatte J im Kollisionszeitpunkt
Abwandlung 1,0 Promille BAK. Dieser Wert liegt nur knapp unter dem der
Prüfen Sie die Strafbarkeit des J nach den §§ 212, 222 StGB absoluten Fahruntüchtigkeit (1,1 Promille).5 Mit diesem
für die Konstellation, dass er zwar (wie im Ausgangsfall) BAK-Wert und zusätzlich übermüdet Auto zu fahren ent-
betrunken und übermüdet war, dass er aber, auch wenn er spricht aufgrund der stark verminderten Reaktionsfähigkeit
nüchtern und ausgeruht gewesen wäre, die Kollision mit dem und der objektiven Vorhersehbarkeit eines Unfalls nicht der
plötzlich auf die Straße torkelnden F nicht hätte verhindern erforderlichen Sorgfalt. J handelte objektiv sorgfaltswidrig.
können.
1
Vgl. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl.
2006, § 11 Rn. 6.
2
Vgl. Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2014,
* Prof. Dr. Georg Steinberg ist Inhaber des Lehrstuhls für § 52 Rn. 15.
3
Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Steuerstraf- Rengier (Fn. 2), § 52 Rn. 15.
4
recht an der EBS – Universität für Wirtschaft und Recht Vgl. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
Wiesbaden, Leonie Schönemann war dort Wiss. Mitarbeite- 44. Aufl. 2015, Rn. 412.
5
rin. BGHSt 37, 89.
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ZJS 3/2015
284
Übungsfall: In der Gosse STRAFRECHT

c) Objektive Zurechenbarkeit Todesgefahren einschließt.9 Sie erfüllte also, auch angesichts


aa) Bezogen auf die Herbeiführung der Kollision der Gleichwertigkeit des Unterlassens mit aktivem Tun im
Sinne von § 13 Abs. 1 a.E. StGB, den objektiven Tatbestand.
Der Tod des F müsste dem J objektiv zurechenbar sein, es
Sie erfüllte, indem sie vorsätzlich, d.h. wissentlich und wil-
müsste sich also eine durch seine Handlung gesetzte rechtlich
lentlich handelte, nämlich ihre kausale Herbeiführung des
missbilligte Gefahr in diesem konkreten tatbestandlichen Er-
Todes des J billigend in Kauf nahm, auch den subjektiven
folg verwirklicht haben.6 Die allein durch den Betrieb des
Tatbestand.10 Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte han-
Fahrzeugs gesetzte Kollisions- und Lebensgefahr ist nicht
delte die E auch rechtswidrig und schuldhaft, verwirklichte
rechtlich missbilligt, wohl aber das Fahren unter Alkoholein-
also §§ 212 Abs. 1, 13 StGB.
fluss (vgl. §§ 316 und § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB) und
Fraglich ist also, wie sich das spätere schuldhafte Reali-
trotz starker Müdigkeit (vgl. § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. b StGB).
sieren einer vorsätzlichen Unterlassungstat durch einen ande-
Auf dieser Pflichtwidrigkeit müsste auch der eingetretene
ren auf die objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs zur Erst-
Unfall beruht haben.7 Wäre J nüchtern und ausgeruht gefah-
handlung (hier der Kollision) auswirkt. Man kann dies stets
ren, hätte er dem F ausweichen können, der Unfall wäre nicht
für zurechnungsirrelevant halten mit dem Argument, dass
eingetreten. Somit bestand der Pflichtwidrigkeitszusammen-
auch die fahrlässige Ermöglichung einer Vorsatztat pflicht-
hang von Alkoholkonsum und Übermüdung zur Kollision.
widrig ist, also eine Fahrlässigkeitshaftung begründet.11
Jedenfalls zwischen Tathandlung und Kollision besteht also
Demnach ist der Todeserfolg dem J zuzurechnen. Nach der
der objektive Zurechnungszusammenhang.
Lehre von den Verantwortungsbereichen kann jedem nur das
zugerechnet werden, wofür er selbst verantwortlich ist.12
bb) Keine Rettungshandlung seitens J
Demnach lässt das dazwischentretende Verhalten anderer
Man könnte sich fragen, ob das Unterlassen von Hilfsmaß- Personen die Zurechnung grundsätzlich entfallen, und Aus-
nahmen seitens des Täters selbst, hier also des J, den Zurech- nahmen bedürfen besonderer Begründung.13 Für eine solche
nungszusammenhang zwischen Erfolgseintritt und Ersthand- Ausnahme bezogen auf das Dazwischentreten der E kann nur
lung unterbricht. Das ist aber nicht plausibel, weil die durch angeknüpft werden an die Besonderheit, dass E Unterlas-
die Ersthandlung gesetzte Gefahr über das spätere Unterlas- sungstäterin war. Zwar stellt der Gesetzgeber das pflichtwid-
sen hinaus weiter wirkt und sich dann realisiert. Eine mate- rige Unterlassen in der Rechtsfolge (abgesehen von § 13
rielle Doppelbestrafung kann auf Konkurrenzebene vermie- Abs. 2 StGB) dem aktiven Tun gleich; bezogen auf das hiesi-
den werden. Dass J nicht zugunsten des F Hilfsmaßnahmen ge Zurechnungsproblem muss aber bedacht werden, dass das
ergriff, unterbricht also nicht den Zurechnungszusammen- Unterlassen im Gegensatz zum aktiven Tun den durch den
hang bezogen auf die Ersthandlung des J. Ersttäter in Gang gesetzten Geschehensablauf nicht verän-
dert. Die Haftung des J steht, mit anderen Worten, nicht unter
Hinweis: Dass das Problem gesehen und gelöst wird, kann der Bedingung des Nichteingreifens Dritter.14 Somit unter-
allenfalls von sehr guten Bearbeitungen erwartet werden. brach die E durch ihr (wenn gleich tatbestandsmäßiges)
Nichteingreifen auch nach diesem Ansatz nicht die Zurechen-
cc) Keine Rettungshandlung seitens E barkeit des Todeserfolgs zur Ersthandlung. Sondern dem J ist
Fraglich ist, wie es sich auswirkt, dass die kurz darauf ein- der Erfolg objektiv zurechenbar; er erfüllte den Tatbestand
treffende E keine Hilfe für den F herbeiholte. Das hängt da- des § 222 StGB.
von ab, wie ihr Handeln strafrechtlich zu bewerten ist.
Hinweis: Nur von sehr guten Bearbeitungen ist die Erörte-
Hinweis: Der Bearbeitervermerk schließt lediglich die se- rung des Problems in dieser Breite zu erwarten; erwartet
parate, nicht diese Inzidentprüfung der Strafbarkeit der E werden darf aber, dass das Problem überhaupt gesehen
aus. Überdies § 211 StGB zu prüfen ist überflüssig, weil und nachvollziehbar gelöst wird. Eine Zurechnungsunter-
für die hiesige Zurechnungsfrage irrelevant. brechung ist nur mit sehr guter Begründung vertretbar.

Sie könnte sich nach §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB strafbar 9


Vgl. Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2013,
gemacht haben. Den Tod des F als tatbestandsmäßigen Erfolg
Kap. 22 Rn. 40.
des § 212 Abs. 1 StGB führte sie, indem E trotz der Möglich- 10
Vgl. Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 11. Aufl.
keit dazu keine erfolgsabwendende Hilfe herbeiholte, durch
2014, § 15 Rn. 7.
dieses Unterlassen (quasi-)kausal herbei.8 Zu aktivem Tun 11
Joecks (Fn. 10), § 222 Rn. 27 f.; vgl. auch BGH StV 2013,
verpflichtet nach § 13 StGB im Sinne einer Garantenstellung
1.
war E als Ehefrau, die für den Schutz der Rechtsgüter des 12
Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 4
Ehepartner einzustehen hat, was auch die Abwendung von
Rn. 83; Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 137; Lenckner, in: Bockel-
mann/Kaufmann/Klug (Hrsg.), Festschrift für Karl Engisch
zum 70. Geburtstag, 1969, S. 506.
6 13
Vgl. Rengier (Fn. 2), § 13 Rn. 46. Kühl (Fn. 12), § 4 Rn. 85.
7 14
Vgl. Krey/Esser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. Vgl. Otto, in: Dölling (Hrsg.), Jus humanum, Grundlagen
2012, § 50 Rn. 1354. des Rechts und Strafrecht, Festschrift für Ernst-Joachim
8
Vgl. Rengier (Fn. 2), § 49 Rn. 8 f. Lampe zum 70. Geburtstag, 2003, S. 505.
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285
ÜBUNGSFALL Georg Steinberg/Leonie Schönemann

Anders bewerten kann man die Konstellation, dass der b) Objektive Zurechenbarkeit
zuständige Arzt – als Zweithandlung – das durch die Erst- Durch sein Nichteinschreiten trotz Hilfsmöglichkeit setzte J
handlung verletzte Opfer zu retten unterlässt. die rechtlich missbilligte Gefahr, dass F an den Verletzungen
sterben werde. Dass E durch ihr Unterlassen ebenfalls
2. Rechtswidrigkeit schuldhaft den T des F herbeiführte, kann die Zurechnung
J handelte rechtswidrig. nicht unterbrechen, weil ein solches Dazwischentreten, wenn
es den Zurechnungszusammenhang bei fahrlässiger Hand-
3. Schuld lung des Ersttäters nicht unterbricht (s.o.), erst recht nicht den
a) Schuldfähigkeit Zurechnungszusammenhang zu Lasten des vorsätzlich han-
delnden Ersttäters unterbricht.
J könnte aufgrund des Alkoholkonsums schuldunfähig nach
§ 20 Var. 1 StGB gewesen sein. Dies hängt von der BAK
c) Garantenstellung
zum Tatzeitpunkt ab. In dubio pro reo ist nun bei der Rückbe-
rechnung von dem medizinisch größtmöglichen Abbauwert Des Weiteren müsste J nach § 13 Abs. 1 StGB verpflichtet
(0,2 Promille pro Stunde + einmaligem Sicherheitszuschlag gewesen sein, die Handlung vorzunehmen, sich also in einer
von 0,2) auszugehen.15 Demnach lag die BAK des J zum Tat- Garantenstellung befunden haben. Hier könnte sich eine Be-
zeitpunkt bei 1,7 Promille. Dieser Wert liegt weit unter 3,0 schützergarantenstellung aus Ingerenz, nämlich dem voran-
Promille bzw. 3,3 Promille bei Tötungsdelikten (Richtwerte gegangenen Tun des J ergeben haben. Wer durch rechtlich
für die Schuldunfähigkeit). Somit war J zum Tatzeitpunkt missbilligtes Verhalten die Gefahr eines Schadenseintritts
schuldfähig. heraufbeschwört, ist als Garant verpflichtet, den Schadens-
eintritt zu verhindern.17 Durch sein sorgfaltswidriges Fahren
b) Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung bei subjektiver Vor- schuf J die Lebensgefahr für den F, war also verpflichtet,
hersehbarkeit des Erfolges diese als Garant abzuwenden.
J müsste subjektiv sorgfaltswidrig gehandelt haben, also nach
d) Gleichwertigkeit bezüglich aktiven Tuns
seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage
gewesen sein, die Sorgfaltspflicht zu erfüllen und die Mög- Das Nichteinschreiten des J entsprach auch im Sinne von
lichkeit der Tatbestandsverwirklichung vorherzusehen.16 § 13 Abs. 1 a.E. StGB aktivem Handeln.
Mangels gegenläufiger Anhaltspunkte mit Blick auf die psy-
chische Verfassung des J hatte er die genannten Kenntnisse e) Zwischenergebnis
und Fähigkeiten, handelte also subjektiv sorgfaltswidrig. J erfüllte den objektiven Tatbestand.
Somit handelte er, auch mangels Entschuldigungsgründen,
schuldhaft. 2. Subjektiver Tatbestand
J müsste vorsätzlich, also mit Wissen und Wollen der Tatbe-
4. Ergebnis standsverwirklichung gehandelt haben. J wusste um seine
J hat sich nach § 222 StGB strafbar gemacht. Möglichkeit Hilfe zu holen und erkannte auch, dass er da-
durch den Erfolg abwenden konnte. Der Vorsatz des J könnte
II. Strafbarkeit nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB, weil J keine jedoch nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB ausgeschlossen sein mit
Hilfe herbeiholte Blick darauf, dass er im Tatzeitpunkt glaubte, sich allenfalls
J könnte sich nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB strafbar gemacht wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar zu machen, also
haben, indem er nach der Kollision keine Hilfe per Handy keine Kenntnis von seiner Garantenpflicht hatte. Allerdings
herbei holte. erkannte J die garantenstellungsbegründenden Umstände
(Kollision) und unterlag nur einem Subsumtionsirrtum über
1. Objektiver Tatbestand seine Garantenpflicht. Dies schließt den Vorsatz nicht aus.18
A handelte also vorsätzlich, also auch subjektiv tatbestands-
a) Kausale Erfolgsherbeiführung
mäßig.
Der Taterfolg, der Tod des F, ist eingetreten. J müsste die
Verhinderungshandlung trotz Möglichkeit unterlassen haben. 3. Rechtswidrigkeit
J hatte die Möglichkeit gehabt, mit seinem Handy Hilfe her-
J handelte rechtswidrig.
bei zu holen, dies tat er aber nicht. Auch war dieses Unterlas-
sen, indem es nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der
4. Schuld
Tod des J mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
entfiele, quasikausal für den Erfolg. a) Schuldfähigkeit
A war schuldfähig (s.o.).

15 17
Vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 4), Rn. 412. Vgl. Kühl (Fn. 12), § 18 Rn. 91.
16 18
Vgl. Rengier (Fn. 2), § 52 Rn. 83. Vgl. Roxin (Fn. 1), § 12 Rn. 101.
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ZJS 3/2015
286
Übungsfall: In der Gosse STRAFRECHT

b) Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens B. Abwandlung


Möglicherweise war es dem J nicht zuzumuten, sich norm- I. Strafbarkeit nach § 222 StGB wegen der Kollision
gemäß zu verhalten. Die Pflichterfüllung ist unzumutbar, J könnte sich nach § 222 StGB strafbar gemacht haben, in-
wenn der Garant durch sie eigene billigenswerte Interessen dem er mit seinem Auto mit F kollidierte.
preisgeben würde, die dem Gewicht des drohenden Erfolges
entsprechen; dabei müssen unter Berücksichtigung der Ret- 1. Tatbestand
tungschancen die widerstreitenden Interessen einschließlich
a) Kausale Erfolgsherbeiführung und objektive Sorgfaltswid-
des Grades der ihnen drohenden Gefahren gegeneinander
rigkeit
abgewogen werden.19 Hier standen das höchst gefährdete
Leben des F gegen das Interesse des J, nicht als Vortattäter A führte den tatbestandsmäßigen Erfolg kausal herbei (s.o.).
entdeckt zu werden. Zwar genießt die Selbstbelastungsfrei- Seine Tathandlung war auch objektiv sorgfaltswidrig (s.o.).
heit einen zentralen Status im Strafprozessrecht, aber das
materielle Recht formuliert mit § 211 Abs. 2 Gr. 3 Alt. 2 b) Objektive Zurechenbarkeit
StGB sowie mit § 142 StGB eine andere Gewichtung. Jeden- Durch das Autofahren in alkoholisiertem und übermüdetem
falls angesichts der Bedeutsamkeit des Lebens als höchstes Zustand setzte er eine rechtlich missbilligte Todesgefahr.
Rechtsgut (vgl. auch Art. 2 Abs. 2 GG) und der sehr guten Fraglich ist der Pflichtwidrigkeitszusammenhang, ob also der
Rettungschancen (sowie auch der Möglichkeit eines anony- Tod des F gerade auf der Verletzung der objektiv gebotenen
men Anrufs) war dem J das normgemäße Verhalten zuzumu- Sorgfalt beruhte. Wäre J nüchtern und ausgeruht gewesen,
ten. Insoweit entfällt der Schuldvorwurf nicht. hätte er dem F trotzdem nicht ausweichen können, der Tod
des F wäre also dennoch eingetreten.
c) Verbotsirrtum Ob man der Risikoerhöhungslehre folgen mag, die den
J unterlag, indem er davon ausging, er sei nicht im Sinne des Pflichtwidrigkeitszusammenhang bereits dann bejaht, wenn
§ 13 Abs. 1 StGB zum Handeln verpflichtet, einem Gebots- die Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens das Erfolgsrisiko er-
irrtum im Sinne von § 17 S. 1 StGB.20 Diesen hätte er aber höht hat,23 kann angesichts dessen, dass über eine solche
angesichts dessen, dass nach allgemeiner Lebensauffassung Risikoerhöhung im konkreten Fall nichts bekannt ist, dahin-
die Herbeiführung einer Gefahrenlage zu deren Abwendung stehen. Es entfällt somit zugunsten des J der Pflichtwidrig-
verpflichtet, bei gehöriger Anspannung des Gewissens21 ver- keitszusammenhang, ebenso der Tatbestand.
meiden können. Somit kommt als Rechtsfolge diesen Irrtums
allenfalls eine Strafmilderung nach § 17 S. 2 StGB in Be- 2. Ergebnis
tracht, kein Schuldentfall nach § 17 S. 1 StGB. J handelte J hat sich nicht nach § 222 StGB strafbar gemacht.
schuldhaft.
II. Strafbarkeit nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB, weil J keine
5. Ergebnis Hilfe herbeiholte
J hat sich nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB strafbar gemacht. J könnte sich nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB strafbar gemacht
haben, indem er dem F nach der Kollision keine Hilfe per
III. Konkurrenzen und Gesamtergebnis (Ausgangsfall)22 Handy herbeiholte.
J ist strafbar nach § 222 und nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB.
Aufgrund des zäsurbildenden neuen Tatentschlusses stehen 1. Objektiver Tatbestand
diese beiden Delikte in Handlungsmehrheit, § 53 Abs. 1 J führte den Tod des F durch sein Nichteingreifen trotz Mög-
StGB. Fraglich ist, ob Gesetzeskonkurrenz besteht, ob näm- lichkeit quasikausal herbei (s.o.). Fraglich ist jedoch, ob J im
lich die vorsätzliche Zweittat die fahrlässige Ersttat als mit- Sinne des § 13 Abs. 1 StGB zum Handeln verpflichtet, also
bestrafte Vortat konsumiert. Das ist der Fall, wenn der Un- Garant war. Anders als im Ausgangsfall beruhte die durch J
rechtsgehalt der Ersttat den der Zweittat voll umfasst. Hier gesetzte Lebensgefahr des F nicht auf der Sorgfaltswidrigkeit
betreffen beide Taten denselben Erfolg; das Unrecht der von J’s Verhalten, sondern auf dem rechtlich gebilligten
fahrlässigen Tat ist, als Ingerenz, Basis der Vorsatztat. Somit Fahren eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr.
umfasst die Zweittat voll das Unrecht der Ersttat, so dass die Auch sorgfaltskonformes Vorverhalten als Basis einer In-
Ersttat zurücktritt. J ist im Gesamtergebnis strafbar nach gerenz ausreichen zu lassen,24 missachtet, dass hierdurch die
§§ 212 Abs. 1, 13 StGB. strafrechtliche Irrelevanz des Vorverhaltens widersprüchlich-
erweise konterkariert würde25 und ausufernde Haftungen als
19 Garant drohen.26 Für die betreffenden Fälle verbleibt die
Rengier (Fn. 2), § 49 Rn. 47.
20 ausreichende Sanktionierungsmöglichkeit nach § 323c StGB.
Vgl. Rengier (Fn. 2), § 49 Rn. 53.
21 Daher ist sowohl bei sorgfaltskonformem Vorverhalten als
Vgl. BGHSt 2, 201.
22
Die Konkurrenzen sind praktisch bedeutungsvoll; erst mit
23
ihrer Klärung schließen Sie das Gutachten ab, weswegen hier Roxin (Fn. 1), § 11 Rn. 88-105.
24
keine Ungenauigkeiten unterlaufen sollten. Näheres zum Vgl. Arzt, JA 1980, 715.
25
Umgang mit den Konkurrenzen im Gutachten bei Steinberg/ Vgl. Rengier (Fn. 2), § 50 Rn. 89.
26
Bergmann, Jura 2009, 905. Vgl. Joecks (Fn. 10), § 13 Rn. 58.
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287
ÜBUNGSFALL Georg Steinberg/Leonie Schönemann

auch – wie hier – bei Entstehung einer Gefahrenlage ohne


Pflichtwidrigkeitszusammenhang eine Garantenstellung auf-
grund von Ingerenz zu abzulehnen.27 J war also nicht Garant.
Der objektive Tatbestand entfällt.

Hinweis: Die andere Ansicht ist vertretbar.

2. Ergebnis
J hat sich nicht nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB strafbar ge-
macht.

III. Gesamtergebnis (Abwandlung)


J bleibt straflos.

27
Rengier (Fn. 2), § 50 Rn. 89.
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ZJS 3/2015
288
Examensklausur: Ein vertanes Talent und die Verlockungen des elektronischen Zah-
lungsverkehrs
Von Wiss. Mitarbeiter Sebastian Laudien, Hannover*

Der Fall wurde im Wintersemester 2014/2015 als Examens- Um einen ersten Datensatz zu erhalten, präpariert er das
klausur im Rahmen des Hannoverschen Examensstudiums handelsübliche Lesegerät an der Hotelrezeption so, dass bei
(HannES) gestellt. Die Klausur ist als schwer einzustufen. einer Zahlung mittels Kreditkarte (Zahlungskarte mit Garan-
Auch wenn eine Durchfallquote i.H.v. 39% grundsätzlich als tiefunktion) nicht nur – wie gewohnt – die Kreditkartendaten
gering einzuschätzen ist, so wurde durchschnittlich nur eine vom Magnetstreifen für den Zahlungsvorgang ausgelesen
Punktzahl von 3,7 Punkten erreicht; die Note „vollbefriedi- werden, sondern unmittelbar vor Beginn dieser Datenübertra-
gend“ und besser erreichten nur zwei Bearbeiter. gung die fraglichen Daten auch auf einem gesondert ange-
Eine wesentliche Schwierigkeit der Klausur besteht darin, brachten USB-Stick gespeichert werden. Im Zahlungsfall be-
dass die Bearbeiter zunächst erkennen müssen, dass der ggf. dient stets der Kunde das Lesegerät. Dabei wird weder der
exotisch anmutende Sachverhalt bekannte Rechtsgutsverlet- Zahlungsvorgang beeinflusst, noch bedurfte es eines größeren
zungen zum Gegenstand hat. So gilt es Vermögens-, Ur- Manipulationsaufwands bezüglich des Lesegeräts, da die Da-
kunds-, Sachbeschädigungs- und Geheimnisschutzdelikte ten unverschlüsselt auf dem Magnetstreifen gespeichert sind.
(§§ 202a f. StGB) zu prüfen. Auch wenn letztere typischer- Im Anschluss an die Datenerhebung beabsichtigt H entspre-
weise nicht zum Kernbereich der Ausbildung gehören, ist chende Kartendubletten zu erstellen. Doch bevor er damit be-
ihre Praxisrelevanz umso größer.1 ginnen kann, fällt ihm auf, dass ihm – unbedacht wie er sei-
nen ersten Coup nun mal angegangen ist – die persönlichen
Sachverhalt Identifikationsnummern (PINs) der jeweiligen Kreditkarten
Hacker H ist ein begnadetes Talent seiner Zunft. Da er weder fehlen, sodass ein Geldabheben – anders als eigentlich beab-
Angebote der freien Wirtschaft noch des öffentlichen Diens- sichtigt – ohne diese nicht möglich sein wird. Enttäuscht ver-
tes anzunehmen gedenkt, ist er aktuell noch auf prekäre Ar- wirft er daher das weitere Vorgehen und vernichtet den Da-
beitsverhältnisse angewiesen. Zurzeit arbeitet er aushilfswei- tensatz.
se an der Rezeption eines Hotels. Dort ist er für die Abwick- Nun aber will H professioneller vorgehen. Zu diesem
lung der Zahlungsvorgänge zuständig. Aber auch hier schaut Zweck verschafft er sich Zugang zu gegen unbefugten Zu-
sich H nach weiteren Einkommensmöglichkeiten um. Er fasst griff durch Dritte gesondert geschützte Server des Kreditinsti-
den Entschluss in das Geschäft mit Kreditkartendaten und tuts Cash Unltd. (C), um dort direkt sowohl die Kreditkarten-
-betrügereien einzusteigen. daten, die dazugehörigen Prüfnummern als auch die entspre-
chenden PINs einer Vielzahl Kunden auszulesen. Dank seiner
außerordentlichen IT-Fähigkeiten gelingt es ihm sogar die
* Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Kreditkartenlimits der betroffenen Konten aufzuheben, so-
Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht (Prof. Dr. dass endlich „Geld ohne Ende“ fließen könne, so der H. In
Carsten Momsen) und Mitglied der Forschungsstelle für Besitz der neu gewonnenen Daten fertigt er tags darauf Kre-
Bank- und Kapitalmarktrecht sowie Kapitalmarktstrafrecht an ditkarten-Dubletten an, indem er die Magnetstreifen von Kre-
der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover. ditkarten-Rohlingen (sog. White-Plastics) mit den entspre-
1
Vgl. Bundesministerium des Innern, Polizeiliche Kriminal- chenden Daten bespielt.
statistik 2013, S. 67 f. (im Internet abrufbar unter Für den „Eigenbedarf“ hat sich H insbesondere die Nut-
http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Nachri zung der Kreditkartendaten seines wohlhabenden Nachbarn
chten/Pressemitteilungen/2014/06/PKS2013.pdf?__blob=pub N vorbehalten, die zufällig auch Teil des Datensatzes sind.
licationFile [19.5.2015]); Bundeskriminalamt, Bundeslage- Mit der entsprechenden Dublette ausgestattet, sucht H mehre-
bild Zahlungskartenkriminalität 2013 (abrufbar unter re Filialen der C auf. An den dortigen Bankautomaten gelingt
www.bka.de/nn_193360/DE/Publikationen/JahresberichteUn es ihm unter Eingabe der PIN insgesamt einen Betrag von
dLagebilder/Zahlungskartenkriminalitaet/zahlungskartenkrim 25.000 € abzuheben. Am Folgetag fällt H auf, dass er auch
inalitaet__node.html?__nnn=truewww.bka.de [19.5.2015]; einen neuen Fernseher gebrauchen könnte. Kurzerhand be-
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), stellt er einen Fernseher im Wert von 5.000 € online als
BaFinJournal Februar 2015, S. 13 ff. [abrufbar unter Selbstabholer. Im Rahmen des Zahlungsvorgangs gibt er die
http://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/BaFinJourn Kreditkartendaten des N sowie die dazugehörige Prüfnummer
al/2015/bj_1502.html [19.5.2015]; siehe auch exemplarisch ein. Diese Daten werden angenommen. Da sich N jedoch für
für konkrete Vorfälle Diehl, Der Spiegel v. 18.8.2014, S. 36; Einkäufe in dieser Höhe gesondert für das sog. mTAN-
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.8.2014 (abrufbar unter Verfahren angemeldet hatte, stellt sich dem H eine neue
http://www.faz.net/-gus-7su7x [19.5.2015]). Den Problem- Schwierigkeit. Denn nur wenn er zusätzlich die für jeden
schwerpunkten des Sachverhalts liegen die Entscheidungen Einzelkauf mittels SMS an das Handy des N übermittelte
BGH, Beschl. v. 14.1.2010 – 4 StR 93/09 = NStZ 2010, 275; mTAN eingibt, kann er den Bestellvorgang über den Fernse-
BGH, Beschl. v. 6.7.2010 – 4 StR 555/09 = NStZ 2010, 154 her abschließen. Umgehend passt er den N im Hausflur ab
(zum sog. Skimming) sowie BGH, Beschl. v. 14.2.2012 – 3 und entwendet diesem geschickt dessen Handy. Die transak-
StR 392/11 = NStZ 2012, 627 (zur fehlenden Aneignungs- tionsgebundene mTAN kann er daraufhin erfolgreich einge-
komponente bei Wegnahme) zugrunde.
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289
ÜBUNGSFALL Sebastian Laudien

ben. An dem Handy als solches hat H allerdings keinerlei Kreditkarten, deren Daten unverschlüsselt auf dem Magnet-
Interesse, zurückgeben will er es dem N aber auch nicht. streifen gespeichert sind, an einer besonderen Sicherung ge-
Daher zerstört er das Handy schließlich. gen unberechtigten Zugang im Sinne von § 202a Abs. 1
Da die Kreditkarte des N innerhalb kürzester Zeit mit StGB.6 H konnte hier die entsprechenden Kreditkartendaten
enormen Beträgen belastet wurde, schlägt das Überwa- mittels eines handelsüblichen Lesegeräts auslesen. Auch
chungssystem der C Alarm. Das Kreditinstitut setzt sich mit wenn die Sicherung hier auf einem Magnetstreifen erfolgt
N in Verbindung und lässt nachfragen, ob sich N die fragli- und die Daten damit nicht unmittelbar wahrnehmbar sind, so
chen Zahlungen erklären könne. N, der soeben im Begriff ist ist darin gerade (noch) keine besondere Sicherung zu sehen.7
eine von seiner Frau schon seit langem ersehnte Kette im Darüber hinausgehende Schutzeinrichtungen, die einen unbe-
Wert von 20.000 € zu kaufen, sieht eine günstige Gelegenheit rechtigten Zugriff ausschließen oder zumindest erheblich
gekommen. Noch bevor er auf die Nachfrage der C reagiert, erschweren,8 sind – anders als z.T. bereits in der Praxis be-
flüstert er der Verkäuferin der Kette zu: „Mit Karte, bitte!“. stehend9– nicht ersichtlich. Mithin scheiden die betroffenen
Verunsichert aufgrund des diebischen Lächelns nimmt sie die Kreditkarten als taugliche Tatobjekte im Sinne von § 202a
Kreditkarte des N entgegen und – noch bevor dieser das Tele- Abs. 1 StGB aus.
fongespräch fortsetzt und die Kreditkarte in der Folge ge-
sperrt werden kann – ist die Kette bezahlt. Dem Angestellten II. § 202b StGB, Abfangen von Daten
der C gibt er dann noch zu verstehen, dass er im Ausland sei Das Auslesen und anschließende Speichern der Daten erfolgt
und sich daher die Zahlungsflüsse im Inland nicht erklären unmittelbar vor Beginn der Datenübertragung. Mithin fängt
könne, er aber selbstverständlich davon ausgehe, dass diese H keine Daten aus einer nichtöffentlichen Datenübermittlung
und „etwaige“ andere Belastungen – so wie er es aus zahlrei- ab, sondern bildet gerade den Empfänger des vorgeschalteten
chen Verbrauchermagazinen kenne – erstattet würden. Die Auslesens der Daten.10
durch den Angestellten veranlasste Sperrung der Karte
kommt freilich zu spät, der Erstattungsbetrag zugunsten des III. §§ 263a Abs. 1 Alt. 3, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB, Compu-
N beläuft sich auf 50.000 €. terbetrug
Eine Strafbarkeit wegen Computerbetrugs ist nur nach § 263a
Bearbeitervermerk
Abs. 1 Alt. 3 StGB denkbar, denn bei der Kreditkartennut-
Prüfen Sie die Strafbarkeit von H und N nach dem StGB. zung durch die Kunden am Lesegerät erfolgt grundsätzlich
Strafanträge gelten als gestellt. Die §§ 145d, 152 ff., 164 eine Verwendung richtiger Daten.11 Tatbestandlich erfasst ist
StGB sind nicht zu prüfen. dabei nicht nur die eigenhändige, sondern auch eine mittelba-
re Eingabe in den Datenverarbeitungsvorgang, bei der sich
Lösungsvorschlag der Täter einer anderen, vorsatzlos handelnden Person – der
Tatkomplex 1: Auslesen der Daten (sog. Skimming) jeweiligen Kreditkartenkunden – bedient.12 Der Streitstand,
I. § 202a Abs. 1 StGB, Ausspähen von Daten ob die Verwendung unbefugt vorgenommen wurde („unbe-
fugte Verwendung von Daten“) kann hier dahin stehen,13 da
H könnte sich des Ausspähens von Daten nach § 202a Abs. 1
es dem (bloßen) Auslesen der Daten bereits an einer Beein-
StGB strafbar gemacht haben, indem er im Zuge der Bearbei-
flussung eines Datenverarbeitungsvorgangs fehlt; denn das
tung der Zahlungsvorgänge die Kreditkartendaten der Hotel-
Ergebnis des Zahlungsvorgangs wird gerade nicht beein-
kunden so hat auslesen lassen, dass sie auch ihm persönlich
flusst. Damit besteht keine Strafbarkeit nach § 263a Abs. 1
schließlich zur Verfügung standen.2
Alt. 3 StGB.
Die auf den Magnetstreifen hinterlegten Kreditkartenda-
ten sind Daten im Sinne des § 202a Abs. 2 StGB.3 Da die den
Kreis der Berechtigten determinierenden kartenausgebenden
Kreditinstitute4 wohl kaum ein Interesse daran haben dürften, 6
BGH, Beschl. v. 14.1.2010 – 4 StR 93/09 = NStZ 2010, 275
dass die Kreditkartendaten ihrer Kunden auch dem H persön-
und BGH, Beschl. v. 6.7.2010 – 4 StR 555/09 = NStZ 2010,
lich zur Kenntnis gelangen, ist mit dem Auslesen durch H
154.
von einem unbefugten Sich-Verschaffen der Daten auszuge- 7
BGH, Beschl. v. 6.7.2010 – 4 StR 555/09 = NStZ 2010,
hen.5
154.
Fraglich ist aber, ob die Kreditkartendaten mit einer be- 8
Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 11. Aufl.
sonderen Zugangssicherung versehen waren. Das Auslesen
2014, § 202a Rn. 13.
durch H hätte gerade unter Überwindung einer solchen Zu- 9
Hierzu auch Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 f.
gangssicherung erfolgen müssen. Nach dem BGH fehlt es bei 10
Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (268)
11
Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kom-
2
Instruktiv zum Prüfungsaufbau Jahn, JuS 2010, 1030 mentar, 62. Aufl. 2015, § 263a Rn. 9.
12
(1031). Fischer (Fn. 11), § 263a Rn. 8.
3 13
Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (267). Näher dazu Wohlers/Mühlbauer, in: Joecks/Miebach
4
Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5,
Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 202a Rn. 8. 2. Aufl. 2014, § 263a Rn. 36 ff; Fischer (Fn. 11), § 263a
5
Vgl. Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (267). Rn. 10 ff.
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ZJS 3/2015
290
Ein vertanes Talent und die Verlockungen des elektronischen Zahlungsverkehrs STRAFRECHT

IV. § 303b Abs. 1 StGB, Computersabotage Mit der Sicherung auf dem USB-Stick speichert H die
Auch fehlt es einer Strafbarkeit wegen Computersabotage an Daten auch in der Weise, dass bei Überführung in ein wahr-
einem tatbestandlichen Erfolg. Beim (bloßen) Auslesen der nehmbares Falsifikat – bspw. durch Erstellung einer Karten-
Daten fehlt es an einer Verursachung einer erheblichen Stö- dublette auf der Grundlage dieser Daten – eine unechte Ur-
rung im Sinne des § 303b Abs. 1 StGB.14 kunde vorliegen würde; denn allein die auf dem Magnetstrei-
fen hinterlegten Daten genügen, um bei Erstellung einer
V. § 303a Abs. 1 Alt. 4 StGB, Datenveränderung Kartendublette den Anschein einer weiteren Gedankenerklä-
rung zu erregen.20 Die Kenntnis der PIN braucht es dafür
Gleichsam kommt es auch nicht zu einer rechtswidrigen Ver-
nicht.
änderung von Daten, sodass auch eine Strafbarkeit wegen
Die unwissenden Kreditkartenkunden handeln im Zeit-
Datenveränderung ausgeschlossen ist.
punkt des Zahlungsvorgangs als absichtslos-doloses Werk-
zeug bezüglich des Speicherns und mithin der Fälschung be-
VI. § 303 Abs. 1 StGB, Sachbeschädigung
weiserheblicher Daten im Sinne von § 269 Abs. 1 Alt. 1
Auch wenn das Auslesen keine Datenveränderung mit sich StGB.
bringt, so könnte indes die Manipulation des Lesegeräts eine
Sachbeschädigung begründen. Je nach Sachverhaltsinterpre- 2. Subjektiver Tatbestand
tation und entsprechender Darlegung im Rahmen der Prüfung
H handelt demgegenüber gerade mit dem Willen, die Kredit-
ist hier sowohl die Annahme als auch Ablehnung der Sachbe-
kartenkunden kraft überlegenden Wissens zum Zwecke der
schädigung betreffend das Tatbestandsmerkmal des Beschä-
Speicherung der beweiserheblichen Daten einzusetzen, indem
digens als nicht ganz unerhebliches substantielles Einwirken
er sie zur Zahlung am Lesegerät veranlasst. Somit handelt er
nach § 303 Abs. 1 StGB vertretbar.15 Regelmäßig wird es
vorsätzlich als mittelbarer Täter.
beim Skimming aber nicht zu Substanzeinwirkungen kom-
Zudem kam es H gerade darauf an, die beweiserheblichen
men.
Daten zu speichern; mithin handelte er vorsätzlich bezüglich
des objektiven Tatbestands. Auch handelt H im Zeitpunkt der
VII. §§ 269 Abs. 1 Alt. 1, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB, Fälschung
Tat mit dem Willen die beweiserheblichen Daten, wenn auch
beweiserheblicher Daten
nicht zur Täuschung im Rechtsverkehr, so jedoch wohl zur
H beabsichtigt mit den ausgelesenen Daten Kartendubletten nach § 270 StGB gleichgestellten fälschlichen Beeinflussung
zu erstellen. Hierfür ist zunächst deren Speicherung auf ei- einer Datenverarbeitung im Rechtsverkehr einzusetzen, weil
nem USB-Stick erforderlich. Auch wenn die gespeicherten er die Kartendubletten für Geldabhebungen an einem Auto-
Daten für sich mangels Wahrnehmbarkeit, also fehlender maten einzusetzen beabsichtigte. Dass H das weitere Vorge-
Perpetuierung, (noch) keine unechte Urkunde im Sinne von hen nach der Speicherung verwirft, ist unbeachtlich.
§ 267 StGB darstellen,16 so könnte sich H gleichwohl mit der
Speicherung wegen Fälschung beweiserheblicher Daten in Hinweis: Wird unter dem Begriff des Geldabhebens indes
mittelbarer Täterschaft nach §§ 269 Abs. 1 Alt. 1, 25 Abs. 1 die Nutzung eines Bankschalters verstanden, so bliebe es
Alt. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er die unwissen- in Bezug auf den zu täuschenden Schalterangestellten bei
den Kreditkartenkunden dazu veranlasst an dem von ihm einer Täuschung im Rechtsverkehr.
präparierten Lesegerät zu zahlen, um so die Daten vom Mag-
netstreifen auslesen und sie schließlich auf dem USB-Stick 3. Rechtswidrigkeit/Schuld
speichern zu können.
Hinweis: An dieser Stelle ist allein mit dem Behauptungs-
1. Objektiver Tatbestand
stil (Urteilsstil) zu operieren, mithin verbietet sich eine
Als beweiserhebliche Daten gelten solche, die dazu bestimmt gutachterliche Darstellung des Prüfungspunktes.21
sind, bei einer Verarbeitung im Rechtsverkehr als Beweisda-
ten für rechtlich erhebliche Tatsachen benutzt zu werden,17 4. Strafzumessung
d.h. für ein Rechtsverhältnis Beweis zu erbringen.18 Die den
H könnte Regelbeispiele nach § 269 Abs. 3 i.V.m. § 267
Zahlungsvorgang ermöglichenden Kreditkartendaten bilden
Abs. 3 StGB verwirklicht haben. H schaut sich nach weiteren
solche Daten, denn die auf dem Magnetstreifen hinterlegten
Einkommensquellen um und beabsichtigt in das Geschäft mit
Daten beinhalten eine Garantieerklärung des kartenausgeben-
Kreditkartendaten und -betrügereien einzusteigen, sodass
den Kreditinstituts zugunsten des Karteninhabers.19
davon auszugehen ist, dass er sich dergestalt durch wieder-
holte Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende und nicht
14
Näher Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 303b
Rn. 9.
15
Fischer (Fn. 11), § 303 Rn. 6.
16 20
Vgl. Joecks (Fn. 8), § 269 Rn. 1. Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (268).
17 21
Fischer (Fn. 11), § 269 Rn. 4. Instruktiv zur Wahl des (jeweils) sachangemessenen Stils
18
Joecks (Fn. 8), § 269 Rn. 6. in der (Klausur-)Bearbeitung Lagodny/Mansdörfer/Putzke,
19
Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (268 f.). ZJS 2014, 157 (159).
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291
ÜBUNGSFALL Sebastian Laudien

ganz unerhebliche Einnahmenquelle verschaffen will; mithin III. § 269 Abs. 1 Alt. 1 StGB, Fälschung beweiserhebli-
handelt er gewerbsmäßig im Sinne von Abs. 3 Nr. 1.22 cher Daten
Um die ausgespähten Kreditkartendaten auf die Magnetstrei-
Hinweis: Bei entsprechender Darstellung ist freilich auch fen der Karten-Rohlinge spielen zu können, ist es zwingend
Gegenteiliges vertretbar. erforderlich auch diese zuvor auf einem Datenträger zu spei-
chern, wobei H erneut beweiserhebliche Daten in der Weise
Auch könnte H die Sicherheit des Rechtsverkehrs angesichts speichert, dass bei anschließender Erstellung der Kartendub-
der großen Zahl der betroffenen beweiserheblichen Daten letten eine unechte Urkunde vorliegt (s.o.). H handelt aber-
gem. Abs. 3 Nr. 3 erheblich gefährdet haben. Das Vorliegen mals vorsätzlich bezüglich der Merkmale des objektiven
einer solchen Gefährdung ist normativ zu bestimmen.23 Tatbestands sowie mit dem Willen einen Datenverarbeitungs-
Selbst wenn also die z.T. in der Lit. vertretene Grenze von 20 vorgang im Rechtsverkehr fälschlich beeinflussen zu wollen
Tatobjekten wohl überschritten worden sein dürfte,24 so fehlt (§ 270 StGB, vgl. oben). Rechtswidrigkeit und Schuld sind
es gleichwohl an hinreichenden Hinweisen darauf, dass be- gegeben. Aus strafzumessungsrechtlicher Sicht ist auch hier
reits damit eine erhebliche Beeinträchtigung der Sicherheit von gewerbsmäßigem Handeln (§ 269 Abs. 3 i.V.m. § 267
des Rechtsverkehrs gegeben ist. Nicht zuletzt verwirft H – Abs. 3 Nr. 1 StGB) auszugehen. Da H Dubletten auf der
noch bevor er erste Dubletten herstellen kann – das weitere Grundlage aller erhaltenen Kreditkartendaten anfertigt, kann
Vorgehen. davon ausgegangen werden, dass auch ohne Kenntnis über
deren weitere Verwendung eine erhebliche Gefährdung für
5. Ergebnis die Sicherheit des Rechtsverkehrs besteht, denn die Vielzahl
H hat sich nach § 269 Abs. 1 Alt. 1, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB betroffener Kunden dürfte sich, wenn sie von dem Ausspähen
strafbar gemacht. ihrer Daten Kenntnis hätte, veranlasst sehen, rechtserheblich
aktiv zu werden.26 Somit hat sich H nach § 269 Abs. 1 Alt. 1
Tatkomplex 2: Zugriff auf die Server der C/Aufheben der StGB strafbar gemacht.
Kreditkartenlimits/Erstellung der Kreditkarten-Dublet-
ten IV. § 267 Abs. 1 Alt. 1 StGB, Urkundenfälschung
I. § 202a StGB, Ausspähen von Daten Mit der Überführung der Kreditkartendaten in wahrnehmbare
Indem sich H Zugang zu den mit besonderer Zugangssiche- Kartendubletten bilden diese nun auch verkörperte menschli-
rung versehenen Servern der C verschafft und dort Kreditkar- che Gedankenerklärungen. Da sie die C als kartenausgeben-
tendaten einschließlich Prüfnummern und PINs einer Viel- des Kreditinstitut bei gewöhnlicher Nutzung im Bankautoma-
zahl Kunden ausliest, hat er sich Zugriff auf Daten im Sinne tenverkehr als Aussteller der Kartendubletten erkennen las-
von § 202a Abs. 2 StGB, die nicht für ihn bestimmt sind, sen,27 obwohl deren tatsächlicher Aussteller der H ist, besteht
unter Überwindung einer besonderen Zugangssicherung ver- auch eine Strafbarkeit nach § 267 Abs. 1 Alt. 1 StGB wegen
schafft. H handelt vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft. Herstellung unechter Urkunden. Bezüglich § 267 Abs. 3
Von einer Strafantragsstellung nach § 205 Abs. 1 StGB ist StGB gilt das zu § 269 Abs. 3 StGB Gesagte entsprechend.
auszugehen. Mithin besteht eine Strafbarkeit nach § 202a
Abs. 1 StGB. V. Konkurrenzen
§ 269 StGB tritt neben § 267 StGB, da die Dubletten die
II. § 303a Abs. 1 Alt. 4 StGB, Datenveränderung Garantieerklärung zugunsten der Karteninhaber sowohl op-
Mit der Aufhebung der Kreditkartenlimits hat H, ohne dazu tisch wahrnehmbar als auch in magnetisch codierter Form auf
befugt zu sein, den Informationsgehalt (Aussagewert) der dem Magnetstreifen mit sich führen.28 Auch im Übrigen
jeweiligen Kreditkartendaten (Daten im Sinne von § 202a stehen die Delikte in Idealkonkurrenz.
Abs. 2 StGB, s.o.), insoweit verändert, als sie ihren ursprüng-
lichen Verwendungszweck – den Verfügungsrahmen für die Tatkomplex 3: Einsatz der Dublette der Kreditkarte des
einzelnen Kreditkarten zu begrenzen – nicht länger erfüllen.25 N/Kauf des Fernsehers
Da ein Strafantrag nach § 303c StGB als gestellt gilt, besteht I. § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB, Computerbetrug (durch das
somit auch eine Strafbarkeit nach § 303a Abs. 1 Alt. 4 StGB. Geldabheben)
Indem H an den Bankautomaten der C mit Hilfe der Dublette
der Kreditkarte des N Geld abhebt, könnte er sich des Com-
puterbetrugs strafbar gemacht haben.

22
Ausführlich Fischer (Fn. 11), Vor § 52 Rn. 61 f.
23
Vgl. Fischer (Fn. 11), § 267 Rn. 54.
24 26
Wittig, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Straf- Vgl. Heine/Schuster (Fn. 23), § 267 Rn. 108.
27
gesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 267 Rn. 100 Näher zum Begriff der Gedankenerklärung i.S.d. § 267
m.w.N; a.A. Heine/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), StGB Fischer (Fn. 11), § 267 Rn. 3; vgl. hierzu auch Seidl/
§ 267 Rn. 108. Fuchs, HRRS 2011, 265 (268).
25 28
Näher Stree/Hecker (Fn. 14), § 303a Rn. 2 ff., 8. Erb, in: Joecks/Miebach (Fn. 13), § 267 Rn. 221.
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ZJS 3/2015
292
Ein vertanes Talent und die Verlockungen des elektronischen Zahlungsverkehrs STRAFRECHT

1. Objektiver Tatbestand erschließen zu wollen, ist abermals das Regelbeispiel des


Da die auf dem Magnetstreifen der Dublette kopierten Kre- gewerbsmäßigen Handelns (§ 263a Abs. 2 i.V.m. § 263
ditkartendaten denen auf der Originalkarte entsprechen, ver- Abs. 3 Nr. 1) erfüllt. Von einem Vermögensverlust großen
mitteln beide den gleichen Informationsgehalt. Mithin ist Ausmaßes (Abs. 3 Nr. 2) kann bei einem Gesamtbetrag von
auch im Einsatz der Dublette eine Verwendung richtiger 25.000 € regelmäßig noch nicht ausgegangen werden.32
Daten im Sinne von § 263a StGB zu sehen.29 Die Verwen-
dung müsste unbefugt erfolgt sein. Berechtigter Karteninha- 5. Ergebnis
ber ist der N. Bedient sich indes H dieser Daten mittels der H hat sich nach § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB strafbar gemacht.
erstellten Dublette, so erfolgt dies ohne Berechtigung der
kartenausgebenden C, die die Garantieerklärung nur zuguns- II. § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB, Computerbetrug (durch die
ten des N erteilt hat (s.o.). Erfolgt nun mit Hilfe der Dublette Internetbestellung)
eine Eingabe dieser Daten in den Datenverarbeitungsvorgang Mit der Eingabe der Kreditkartendaten, der Prüfnummer
der Bankautomaten, so ist zwar das Ergebnis inhaltlich rich- sowie der transaktionsgebundenen mTAN nimmt H erneut
tig, da die eingegebenen Daten einschließlich PIN grundsätz- eine Verwendung richtiger Daten im Sinne von § 263a Abs. 1
lich zur Abhebung berechtigen; jedoch nur in Bezug auf N. Alt. 3 StGB vor (s.o.). Gleichermaßen führt auch die Eingabe
Die Auszahlung an H stellt damit insofern ein kausal herbei- im Rahmen des Bestellvorgangs insofern zu einem kausal
geführtes unzutreffendes und beeinflusstes Ergebnis eines herbeigeführten unzutreffenden Ergebnis eines Datenverar-
Datenverarbeitungsvorgangs dar, als die Auszahlung unbe- beitungsvorgangs, als die Überprüfung der Kreditkartendaten
fugtermaßen erfolgt.30 (einschließlich Prüfnummer) sowie der mTAN grundsätzlich
Die Auszahlungen wirken unmittelbar vermögensmin- eine Berechtigung zur Zahlung mit der Kreditkarte des N
dernd. Fraglich ist aber, ob und bei wem ein kausaler Vermö- suggerieren, ihre Verwendung gleichwohl aber unbefugter-
gensschaden eintritt. Zwar wird mit den Abhebungen das maßen erfolgt.
Konto des N im Verhältnis zu C auf der Grundlage des mit H handelt vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft. Aus
ihr geschlossenen Zahlungsdienstevertrags (§ 675f BGB) strafzumessungsrechtlicher Sicht gilt das unter I. 4. Gesagte
belastet, diese Zahlungsvorgänge sind aber nach § 675j entsprechend. Es besteht eine Strafbarkeit nach § 263a Abs. 1
Abs. 1 S. 1 BGB nur dann gegenüber N wirksam, wenn die- Alt. 3 StGB.
ser den Zahlungsvorgängen zugestimmt hat. An einer solchen
Autorisierung fehlt es hier aber gerade, sodass N gegen die C III. § 242 Abs. 1 StGB, Diebstahl
gem. § 675u S. 2 BGB einen Anspruch auf Erstattung der
Das Handy des N ist eine fremde bewegliche Sache für H.
Überweisungsbeträge hat. Einwendungen dagegen sind nicht
Mit dessen Entwendung bricht er fremden und begründet
ersichtlich. Mithin lässt sich in Bezug auf N bei einem Ver-
eigenen Gewahrsam; verwirklicht also das objektive Tatbe-
gleich der Gesamt-Vermögenslage vor und nach den (Ein-
standsmerkmal der Wegnahme.
zel-)Verfügungen kein Vermögensschaden feststellen.31
Bezüglich der Verwirklichung der objektiven Tatbe-
Gleichwohl lässt sich ein solcher aufseiten der C feststellen,
standsmerkmale ist ihm jedenfalls dolus eventualis vorzuwer-
denn diese trägt den wirtschaftlichen Schaden der durch sie
fen. H müsste zudem mit Zueignungsabsicht gehandelt ha-
getätigten Auszahlungen.
ben. H wollte zwar Zugriff auf das Handy des N nehmen,
jedoch nur deshalb, um sich anschließend in Kenntnis der
2. Subjektiver Tatbestand
mTAN zu setzen. Mithin ist fraglich, ob H somit auch mit
H handelt mit Vorsatz bezüglich der Merkmale des objekti- dem Willen handelt, das Handy wenigstens vorübergehend in
ven Tatbestands. Auch kommt es ihm gerade darauf an sich seinen Vermögensbestand aufnehmen zu wollen (Aneig-
einen Vermögensvorteil zu verschaffen; mithin handelt H mit nungsabsicht). Nach Auffassung des BGH fehlt es an einer
dem Willen eine rechtswidrige, stoffgleiche Bereicherung Aneignungskomponente, wenn der Täter nur die (bloße) Ver-
vorzunehmen. wertung der auf einem Datenträger gespeicherten Daten unter
Zuhilfenahme des die Daten beinhaltenden Geräts beabsich-
3. Rechtswidrigkeit/Schuld tigt.33 Hier besteht gerade kein darüber hinausgehendes ver-
mögensrelevantes Interesse des H; im Zeitpunkt der Weg-
Hinweis: Siehe Fn. 21. nahme beabsichtigte er sich weder den Substanz- oder Sach-
wert des Handy anzueignen noch dessen Wert durch den vor-
4. Strafzumessung übergehenden Gebrauch zu mindern.34 Die ausgeübte Eigen-
Insoweit man die Abhebungen auch im Zusammenhang mit
dem Ausgangsmotiv des H sieht, weitere Einnahmequellen 32
Anstatt vieler Fischer (Fn. 11), § 263 Rn. 215a.
33
BGH, Beschl. v. 14.2.2012 – 3 StR 392/11 = NStZ 2012,
29
Wohlers/Mühlbauer (Fn. 13), § 263a Rn. 28. 627.
30 34
Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265 (271); vgl. auch BGH, Urt. Vgl. BGH, Beschl. v. 14.2.2012 – 3 StR 392/11 = NStZ
v. 22.11.1991 – 2 StR 376/91 = NStZ 1991, 180; Joecks 2012, 627; zust. Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer
(Fn. 8), § 263a Rn. 25. Teil, Bd. 2, 37. Aufl. 2014, Rn. 152; Hecker, JuS 2013, 468
31
Fischer (Fn. 11), § 263 Rn. 88. (469); abl. Jäger, JA 2012, 709 f.; weitere Fälle, in denen es
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293
ÜBUNGSFALL Sebastian Laudien

macht beschränkte sich hier ausschließlich auf das Interesse besteht zwischen den Strafbarkeiten in Tatkomplex 3 Real-
der – hier aufgrund fehlender Überwindung besonderer han- konkurrenz (§ 53 StGB).
dyeigener Zugangssicherungen – tatbestandslosen Ausspä-
hung der mTAN.35 Auch dürfte zweifelhaft sein, ob H im Tatkomplex 4: Die Zahlung des N
Zeitpunkt der Wegnahme bereits mit Enteignungsvorsatz I. § 266 Abs. 1 StGB, Untreue
handelt, da der Entschluss, das Handy schließlich zerstören
Für eine Untreue-Strafbarkeit fehlt es dem N bereits an einer
zu wollen, im Zeitpunkt der Wegnahme noch nicht abschlie-
(echten) Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266
ßend gefasst war. Mithin besteht keine Strafbarkeit nach
Abs. 1 StGB gegenüber dem kartenausstellenden Kreditinsti-
§ 242 Abs. 1 StGB.
tut, der C.
IV. § 246 Abs. 1 StGB, Unterschlagung
II. § 266b Abs. 1 Alt. 2 StGB, Missbrauch von Scheck-
Auch fehlt es in Bezug auf die Zerstörung des Handy an einer und Kreditkarten
Manifestation des Zueignungswillens. Eine äußerlich in Er-
Gleichwohl könnte sich N nach § 266b Abs. 1 Alt. 2 StGB
scheinung tretende Zueignungshandlung, die sich nach Maß-
strafbar gemacht haben, indem er die ihm von der C als Aus-
gabe der auf eine vermögensrelevante Bestandsänderung ab-
steller überlassene Kreditkarte missbräuchlich einsetzt und C
zielende Zueignungsabsicht gem. § 242 StGB bestimmt,36
damit zu einer Zahlung veranlasst. In der Tat veranlasst N mit
kann bereits gedankenlogisch nicht in der Zerstörung des
dem Kauf der Kette die C wirksam zur Zahlung i.H.v.
Handy gesehen werden, da dies gerade kein Verhalten zum
20.000 €. Fraglich ist aber, ob N damit missbräuchlich han-
Ausdruck bringt, wonach sich H die Sache selbst oder den in
delt. Missbräuchlich handelt, wer wirksam nach außen, im
ihr verkörperten Wert zumindest vorübergehend aneignet.
Rahmen seines rechtlichen Könnens, die ihm im Innenver-
Dies ist allein für den Fall des eigennützigen – also bestim-
hältnis gesetzten Grenzen (rechtliches Dürfen) überschrei-
mungsgemäßen – Verbrauchs einer Sache denkbar.37
tet.39 Die Missbrauchsmöglichkeiten durch den berechtigten
Mit der Zerstörung des Handys hat sich H also auch nicht
Karteninhaber ergeben sich daher aus dessen vertraglichen
nach § 246 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
Hauptpflichten gegenüber dem Aussteller; (bloße) Neben-
pflichtverletzungen vermögen nicht die mit dem Merkmal des
V. § 303 Abs. 1 StGB, Sachbeschädigung
Missbrauchs im Sinne des § 266b Abs. 1 StGB geforderten
Mit der Zerstörung des Handy verwirklicht H aber eine Straf- gravierenden Vertragsverletzungen zu begründen.40 Die ver-
barkeit nach § 303 Abs. 1 StGB. traglichen Hauptpflichten des berechtigten Karteninhabers
beschränken sich regelmäßig darauf, dass die Kreditkarte nur
VI. § 269 Abs. 1 Alt. 3 StGB, Fälschung beweiserhebli- innerhalb des vereinbarten Verfügungsrahmens zu nutzen ist
cher Daten (vgl. § 675k BGB) und die Forderungen des Ausstellers je-
Sowohl durch das Geldabheben mittels Dublette als auch weils zum Fälligkeitszeitpunkt zu befriedigen sind.41 Ein
durch Eingabe der Kreditkarten im Rahmen des Bestellvor- Verfügungsrahmen besteht für die Kreditkarte des N ohnehin
gangs gebraucht H die zuvor tatbestandlich gespeicherten nicht mehr (s.o.). Auch ist von der Solvenz des N auszuge-
beweiserheblichen Daten. hen. Ob auch darüber hinausgehende Rücksichtnahmepflich-
ten bestehen, die ggf. dadurch verletzt worden sind, dass N
VII. § 267 Abs. 1 Alt. 3 StGB, Urkundenfälschung die Kreditkarte nutzt, obwohl er von C kontaktiert und mit
Jedenfalls der Einsatz der Kartendublette begründet auch eine dem Verdacht des Missbrauchs seiner Kreditkartendaten kon-
Strafbarkeit nach § 267 Abs. 1 Alt. 3 StGB wegen Gebrau- frontiert wird und zudem daraufhin wahrheitswidrig angibt,
chens einer unechten Urkunde. dass er sich im Ausland aufhalte – mithin also weder für die
fraglichen noch weitere inländische Belastungen verantwort-
VIII. Konkurrenzen lich ist –, ist nicht relevant, da diese allenfalls unbeachtliche
Nebenpflichtverletzungen zu begründen vermögen. Mithin
Idealkonkurrenz (§ 52 StGB) besteht jeweils für den Einsatz
fehlt es an einer missbräuchlichen Nutzung der Kreditkarte.
der Dublette der Kreditkarte des N bzw. den Kauf des Fern-
sehers zwischen §§ 263a, 267 Abs. 1 Alt. 3, 269 Abs. 1 Alt. 3
III. § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB, Computerbetrug
StGB. Zudem bildet §§ 267 Abs. 1 Alt. 3, 269 Abs. 1 Alt. 3
StGB nach ständiger Rechtsprechung mit den in Tatkomplex Auch hat N mit der Zahlung unter Nutzung seiner Kreditkarte
2 verwirklichten Urkundsdelikten nur eine Tat.38 Im Übrigen keine richtigen Daten zur Beeinflussung des Ergebnisses
eines Datenverarbeitungsvorgangs verwendet, da er die Daten
– anders als in Tatkomplex 3 I. – gerade nicht unbefugterma-
an einer Aneignungskomponente fehlt BGH, Urt. v.
27.1.2011 – 4 StR 502/10 = NStZ 2011, 699 (Kutten-Fall);
39
OLG Nürnberg, Beschl. v. 7.11.2012 – 1 StOLG Ss 258/12 = BGH, Beschl. v. 3.12.1991 – 4 StR 538/91 = NStZ 1991,
NStZ-RR 2012, 78 (Fanjacken-Fall). 278; Joecks (Fn. 8), § 266b Rn. 12.
35 40
Vgl. Hecker, JuS 2013, 468 (469). BGH, Beschl. v. 3.12.1991– 4 StR 538/91 = NStZ 1991,
36
Vgl. Wessels/Hillenkamp (Fn. 33), Rn. 309. 278 (279).
37 41
Wessels/Hillenkamp (Fn. 33), Rn. 153. Rengier, in: Hilgendorf (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang
38
Vgl. Fischer (Fn. 11), § 267 Rn. 58; § 269 Rn. 12. Heinz zum 70. Geburtstag, 2012, S. 808 (813 f.).
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ZJS 3/2015
294
Ein vertanes Talent und die Verlockungen des elektronischen Zahlungsverkehrs STRAFRECHT

ßen einsetzt. Dies wäre nur denkbar, wenn die Kreditkarte


bereits im Zeitpunkt der Zahlung gesperrt gewesen und eine
Zahlung gleichwohl erfolgt wäre.

IV. § 263 Abs. 1 StGB, Betrug (ggü. dem Angestellten der


C, zulasten der C)
Mit der wahrheitswidrigen Aussage, dass er derzeit im Aus-
land sei und daher im Inland keine Zahlungen der C veranlas-
sen könne, täuscht N den für die C handelnden Bankange-
stellten über die Tatsache, dass er soeben die Zahlung der
Kette vorgenommen hat (Dreiecksbetrug). Aufgrund dessen
besteht auf Seiten der C irrtümlich der Eindruck, dass auch
die mit dem Kauf der Kette einhergehende Belastung auf eine
missbräuchliche Nutzung der Kreditkartendaten des N durch
Dritte zurückzuführen ist. Infolgedessen verfügt der Ange-
stellte der C vermögenswirksam in Gestalt des Erstattungsbe-
trags i.H.v. 50.000 €. Da jedoch in der Zahlung der Kette ein
autorisierter Zahlungsvorgang zu sehen ist, besteht nach
§ 675u S. 1 BGB tatsächlich nur ein Erstattungsanspruch
i.H.v. 30.000 € des N gegen die C. Somit besteht ein Vermö-
gensschaden in Höhe des Kaufpreises der Kette (20.000 €).
N handelt vorsätzlich bezüglich der Merkmale des objek-
tiven Tatbestands. Auch wollte er sich gerade um den in der
Kette liegenden rechtswidrigen, stoffgleichen Vermögensvor-
teil bereichern. N handelt rechtswidrig und schuldhaft. Dem-
nach besteht eine Strafbarkeit nach § 263 Abs. 1 StGB.

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295
BGH, Urt. v. 25.6.2014 – VIII ZR 10/14 Singbartl/Dziwis
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Entscheidungsbesprechung und Zweck des § 167 ZPO sowie mit der Fragestellung, ob
eine nahezu inflationär anmutende Ausweitung des Anwen-
Fristwahrender Widerspruch gegen Mietvertragsfortset- dungsbereichs der genannten zivilprozessrechtlichen Vor-
zung bei demnächst erfolgender Zustellung schrift angezeigt ist.

Die Frist für die Erklärung des Widerspruchs gegen die II. Sachverhalt
stillschweigende Verlängerung des Mietverhältnisses Gegenstand des Streits zwischen der vermietenden Klägerin
(§ 545 BGB) wird durch eine vor Fristablauf eingereichte und ihrem Sohn, dem beklagten Mieter, bildete die Frage
und gem. § 167 ZPO „demnächst“ zugestellte Räumungs- nach dem Fortbestand des zwischen den bezeichneten Partei-
klage gewahrt. en jedenfalls seit Sommer 2011 existierenden Mietvertrages.
(Amtlicher Leitsatz). Am 5.1.2012 kündigte die Klägerin, welche Nießbraucherin
an einem im Eigentum eines Bruders des Beklagten stehen-
BGB §§ 545, 573a, 573c, 204; ZPO § 167 den Einfamilienhaus war und dieses ebenfalls bewohnte, das
Mietverhältnis mit Wirkung zum 31.7.2012 (§§ 573c Abs. 1
BGH, Urt. v. 25.6.2014 – VIII ZR 10/14 (LG Kassel, AG S. 1, 573a Abs. 1 S. 2 BGB).5 Indes räumte der Beklagte die
Kassel)1 Wohnung nicht, sodass eine auf §§ 546 Abs. 1, 549 Abs. 1,
985 BGB gestützte Räumungsklage am 7.8.2012 eingereicht
I. Einleitung wurde. Die Zustellung an den Beklagten erfolgte jedoch erst
Die vorliegende Entscheidung behandelt die schon seit Jahr- am 22.9.2012 und damit nach Ablauf der für die Erklärung
zehnten umstrittene Frage, ob § 167 ZPO auch für solche des Widerspruchs maßgeblichen Zwei-Wochen-Frist des
Fristen gelten soll, die durch außergerichtliche Geltendma- § 545 S. 1 BGB. Nach dem Tod der Klägerin setzte der Bru-
chung gewahrt werden können.2 Dabei ist hiesiges Urteil der des Beklagten den Prozess auf klägerischer Seite fort.
examensrelevant, weil man zum einen die Kündigungsvor-
aussetzungen prüfen muss und zum anderen die eventuelle III. Kernaussagen und Würdigung
stillschweigende Verlängerung des Mietverhältnisses gem. 1. Bedeutung von § 167 ZPO
§ 545 BGB zu thematisieren hat.3 Ferner ist aber auch beach-
Für das Verständnis des § 167 ZPO entscheidend ist die Un-
tenswert, dass die vorliegende Judikatur nicht nur ein miet-
terscheidung zwischen der Anhängigkeit und Rechtshängig-
rechtliches Spezifikum darstellt, sondern vielmehr über die
keit der Klage. Lediglich den Zeitpunkt der Anhängigkeit der
mietrechtlichen Grenzen hinaus Sprengkraft entfaltet. So
Klage kann der Kläger bestimmen. Anhängig wird eine Klage
stellt sich beispielsweise das Parallelproblem im Arbeitsrecht
bereits durch die Einreichung der Klageschrift bei Gericht.6
bei § 15 Abs. 4 AGG. Für die Geltendmachung seines Ent-
Der Eintritt der Rechtshängigkeit hingegen, welche mit der
schädigungsanspruchs muss der Arbeitnehmer bzw. der Be-
amtlichen Zustellung der Klageschrift an den Beklagten be-
werber die materielle Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG
gründet wird (siehe §§ 253 Abs. 1, 261 Abs. 1 ZPO), entzieht
einhalten. Auch auf diesem arbeitsrechtlich geprägten Gebiet
sich gänzlich der Einflusssphäre des Klägers.7 Indes werden
ist fraglich, ob gemäß § 167 ZPO, der eine Vorverlagerung
an sich nicht schon durch die Klageeinreichung, sondern erst
auf den Zeitpunkt der Anhängigkeit anordnet, bereits die
durch die Klageerhebung gewisse prozessrechtliche8 wie
fristgerechte Einreichung einer Klage, die erst nach Fristab-
auch insbesondere materiell-rechtliche Rechtsfolgen, die sich
lauf dem Beklagten zugestellt und somit rechtshängig wird,
auf die Rechtsstellung der beteiligten Streitparteien auswir-
zur Fristwahrung ausreichend ist.4 Das hier zu besprechende
Urteil ist vor allem für Studierende besonders lehrreich. Denn
es erfordert eine grundsätzliche Beschäftigung mit dem Sinn 5
Zumal der Beklagte bereits vor dem Abschluss des Mietver-
trages das Einfamilienhaus auf der Grundlage eines unent-
1
Die Entscheidung ist abrufbar unter geltlichen Nutzungsverhältnisses unter Familienangehörigen
https://www.jurion.de/Urteile/BGH/2014-06-25/VIII-ZR-10_ bewohnt hatte, stellte sich das Problem, ob auch dieser Zeit-
14 (17.5.2015). raum der Überlassung des Wohnraums in die Berechnung der
2
Vgl. die Kehrtwende des Bundesgerichtshofs in BGHZ 177, Kündigungsfrist trotz des Nichtbestehens eines mietvertragli-
319 = NJW 2009, 765. chen Rechtsgrundes einzufließen hatte. Dies verneinte der
3
In folgender Urteilsbesprechung wird jedoch nicht auf die BGH mit einem Verweis auf das Fehlen eines Vertrauenstat-
Wirksamkeit der Kündigung eingegangen, da Schwerpunkt bestands: für den Beklagten habe keinerlei Kündigungsschutz
die Behandlung von § 167 ZPO sein soll. bestanden, denn die Klägerin habe jederzeit das Verhältnis
4
Vgl. hierzu die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, in auflösen können, vgl. BGH NJW 2014, 2568 f.
6
der dieses entschieden hat, dass § 167 ZPO auch auf die Gel- Vgl. Pohlmann, Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 120.
7
tendmachung des Anspruchs nach § 15 Abs. 4 AGG Anwen- Dörndorfer, in: Beck’scher Online-Kommentar zur ZPO,
dung finde, selbst wenn die Fristwahrung auch außergericht- Ed. 16, Stand: 1.3.2015, § 167 Rn. 1.
8
lich möglich ist; vgl. BAG NZA 2014, 924, in dem die ältere Zu den prozessrechtlichen Wirkungen der Klageerhebung
anders lautende Rechtsprechung aufgegeben wird. Vgl. als zählen vor allem die so genannte perpetuatio fori nach § 261
Beispiel für die ältere Rechtsprechung BAG NZA 1998, Abs. 3 Nr. 2 ZPO und die Möglichkeit der Erhebung der Ein-
1225. rede der Rechtshängigkeit gemäß § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO.
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ZJS 3/2015
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BGH, Urt. v. 25.6.2014 – VIII ZR 10/14 Singbartl/Dziwis
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ken, hervorgerufen. So ordnet beispielsweise § 204 Abs. 1 2008 eingeleitete Rechtsprechungsänderung auf mietrechtli-
Nr. 1 BGB die Verjährungshemmung im Falle der Klageer- che Fälle übertragbar ist.12
hebung an. Nunmehr erlangt § 167 ZPO Relevanz, der in den
von ihm umschriebenen drei Tatbestandsvarianten der Frist- b) Stillschweigende Verlängerung des Mietverhältnisses gem.
wahrung durch Zustellung, des Neubeginns der Verjährung § 545 BGB?
sowie der Verjährungshemmung eine Vorverlagerung auf den Setzt der Mieter nach Ablauf der Mietzeit den Gebrauch der
Zeitpunkt der Anhängigkeit bestimmt. Insofern dient § 167 Mietsache fort, so verlängert sich das Mietverhältnis auf un-
ZPO einem Interessenausgleich zwischen dem Zustellungs- bestimmte Zeit, sofern nicht eine Vertragspartei ihren entge-
veranlasser und dem Zustellungsempfänger.9 Zum einen soll genstehenden Willen innerhalb von zwei Wochen erklärt.13 In
dem Zustellenden nicht die Ungewissheit der Dauer des Zu- casu lancierte der Vermieter im unmittelbaren Anschluss an
stellungsverfahrens, auf das er keinerlei Einfluss ausüben die an sich eintretende rechtsumgestaltende Wirkung der
kann, aufgebürdet werden, sodass die an die Rechtshängig- Kündigung eine Räumungsklage, ohne zuvor den Mieter
keit geknüpften Rechtswirkungen auf den Zeitpunkt der An- hiervon benachrichtigt zu haben. Die Klage wurde jedoch erst
hängigkeit zurückdatiert werden. Dieser Schutzzweck entfällt am 22.9.2012 zugestellt und damit erst nach Ablauf der Wi-
indes und § 167 ZPO findet keine Anwendung, wenn die derspruchsfrist des § 545 S. 1 BGB rechtshängig. Damit steht
Verzögerung der Zustellung auf das Verhalten des Zustel- nun die Frage im Raum, ob eine innerhalb der Widerspruchs-
lungsveranlassers zurückzuführen ist. Zum anderen stellt die frist des § 545 S. 1 BGB eingereichte, jedoch erst nach deren
Rechtshängigkeitsfiktion des § 167 ZPO gleichfalls sicher, Ablauf zugestellte Klage zur Fristwahrung genügt. Wendete
dass der Zustellungsempfänger in seinem Vertrauen darauf man nämlich § 167 ZPO in dieser Konstellation an, so wäre
geschützt wird, eine durch Fristablauf erworbene Rechtsstel- der Widerspruch rechtzeitig erklärt worden.
lung nicht gewissermaßen „zeitlich unbegrenzt“10 durch eine
übermäßig verspätete Zustellung der Klage einzubüßen. Zu aa) Frühere Argumentationslinie des Bundesgerichtshofs und
diesem Zweck statuiert § 167 ZPO das Erfordernis der „dem- der obergerichtlichen Rechtsprechung mit Blick auf § 167
nächst“ erfolgenden Zustellung. ZPO und außergerichtliche Fristen
In der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs,14 der
2. Anwendbarkeit des § 167 ZPO auch auf Fristen, die durch
Instanzgerichte15 sowie in Teilen der Literatur16 wurde die
außergerichtliche Geltendmachung gewahrt werden können
Ansicht vertreten, dass § 167 ZPO auf außergerichtliche
a) Allgemeines Fristen gerade keine Anwendung finde. Begründet wurde
Im streitgegenständlichen Fall hatte sich der BGH mit dem dies damit, dass § 167 ZPO den Zweck habe, den Parteien
Rechtsproblem auseinanderzusetzen, ob die Frist für die Er- das von ihnen nicht mehr kalkulierbare Risiko einer Verspä-
klärung des Widerspruchs gegen die stillschweigende Ver- tung der amtlichen Zustellung abzunehmen. Ebenso soll die
längerung des Mietverhältnisses durch eine vor Fristablauf Regelung die Entstehung verzögerungsbedingter Schäden
eingereichte und gem. § 167 ZPO zwar demnächst, jedoch verhindern. Vor diesem Hintergrund darf der Sinn und Zweck
erst nach Fristablauf zugestellte Räumungsklage gewahrt des § 545 BGB nicht außer Acht gelassen werden, der gerade
wird. Soll im Wege der Zustellung eine auch außergerichtlich darin besteht, dass die Parteien möglichst bald über die Be-
einhaltbare Frist gewahrt werden, so tritt die Wirkung des endigung des Mietverhältnisses Bescheid wissen. Diese Ziel-
§ 167 ZPO bereits mit dem Eingang der Klageschrift bei Ge- setzung würde indes in der gerichtlichen Praxis angesichts
richt ein, wenn die Zustellung demnächst erfolgt. Dies ent- von Zustellungsverzögerungen, insbesondere in der Ferien-
schied der BGH 2008 im Kontext eines urheberrechtlichen zeit, an die Grenzen des Faktischen stoßen. Ferner wurde ins
Anspruchs.11 Mit anderen Worten: Die Bestimmung des
§ 167 ZPO ist grundsätzlich selbst in solchen Fällen anwend- 12
Vgl. die frühere Rechtsprechung, in der die Meinung ver-
bar, in denen durch die Zustellung eine Frist gewahrt werden treten wurde, die Regelung über die Rückwirkung der Zustel-
soll, zu deren Einhaltung der Kläger nicht unbedingt auf die lung auf den Zeitpunkt der Einreichung der Klage gelte nur
gerichtliche Mitwirkung angewiesen ist. Da mehrere tausend für die Fälle, in denen eine Frist lediglich durch Inanspruch-
Klagen im Jahr bei den Gerichten eingehen, können in dem nahme der Gerichte gewahrt werden könne, vgl. nur BGH
Zeitraum zwischen Anhängigkeit und Rechtshängigkeit oft WM 1971, 383 (384) und BGH NJW 1982, 172; Kehrtwende
mehrere Wochen liegen. Für solche Fälle wurde § 167 ZPO der Rechtsprechung in BGH NJW 2009, 765.
geschaffen. Vor dem Hintergrund der oben erwähnten, dem 13
So expressis verbis § 545 S. 1 BGB.
Gebiet des Urheberrechts entstammenden BGH-Entschei- 14
Vgl. beispielsweise BGH WM 1971, 383 (384).
dung aus dem Jahre 2008 bedarf es für das hier zu bespre- 15
Vgl. LG Berlin NZM 2001, 40; OLG Stuttgart NJW-RR
chende Urteil einer eingehenden Erörterung der Frage, ob die 1987, 788.
16
Vgl. Roth, in: Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl.
2013, § 167 Rn.3; Hermann, in: Beck’scher Online-Kom-
mentar zum BGB, Ed. 34, Stand: 1.2.2015, § 545 Rn. 5, der
9
Eichele, in: Saenger, Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2015, zumindest auf das Problem hinweist; Blank, in: Schmidt-
§ 167 Rn. 1. Futterer, Kommentar zum BGB, 11. Aufl. 2013, § 545
10
Dörndorfer (Fn. 7), § 167 Rn. 1; Brand, NJW 2004, 1138. Rn. 22, aber jetzt wohl auch anders, vgl. ders., LMK 2014,
11
BGH NJW 2009, 765 (767). 361721.
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297
BGH, Urt. v. 25.6.2014 – VIII ZR 10/14 Singbartl/Dziwis
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Feld geführt, dass § 167 ZPO eine eng auszulegende Aus- Rücksicht genommen. Sollte die Klage erst sechs Wochen
nahmevorschrift sei und gerade für die Schwebelage zwi- nach ihrer Einreichung zugestellt werden, so befände sich der
schen Anhängigkeit und Rechtshängigkeit geschaffen worden Mieter mangels anderweitiger Hinweise des Vermieters über
sei.17 In den Fällen außergerichtlich einhaltbarer Fristen je- die von § 545 BGB gedeckte Dauer von zwei Wochen hinaus
doch schaffe erst der Kläger eine solche Schwebelage, ohne zusätzlich noch vier weitere Wochen lang in Unkenntnis
dass dies von Gesetzes wegen zur Fristwahrung zwingend darüber, ob das Mietverhältnis nun weiterhin Bestand haben
erforderlich sei. werde oder nicht. In der von § 545 BGB nicht mehr erfassten
Zeitspanne dürfte aber der Mieter – irrtümlich, sofern man
bb) Heutiges Verständnis des Bundesgerichtshofs bzgl. der der BGH-Ansicht folgt – davon ausgehen, dass sich das
Anwendbarkeit des § 167 ZPO auf außergerichtliche Fristen Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortsetze. Dies wider-
Der Bundesgerichtshof hat im streitgegenständlichen Fall den spricht dem Sinn und Zweck von § 545 BGB, innerhalb von
Rechtsprechungswandel aus dem Jahr 2008 bestätigt. Das lediglich zwei Wochen für klare Rechtsverhältnisse zwischen
oberste deutsche Zivilgericht betont die Gesichtspunkte der Mieter und Vermieter zu sorgen.22 Vor allem aber stehen dem
Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.18 Eindeutiger Erklärenden mehrere Möglichkeiten zur Fristwahrung zur
als durch die Einreichung einer Räumungsklage könne näm- Verfügung. So hätte auch eine formlose Erklärung des Ver-
lich der Vermieter seinen Widerspruch gegen die Verlänge- mieters genügt, in der auf das Räumungsverlangen hingewie-
rung des Mietverhältnisses nach § 545 BGB gar nicht zum sen23 oder sogar eine Räumungsfrist24 gewährt wird. Um den
Ausdruck bringen. Derjenige, der mit der Klage die stärkste anderen Vertragspartner nach Ablauf von zwei Wochen (vgl.
Form der Geltendmachung von Ansprüchen wähle, müsse § 545 BGB) vor Rechtsunsicherheit zu bewahren, die vom
sich darauf verlassen können, dass die Einreichung der Kla- Gesetz nicht mehr gedeckt ist, sich über einen ungewissen
geschrift die Frist wahre.19 In der Grundsatzentscheidung aus Zeitraum erstreckt und deren Bestehen sich regelmäßig sogar
dem Jahre 2008, die die Kehrtwende zu dieser Rechtsfrage der Kenntnis des beklagten Vertragspartners entziehen dürfte,
einläutete, brachte der BGH ferner noch einen Erst-Recht- ist der Widersprechende im Kontext des § 545 BGB gehalten,
Schluss aus § 132 Abs. 1 BGB vor:20 Laut § 132 Abs. 1 S. 1 auf einen faktisch fristwahrenden Übermittlungsweg auszu-
BGB kann der Zugang einer Willenserklärung im Wege der weichen. Das muss nicht unbedingt die Klage sein. Mithin
Zustellung durch Vermittlung eines Gerichtsvollziehers be- legt der Bundesgerichtshof § 167 ZPO zu weit aus.
wirkt werden. Zur Wahrung auch außergerichtlich einhaltba-
rer Fristen genügt bei demnächst erfolgender Zustellung IV. Folgen für Studium, Prüfung und Praxis
aufgrund der in § 132 Abs. 1 S. 2 BGB in Verbindung mit. Die vorliegende Entscheidung weist aufgrund der Verzah-
§§ 191, 192 Abs. 2 S. 1, 167 ZPO angeordneten Rückwir- nung von materiellem Recht und Zivilprozessrecht eine ge-
kung bereits die Übergabe des Schriftstücks an den Gerichts- steigerte Examensrelevanz auf. Im Übrigen sei auf die paral-
vollzieher. In gleichartigen Fällen könne für eine Zustellung lele Problematik der Anwendbarkeit des § 167 ZPO im Rah-
durch Vermittlung des Gerichts sodann nichts anderes gel- men der Geltendmachung von Schadensersatz- und Entschä-
ten.21 digungsansprüchen nach § 15 Abs. 1, Abs. 2 AGG in den
zeitlichen Grenzen der Frist des § 15 Abs. 4 S. 1 AGG hin-
3. Kritische Würdigung der Rechtsprechungsänderung gewiesen.25 In der Praxis kann man wohl bereits in dem Kün-
Der Bundesgerichtshof weitet seine 2008 begonnene Recht- digungsschreiben des Vermieters die Erklärung des Wider-
sprechungsänderung nun auch auf das Mietrecht aus, wobei spruchs erblicken. Der Mieter muss eben nur eindeutig er-
die Kehrtwende aus mehrerlei Gründen kaum zu überzeugen kennen können, dass das Mietverhältnis unter keinen Um-
vermag. Mit der Schaffung des § 167 ZPO verfolgte der ständen fortgesetzt werden soll. Sollte sich ein Widerspruch
Gesetzgeber gerade den Zweck, zur Förderung der Rechtssi- nicht aus dem Kündigungsschreiben ableiten lassen, so reicht
cherheit die ungewisse Zeitspanne zwischen Anhängigkeit auch schon eine einfache Erklärung aus. Es bedarf allerdings
und Rechtshängigkeit einer Klage gewissermaßen zu über- nicht immer einer kostspieligen und aufwändigen Klage, um
brücken. Zumal der Kläger nach der Einreichung der Klage zu seinem Recht zu kommen. Abzuwarten bleibt, ob der
keinen Einfluss mehr auf deren rechtzeitige Zustellung hat, Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zur Anwendbarkeit
erscheint es unbillig, das Verzögerungsrisiko dem Kläger des § 167 ZPO bei außergerichtlich einhaltbaren Fristen auch
aufzubürden. In casu sind die Dinge hingegen anders gela- auf andere Rechtsgebiete ausdehnt.
gert. Zwar unterstreicht der Bundesgerichtshof wiederholt Akademischer Rat a.Z. Jan Singbartl, cand. iur. Thomas
den unter dem Aspekt der Rechtssicherheit gebotenen Schutz Dziwis, LMU München
des Klägers, also des Vermieters. Indes wird auf die erhöhte
Schutzbedürftigkeit des Erklärungsempfängers keinerlei

17
Vgl. Feldhahn, in: Prütting/Wegen/Weinreich, Kommentar
zum BGB, 9. Aufl. 2014, § 545 Rn. 9.
18 22
Vgl. BGH NJW 2014, 2568 (2569). Vgl. BGH NJW-RR 1988, 76.
19 23
Vgl. BGHZ 177, 319 = NJW 2009, 765. Vgl. BGH NJW-RR 2006, 1385.
20 24
Siehe hierzu BGH NJW 2009, 765 (767). Vgl. LG Wuppertal ZMR 1968, 268.
21 25
Vgl. BGHZ 177, 319 = NJW 2009, 765 (767). BAG NZA 2014, 924.
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ZJS 3/2015
298
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 Wißmann
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Entscheidungsanmerkung I. Einführung
Die öffentliche Schule ist ein zentraler Ort für den freiheitli-
Pauschales Kopftuchverbot und Glaubens- und Bekennt- chen Verfassungsstaat. Das gilt in Deutschland in besonde-
nisfreiheit rem Maße, weil hier durch eine strikte Schulpflicht und ein
quantitativ relativ schwaches Privatschulwesen die staatlich
1. Der Schutz des Grundrechts auf Glaubens- und Be- veranstaltete Schule kein bloßes Angebot ist, das bei Nichtge-
kenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) gewährleistet fallen auch abgelehnt oder umgangen werden könnte. Des-
auch Lehrkräften in der öffentlichen bekenntnisoffenen wegen gelten hohe Anforderungen an die Rechtfertigung des
Gemeinschaftsschule die Freiheit, einem aus religiösen staatlichen Erziehungsmandats. Jede einzelne Schule, ja der
Gründen als verpflichtend verstandenen Bedeckungsge- gesamte Unterricht ist daran zu messen, ob sie zur „Entfal-
bot zu genügen, wie dies etwa durch das Tragen eines tung der Persönlichkeit“ der Schülerinnen und Schüler bei-
islamischen Kopftuchs der Fall sein kann. tragen, die schon Grundrechtsträger sind und gleichzeitig in
2. Ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekun- der verantwortlichen Ausübung ihrer Grundrechte ertüchtigt
dungen (hier: nach § 57 Abs. 4 SchulG NW) durch das werden sollen. Welche „Zutaten“ sind dafür erforderlich?
äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrak- Welche Grenzen sind zu beachten?
ten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schul- Insbesondere Religion und religiöse Identität sind für die-
frieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentli- se Fragen ein maßgebliches Referenzgebiet. In vielfacher
chen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule ist unver- Weise wurde die moderne Schule gegen kirchliche Len-
hältnismäßig, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf kungsansprüche erkämpft – aber zugleich ist Religion immer
ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zu- eine Herausforderung für ein Bildungswesen geblieben, das
rückzuführen ist. Ein angemessener Ausgleich der verfas- weder oberflächlich noch totalitär sein will.
sungsrechtlich verankerten Positionen - der Glaubens- Die Rolle der Religion in der Schule zu bestimmen, ist
freiheit der Lehrkräfte, der negativen Glaubens- und Be- daher eine natürliche Aufgabe der Verfassungsrechtsdogma-
kenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der tik. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht auch
Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erzie- auf diesem Feld mit wichtigen Grundsatzentscheidungen eine
hungsauftrags - erfordert eine einschränkende Auslegung Schlüsselrolle eingenommen. Die hier anzuzeigende Ent-
der Verbotsnorm, nach der zumindest eine hinreichend scheidung zur grundsätzlichen Zulässigkeit religiöser Bekun-
konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss. dungen auch durch Lehrkräfte („Kopftuch II“) setzt eine
3. Wird in bestimmten Schulen oder Schulbezirken auf- Reihe fort, die seit den 1970er Jahren von den Vorgaben für
grund substantieller Konfliktlagen über das richtige reli- die Ausgestaltung der Gemeinschafts- und Bekenntnisschule2
giöse Verhalten bereichsspezifisch die Schwelle zu einer über das Schulgebet3 und das Kruzifix4 bis zum Kopftuch I-
hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Urteil5 reicht.
Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer Mit der letztgenannten Entscheidung hatte das BVerfG
beachtlichen Zahl von Fällen erreicht, kann ein verfas- (2. Senat) im Jahr 2003 unterbunden, dass Lehrkräften das
sungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis bestehen, Tragen eines Kopftuchs oder ähnlicher Symbole auf der
religiöse Bekundungen durch das äußere Erscheinungs- Grundlage allgemeiner beamtenrechtlicher Folgepflichten
bild nicht erst im konkreten Einzelfall, sondern etwa für untersagt werden könne, eine spezielle gesetzliche Regelung
bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse aber für denkbar gehalten. Die daraufhin erlassenen Gesetze
Zeit auch allgemeiner zu unterbinden. und die darauf beruhende Rechtspraxis sind der Gegenstand
4. Werden äußere religiöse Bekundungen durch Pädago- des vorliegenden Beschlusses des 1. Senats. Die Entschei-
ginnen und Pädagogen in der öffentlichen bekenntnisof- dung hat Bedeutung für die grundsätzliche Justierung des
fenen Gemeinschaftsschule zum Zweck der Wahrung des Religionsverfassungsrechts (Pflichtwissen!) wie für die Fra-
Schulfriedens und der staatlichen Neutralität gesetzlich ge, in welchem Verhältnis die Senate des BVerfG zueinander
untersagt, so muss dies für alle Glaubens- und Weltan- stehen und wie sie miteinander Verfassungsrechtsprechung
schauungsrichtungen grundsätzlich unterschiedslos ge- betreiben (für Feinschmecker).
schehen.
(Amtliche Leitsätze)

GG Art. 3 Abs. 1, 3; Art. 33 Abs. 2, 3; Art. 4 Abs. 1, 2;


Art. 12 Abs. 3; Art. 101 Abs. 1 S. 2
EMRK Art. 9; Art. 14
AGG § 7 Abs. 1
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entsc
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR heidungen/DE/2015/01/rs20150127_1bvr047110.html
1181/101 (26.5.2015).
2
BVerfGE 41, 29/65/88.
3
BVerfGE 52, 223.
4
BVerfGE 93, 1.
1 5
Abgedruckt in NJW 2015, 1359; im Internet abrufbar unter BVerfGE 108, 282.
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299
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 Wißmann
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II. Entscheidung hervorzurufen. Die Berufungen vor dem Landesarbeitsgericht


1. Sachverhalt und Entscheidungsinhalt blieben erfolglos, die Revisionen vor dem Bundesarbeitsge-
richt wurden abgewiesen.
Die beiden Beschwerdeführerinnen haben die deutsche
Das Bundesverfassungsgericht hat die arbeitsrechtlichen
Staatsbürgerschaft, sind türkischer Abstammung und musli-
Maßnahmen aufgehoben, das Gebot religiöser Zurückhaltung
mischen Glaubens. Sie unterrichteten als Angestellte des
nach § 57 Abs. 4 S. 1 f. SchulG NW einer verfassungskon-
Landes Nordrhein-Westfalen als Sozialpädagogin bzw. als
formen Auslegung unterzogen und die Privilegierung „christ-
Lehrerin im muttersprachlichen Unterricht in türkischer
licher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder
Sprache. Während der Unterrichtszeit trugen beide ein isla-
Traditionen“ nach S. 3 für verfassungswidrig und nichtig er-
misches Kopftuch, was sie mit ihrer religiösen Überzeugung
klärt. Die Entscheidung erging mit 6:2 Stimmen, Bundesver-
begründeten.
fassungsrichterin Hermanns und Bundesverfassungsrichter
Nach der Kopftuch-I-Entscheidung erließ NRW im Jahr
Schluckebier haben ein gemeinsames Sondervotum erstattet.
2006 ebenso wie andere Bundesländer ein grundsätzliches
Verbot religiöser Bekundungen durch Lehrkräfte. § 57 Abs. 4
2. Argumentation des BVerfG
SchulG lautete danach:
„(4) Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine Der 1. Senat konzentriert sich auf zwei zentrale Argumente:
politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äu- Das Verbot religiöser Bekundungen durch Lehrkräfte in der
ßere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität Schule sei unverhältnismäßig, wenn es bereits auf eine abs-
des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie trakte Gefahrenlage bezogen werde. Zweitens sei eine Bes-
Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschauli- serstellung bestimmter religiöser Äußerungen gleichheits-
chen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere rechtlich verboten.
ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülerin- Zum ersten Punkt führt das BVerfG aus, dass ein „Verbot
nen und Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild,
kann, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer gegen die Men- das bereits die abstrakte Gefahr einer Beeinträchtigung des
schenwürde, die Gleichberechtigung nach Artikel 3 des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität ausreichen
Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich- lässt, […] im Blick auf die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit
demokratische Grundordnung auftritt. Die Wahrnehmung des der Pädagogen jedenfalls unangemessen und damit unver-
Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfas- hältnismäßig [ist], wenn die Bekundung nachvollziehbar auf
sung des Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende ein als verpflichtend empfundenes religiöses Gebot zurück-
Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und führbar ist.“6 Dabei geht der Senat – wie inzwischen weitge-
Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhal- hend anerkannt – davon aus, dass die Grundrechte der Lehr-
tensgebot nach Satz 1. Das Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt kräfte auch während des Dienstes gelten. Es läge ein erhebli-
nicht im Religionsunterricht und in den Bekenntnis- und cher Eingriff in das Grundrecht auf Glaubens- und Bekennt-
Weltanschauungsschulen.“ nisfreiheit vor, da das Bedeckungsgebot in der Öffentlichkeit
Nach dem Inkrafttreten der Bestimmung wurden die Be- für die Beschwerdeführerinnen nachvollziehbar als religiös
schwerdeführerinnen durch die Schulbehörde bzw. den verpflichtend aufgefasst werde. Eine Rechtfertigung käme
Schulleiter aufgefordert, das islamische Kopftuch während angesichts der zunächst schrankenlosen Gewährleistung der
des Unterrichts abzulegen. Die Beschwerdeführerin I kam der Religionsfreiheit nur bei verfassungsimmanenten Schranken
Aufforderung nach, ersetzte aber das islamische Kopftuch in Betracht.7 Der Schulgesetzgeber verfolge insoweit legitime
durch eine Baskenmütze und einen Rollkragenpullover, so Ziele, u.a. den grundrechtlichen Schutz vor religiöser Indokt-
dass die Haare, der Haaransatz, die Ohren und der Hals wei- rination und den Schutz des Schulfriedens als Voraussetzung
terhin bedeckt blieben. Die Beschwerdeführerin II widersetz- des staatlichen Erziehungsauftrags.8 Doch könne ein solcher
te sich der Aufforderung und unterrichtete weiterhin mit Eingriff erst bei einer engeren Auslegung der Verbotsnorm
einem islamischen Kopftuch. gerechtfertigt werden. Denn die entgegenstehenden Rechts-
Beide erhielten von der Schulbehörde bzw. dem Land güter seien durch das Verhalten selbst typischerweise gerade
Nordrhein-Westfalen eine schriftliche Abmahnung mit der (noch) nicht gefährdet; insbesondere gebe es keinen An-
Ankündigung, dass das Arbeitsverhältnis bei unverändertem spruch auf einen religionsfreien öffentlichen Raum.9 Erfor-
Verhalten gekündigt würde. Begründet wurde dies in beiden derlich sei eine hinreichend konkrete Gefahr für den Schul-
Fällen mit der Gefährdung des Schulfriedens und der Wah- frieden. Eine solche Gefahr könne vorliegen, wenn Dritte
rung der staatlichen Neutralität. „sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck“ in den Schulen
Die Klagen vor dem Arbeitsgericht gegen die Entfernung
der Abmahnung aus der Personalakte der Beschwerdeführe- 6
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR
rinnen und die spätere Kündigung der Beschwerdeführerin II 1181/10, Rn. 80.
wurden mit der Begründung abgewiesen, dass es sich bei 7
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR
dem Tragen einer Baskenmütze sowie dem Tragen eines 1181/10, Rn. 83 ff.
islamischen Kopftuchs um eine an die Außenwelt gerichtete 8
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR
Kundgabe religiöser Überzeugung handele. Diese sei im Sinn 1181/10, Rn. 97 ff.
der genannten Vorschrift dazu geeignet eine Gefährdung des 9
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR
Schulfriedens oder der staatlichen Wahrung der Neutralität 1181/10, Rn. 100 ff.
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ZJS 3/2015
300
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 Wißmann
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hineintrügen; ggfs. könne eine solche Lage dann „über eine druckskraft hätten; insofern hätte die Trägerin einer Basken-
gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden“ sein. Freilich mütze auch nach Auffassung des Sondervotums keinen ar-
sei auch dann eine anderweitige Verwendungsmöglichkeit beitsrechtlichen Maßregelungen ausgesetzt werden dürfen.
der betroffenen Lehrkräfte in Betracht zu ziehen.10 Die verfassungskonforme Auslegung des § 57 Abs. 4 S. 3
Zum zweiten wendet sich der Senat dann der Privilegie- (Schutz der Darstellung „abendländischer“ Traditionen), die
rungsvorschrift des § 57 Abs. 4 S. 3 zu. Das Argument, diese die Fachgerichte vorgenommen hätten, sei zu Unrecht ver-
Norm überhaupt zu prüfen, lautet: „Die Prüfung der Norm ist worfen worden.
auch auf Satz 2 und Satz 3 des § 57 Abs. 4 SchulG NW zu
erstrecken, obgleich sich die Arbeitsgerichte ausdrücklich nur III. Bewertung und Ausblick
auf das Bekundungsverbot des Satzes 1 gestützt haben. Der 1. Religionsverfassungsrechtliche Verortung
Regelung liegt ein einheitliches Konzept zugrunde. […] Der
Die positive Grundhaltung gegenüber der Religion ist verfas-
von den Beschwerdeführerinnen beanstandete Satz 3 knüpft
sungsrechtlich ein wesentliches Rechtfertigungselement der
gleichfalls an Satz 1 an und ist in die Prüfung einzubeziehen,
allgemeinen öffentlichen Pflicht-Schule. Denn Religion ist
weil seine Privilegierung christlicher und jüdischer Religio-
ein wesentlicher (möglicher) Faktor persönlicher Identität,
nen den Beschwerdeführerinnen bei der Anwendung des
der geachtet werden muss, will staatliche Erziehung legitim
Satzes 1 gleichheitswidrig nicht zugute kommt.“11
gestaltet sein. Das gilt im religionsneutralen Staat prinzipiell
Dazu ist anzumerken, dass diese letztgenannte Vorschrift
für alle Religionen im gleichen Sinn. Daraus sind Folgerun-
in der Tat der politische Kern des Streits nach „Kopftuch I“
gen für die Rechtsstellung der Lehrkräfte zu ziehen: Das vom
war: Die vielfach gewünschte Zurückdrängung des Kopf-
Bundesverfassungsgericht vorgegebene Gesamtziel der „Ent-
tuchs sollte mit einer Absicherung insbesondere christlicher
faltung der Persönlichkeit“ der Schülerinnen und Schüler
Symbole verknüpft werden. Mehrere Gerichte hatten darauf-
verlangt einen „im Angesicht der Kinder“ gestalteten Unter-
hin eine verfassungskonforme Auslegung der entsprechenden
richt, der sich nicht als Vollzug abstrakter Vorgaben rekon-
neuen Vorschriften vorgenommen.12 Das entsprechende Ar-
struieren lässt, sondern stets gerade auch vom konkreten
gument des BAG im vorliegenden Rechtsstreit zielte auf den
Geschehen vor Ort seine Legitimation empfängt. Aus diesem
Unterschied zwischen der (verbotenen) „Bekundung“ des
Grund ist die Rolle und Rechtsstellung der einzelnen Lehr-
Glaubens und der (für christlich-jüdische Bildungs- und Kul-
kräfte vergleichsweise stark – ohne ihre Gestaltungskraft und
turwerte oder Traditionen erlaubten) „Darstellung“. Das
ihre Persönlichkeit kann (Pflicht-)Schule auch in verfas-
BVerfG weist jedoch darauf hin, dass es im Gesetzgebungs-
sungsrechtlicher Sicht nicht gelingen.
verfahren und allerorten ausdrücklich darum gegangen sei,
Die Einsicht in diese Zusammenhänge hat der Rechtspre-
christlich oder jüdisch begründete Kleidungsvorschriften
chung des BVerfG seit jeher zugrundgelegen. Daher ist zu
(„Nonnenhabit und Kippa“) zu schützen, also gerade doch ein
betonen, dass die in der Einleitung genannten Entscheidun-
religiöses Privileg zu errichten. Daher sei eine geltungserhal-
gen eine gemeinsame Linie bilden und trotz unterschiedlicher
tende Auslegung der klar gleichheitswidrigen Norm nicht
Akzente nicht etwa im Widerspruch zueinander stehen: Im-
möglich.13
mer geht es darum, gleichzeitig einen Raum für Religion in
Die Entscheidung prüft im letzten Abschnitt noch weitere
der öffentlichen Schule zu ermöglichen und dabei zugleich
rechtliche Implikationen, insbesondere in Bezug auf die
den Schutz vor staatlicher Überwältigung zu sichern. Um
EMRK, ohne insoweit das Ergebnis zu verändern.14
diesen doppelten Grundsatz durchzusetzen, kann religiöse
Das anschließende Sondervotum wirft der Mehrheitsent-
Überzeugung nicht staatlich verordnet werden (kein Kruzifix
scheidung vor, diejenigen Verfassungsrechtsgüter zu gering
an der Wand), sehr wohl aber auch durch Lehrkräfte in die
veranschlagt zu haben, die der religiösen Freiheit der Lehr-
Schule eingebracht werden (durch Kopftuch wie Nonnenha-
kräfte entgegenstehen. Insbesondere sei auch der Gestal-
bit wie Kippa), weil ihnen zugleich zugetraut und abverlangt
tungsspielraum des Landesgesetzgebers bei der Ausgestal-
wird, dass sie ihre Überzeugung nicht missionarisch verfol-
tung der multipolaren Grundrechtsverhältnisse missachtet
gen, sondern stets ihr Gegenüber in seiner Identität achten
worden, der sich für die gefundene Regelung (Abwehr einer
und einbeziehen. Deswegen setzt auch die im Sondervotum
abstrakten Gefahr) auf „Kopftuch I“ habe berufen können.
starkgemachte Frage nach der Bedrängung von Schü-
Richtigerweise sei statt des von der Mehrheit gewählten An-
ler(innen) und Dritten durch glaubensstarke Lehrkräfte auf
satzes (konkrete Gefahr) zu unterscheiden, ob die in Rede
der falschen Ebene an: Selbstverständlich wäre eine missio-
stehenden religiösen Bekundungen starke religiöse Aus-
nierende, den Gegenüber bedrängende Haltung unzulässig –
aber darauf kann durch das äußerliche Zeichen des Kopftuchs
10
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR nach zutreffender Auffassung der Senatsmehrheit gerade
1181/10, Rn. 113 ff. noch nicht geschlossen werden. Und ist dann nicht in der Tat
11
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR erst einmal naheliegend, dass kopftuchtragende Lehrerinnen
1181/10, Rn. 79. mit Migrationshintergrund, die Studium und Referendariat in
12
Vor allem BVerwGE 121, 140 (147 ff.). Deutschland mit Erfolg abgeschlossen haben, gerade nicht
13
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR für Abschottung und die Zurückstufung der Frau stehen,
1181/10, Rn. 123 ff. sondern für das Gegenteil, für den eigenen Weg, zu dem sie
14
BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR auch ihre Schülerinnen und Schüler bestärken können?
1181/10, Rn. 139 ff.
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BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 Wißmann
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Für die Herausforderungen der pluralen Gesellschaft kann scheint es insgesamt zulässig, die gesamte Regelung zu prü-
die Entscheidung daher nur begrüßt werden. Dabei ist es fen – zumal die Ausnahmeregelung des S. 3 angesichts der
keine Frage: Wenn hier für den besonderen Ort Schule ein verfassungskonformen Interpretation der Grundregel in S. 1 f.
verpflichtendes Toleranzgebot vorgegeben wird, sind damit zukünftig leergelaufen wäre.
neue Anstrengungen verbunden. Aber was wäre schulpoli- Schwerer wiegt drittens der Einwand, die Entscheidung
tisch die Alternative? Wer die Religion aus der Schule aus- missachte den Gestaltungsspielraum des Landesgesetzgebers,
sperrt, treibt Außenseiter ebenso wie Eliten letztlich in ein der sich in den vorgespurten Pfaden von „Kopftuch-I“ be-
abgesondertes, klientelbezogenes Schulwesen. wegt habe. Denn hier ist die Frage der institutionellen Selbst-
ermächtigung des Senats gleich in doppelter Weise aufgewor-
2. Verfassungsprozessuale und schulpraktische Aspekte fen. Überschreitet der Senat das Mandat des Verfassungsge-
Gegen die Entscheidung sind verschiedene Bedenken erho- richts? Hätte er wenigstens das Plenum des BVerfG anrufen
ben worden. Vier Aspekte können unterschieden werden: müssen, weil er von einer Vorentscheidung abweicht (§ 16
Nicht weiter verfolgt werden muss aus verfassungsrechtlicher BVerfGG)?
Sicht der erste Einwand, die Entscheidung sei eine Schwä- Insofern wird zu unterscheiden sein: Das fortgesetzte
chung der kulturellen Grundlagen unseres Gemeinwesens, Wechselspiel zwischen Gesetzgebung und Verfassungsrecht-
weil die hervorgehobene Rolle des Christentums gefährdet sprechung ist ein markantes Kennzeichen unserer Rechtsord-
werde. Das Grundgesetz verhält sich zur Religion positiv, nung. Tatsächlich ist Parlamentsgesetzgebung inzwischen oft
aber gegenüber den Religionen neutral. Rechtsprechungsfolgengesetzgebung und nicht freie Dezisi-
Mit dem Verhältnis der Religionen hängt zweitens auch on. Je nach Sujet bittet die politische Praxis geradezu um
zusammen, ob und wie die Sondervorschrift nach § 57 Abs. 4 Maßgaben, wie denn Regelungen verfassungsfest getroffen
S. 3 SchulG hier einzubeziehen war. Richtig ist, dass die werden können. Positiv gewendet können solche Hinweise
Entscheidung des BVerfG auch ohne Normverwerfung als Teil eines fortgesetzten Kommunikationszusammenhangs
gleichlautend hätte getroffen werden können. Der Senat be- zwischen den Staatsfunktionen bezeichnet werden. Und nicht
dient sich eines Kunstgriffs, indem er feststellt, die Be- immer widerstehen Verfassungsgerichte den damit verbunde-
schwerdeführerinnen hätten sich gleichheitswidrig nicht auf nen Versuchungen in hinreichendem Maß. Richtigerweise
diese Norm berufen dürfen. In der Sache wird man dieser wird aber eine verfassungsgerichtliche Kontrolle sich nicht
etwas bemühten Konstruktion zustimmen können: Gerade in darauf festlegen lassen, ob der Gesetzgeber die Hinweise zu-
der Unterscheidung der Religionen liegt die Pointe der nun treffend aufgenommen und umgesetzt hat: Denn mit der (ja
verworfenen Regelung. Hätte sich nicht ein Weg formulieren tatsächlich stets eigenständig ausgestalteten) Rechtsetzung
lassen, christlich-jüdische Religionsübungen zu schützen, hat eine gesetzliche Regelung einen prinzipiellen Eigenwert,
wären die Antikopftuchgesetze in der Mehrzahl der betref- der auf der anderen Seite auch wieder zu einer umfänglichen
fenden Länder kaum ergangen (so in Baden-Württemberg, Kontrolle berechtigt. Zusammengefasst: Der Ärger der Lan-
Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland; auf despolitik, die sich mit ihrer Regelung auf der sicheren Seite
die Unterscheidung verzichten allerdings bei ihrer Regelung wähnte, ist nachvollziehbar, eine Grenzüberschreitung durch
Berlin, Bremen und Niedersachsen; keine Regelung wurde in das BVerfG liegt insoweit aber nicht vor. Ganz im Gegenteil:
Brandenburg, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen- Die Überlegung in manchen Gesetzgebungsstuben, Karlsruhe
Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und Mecklenburg- werde „nicht nochmal nachlegen“, geht nicht sicher auf – und
Vorpommern getroffen). Es liegt nun aber nahe, genau in das ist auch gut so.
dieser Unterscheidung eine kaum verhüllte Doppelbödigkeit Intrikat ist nun aber die Frage, ob der 1. Senat nicht zu-
auszumachen: Nach „außen“ Darstellung von Kultur, nach mindest das Plenum des BVerfG hätte anrufen müssen, weil
„innen“ aber (natürlich!) doch „Bekundung“ des christlichen er „in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des
Glaubens. Dieses Konzept will an die gelungene dialektische anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung“ abweicht
Ausrichtung der christlichen Gemeinschaftsschule als Schule (§ 16 Abs. 1 BVerfGG). Das ist insbesondere in Bezug auf
für alle Staatsbürger anknüpfen.15 Ihm unterläuft aber ein die neu formulierten Anforderungen an die Gefahrenlage
Kategorienfehler: Dort ging es um die Institution Schule, die angeführt worden, die von einer Regelung erfasst sein könn-
mit christlichen Inhalten so umgehen muss, dass sie auch für te. Hatte nicht „Kopftuch I“ gerade (nur) für abstrakte Gefah-
Nichtgläubige als Kulturwerte unterrichtet werden können ren eine gesetzliche Regelung verlangt – und eben auch
(und dabei für Christen im gleichen Moment durchaus auch schon verbindlich für möglich gehalten? Auch das Sondervo-
weiter Glaubenswahrheit zur Grundlage haben kann) – hier tum (u.a. der aus dem 2. Senat nach § 19 Abs. 4 BVerfGG
hingegen darum, persönliche Grundrechtsausübung in kultu- zugelosten Richterin Hermanns) deutet diese Richtung an,
relle Übung umzudeuten. Das kann aber genauso wenig ge- wenn es von „Hinweisen und Maßgaben“ des anderen Senats
lingen wie bei eindeutig religiösen Symbolen,16 und schon spricht. Letztlich überzeugt jedoch auch dieser Einwand
gar nicht überzeugt ein solches Vorgehen, wenn es nur be- nicht, wie sich aus der näheren Ansicht der Vorentscheidung
stimmten Religionen angeboten wird. Angesichts der deshalb ergibt. Die Formel der damaligen Entscheidung lautete:
bestehenden engen Verbindung der Regelungselemente er- „Dem zuständigen Landesgesetzgeber steht es jedoch frei, die
bislang fehlende gesetzliche Grundlage zu schaffen, etwa
15
indem er im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben
BVerfGE 41, 29. das zulässige Maß religiöser Bezüge in der Schule neu be-
16
BVerfGE 93, 1.
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ZJS 3/2015
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BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 Wißmann
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stimmt. Dabei hat er der Glaubensfreiheit der Lehrer wie nicht als eigentliche Zielrichtung der Entscheidung missver-
auch der betroffenen Schüler, dem Erziehungsrecht der Eltern standen werden. Daher ist nun (möglichst durch gesetzliche
sowie der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Klarstellungen) erst einmal dafür Sorge zu tragen, dass als
Neutralität in angemessener Weise Rechnung zu tragen.“ Normalfall religiöse Bekundungen von Lehrkräften in den
Und dann weiter: „Der mit zunehmender religiöser Pluralität Schulen ohne Störungen ermöglicht werden – und den Lehr-
verbundene gesellschaftliche Wandel kann Anlass zu einer kräften zugleich verdeutlich wird, dass dies kein Sieg des
Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge religiösen Fundamentalismus, sondern das selbstbewusste
in der Schule sein. Aus einer hierauf zielenden Regelung in Signal einer freiheitlich-toleranten Rechtsordnung ist, für die
den Schulgesetzen können sich dann für Lehrkräfte Konkreti- sie einzustehen haben, nicht zuletzt zugunsten derer, die
sierungen ihrer allgemeinen beamtenrechtlichen Pflichten anders oder Anderes glauben.
auch in Bezug auf ihr äußeres Auftreten ergeben, soweit Prof. Dr. Hinnerk Wißmann, Münster
dieses ihre Verbundenheit mit bestimmten Glaubensüberzeu-
gungen oder Weltanschauungen deutlich werden lässt. Inso-
weit sind unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorga-
ben auch gesetzliche Einschränkungen der Glaubensfreiheit
denkbar.“ Danach hatte die damalige Entscheidung sowohl
die bewusste Stärkung religionsbezogener Toleranz als auch
die striktere, distanziertere Behandlung der Religion als
grundsätzliche Handlungsmöglichkeiten benannt, die sich
freilich jeweils an den vorgenannten Maßstab zu halten hät-
ten.17 Angesichts dieser ganz offen gehaltenen Perspektiven
der damaligen Entscheidung bestand allerdings jetzt für eine
förmliche Entscheidung des Plenums kein Anlass und letzt-
lich gar kein Raum: Denn über den jetzigen Streitgegenstand
hatte der 2. Senat nicht entschieden, ja gar nicht entscheiden
können. Eine Gesamtsaldierung der verfassungsrechtlichen
Belastungen, die durch eine spätere Regelung eingetreten
sind, war in „Kopftuch I“ nicht vorweggenommen worden.
Vielmehr war für die Gestaltungsentscheidung des Gesetzge-
bers ausdrücklich vorbehalten, dass die verfassungsrechtli-
chen Maßgaben in diesem heiklen Feld zu beachten seien. Es
wäre freilich zu wünschen gewesen, dass der 1. Senat das
Verhältnis der Entscheidungen klarer herausgearbeitet hätte.
Dabei wäre sogar die Chance gegeben gewesen, das komple-
xe Verhältnis des „Doppelgerichts“ fortzuentwickeln und
Maßstäbe für eine Auseinandersetzung mit älterer Judikatur
zu benennen.
Ein letzter Einwand betrifft die Frage, wie die Praxis die
neuen Vorgaben umsetzen soll. Teilweise entstand in den
ersten Reaktionen der Eindruck, dass nun Handreichungen
nachgefragt würden, wie denn der nötige Unfrieden in der
Schule zu organisieren sei, damit das Kopftuchverbot doch
aufrechterhalten werden könne. Dem sind Wortlaut und Telos
der Entscheidung entgegenzuhalten: Das BVerfG verpflichtet
alle Beteiligten auf Toleranz; das Kopftuch selbst ist gerade
noch keine Gefahr. Freilich sind religiöse Bekundungen
durchaus danach zu bewerten, wie massiv sie auftreten und in
welcher konkreten Umgebung sie sich auswirken. Die osten-
tative, geradezu uniformierte Bekleidung bleibt verboten
ebenso wie die missionarische Haltung. Dies vorausgesetzt
gilt, dass dort, wo doch Gefahr entsteht, zunächst den Störern
entgegenzutreten ist, durch Erziehungs- und Ordnungsmaß-
nahmen, ggfs. durch die Umsetzung von renitenten Schülern
usw.: Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen. Wenn das
BVerfG hier kompromisshaft auch abstrakte Regelungen
zulasten der religiösen Lehrkraft für möglich hält, sollte das

17
BVerfGE 108, 282 (309 f.).
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303
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14 Kümper
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Entscheidungsanmerkung künftig mit einiger Wahrscheinlichkeit – in ggf. modifizierter


Form – in der Studien- und Examenspraxis wiederkehren.
Ausschluss aus dem Gemeinderat wegen „Verwirkung
der Unbescholtenheit“ II. Sachverhalt3
§ 31 Abs. 1 der rheinland-pfälzischen Gemeindeordnung
1. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl gebietet, (RhPfGemO) trifft folgende – bundesweit einmalige – Rege-
dass die Innehabung des Mandats ohne Dazwischentreten lung:
eines dritten Willens auf die Wahlentscheidung des Wäh- „Ein Ratsmitglied, das nach seiner Wahl durch Urteil ei-
lers zurückzuführen sein muss. Eine Entscheidung Drit- nes deutschen Strafgerichts rechtskräftig zu einer Freiheits-
ter über den Fortbestand des Mandats berührt den strafe von mindestens drei Monaten verurteilt wird, kann
Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, wenn sie den durch Beschluß des Gemeinderats aus dem Gemeinderat aus-
Erfolg des Wählervotums – das Gewähltsein – als solches geschlossen werden, wenn es durch die Straftat die für ein
in Frage stellt, nicht hingegen, wenn sie den Mandatsver- Ratsmitglied erforderliche Unbescholtenheit verwirkt hat.
lust an wahlfremde Umstände anknüpft. Der Gemeinderat kann den Beschluß nur innerhalb eines
2. Die Wahrung oder Wiederherstellung der Fähigkeit Monats, nachdem er von der Verurteilung Kenntnis erhalten
des Gemeinderates, seine gesetzlichen Aufgaben wahrzu- hat, fassen. Der Bürgermeister hat den Gemeinderat zu unter-
nehmen, kann einen Grund des gemeinen Wohls darstel- richten, sobald er von der Verurteilung Kenntnis erhält.“
len, der die mit dem Ausschluss eines Ratsmitgliedes ver- Der Kläger wurde bei der Kommunalwahl im Jahre 2009
bundene Einschränkung der passiven Wahlrechtsgleich- in den Rat der beklagten Stadt gewählt. Ende 2010 wurde er
heit zu rechtfertigen vermag. Demgegenüber reicht die wegen in Mittäterschaft begangener gefährlicher Körperver-
Absicht, das Ansehen des Gemeinderates oder das Ver- letzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten auf Be-
trauen der Wähler in dessen Integrität zu schützen, hier- währung verurteilt. Der Kläger hatte im Zuge des Wahlkamp-
zu nicht hin. fes gemeinsam mit Gleichgesinnten einen politischen Gegner,
(Amtliche Leitsätze) welcher Wahlplakate der Partei des Klägers abgerissen hatte,
mit Faustschlägen und Tritten traktiert.
GG Art. 28 Abs. 1 S. 2 Nach Rechtskraft des strafgerichtlichen Urteils schloss
VwGO § 113 Abs. 1 S. 4 der Rat der Beklagten den Kläger auf der Grundlage des § 31
RhPf-GemO § 31 Abs. 1 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO aus dem Stadtrat aus. Er begründete
dies damit, die politische Willensbildung und die Vertretung
BVerwG, Urt. v. 21.01.2015 – 10 C 11.141 der Bevölkerung könne nur durch integre Ratsmitglieder
erfolgen; der Kläger habe durch sein Verhalten das Vertrau-
I. Einleitung ensverhältnis zum Wähler nachhaltig gestört und sich seiner
Die Wahlrechtsgrundsätze gehören zum klassischen Kernbe- Wahl unwürdig erwiesen.
stand des öffentlich-rechtlichen Prüfungsstoffs in Studium Der Kläger griff diesen Ratsbeschluss im Wesentlichen
und Referendarexamen.2 In Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG für die unter Berufung auf die (Bundes- wie Landes-)Verfassungs-
Wahlen zum Deutschen Bundestage festgelegt, werden sie widrigkeit des § 31 RhPfGemO an. Unter anderem würden
durch Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG den Ländern auch für Wahlen die auch für Kommunalwahlen geltenden Wahlrechtsgrund-
auf Landes-, Kreis- und Gemeindeebene bundesverfassungs- sätze der Allgemeinheit, der Gleichheit und der Unmittelbar-
rechtlich verbindlich vorgeschrieben und haben im Landes- keit der Wahl verletzt. VG und OVG gelangten indes zur
recht eine entsprechende Regelung erhalten. In der hier anzu- Verfassungskonformität der Vorschrift und erachteten den
zeigenden aktuellen Entscheidung des BVerwG zum im An- Ausschluss des Klägers aus dem Stadtrat für rechtmäßig. Bei
schluss an eine strafgerichtliche Verurteilung erfolgten Aus- der turnusmäßigen Kommunalwahl im Jahre 2014 wurde der
schluss eines Ratsmitglieds aus dem Gemeinderat wegen Kläger nicht mehr in den Stadtrat der Beklagten gewählt.
„Verwirkung der Unbescholtenheit“ erfahren die Wahlrechts-
grundsätze eine besondere Verknüpfung mit klassischen III. Zentrale Entscheidungsgründe
verwaltungsprozessualen Fragen der Fortsetzungsfeststel- Mit seiner Revision hatte der Kläger dagegen Erfolg. Das
lungsklage sowie mit einigen kleineren Problemkreisen wie BVerwG stellte unter Abänderung der klageabweisenden Ur-
der Gesetzgebungskompetenz, dem Verbot der Doppelbestra- teile des VG und des OVG fest, dass der Ausschluss des
fung und dem Bestimmtheitsgebot. Damit bietet sich der Fall Klägers aus dem Gemeinderat rechtswidrig war.
als Vorlage für Prüfungsaufgaben nachdrücklich an und wird
1. Das Fortsetzungsfeststellungsinteresse
Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung war zunächst dem Um-
1
Abrufbar unter juris, abgedruckt in KommJur 2015, 134, stand Rechnung zu tragen, dass zwischenzeitlich die Wahlpe-
vorgesehen für BVerwGE. riode, für welche der Kläger in den Rat der Beklagten ge-
2
Einschlägige Übersichten bei Degenhart, Staatsrecht I,
Staatsorganisationsrecht, 30. Aufl. 2014, Rn. 77 ff.; Morlok/
3
Michael, Staatsorganisationsrecht, 2. Aufl. 2014, Rn. 195 ff.; Ausführlich BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14,
Grzeszick, Jura 2014, 1110. Rn. 1-10 (juris).
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BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14 Kümper
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wählt war, abgelaufen war. Somit hatte sich das ursprüngli- § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO zum Strafrecht zu klären, na-
che Begehren des Klägers, den Ratsbeschluss über den Aus- mentlich zu § 45 StGB, der als strafrechtliche Nebenfolge
schluss aufzuheben (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO), erledigt, und den Verlust der Wählbarkeit vorsieht und somit ebenfalls den
es fragte sich, ob das Begehren mit der Fortsetzungsfeststel- Mandatsverlust bewirkt, allerdings eine Verurteilung wegen
lungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) weiter verfolgt werden Verbrechens (§ 12 Abs. 1 StGB) und zu einer Freiheitsstrafe
konnte. Zentrale Voraussetzung hierfür ist ein Fortsetzungs- von mindestens einem Jahr voraussetzt.
feststellungsinteresse.4 Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse Der Bund hat durch Erlass des StGB und verschiedener
ist anzuerkennen bei drohender Wiederholungsgefahr, im strafrechtlicher Nebengesetze seine konkurrierende Gesetz-
Falle eines bestehenden Rehabilitationsinteresses oder als gebungsbefugnis für das Strafrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1
Präjudizinteresse zur Vorbereitung eines Amtshaftungs- oder GG abschließend wahrgenommen,9 so dass den Ländern in
Entschädigungsprozesses;5 ferner kommt es in bestimmten diesem Bereich ein gesetzgeberisches Tätigwerden versperrt
Fällen tiefgreifender Grundrechtsbeeinträchtigungen in Be- ist, vgl. Art. 72 Abs. 1 GG. § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO ent-
tracht, sofern es sich um typischerweise sich kurzfristig erle- hält jedoch, wie das BVerwG – ebenso wie zuvor bereits VG
digende Hoheitsakte handelt, die andernfalls einer gerichtli- und OVG – mit Recht ausführt, kein Strafrecht im Sinne des
chen Klärung nicht zugeführt werden könnten.6 Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG:10 Strafnormen pönalisieren straf-
Hier nahm das BVerwG zu Recht ein Rehabilitierungsin- würdiges Unrecht, knüpfen somit an den Unrechts- und
teresse an, weil der Beschluss über den Ausschluss aus dem Schuldgehalt einer Tat an.11 So schließt § 45 StGB die allge-
Stadtrat ein „eigenständiges Unwerturteil“ enthält und eine meine Wählbarkeit des Täters aufgrund des Unrechtsgehalts
erfolgreiche Klage den Ansehensverlust des Klägers in der der abgeurteilten Tat für bestimmte Zeit aus. Demgegenüber
Öffentlichkeit wieder ausgleichen kann.7 Dagegen bestand rechtfertigt sich der Ausschluss auf der Grundlage von § 31
keine Wiederholungsgefahr, weil ein erneuter Ausschluss des Abs. 1 S. 1 RhPfGemO nicht aus dem Unrechts- und Schuld-
Klägers aus dem Gemeinderat im Anschluss an eine künftige gehalt der Anlasstat, sondern aus den negativen Folgen der
Kommunalwahl nicht mehr auf dieselbe strafgerichtliche Verurteilung für die künftige Verwaltungstätigkeit des Ge-
Verurteilung gestützt werden dürfte wie der streitgegenständ- meinderates. § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO verfolgt daher
liche. Auch ein Fall der typischerweise kurzfristigen Erledi- keinen Strafzweck; Bezugspunkt, so das BVerwG prägnant,
gung lag nicht vor, zumal bereits zwei Instanzen – noch vor ist „nicht der Täter, sondern der Gemeinderat selbst“. Ent-
Erledigung – über die Rechtmäßigkeit des Ratsbeschlusses sprechend hatten auch VG und OVG bereits den kommunal-
entscheiden konnten. Und schließlich war ein Präjudizinte- rechtlichen Charakter der Vorschrift betont.
resse ebenfalls zu verneinen, weil Schadensersatzansprüche Lässt sich § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO nicht als Straf-
des Klägers bereits mangels Schadens von vornherein nicht norm einordnen, so muss auch ein Verstoß gegen das Verbot
in Frage kamen. Insofern ging der Verweis des Klägers auf der Doppelbestrafung (ne bis in idem) gem. Art. 103 Abs. 3
die ihm entgangenen Sitzungsgelder fehl, denn die einschlä- GG ausscheiden, weil der Kläger über die strafgerichtliche
gigen Vorschriften der Gemeindeordnungen über die Ent- Verurteilung hinaus durch den Ausschluss aus dem Gemein-
schädigung der Gemeinderäte bzw. der ehrenamtlich Tätigen derat nicht ein weiteres Mal bestraft wird.12 Der Begriff der
sollen allein einen sitzungsbedingten Nachteil ausgleichen, Strafe bezieht sich in Art. 103 Abs. 3 GG ebenfalls allein auf
den der Kläger nach seinem Ausschluss aus dem Rat ja über- Sanktionen nach dem Kriminalstrafrecht und vergleichbare,
haupt nicht mehr erleiden konnte.8 an den Unrechts- und Schuldgehalt der begangenen Tat an-
knüpfende Maßnahmen.13
2. Das Verhältnis zum Strafrecht (Gesetzgebungskompetenz,
Verbot der Doppelbestrafung)
Im Rahmen der Begründetheitsprüfung stand die Verfas-
sungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage für den Aus- 9
Vgl. etwa Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. II, 6. Aufl.
schluss aus dem Gemeinderat – § 31 RhPfGemO – ganz im
2012, Art. 74 Rn. 14; für den Bereich des Nebenstrafrechts
Mittelpunkt. Hier hatte das BVerwG zunächst mit Blick auf
offener Oeter, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. II,
die Gesetzgebungskompetenz des Landes das Verhältnis des
6. Aufl. 2010, Art. 74 Rn. 20.
10
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 16 (juris).
4 11
Umfassend zur Fortsetzungsfeststellungsklage Hufen, Ver- Vgl. etwa BVerfGE 22, 49 (79 ff., Verhängung von Krimi-
waltungsprozessrecht, 8. Aufl. 2011, § 18 Rn. 36 ff., § 29 nalstrafen durch die Finanzämter); 109, 190 (211 ff., Straftä-
Rn. 13 ff.; Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 3. Aufl. terunterbringungsgesetze der Länder); Oeter (Fn. 9), Art. 74
2011, Rn. 640 ff.; Wolff, in: Wolff/Decker, Studienkommen- Rn. 14; Degenhart, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 74
tar VwGO/VwVfG, 3. Aufl. 2012, § 113 VwGO Rn. 87 ff. Rn. 10.
5 12
Vgl. zum Fortsetzungsfeststellungsinteresse nur die Über- BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 18 (juris);
sichten bei Hufen (Fn. 4), § 18 Rn. 47 ff.; Würtenberger ebenso bereits zuvor VG Trier, Urt. v. 8.5.2012 – 1 K
(Fn. 4), Rn. 652 ff.; Wolff (Fn. 4), § 113 VwGO Rn. 108 ff. 1302/11.TR, Rn. 33 (juris); OVG RhPf, Urt. v. 15.3.2013 –
6
Hierzu aus der jüngeren Rechtsprechung vor allem 10 A 10573/12, Rn. 37 (juris).
13
BVerwGE 146, 303 Rn. 29. Siehe etwa Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln,
7
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 14 (juris). GG-Studienkommentar, 2013, Art. 103 Rn. 22; Pieroth, in:
8
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 13 (juris). Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 103 Rn. 72.
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BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14 Kümper
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Anders als noch die Vorinstanzen, geht das BVerwG dass bestimmte Teile der Bevölkerung vom Wahlrecht ausge-
nicht mehr auf die rechtsstaatlich gebotene Bestimmtheit14 schlossen werden.21 Die Wählbarkeit, um die es hinsichtlich
des § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO ein. VG und OVG hatten der passiven Allgemeinheit der Wahl geht, wird indes durch
bereits eingehend dargelegt, dass die Formulierung „Verwir- den Ausschluss aus dem Gemeinderat für die laufende Wahl-
kung der für einen Gemeinderat erforderlichen Unbeschol- periode nicht in Frage gestellt, denn der Kläger darf weiterhin
tenheit“ die für die Gemeinderatstätigkeit erforderliche per- bei Wahlen – auch bei künftigen Gemeinderatswahlen der
sönliche Integrität betrifft, welche das Ratsmitglied bei ein- Beklagten – kandidieren und sich wählen lassen. Darin liegt
schlägiger Verurteilung durch eigenes Verhalten verloren hat, übrigens ein weiterer Unterschied zu § 45 StGB, der den
wenn seine Verurteilung erhebliche Auswirkungen auf das Verlust der Wählbarkeit mit Blick auf jegliches Mandat oder
Vertrauen der Wähler in die Arbeit des Gemeinderats hat. Da Amt für die Dauer von fünf Jahren vorsieht.22
mithin § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO der Auslegung zugäng-
lich sei,15 hatten sie einen Verstoß gegen das rechtsstaatliche b) Unmittelbarkeit der Wahl
Bestimmtheitsgebot verneint.16 Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl fordert, dass die
Volksvertreter direkt vom Wähler, d.h. ohne Mitwirkung
3. Die Wahlrechtsgrundsätze (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG) einer Zwischeninstanz, gewählt werden.23 Ebenso wie das
Den Kern des Urteils bildet die Prüfung der Vereinbarkeit OVG, geht auch das BVerwG davon aus, dass sich der
von § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO mit den durch Art. 28 Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht allein auf die Dauer des
Abs. 1 S. 2 GG auch für Gemeinderatswahlen bundesverfas- Wahlverfahrens und die Erlangung des Mandats beschränkt,
sungsrechtlich vorgeschriebenen Wahlrechtsgrundsätzen ei- sondern darüber hinaus auch die Aufhebung des Mandats
ner allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und gehei- nicht von einer anderen Instanz als dem Wähler ausgehen
men Wahl.17 darf.24 Dementsprechend ist die Unmittelbarkeit der Wahl
z.B. nicht mehr gegeben, wenn Abgeordnete während ihrer
a) Freiheit der Wahl Regierungszugehörigkeit ein sog. ruhendes Mandat beibehal-
Der Grundsatz der Freiheit der Wahl schützt die Ausübung ten, das sie beim Ausscheiden aus der Regierung wieder auf-
des – aktiven wie passiven – Wahlrechts ohne Zwang und nehmen und damit das Mandat eines „Nachrückers“ wieder
sonstige Beeinflussung von außen.18 Dem Kläger wird indes beenden können.25
durch den Ausschluss aus dem Gemeinderat nicht die „Frei- Mit Blick auf den Ausschluss aus dem Gemeinderat nach
heit sich als Kandidat aufstellen und wählen zu lassen“ ge- § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO hält das BVerwG – anders als
nommen.19 Auch der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl das OVG – den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl
ist, wie das BVerwG zutreffend feststellt, nicht betroffen.20 indes „noch“ nicht für einschlägig:26 Der Grundsatz werde
Dieser Grundsatz besagt, dass das aktive und passive Wahl- nicht durch jede Entscheidung Dritter über den Fortbestand
recht grundsätzlich allen Bürgern zusteht; er soll verhindern, des Mandats berührt, sondern nur dann, wenn die Mandatser-
teilung durch den Wähler – „das Gewähltsein als solches“ –
14 durch eine Willensentscheidung Dritter in Frage gestellt
Zum rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot im Überblick
werde. Dies folge zum einen aus dem historischen Ursprung
Degenhart (Fn. 2), Rn. 374 ff.; eingehend Schulze-Fielitz, in:
des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, der sich gegen die mittelba-
Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat)
re Wahl durch Wahlmänner richtete. Des Weiteren fordere
Rn. 129 ff.
15 bereits der Wortlaut „unmittelbar“ eine „kausale Relation“
Dazu, dass die Auslegungsfähigkeit einer Vorschrift den
zwischen Wählervotum und Mandatsbestand. Dieser Kausal-
Anforderungen des Bestimmtheitsgebots genügt, nur Degen-
zusammenhang sei nicht berührt, wenn eine Entscheidung
hart (Fn. 2), Rn. 374 f.; Schulze-Fielitz (Fn. 14), Art. 20
Dritter nicht die Wahlentscheidung selbst in Zweifel ziehe,
(Rechtsstaat) Rn. 133.
16 sondern den Mandatsverlust an „wahlfremde Umstände“ an-
Eingehend VG Trier, Urt. v. 8.5.2012 – 1 K 1302/11.TR,
Rn. 62 ff. (juris); OVG RhPf, Urt. v. 15.3.2013 – 10 A
21
10573/12, Rn. 39 (juris); vgl. ferner Barrot, LKRZ 2012, 320 Statt vieler Degenhart (Fn. 2), Rn. 77; Pieroth (Fn. 13),
(323). Art. 38 Rn. 5.
17 22
Der Grundsatz der Geheimheit der Wahl – der Schutz vor BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 22 (juris).
23
einer Offenbarung des Wahlverhaltens – ist durch den Aus- Degenhart (Fn. 2), Rn. 80; Pieroth (Fn. 13), Art. 38
schluss aus dem Gemeinderat ersichtlich nicht berührt und Rn. 83; prägnant BVerfGE 3, 45 (49): der Wähler müsse „das
wird deshalb vom BVerwG nicht angesprochen; klarstellend letzte Wort haben“.
24
noch OVG RhPf, Urt. v. 15.3.2013 – 10 A 10573/12, Rn. 49 BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 24 (juris);
(juris). zuvor auch OVG RhPf, Urt. v. 15.3.2013 – 10 A 10573/12,
18
Siehe nur Degenhart (Fn. 2), Rn. 82; Pieroth (Fn. 13), Rn. 48 (juris); anders Barrot, LKRZ 2012, 320 (321).
25
Art. 38 Rn. 9. Dazu HessStGH, NJW 1977, 2065; hierzu und zu weiteren
19
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 20 (juris), Beeinträchtigungen der Unmittelbarkeit auch Grzeszick, Jura
das zudem hervorhebt, auch die Freiheit der Mandatsaus- 2014, 1110 (1113); Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl.
übung sei nicht betroffen, da es um das „,Ob‘ der Man- 2006, Art. 38 Rn. 76 ff. m.w.N.
26
datsausübung überhaupt“ gehe. Zum Folgenden BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14,
20
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 22 (juris). Rn. 25 ff. (juris).
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knüpfe. So liege es im Falle des § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO, den der Funktionsfähigkeit des Rates gerechtfertigt werden.
der mit der strafgerichtlichen Verurteilung einen wahlfrem- Denn die Wahl des Gemeinderates verfehlte ihren Zweck der
den Bezugspunkt aufweise.27 Bildung des kommunalen Hauptvertretungsorgans, wenn der
Rat seine Aufgaben nicht oder nur eingeschränkt erfüllen
c) Gleichheit der Wahl könnte. Eine Rechtfertigung des Eingriffs in die passive
Das BVerwG nimmt stattdessen allein eine Beeinträchtigung Wahlrechtsgleichheit hänge jedoch davon ab, dass eine Be-
der passiven Wahlrechtsgleichheit an.28 Der Grundsatz der einträchtigung der Funktionsfähigkeit typischerweise vorliegt
Gleichheit der Wahl besagt, dass alle Wahlberechtigten ihr oder hinlänglich konkret zu erwarten ist und dass die Un-
Wahlrecht in formal gleicher Weise ausüben können.29 Mit gleichbehandlung eine Beseitigung dieser Störung mit hinrei-
Blick auf das passive Wahlrecht fordert er die Chancen- chender Sicherheit verspricht.36
gleichheit aller Bewerber.30 Auch der Grundsatz der Wahl- Das OVG hatte § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO für verfas-
rechtsgleichheit bezieht sich nicht allein auf den Wahlakt, sungskonform erachtet, weil die Vorschrift die Funktionsfä-
sondern erstreckt sich auf den Fortbestand und die Zusam- higkeit des Gemeinderates wahre. Denn der Rat könne die
mensetzung des gewählten Organs während der gesamten Gemeindebevölkerung nur dann seiner Funktion gemäß rep-
Wahlperiode.31 Durch einen Ausschluss aus dem Gemeinde- räsentieren, wenn er über hinreichendes Ansehen und über
rat auf der Grundlage des § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO wird Akzeptanz in der Bevölkerung verfüge. Dies aber sei bei dem
der Ausgeschlossene im Vergleich zu den übrigen Ratsmit- Verbleib eines nicht mehr im Sinne des § 31 Abs. 1 S. 1
gliedern, die ihr Mandat weiterhin ausüben können, ungleich RhPfGemO unbescholtenen Ratsmitglieds ggf. nicht mehr
behandelt.32 Es fragt sich daher, ob sich hierfür eine verfas- gewährleistet.37
sungsrechtliche Rechtfertigung finden lässt.
Die Wahlrechtsgrundsätze können nicht stets „in voller d) Einschränkende verfassungskonforme Auslegung
Reinheit verwirklicht“ werden.33 Daher können auch Ein- Das BVerwG dagegen lässt einen Ansehensverlust bzw.
schränkungen der Wahlrechtsgleichheit durch zwingende Ge- einen Verlust an Repräsentationsfähigkeit nicht genügen. Der
meinwohlgründe gerechtfertigt sein, wenn diese Gründe Gesichtspunkt der Repräsentationsfähigkeit des gewählten
ebenfalls verfassungsrechtlichen Rang und ein zumindest Organs ziele in erster Linie auf die Repräsentationsgenauig-
ebenbürtiges Gewicht haben.34 Ein entsprechender Gemein- keit und spreche damit gerade gegen eine Veränderung des
wohlgrund liegt in der Verwirklichung der mit der Wahl ver- Wahlergebnisses.38 Ein Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit
folgten Ziele, insbesondere in der Sicherung der Funktionsfä- lasse sich unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit
higkeit der gewählten Vertretungsorgane.35 An diese Grund- des gewählten Vertretungsorgans nur dann rechtfertigen,
sätze anknüpfend nimmt das BVerwG an, auch die in dem wenn auf die Fähigkeit des Gemeinderates zur Erfüllung
Ausschluss aus dem Gemeinderat nach § 31 Abs. 1 S. 1 seiner Verwaltungsaufgaben abgestellt werde. Der bloße
RhPfGemO liegende Ungleichbehandlung könne aus Grün- Schutz der Integrität und der Akzeptanz des Gemeinderates
in der Bevölkerung, wie sie der historische Gesetzgeber be-
27 zweckte,39 reichten dagegen nicht aus. Dies führe jedoch
Ebenso ordnet das BVerwG den Mandatsverlust nach § 45
nicht zur Verfassungswidrigkeit des § 31 Abs. 1 S. 1
StGB ein und verweist ferner auf Fälle des Verlusts der
RhPfGemO. Vielmehr lasse sich die Vorschrift verfassungs-
Wählbarkeit durch Staatsangehörigkeitsverlust oder Wohn-
konform dahingehend einschränkend auslegen, dass sie dem
sitzwechsel: BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 27
Schutz der Arbeitsfähigkeit des Rates diene. Ihr Anwen-
(juris).
28 dungsbereich beschränkt sich danach auf Fälle, in denen ein
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 28 ff. (juris).
29 Ratsmitglied wegen einer Straftat verurteilt wurde, die in
BVerfGE 121, 266 (295, 297); 124, 1 (18); Pieroth
sachlichem Zusammenhang mit der Ratsarbeit steht und die
(Fn. 13), Art. 38 Rn. 6; Grzeszick, Jura 2014, 1110 (1115).
30
Pieroth (Fn. 13), Art. 38 Rn. 6; Magiera, in: Sachs, GG,
7. Aufl. 2014, Art. 38 Rn. 90.
31 36
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 29 (juris) im BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 32 (juris); im
Anschluss an BVerfGE 93, 373 (377). Anschluss an BVerfGE 120, 82 (114, 5%-Sperrklausel bei
32
Im Unterschied zum OVG RhPf (Urt. v. 15.3.2013 – 10 A der schleswig-holsteinischen Kommunalwahl).
37
10573/12, Rn. 46 [juris]) hält es das BVerwG nicht für not- OVG RhPf, Urt. v. 15.3.2013 – 10 A 10573/12, Rn. 57 ff.
wendig, dass die Wahl als Persönlichkeitswahl ausgestaltet (juris); vgl. auch zuvor VG Trier, Urt. v. 8.5.2012 – 1 K
ist: BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 30 (juris). 1302/11.TR, Rn. 43 ff. (juris); kritisch Barrot, LKRZ 2012,
33
BVerfGE 3, 19 (24 f.); 59, 119 (124); Pieroth (Fn. 13), 320 (322 f.).
38
Art. 38 Rn. 21. BVerwG, Urt. v. 21.1.2012 – 10 C 11.14, Rn. 33 (juris);
34
Siehe etwa BVerfGE 41, 399 (413); 95, 408 (418); 71, 81 unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG zum
(96); Pieroth (Fn. 13), Art. 38 Rn. 18; Grzeszick, Jura 2014, Schutz des Mandats des einzelnen Abgeordneten (BVerfGE
1110 (1111). 80, 188 [219, 222]; 84, 304 [321 f.]).
35 39
Vgl. in diesem Zusammenhang insb. die Rechtsprechung BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 37 (juris);
zu den Sperrklauseln im Wahlrecht: BVerfGE 82, 322 (338); eingehend zum Entstehungshintergrund VG Trier, Urt. v.
95, 408 (409); 120, 82 (106 f.); vgl. hierzu auch Degenhart 8.5.2012 – 1 K 1302/11.TR, Rn. 30 ff. (juris); vgl. auch OVG
(Fn. 2), Rn. 87 ff. RhPf, Urt. v. 15.3.2013 – 10 A 10573/12, Rn. 36 (juris).
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die Arbeitsfähigkeit des Rates so nachhaltig stört, dass deren Funktionsfähigkeit des Verwaltungsorgans Gemeinderat zu
Sicherstellung den Ausschluss des Ratsmitglieds fordert.40 wachen. Eine andere Sichtweise als das BVerwG könnte man
Die Notwendigkeit eines sachlichen Zusammenhangs der womöglich auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz einnehmen:
Straftat mit der Ratsarbeit ergibt sich dem BVerwG zufolge Hier fragt sich, ob die „Anknüpfung an wahlfremde Umstän-
aus der in § 31 Abs. 1 S. 1 RhPfGemO enthaltenen Wendung de“ ein trennscharfes Abgrenzungskriterium darstellt, lässt
„für ein Ratsmitglied erforderliche Unbescholtenheit“. Dieser sich doch bspw. auch im Falle des sog. ruhenden Mandats der
Zusammenhang bestehe nicht allein im Falle einer in der zum Mandatsverlust führende Umstand – das Ausscheiden
Ratssitzung oder in sonstiger Ausübung des Mandats began- des Abgeordneten aus der Regierung – durchaus ebenfalls als
genen Straftat, sondern auch bei einer Straftat im Zuge des „wahlfremd“ qualifizieren. Doch auch bei Eingreifen des
Wahlkampfs.41 Eine nachhaltige Störung der Arbeitsfähigkeit Unmittelbarkeitsgrundsatzes dürfte die Rechtfertigung seiner
des Rates setze ferner voraus, dass die Straftat Anlass zu der Einschränkung jedenfalls nicht mit der Gefahr des Ansehens-
Sorge gebe, von dem Ratsmitglied gehe auch künftig eine und Akzeptanzverlusts zu leisten sein.
Gefährdung der Arbeitsfähigkeit des Rates aus. Die sei insbe- Für die Fallbearbeitung ist zunächst zu beachten, dass für
sondere in Fällen denkbar, in denen das Ratsmitglied organi- das BVerwG im Revisionsverfahren allein Art. 28 Abs. 1 S. 2
sierte Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung GG Prüfungsmaßstab sein konnte, in einem gewöhnlichen
eingesetzt habe. Denn ein solches Verhalten stelle die freie verwaltungsgerichtlichen Verfahren der ersten Instanz dage-
demokratische Willensbildung in Frage.42 gen Landesrecht zulässiger Prüfungsmaßstab wäre und des-
Nach diesen Maßstäben hätte im vorliegenden Fall man- halb ggf. die einschlägigen landesverfassungsrechtlichen
ches dafür gesprochen, dass der vom BVerwG einschränkend Bestimmungen herangezogen werden könnten bzw. müssten.
interpretierte Anwendungsbereich des § 31 Abs. 1 S. 1 Sind Aufgabenstellungen rein verfassungsrechtlich ausge-
RhPfGemO eröffnet war. Doch waren hierzu keine für das richtet, so kommen als Verfahren vor dem BVerfG allenfalls
BVerwG bindenden Feststellungen getroffen worden (vgl. die abstrakte Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG
§ 137 Abs. 2 VwGO). Vielmehr hatte der Rat der Beklagten – sowie die Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG in Frage.
ausgehend von einem weiteren Schutzzweck und Anwen- Die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG
dungsbereich der Vorschrift – den Ausschluss des Klägers scheidet dagegen aus, weil Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG nicht zu
allein auf eine Störung des Vertrauensverhältnisses zur Ge- den dort genannten Grundrechten und grundrechtsgleichen
meindebevölkerung gestützt und auch nicht geprüft, ob von Rechten gehört. Ggf. muss das Verfahrensrecht der Landes-
dem Kläger künftig eine Gefahr für die Funktionsfähigkeit verfassungsgerichtsbarkeit in den Blick genommen werden,
des Rates ausgehen werde. Daher musste die Ausschlussent- das indes nicht allerorts eine Individualbeschwerde kennt.
scheidung für das BVerwG ermessensfehlerhaft (§ 1 Abs. 1 Besonderheiten ergeben sich, wenn der hier besprochene
LVwVfG i.V.m. § 40 VwVfG) sein.43 Fall auf einen Ausschluss von Bundes- oder Landtagsabge-
ordneten durch die betreffenden Volksvertretungen abgewan-
IV. Bewertung und Ausblick delt wird. In derartigen Fällen ist zu berücksichtigen, dass
Das Urteil überzeugt in den meisten Punkten; insbesondere neben den Wahlrechtsgrundsätzen auch das Statusrecht der
erscheint es richtig, in der nur sehr vagen Gefahr eines Anse- Abgeordneten berührt sein kann.46 In diesem Zusammenhang
hens- oder Akzeptanzverlusts des Gemeinderats keinen hin- ist auch auf die Diskussion über die Überprüfung von Bun-
reichenden Rechtfertigungsgrund für eine Einschränkung der destags- und Landtagsabgeordneten auf eine frühere Mitar-
Wahlrechtsgrundsätze zu sehen, zumal der Rat selbst kaum beit in der DDR-Staatssicherheit hinzuweisen,47 wobei ein
mit der notwendigen Objektivität über den eigenen Verlust an durch das Parlament ausgesprochener Mandatsverlust allein
Ansehen und Akzeptanz befinden könnte. Ob der Rat selbst in Thüringen vorgesehen war.48 Verfassungsrechtlich frag-
über seine fehlende Arbeitsfähigkeit urteilen kann, darüber
musste das BVerwG nicht entscheiden; doch wäre es nach 45
Dies trifft insbesondere auf die vom BVerwG, Urt. v.
der Systematik der Gemeindeordnungen eher Sache der
21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 40 (juris), angeführte Ordnungs-
Kommunalaufsicht44 oder des Bürgermeisters45, über die
maßnahme zu, ein Ratsmitglied von der Sitzungsteilnahme –
ggf. dauerhaft – auszuschließen.
40 46
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 35 ff. (juris). Dagegen ist der Gemeinderat kein Parlament, sondern Teil
41
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 38 f. (juris), der Exekutive; die Ratsmitglieder verfügen demgemäß nicht
allerdings mit Einschränkungen hinsichtlich Taten „ohne über einen dem Abgeordneten vergleichbaren Status, sondern
jegliche politische Konnotation“, weil diesen der Bezug zur über ein „kommunalrechtliches Mandat eigener Prägung“;
Ratsarbeit fehle. vgl. hierzu m.w.N. Röhl, in: Schoch (Hrsg.), Besonderes
42
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 40 (juris), Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, Kap. 1 Rn. 90 f.
47
auch unter Hinweis auf die kommunalrechtlichen Möglich- Vgl. zur Abgeordnetenüberprüfung nach § 44c (§ 44b a.F.)
keiten eines Ausschlusses von der Sitzungsteilnahme als Ord- AbgG BVerfGE 94, 351; 97, 408; 98, 139; 99, 19; Masing,
nungsmaßnahme. JZ 1999, 1022.
43 48
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14, Rn. 41 (juris). Die einschlägige Vorschrift des § 8 ThürAbgÜpG wurde
44
Beispiele: Beanstandung von Ratsbeschlüssen und Anord- vom ThürVerfGH (LKV 2000, 441) für verfassungswidrig
nungen bei gemeindlichem Unterlassen, ggf. sogar Auflösung erklärt, freilich entscheidend deshalb, weil eine Regelung auf
des Gemeinderats. der Ebene der Verfassung notwendig sei; kritisch hierzu mit
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ZJS 3/2015
308
BVerwG, Urt. v. 21.1.2015 – 10 C 11.14 Kümper
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würdig erscheint eine solche „Selbstreinigung“ des Parla-


ments vor allem unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit der
Abgeordneten im Mandat.49 Der Abgeordnetenstatus ist auch
bei der evtl. (verfassungs-)prozessualen Einkleidung zu be-
achten: Einschlägig ist das Organstreitverfahren vor dem
BVerfG resp. Landesverfassungsgericht/Staatsgerichtshof.
Die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a
GG steht dagegen (Bundestags-)Abgeordneten für die Wah-
rung ihrer Statusrechte nicht zur Verfügung.50
Dr. Boas Kümper, Münster

Recht Löwer, ThürVBl. 2000, 206 (210 f.); Grube, LKV


2000, 435 (437).
49
Eingehend Masing, JZ 1999, 1022 (1023 f.); zur Gleichheit
im Mandat auch Morlok (Fn. 25), Art. 38 Rn. 128 f., 134,
161 ff.
50
Allgemeine Meinung, siehe etwa BVerfGE 43, 142
(148 f.); Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl.
2011, Rn. 122 f., die in der umfassenden Bezugnahme des
Art. 93 Abs. 1 Nr.4a auf Art. 38 GG ein „Redaktionsverse-
hen“ erblicken.
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309
OLG Hamm, Beschl. v. 29.4.2014 – 1 RVs 24/14 Brüning
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Entscheidungsanmerkung beabsichtigte Abtransport von dort gelingt A jedoch nicht


mehr, weil die Ware am Nachmittag des Tattages von Mitar-
Zu den Voraussetzungen des Gewahrsams und des Ein- beitern der Fa. T2 „sichergestellt“ werden kann.
verständnisses nach § 242 StGB
II. Einführung in die Problematik
Ob bei Beobachtung des Diebstahls durch den Eigentü- Nach § 242 Abs. 1 StGB begeht einen Diebstahl, wer eine
mer oder durch andere, die zu seinen Gunsten einzu- fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht weg-
schreiten gewillt sind, die Begründung neuen Gewahr- nimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzu-
sams möglich ist, hängt von den Einzelumständen ab. eignen. Daraus ergibt sich folgendes Prüfungsschema:
(Amtlicher Leitsatz)

StGB § 242 Abs. 1 I. Tatbestand


1. Objektiver Tatbestand
OLG Hamm, Beschl. v. 29.4.2014 – 1 RVs 24/141 a) fremde bewegliche Sache
b) Wegnahme
I. Sachverhalt aa) ursprünglich fremder Gewahrsam
bb) neuer Gewahrsam
Der Diebstahl ist ein „Evergreen“ in der strafrechtlichen cc) Verschiebung gegen den Willen des
Prüfungspraxis. Fragen zur Wegnahme und insbesondere zu Berechtigten
den Gewahrsamsverhältnissen gehören zu den „beliebtesten“ 2. Subjektiver Tatbestand
innerhalb des Studiums und tauchen auch in der Praxis im- a) Vorsatz
mer wieder auf, wie die hier vorliegende Konstellation ver- b) Zueignungsabsicht
deutlicht: aa) dolus directus I bzgl. mindestens vorüber-
A ist bei der Speditionsfirma T-GmbH beschäftigt. Die gehender Aneignung
Aufgabe der T-GmbH besteht im Wesentlichen darin, Stück- bb) dol. event. bzgl. dauernder Enteignung
gut bei der Fima T2 zu laden und dieses Stückgut sodann auf c) Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Zueig-
das Gelände der T-GmbH zu verbringen, dort zwischenzula- nung
gern und binnen vorgegebener Fristen an die Kunden auszu- d) Vorsatz bzgl. c)
liefern. Bei Anlieferung von Ware wird diese mittels Liefer- II. Rechtswidrigkeit
zetteln bestimmten Lieferregionen zugeordnet und in hierfür III. Schuld
vorgesehene Boxen gebracht. Zunächst nicht zuordenbare
Ware kommt bis zu ihrer Zuordnung in eine separate Box.
Anfang März 2012 wendet sich A an L, der als Vorarbei-
ter bei der Firma T2 tätig ist und bereits einige „krumme“ 1. Der Gewahrsamsbegriff
Ladungen im Interesse des A vorgenommen hat. In Abspra- Das prüfungsrelevanteste Tatbestandsmerkmal des Diebstahls
che mit A lässt L am 6.3.2012 gegen Mittag auf dem Gelände ist die Wegnahme. Diese kennzeichnet die Grenze zwischen
der Firma T2 Waren ohne Lieferschein im Wert von 4.800 vollendetem und versuchtem Diebstahl. Das wiederum hat
EUR, die dem A „zukommen“ sollen, mit auf den Lkw des A Auswirkungen für die Abgrenzung zwischen Raub gem.
laden. Weitere für A bestimmte Ware lässt L auf einen ande- § 249 StGB und räuberischem Diebstahl gem. § 252 StGB.
ren Lkw der T-GmbH laden, dessen Fahrer jedoch nicht in Während der Einsatz eines qualifizierten Nötigungsmittels
den Plan eingeweiht ist. vor der Wegnahme den Anwendungsbereich des § 249 StGB
Mitarbeitern der Fa. T2, u.a. dem Logistikleiter, sind in- eröffnet, fällt der Einsatz eines qualifizierten Nötigungsmit-
des Unstimmigkeiten bei der Verladung aufgefallen. Da der tels nach der Wegnahme in den Tatbestand des § 252 StGB.
Logistikleiter aber ad hoc keinen hinreichenden Beweis für Unter Wegnahme versteht man den Bruch fremden und
eine Straftat hat und nicht Mitarbeiter der Spedition vor aller die Begründung neuen nicht notwendigerweise tätereigenen
Augen eventuell zu Unrecht des Diebstahls bezichtigen will, Gewahrsams.2 Danach beinhaltet die Wegnahme drei Schrit-
beobachtet er den Vorgang und ergreift lediglich Maßnahmen te:3
der Beweissicherung (Aufnahme von Fotos). Später will er
„die Sache“ auf dem Gelände der Spedition überprüfen. die Aufhebung des fremden – alten – Gewahrsams,
A befördert seine Ladung auf das Gelände der T-GmbH die Begründung neuen Gewahrsams und
und lässt dort – auch die für ihn selbst bestimmten Waren –
abladen. Einem dortigen Mitarbeiter sagt er auf dessen Nach- 2
Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommen-
frage bzgl. der Ware, die nicht mit einem Ladezettel versehen
tar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 242 Rn. 48;
ist, die Sendung würde am Folgetag geholt, ein Versandmit-
Schramm, JuS 2008, 678 (680); Wittig, in: von Heintschel-
arbeiter wisse Bescheid. Sämtliche für A bestimmte Ware –
Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafge-
auch die von dem gutgläubigen Fahrer abtransportierten Teile
setzbuch, Stand: 8.2.2015, § 242 Rn. 10. Beachte Rotsch,
– wird planmäßig in einer gesonderten Box abgelagert. Der
Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 1330.
3
Vgl. dazu Zopfs, ZJS 2009, 506 (507); Rengier, Strafrecht,
1
Die Entscheidung ist abgedruckt in NStZ-RR 2014, 209. Besonderer Teil, Bd. 1, 17. Aufl. 2015, § 2 Rn. 22.
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OLG Hamm, Beschl. v. 29.4.2014 – 1 RVs 24/14 Brüning
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schließlich muss diese Gewahrsamsverschiebung durch überwinden.9 Er verzichtete bei der Bestimmung des Ge-
Bruch, d.h. ohne oder gegen den Willen des alten Ge- wahrsams auf faktische Kriterien und stellte stattdessen auf
wahrsamsinhabers erfolgen.4 eine soziale Zuordnung der Sache zu einer Person ab. Ist der
Zugriff der Person auf die Sache sozial unauffällig und wird
Für das „Schicksal“ der Wegnahme ist also der Gewahrsams- als selbstverständlich akzeptiert, so liegt nach dieser Ansicht
begriff von zentraler Bedeutung. Wichtig ist zunächst, dass Gewahrsam vor. Welzel ordnete jeder Person Tabuzonen –
der Gewahrsam vom zivilrechtlichen Besitz zu unterscheiden sog. Gewahrsamssphären – zu. Alles, was sich in dieser Ge-
ist, auch wenn es faktisch große Schnittmengen im Anwen- wahrsamssphäre befindet, steht im Gewahrsam der Person,
dungsbereich der beiden Begriffe gibt.5 Insbesondere finden der diese Tabuzone zugeordnet wird. Kollidieren zwei Sphä-
aber die Rechtsfiguren des mittelbaren Besitzes gem. § 868 ren, so geht die engere der weiteren vor, die dann eine sog.
BGB, des Erbenbesitzes gem. § 857 BGB sowie des Besitz- Gewahrsamsenklave bildet.
dieners gem. § 855 BGB keine Entsprechung im Rahmen des Zwar hat sich der soziale Gewahrsamsbegriff „begriff-
weniger verrechtlichten strafrechtlichen Gewahrsamsbe- lich“ nicht durchsetzen können. Gleichwohl haben Recht-
griffs.6 sprechung und Literatur die wesentlichen Gedanken des
Gewahrsam ist im Grundsatz das tatsächliche, von einem sozialen Gewahrsamsbegriffs übernommen und vertreten
Herrschaftswillen getragene Herrschaftsverhältnis einer Per- heute einen sog. faktisch-sozialen Gewahrsamsbegriff. Ge-
son über eine Sache.7 Der Gewahrsam verlangt danach mit wahrsam ist danach das tatsächliche, von einem Herrschafts-
der Herrschaftsmöglichkeit eine objektive Komponente und willen getragene Herrschaftsverhältnis einer Person über eine
mit dem Herrschaftswillen ein subjektives Element.8 Unei- Sache, was nach der Verkehrsauffassung, d.h. der sozialen
nigkeit besteht allerdings über die Frage, aus welcher Per- Anschauung des täglichen Lebens zu beurteilen ist.10 „Für die
spektive man die Komponenten betrachtet: faktisch oder Frage des Wechsels der tatsächlichen Sachherrschaft ist ent-
sozial-normativ. Historisch ist von einem faktischen Gewahr- scheidend, dass der Täter die Herrschaft über die Sache derart
samsbegriff auszugehen, der eine tatsächliche Herrschaft und erlangt, dass er sie ohne Behinderung durch den alten Ge-
einen natürlichen Herrschaftswillen zugrunde legt, wobei wahrsamsinhaber ausüben und dieser über die Sache nicht
beides nach der Anschauung des täglichen Lebens interpre- mehr verfügen kann, ohne seinerseits die Verfügungsgewalt
tiert wird. Dieser faktische Gewahrsamsbegriff stößt aber an des Täters zu brechen.“11 Der wesentliche Unterschied zum
seine Grenzen. So kann die tatsächliche Herrschaftsmöglich- sozialen Gewahrsamsbegriff besteht darin, dass der sozial-
keit des vom Bauern auf dem Feld zurückgelassenen Pfluges normative Maßstab des faktisch-sozialen Gewahrsams-
nur fingiert werden. Gleiches gilt für den natürlichen Willen begriffs lediglich eine korrigierende, aber keine konstituie-
eines Schlafenden oder Bewusstlosen. Diese Probleme ver- rende Funktion hat und damit kein selbstständiges Gewahr-
suchte Welzel mit dem sog. sozialen Gewahrsamsbegriff zu samselement ist. Doch auch der soziale Gewahrsamsbegriff
zieht die tatsächliche Sachherrschaftsmöglichkeit als Indiz
zur Feststellung der sozialen Zuordnung heran. Der rechtliche
Meinungsstreit ist daher eher terminologischer Art und in
einer Klausur von untergeordneter Bedeutung.12 Die wesent-
4
liche Leistung in einer Klausur besteht vielmehr in der voll-
Zu beachten ist, dass die ganz überwiegende Ansicht das ständigen Auswertung des Sachverhaltes. Ratsam ist es in der
Merkmal „Bruch“ lediglich auf die Aufhebung des Gewahr- Klausur ausgehend vom faktisch-sozialen Gewahrsamsbe-
sams bezieht, nicht aber auf die Neubegründung, vgl. dazu griff die den konkreten Einzelfall tragenden Gesichtspunkte
etwa Schmitz (Fn. 2), § 242 Rn. 82; Rengier (Fn. 3), § 2 herauszuarbeiten und im Rahmen einer wertenden Abwägung
Rn. 64. Gleichwohl wird die hier vorgestellte Prüfungsreihen- zu gewichten. „Hierbei sind insbesondere Faktoren wie der
folge auch nach ganz überwiegender Ansicht in dieser Form Ort des Geschehens (räumlicher Machtbereich des bisherigen
angewendet, vgl. dazu Rotsch (Fn. 2), Rn. 697. Im Ergebnis Gewahrsamsinhabers?), die Größe des Gegenstandes (hand-
wirkt sich der Unterschied aber nur in den äußerst seltenen
Fällen aus, in denen die Gewahrsamsaufhebung und die Neu-
9
begründung des Gewahrsams zeitlich auseinanderfallen, vgl. Welzel, GA 1960, 257. Zu den heutigen Vertretern des sozi-
zu diesem eher akademischen Problem Rotsch, GA 2008, 65 alen Gewahrsamsbegriffs zählt etwa Schmitz (Fn. 2), § 242
(71 ff.). Rn. 62 ff.
5 10
Rönnau, JuS 2009, 1088. Vgl. dazu Wessels/Hillenkamp (Fn. 6), Rn. 90; Küper/
6
Samson, JA 1980, 285 (286); Kindhäuser, in: Kindhäuser/ Zopfs, Strafrecht, Besonderer Teil, Definitionen mit Erläute-
Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetz- rungen, 9. Aufl. 2015, Rn. 750; ausführlich dazu Bosch, Jura
buch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 242 Rn. 30; Wessels/Hillen- 2014, 1237.
11
kamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 37. Aufl. 2014, § 2 BGH, Beschl. v. 16.9.2014 – 3 StR 373/14 = BeckRS
Rn. 93 f.; vgl. auch die Übersicht bei Jüchser, ZJS 2012, 195 2014, 20034; vgl. auch BGH NStZ 1988, 270 (271).
12
(200). So auch explizit Hecker, JuS 2015, 276 (277); Eser/Bosch,
7
Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29.
2014, § 242 Rn. 8a. Aufl. 2014, § 242 Rn. 24; Bosch, Jura 2014, 1237 (1238);
8
„Kurz gefasst verlangt Gewahrsam daher Herrschaftswillen Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 11. Aufl. 2014,
und Herrschaftsmöglichkeit.“, Jäger, JA 2015, 390 (391). § 242 Rn. 19 f.; beispielhaft Rotsch (Fn. 2), Rn. 1511 ff.
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lich, leicht, groß, sperrig?) sowie die faktischen Zugriffsmög- keine Chance besteht, mit dem Diebesgut zu entkommen.16 In
lichkeiten der Beteiligten auf den Gegenstand (nur mittels diesen Fällen hätte der Täter faktisch nie die Möglichkeit, die
Eindringen in fremden „Tabubereich” oder unter Anwendung Herrschaft über die Sache tatsächlich auszuüben. Zu berück-
von Gewalt möglich?) in die Betrachtung einzubeziehen.“13 sichtigen sind also wiederum die Umstände des Einzelfalls,
Visuell lässt sich der Gewahrsamsbegriff wie folgt komp- wobei die räumliche Entfernung des Beobachtenden vom Ort
rimiert darstellen: des Geschehens, die Schnelligkeit des Eingreifens sowie Um-
fang und Gewicht der Beute von Relevanz sind.17

b) Einverständnis in die Gewahrsamsverschiebung („durch


Bruch“)18
Weiterhin stellt sich die Frage, ob die Beobachtung Auswir-
kungen auf das tatbestandsausschließende Einverständnis in
die Gewahrsamsverschiebung haben kann.
Anzumerken ist zunächst, dass der Beobachtende grund-
sätzlich nur dann berechtigt ist, das Einverständnis zu erklä-
ren, wenn er auch Gewahrsamsinhaber ist.
Sodann stellt sich die Frage, ob der Betroffene tatsächlich
mit dem Übergang des Gewahrsams einverstanden ist. Dies
ist grundsätzlich der Fall, wenn es sich um eine sog. Diebes-
falle handelt.19 Typisch für eine solche Diebesfalle ist, dass
der Täter die Sache in seinen Gewahrsam bringen soll, damit
2. Der beobachtete Gewahrsamswechsel sie später bei ihm gefunden wird und er überführt werden
Problematisch ist der – hier relevante – beobachtete Gewahr- kann. Der ursprüngliche Gewahrsamsinhaber ist dann mit der
samswechsel. Liegt diese Konstellation vor, so ist in vielen Gewahrsamsverschiebung einverstanden, mit der Folge, dass
Klausuren nur der schlichte Hinweis zu lesen: „Der Diebstahl diese nicht mehr durch Bruch erfolgt und ein vollendeter
ist kein heimliches Delikt. Die Beobachtung steht der Weg- Diebstahl ausscheidet.20 Davon abzugrenzen ist die bloße
nahme damit nicht entgegen.“ Das kann im Ergebnis richtig Beobachtung. Charakteristisch für eine solche Beobachtung
sein, ist aber nicht zwingend. Diese phrasenhafte Aussage ist, dass der Beobachtende gerade keinen Gewahrsamsüber-
nimmt keinerlei Bezug zur oben genannten Definition der gang will und den Täter grundsätzlich in einem unmittelbar
Wegnahme und steht damit definitorisch im „luftleeren räumlich-zeitlichen Zusammenhang mit der Tat stellt. In
Raum“. diesem Fall liegt kein Einverständnis in die Gewahrsamsver-
Wird die Gewahrsamsverschiebung beobachtet, so stellen schiebung vor, sodass eine Wegnahme anzunehmen ist.
sich im Wesentlichen zwei Fragen: Steht diese Beobachtung Zu beachten ist allerdings, dass die Begriffe „Diebesfalle“
der Neubegründung des Gewahrsams entgegen und könnte und „bloße Beobachtung“ letztlich auch nur inhaltsleere
die Beobachtung mit einem Einverständnis gleichgesetzt wer- Schlagworte sind. Auch bei diesem Problem ist es entschei-
den? dend, dass der Sachverhalt ausgewertet wird und alle abwä-
gungsrelevanten Faktoren in die Entscheidung mit einbezo-
a) Gewahrsamsbegründung gen werden.
Man könnte zunächst annehmen, dass der Täter, der bei der III. Die Entscheidung
Gewahrsamsverschiebung beobachtet wird, deswegen keinen
neuen Gewahrsam begründet, weil er aufgrund der Beobach- A war vom Amtsgericht wegen gemeinschaftlichen Dieb-
tung an der Herrschaft der Sache gehindert sein könnte. Drit- stahls zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt
te sind jederzeit berechtigt, den Täter gem. § 127 Abs. 1 worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wur-
StPO festzunehmen oder gem. § 859 BGB Selbsthilfe auszu- de. Die dagegen gerichtete Berufung des Angeklagten ver-
üben.14 Dagegen ist allerdings anzumerken, dass die Beo- warf das Landgericht. Das OLG Hamm hat zwar den Schuld-
bachtung nicht die Überführung des Gegenstandes in die
16
Gewahrsamssphäre des Täters verhindert, die die beste Be- Schmitz (Fn. 2), § 242 Rn. 80; vgl. auch BGH NJW 1975,
herrschungsposition bietet, etwa wenn der Täter im Super- 320.
17
markt etwas einsteckt. Vielmehr erleichtert die Beobachtung Kindhäuser (Fn. 6), § 242 Rn. 60.
18
lediglich die Rückerlangung des Gegenstandes.15 Liegt sogar ein Einverständnis in die Gewahrsamsver-
Etwas anderes kann sich allerdings ergeben, wenn für den schiebung vor, so kommt es auf die akademische Streitfrage,
Täter (aus der Sicht eines neutralen Beobachters) überhaupt ob sich das Einverständnis nur auf die Aufhebung des Ge-
wahrsams oder zusätzlich auch auf die Neubegründung des
Gewahrsams beziehen muss, nicht an.
13 19
Hecker, JuS 2011, 374. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,
14
Eser/Bosch (Fn. 12), § 242 Rn. 40; ausführlich auch Bosch, 62. Aufl. 2015, § 242 Rn. 23; Jäger, JA 2015, 390 (392);
Jura 2014, 1237 (1240 f.) Wessels/Hillenkamp (Fn. 6), Rn. 118.
15 20
BGH NJW 1961, 2266; OLG Düsseldorf NJW 1993, 1492. BGH NJW 1979, 729.
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spruch bestätigt, ist aber der Ansicht, dass nur ein vollendeter dass Ware zulasten des Unternehmens unentgeltlich fortge-
Diebstahl vorliegt, soweit es um die Waren im Wert von schafft wird, liegt auf der Hand und bedarf – bzw. bedurfte
4.800 € geht. Das Verhalten in Bezug auf die Ware im Wert auch im angefochtenen Urteil – keiner ausdrücklichen Er-
vom 800 € auf dem Lkw des gutgläubigen Fahrers begründe wähnung.“23
hingegen nur einen versuchten Diebstahl. Hinsichtlich der Ware im Wert von 800 €, die auf den
Zunächst befasst sich das OLG Hamm mit der Begrün- Lkw des gutgläubigen Fahrers verladen wurde, sah das OLG
dung des neuen Gewahrsams durch A bezüglich der Ware, Hamm die Voraussetzungen des Diebstahls dagegen nicht als
die auf seinen Lkw geladen wurde. erfüllt an.
„Durch das unberechtigte Aufladen der Waren im Wert „Anders verhält es sich bei der Ware (Wert 800 €), die auf
von 4.800 € haben der Angekl. und sein Mittäter fremde be- den Lkw eines anderen – nicht eingeweihten – Fahrers der
wegliche Sachen weggenommen. Sie haben gegen den Wil- Spedition verladen wurde. Hier bestand die soeben darge-
len der Organe der Fa. T2, die einen generellen Sachherr- stellte Gefahr eines Verlustes nicht, sondern hier war zwangs-
schaftswillen bzgl. der auf ihrem Gelände befindlichen Ge- läufig eine Entladung auf dem Gelände der Spedition, von
genstände hatten, fremden Gewahrsam gebrochen und neuen welcher ihrerseits keine Widerstände gegen eine Rückholung
Gewahrsam an den genannten Waren begründet. […] Bis des Diebesgutes durch die Fa. T2 zu befürchten waren, zu
zum Verladezeitpunkt bestand Gewahrsam der Fa. T2 an den erwarten. Bei dem raschen Zugriff war mithin ein endgültiger
genannten Waren […]. Verlust nicht zu gewärtigen. Insoweit ist die Tat im Ver-
Mit der Verladung auf den Lkw des Angekl., spätestens suchs-stadium stecken geblieben. Einer Abänderung des
mit dessen Verlassen des Betriebsgeländes, hat der Angekl. Schuldspruchs bedurfte es nicht, da ungeachtet der teilweise
neuen Gewahrsam begründet. Der neue Gewahrsam muss nicht erfolgten Begründung eigenen Gewahrsams nur ein
nicht unbedingt ein tätereigener Gewahrsam sein, vielmehr einheitlicher vollendeter Diebstahl vorliegt.“24
kann dieser auch bei einem Dritten begründet werden. Der
Senat kann daher hier dahinstehen lassen, ob der Angekl. IV. Bewertung der Entscheidung
bereits mit Verladung auf den Lkw selbst Gewahrsam erlangt
Auf den ersten Blick erscheint die Entscheidung konsequent
hat oder aber zunächst nur Gewahrsam durch bzw. für die
und richtig. Schaut man aber genauer hin, so vermögen die
Organe der T-GmbH begründet worden ist. Entsprechendes
Ausführungen zur Gewahrsamsbegründung des gut- bzw.
gilt für die von dem früheren Mitangekl. L im Einvernehmen
bösgläubigem Fahrers sowie zum (fehlenden) Einverständnis
mit dem Angekl. veranlasste Verladung von Ware im Wert
in die Gewahrsamsverschiebung nicht zu überzeugen.
von 800 € auf einen anderen Lkw der Spedition.“21
Sodann setzt sich das Gericht mit der Frage auseinander,
1. Begründung neuen Gewahrsams
ob der Umstand, dass das Geschehen von Mitarbeitern der
Fa. T2 beobachtet wurde, einer Gewahrsamsbegründung Das OLG Hamm lässt zunächst die Frage offen, ob A bereits
durch A entgegenstehen könnte. durch das Aufladen auf den Lkw neuen Gewahrsam an der
„Dass das ganze Geschehen von Mitarbeitern der Fa. T2 Ware begründet hat. Diese Frage ist zu verneinen.25 Indem
beobachtet wurde, hindert die Annahme einer vollendeten die Ware auf den Lkw des A geladen wurde, wurde diese
Wegnahme und damit eines vollendeten Diebstahls hinsicht- zwar in eine Gewahrsamsphäre des A überführt. Gleichwohl
lich der auf den Lkw des Angekl. verladenen Waren im Wert ist dabei zu berücksichtigten, dass die Mitarbeiter der Fa. T2
von 4.800 € nicht. Diebstahl setzt keine Heimlichkeit voraus. zu diesem Zeitpunkt jederzeit Zugriff auf die Ladefläche des
Ob bei Beobachtung des Diebstahls durch den Eigentümer Lkw hatten. A hat also zum Zeitpunkt des Verladens noch
oder durch andere, die zu seinen Gunsten einzuschreiten ge- keine optimale Beherrschungsmöglichkeit erlangt.
willt sind, die Begründung eigenen Gewahrsams möglich ist, Gewahrsam könnte A allerdings in dem Moment begrün-
hängt von den Einzelheiten ab. Wesentlich sind z.B. die mehr det haben, in dem er mit seinem Lkw das Gelände der Fa. T2
oder weniger große räumliche Nähe des Eigentümers oder verlassen hat. A hat zu diesem Zeitpunkt die tatsächliche
seiner Beauftragten und die Schnelligkeit ihres Eingreifens Sachherrschaft erlangt und ihm ist die Ladung – jedenfalls
sowie Umfang und Gewicht des Diebesgutes, alles dies unter der Teil der Gegenstände, die ohne Nachweis eines Liefer-
Umständen in Verbindung mit besonderen Alarmeinrichtun- scheins unberechtigt auf seinen Lkw verladen wurden –,
gen. Hier bestand zwar seitens der Mitarbeiter der Fa. T2 ein sozial zuzuordnen. Auch die Beobachtung durch die Mitar-
Verdacht auf einen Diebstahl, sie haben aber die Täter ge- beiter der Fa. T2 ändert zunächst nichts an der Überführung
währen lassen und lediglich Maßnahmen zur Beweissiche- der Gegenstände in die Gewahrsamssphäre des A, die die
rung (Aufnahme von Fotos) ergriffen.“22 beste Beherrschungsposition bietet. Die Mitarbeiter der Fa.
Zuvor hatte das Gericht zur Frage, ob die Gewahrsams- T2 haben mit dem Abtransport den ungehinderten Zugriff auf
verschiebung durch Bruch erfolgt ist, bereits festgestellt: die Ladung verloren. Die Beobachtung erleichtert lediglich
„Dass die Organe dieses Unternehmens einen generellen die Rückerlangung des Gegenstandes, hat aber keine Auswir-
Sachherrschaftswillen bzgl. der entwendeten Gegenstände kungen auf die Beherrschungssituation des A.
hatten und zwangsläufig nicht damit einverstanden waren,
23
OLG Hamm NStZ-RR 2014, 209 (210).
21 24
OLG Hamm NStZ-RR 2014, 209 (210). OLG Hamm NStZ-RR 2014, 209 (210).
22 25
OLG Hamm NStZ-RR 2014, 209 (210). Jäger, JA 2015, 390 (392).
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OLG Hamm, Beschl. v. 29.4.2014 – 1 RVs 24/14 Brüning
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Fraglich ist darüber hinaus, ob zudem eine Gewahrsams- ist hier allerdings, dass der Logistikleiter bewusst darauf
verschiebung an der Ware eingetreten ist, die auf den Lkw verzichtet hat, seine Zweifel sofort auszuräumen. Dabei ist
des gutgläubigen Fahrers verladen wurde. Auch hier könnte auch nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Logistikleiter
eine Gewahrsamsverschiebung in dem Moment eingetreten eines Unternehmens bei auftretenden Unstimmigkeiten nicht
sein, als der Fahrer das Gelände der Fa. T2 mit dem Lkw nach den Ladepapieren fragen kann. Darin wäre noch kein
verließ. Das OLG Hamm verneint diese Möglichkeit mit der „Bezichtigen“ eines Diebstahls vor aller Augen zu sehen, für
Begründung, dass die endgültige Verlustwahrscheinlichkeit den Fall, dass die Papiere in Ordnung gewesen wären. Der
bei einem gutgläubigen Fahrer weniger groß sei. Schaut man Logistikleiter ließ die „verdächtige“ Ware – wie die übrige
genau hin, so beschreibt das Gericht jedoch keine Verlust- Ware desselben Geschäftsvorgangs – passieren, womit er
wahrscheinlichkeit, sondern vielmehr eine „Rückholwahr- eine bewusste Entscheidung über die Aufgabe des Gewahr-
scheinlichkeit“. Damit setzt das Gericht aber einen Gewahr- sams getroffen und damit sein Einverständnis erklärt hat.27
samsverlust gleichsam voraus. Entscheidend ist auch hier der Dann aber ist die Gewahrsamsverschiebung nicht „durch
Umstand, dass die Mitarbeiter der Fa. T2 keinen Zugriff mehr Bruch“ erfolgt und eine vollendete Wegnahme scheidet –
auf die Ware hatten, sobald der gutgläubige Fahrer das Ge- entgegen der Annahme des OLG Hamm – aus. A hätte sich
lände der Firma verlassen hatte. Die Ware befand sich in der dann nur wegen versuchten Diebstahls strafbar gemacht.
Gewahrsamssphäre des Lkw-Fahrers, die diesem zuzuordnen
ist. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass der Lkw-Fahrer IV. Ausblick
einen generellen Beherrschungswillen bezüglich der in seinen Diebstahlsfälle gehören zum Standard des Prüfungsstoffes.
Lkw verladenen Gegenstände hat. Daher ist anzunehmen, Die vorliegende Entscheidung bringt in Bezug auf die Weg-
dass jedenfalls der gutgläubige Lkw-Fahrer neuen Gewahr- nahme und den Gewahrsamsbegriff zwar wenig „Neues“. Der
sam an den Gegenständen begründet hat. Fall enthält aber viel Argumentationspotential und ist daher
Will man dieser Argumentation nicht folgen, so haben die zur Wiederholung des Stoffes und vor allem als Prüfungsauf-
Mitarbeiter der T-GmbH jedenfalls Gewahrsam an der Ware gabe bestens geeignet.
begründet, nachdem diese aus dem Lkw ausgeladen und in
Privatdozentin Dr. Janique Brüning, Hamburg
der separaten Box abgelagert wurde. Diese Box befindet sich
in der Gewahrsamssphäre der T-GmbH und ist dem Zugriff
den Mitarbeitern der Fa. T2 ohne Mitwirkung der Mitarbeiter
der T-GmbH vollkommen entzogen. Eine Gewahrsamsver-
schiebung ist damit vollzogen. Dieser Zeitpunkt geriet offen-
bar nicht in das Blickfeld des OLG Hamm.

2. Einverständnis in die Gewahrsamsverschiebung


Sehr apodiktisch wirkt die Feststellung des OLG Hamm, dass
es „auf der Hand liegt“, dass die Mitarbeiter der Fa. T2 mit
der Gewahrsamsverschiebung nicht einverstanden waren.
Zunächst ist davon auszugehen, dass der Logistikleiter
der Fa. T2 generell mit dem Gewahrsamsübergang auf die
Mitarbeiter der Speditionsfirma T-GmbH einverstanden ist.
Etwas anderes könnte sich hier allerdings aus dem Umstand
ergeben, dass u.a. der Logistikleiter in Bezug auf die für A
bestimmte Ware misstrauisch war, Beweissicherungsmittel
ergriff und sich innerlich vorbehielt, den Vorgang später auf
dem Gelände der T-GmbH zu überprüfen. Insoweit gilt aber,
dass der rein innere Vorbehalt das generelle Einverständnis in
den tatsächlichen Vorgang des Gewahrsamsübergangs nicht
auszuschließen vermag.26 Greift man dagegen die obige Dif-
ferenzierung zwischen der Diebesfalle und der bloßen Beo-
bachtung auf, so ist festzustellen, dass hier kein Fall einer
klassischen Diebesfalle gegeben ist. Denn der Logistikleiter
hat die Ware hier gerade nicht wie bei einer Diebesfalle in
der Absicht bereitgestellt, dass A diese gleichsam als „Kö-
der“ entwendet. Vielmehr hat der Logistikleiter den Vorgang
nur zufällig beobachtet und A auch nicht im unmittelbaren
Zusammenhang mit der Tat gestellt. Dies könnte zunächst
gegen ein Einverständnis sprechen, wie es typischerweise bei
der Diebesfalle (stillschweigend) erklärt wird. Entscheidend 27
A.A. OLG Hamm NStZ-RR 2014, 209; Hecker, JuS 2015,
276; im Ergebnis wie hier – aber mit anderer Begründung –
26
Schmitz (Fn. 2), § 242 Rn. 91. Jäger, JA 2015, 390 (392).
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BGH, Beschl. v. 17.9.2014 – 1 StR 387/14 Putzke
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Entscheidungsanmerkung tatmehrheitlichen Begehung zwischen Nötigung und Entzie-


hung Minderjähriger Tateinheit annahm. Die Verurteilung
Entziehung Minderjähriger durch Entziehung eines El- des Angeklagten wegen Entziehung Minderjähriger bestätigte
ternteils der 1. Strafsenat.

Entziehung Minderjähriger liegt auch dann vor, wenn ein III. Das Tatbestandsmerkmal „Entziehen“ nach her-
sorgeberechtigter Elternteil zwangsweise für eine gewisse kömmlicher Sicht
Dauer von seinem unter achtzehnjährigen Kind entfernt Nach Ansicht des 1. Strafsenats hatte der Angeklagte zwei
wird. Personen unter achtzehn Jahren durch Drohung mit einem
(Amtlicher Leitsatz) empfindlichen Übel einem Elternteil entzogen und somit
§ 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB verwirklicht. Dass es sich bei dem
StGB § 235 Abs. 1 Täter selbst um den ebenfalls sorgeberechtigten Vater der
Kinder gehandelt hat, stand einer Verurteilung wegen Entzie-
BGH, Beschl. v. 17.9.2014 – 1 StR 387/141 hung Minderjähriger nicht entgegen. Denn anders als Abs. 1
Nr. 2 kann Abs. 1 Nr. 1 auch durch einen sorgeberechtigten
I. Einleitung Elternteil gegenüber dem anderen begangen werden, sofern
Zu § 235 StGB weist die Statistik für das Jahr 2013 immerhin auch diesem Elternteil das Sorgerecht (zumindest teilweise4)
106 Abgeurteilte aus.2 Das ist viel, vergleicht man die statis- zusteht.5 Dies ist in § 235 Abs. 1 und 2 StGB dadurch klarge-
tische Häufigkeit etwa mit derjenigen der schweren Körper- stellt, dass der „Elternteil“ in der Aufzählung der gegen eine
verletzung nach § 226 Abs. 1 StGB (59 Abgeurteilte) oder Entziehung Minderjähriger geschützten Personen ausdrück-
des erpresserischen Menschenraubs nach § 239a StGB (92 lich genannt ist.6
Abgeurteilte). Gleichwohl wird § 235 StGB, der immerhin Diskussionswürdig war angesichts der für eine Kindes-
zum Pflichtstoff gehört, sowohl im juristischen Studium als entziehung zumindest unüblichen Sachverhaltskonstellation
auch in der Ausbildungsliteratur – wenn überhaupt – allen- allein die Frage, ob der Angeklagte seiner Ehefrau die ge-
falls am Rande behandelt.3 Dabei enthält dieser Tatbestand meinsamen Kinder entzogen hatte, indem er durch seine
eine ganze Reihe lehrreicher Aspekte. Einer davon ist zu Drohung deren Ausreise aus Deutschland bewirkt hatte.
finden in einem Sachverhalt, über den der BGH zu entschei- Der 1. Strafsenat bejahte das: „Eine Entziehung im Sinne
den hatte. dieser Vorschrift liegt nicht nur vor, wenn der Minderjährige
unter den Voraussetzungen des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB vom
II. Sachverhalt Elternteil entfernt wird, sondern auch, wenn der Elternteil
Der Angeklagte und seine Ehefrau sind die Eltern zweier unter diesen Voraussetzungen vom Minderjährigen entfernt
minderjähriger Kinder. Nach jahrelangem Ehestreit beschloss und ferngehalten wird“.7 Denn nach allgemeiner Ansicht ist
der Vater, sich seiner Frau „gänzlich zu entledigen“ und sie ein Minderjähriger dem Sorgerechtsinhaber „entzogen“,
dazu zu ihrer Familie in die Türkei zurückzuschicken. Die „wenn das Recht zur Erziehung, Beaufsichtigung und Auf-
beiden gemeinsamen Kinder wollte er bei sich in Deutsch- enthaltsbestimmung durch räumliche Trennung für eine ge-
land behalten. Als seine Frau sich weigerte, auszureisen und wisse, nicht nur ganz vorübergehende Dauer so beeinträchtigt
die Kinder zurückzulassen, drohte der Angeklagte ihr mit wird, dass es nicht ausgeübt werden kann“.8 „Das von § 235
dem Tode, wenn sie nicht in die Türkei ginge. Daraufhin ließ
sie sich Anfang 2012 gegen ihren Willen in die Türkei brin- 4
Demgegenüber vertritt Geppert (in: Hirsch/Kaiser/
gen und gelangte erst Ende des Jahres wieder nach Deutsch- Marquardt [Hrsg.], Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann,
land. 1986, S. 759 [774, 778]) die Auffassung, dass lediglich das
Auf der Grundlage dieser Feststellungen verurteilte das volle Personensorgerecht geschützt sei.
Landgericht den Angeklagten wegen Entziehung Minderjäh- 5
Siehe Krehl, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann
riger (§ 235 StGB) in Tatmehrheit mit Nötigung (§ 240 (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 7/2, 12.
StGB). Dagegen legte der Verurteilte Revision ein, woraufhin Aufl. 2015, § 235 Rn. 3 f., 17 und 111.
der BGH das Urteil dahingehend änderte, dass er statt einer 6
BT-Drs. 13/8587, S. 38; Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 17.
7
BGH NJW 2014, 3589 Rn. 11.
1 8
Die Entscheidung ist online abrufbar unter Siehe nur BGHSt 10, 376 (378); 16, 58 (61); BGH NStZ
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu 1996, 333; Braasch, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.),
ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=b388f9cfc44cfb2cf4506 Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 235
b5b13d2d0e7&nr=69306&pos=0&anz=1 (23.5.2015) sowie StGB Rn. 8; Eser/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetz-
BeckRS 2014, 20494 (gekürzte gedruckte Fassung in NStZ buch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 235 Rn. 6; Fischer,
2015, 85). – Meiner Wiss. Mitarbeiterin Jadwiga Loiko Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 62. Aufl.
danke ich für ihre wertvolle Unterstützung. 2015, § 235 Rn. 6; Kindhäuser, Strafgesetzbuch, Lehr- und
2
Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 Praxiskommentar, 6. Aufl. 2015, § 235 Rn. 3; Schroth, in:
(Rechtspflege, Strafverfolgung), Berichtszeitraum 2013, Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar
2015, S. 68. StGB, 2. Aufl. 2015, § 235 Rn. 7; Sonnen, in: Kindhäuser/
3
Siehe aber Putzke/Putzke, JA 2014, 183 (185 f.). Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetz-
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StGB vorrangig geschützte Rechtsgut des Sorgerechts der für ein Tatmittel anwendet, das sich gegen den Berechtigten
den jungen Menschen verantwortlichen Personen und das richtet.15 Für das zur Verwirklichung des § 235 Abs. 1 Nr. 1
daraus abgeleitete Obhuts- und Aufenthaltsbestimmungsrecht StGB zusätzlich erforderliche Tatmittel ist anerkannt, dass es
[…] sind auch verletzt, wenn ein Elternteil selbst räumlich sowohl gegen den Sorgeberechtigten als auch gegen die min-
entfernt wird und seine Rechte deshalb nicht wahrnehmen derjährige Person wie auch gegen Dritte angewandt werden
kann“.9 Angesichts des nahezu einjährigen Aufenthalts der kann.16 Bereits aus dem Gesetzeswortlaut folgt aber, dass
Mutter in der Türkei war die räumliche Trennung auch von zwischen dem Tatmittel und der Tathandlung zu unterschei-
nicht nur ganz vorübergehender Dauer. den ist: Allein aus dem Umstand, dass Gewalt, Drohung oder
In der Literatur wird ein Entziehen auch dann bejaht, List gegenüber den Eltern vorliegt, kann nicht darauf ge-
wenn dem Sorgerechtsinhaber der Zugang zum Minderjähri- schlossen werden, dass auch die Tathandlung des „Entzie-
gen verwehrt wird, was etwa bei Einsperren des Berechtigten hens“ gegeben ist. Entscheidend ist vielmehr, ob es für ein
der Fall sei.10 Es genüge für ein Entziehen, dass der Erzie- Entziehen – wie von der wohl allgemeinen Ansicht ange-
hungsberechtigte vom Minderjährigen ferngehalten oder nommen – tatsächlich im Wesentlichen allein auf eine Beein-
daran gehindert werde, zu diesem räumlich zu gelangen;11 trächtigung des Sorgerechts ankommt.
eine Veränderung des Aufenthaltsorts des Minderjährigen
selber sei in diesem Fall für die Tatbestandsverwirklichung IV. Kritik an der herrschenden Meinung
nicht nötig.12 Bejaht wurde eine Entziehung auch für den 1. Verweis auf das geschützte Rechtsgut
Fall, dass jemand „die Eltern […] aus ihrem Haus weglockt,
Zur Begründung seiner Auslegung des Tatbestandsmerkmals
um dort mit der minderjährigen Tochter die der elterlichen
„entziehen“ beruft sich der 1. Strafsenat darauf, dass § 235
Abreise folgenden Stunden voll auszukosten“,13 und allge-
StGB „vorrangig“ das Personensorgerecht „der für den jun-
mein dann, wenn der vermeintliche Täter eine Beeinträchti-
gen Menschen verantwortlichen Personen und das daraus ab-
gung des Sorgerechts herbeiführt „durch Handlungen, die
geleitete Obhuts- und Aufenthaltsbestimmungsrecht“ schüt-
sich unmittelbar gegen den Obhutspflichtigen und Sorge-
ze.17 Als Beleg hierfür wird eine Entscheidung des 4. Strafse-
rechtsinhaber auswirken“14.
nats aus dem Jahr 199918 angeführt. Der Umstand, dass diese
Wird der Berechtigte jedoch eingesperrt oder durch Dro-
– anders als die aktuelle Entscheidung – den zur Tatzeit
hungen mit dem Tod daran gehindert, sich dem Minderjähri-
(noch) geltenden § 235 StGB a.F. betraf, schien keiner be-
gen zu nähern, oder wird er von diesem durch listiges Vorge-
sonderen Erwähnung wert. Problematisch erweist sich das
hen weggelockt, lässt sich zunächst festhalten, dass der Täter
insofern, als § 235 StGB a.F. nach herrschender Ansicht noch
in erster Linie den Schutz der elterlichen oder sonstigen fami-
buch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 235 Rn. 15; Valerius, in: von lienrechtlichen Sorge bezweckte und den Interessen des Kin-
Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, des lediglich mittelbar diente,19 § 235 StGB nach neuer
Strafgesetzbuch, Stand: 10.11.2014, § 235 Rn. 6; Wieck- Rechtslage demgegenüber nicht nur die Personensorge, son-
Noodt, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar dern „unmittelbar auch die entzogene Person (Kind oder
zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 235 Rn. 37. Jugendlicher) schützt“20. Diese Erweiterung hinsichtlich der
9
BGH NJW 2014, 3589 Rn. 11. unmittelbar geschützten Rechtsgüter wird insbesondere aus
10
Siehe etwa Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 6; Wieck-Noodt, § 235 Abs. 4 Nr. 1 Var. 3 und Abs. 5 StGB abgeleitet.21 Ge-
(Fn. 8), § 235 Rn. 38. schützt ist dabei nicht (oder jedenfalls nicht umfassend)22 die
11
Siehe nur Geppert (Fn. 4), S. 780 f.; Krehl (Fn. 5), § 235
15
Rn. 46; Sallum, Die strafrechtlichen Probleme der internatio- Vgl. Hey, Kinderraub und Entführung (§§ 235-238
nalen Kindesentziehung beim Streit um das gemeinsame R.St.G.B.), 1909, S. 35.
16
Kind, 2008, S. 73, 77 und 161 f.; ähnlich auch schon Fichtl, Siehe nur Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 69.
17
Die Entziehung Minderjähriger, 1912, S. 65; Nippgen, Der BGH NJW 2014, 3589 Rn. 11 unter Verweis auf BGH
Kinderraub, 1930, S. 55 f. NJW 1999, 1344.
12 18
Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 46. BGH NJW 1999, 1344.
13 19
Regel, „Entziehen“ und „Entführen“ Minderjähriger, 1975, Siehe zur alten Rechtslage nur BT-Drs. 13/8587, S. 23;
S. 87; ähnlich wohl auch Schramm (Ehe und Familie im BGH NJW 1999, 1344 (1345).
20
Strafrecht, 2011, S. 465), wenn er für den Fall, dass nach BT-Drs. 13/8587, S. 38; vgl. auch Eser/Eisele (Fn. 8),
einem Ehestreit die Ehefrau die gemeinsame Wohnung ver- § 235 Rn. 1; Wieck-Noodt (Fn. 8), § 235 Rn. 1 und 8; Fischer
lassen will und bei der Auseinandersetzung um das gemein- (Fn. 8), § 235 Rn. 2; Nelles, in: Dencker/Struensee/Nelles/
same Kind der „Vater das Kind mit Gewalt an sich“ nimmt, Stein, Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz 1998,
ein „Entziehen“ (bzw. „Vorenthalten“) allein mit der Be- 1998, 3. Teil Rn. 28.
21
gründung ablehnt, dass das Sorgerecht in dieser Konstellation BT-Drs. 13/8587, S. 38 f.; Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 1;
zwangsläufig „nur durch eine Person ausgeübt werden kann“ Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 33 f.; kritisch Schroeder, in: Kühne/
(Hervorhebung im Original), also „einer der beiden Elterntei- Jung/Kreuzer/Wolter (Hrsg.), Festschrift für Klaus Rolinski
le auf das Kind verzichten“ müsse, und es daher als Angriffs- zum 70. Geburtstag am 11. Juli 2002, 2002, S. 155 (161).
22
objekt ausscheide. Während manche das dem Minderjährigen zustehende
14
Regel (Fn. 13), S. 84, vgl. auch S. 87 (Hervorhebung im Rechtsgut als „Konkretisierung“ oder „Ausdruck“ seines
Original). Rechts der persönlichen Freiheit begreifen (so Wieck-Noodt
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persönliche Freiheit des Minderjährigen, sondern seine unge- auf das Kind auswirkt.30 Gewährleistet ist eine solche Beein-
störte körperliche und seelische Entwicklung.23 trächtigung der Integrität des Kindes typischerweise dann,
Da § 235 StGB nunmehr auch die körperliche und seeli- wenn der Täter den Minderjährigen dem Einflussbereich des
sche Integrität der minderjährigen Person als eigenständiges24 Sorgeberechtigten entreißt und ihn an einen anderen Ort
Rechtsgut schützt, kann das Vorliegen einer „Entziehung“ im verbringt.
Sinne des § 235 StGB nicht allein unter Hinweis auf eine
Verletzung des (vermeintlich vorrangig geschützten) Sorge- 2. Der allgemeinsprachlich mögliche Wortsinn als Grenze
rechts des Berechtigten begründet werden. Die Auslegung der Auslegung
der Tathandlung muss vielmehr zusätzlich eine mögliche Be- Doch selbst wenn sich aus den Gesetzesmaterialien ableiten
einträchtigung oder Gefährdung des Minderjährigen als ent- lässt, dass § 235 StGB vorrangig dem Schutz des Personen-
zogene Person im Blick haben. Dass eine solche bereits mit sorgerechts dient und es sich dabei um das vorrangig zu
jeder Verletzung des Sorgerechts zwingend verbunden ist, ist schützende Rechtsgut handelt, wäre damit die Frage nicht
nicht anzunehmen, auch wenn das Interesse des Schutzbefoh- beantwortet, ob der Entzug eines Elternteils dem gesetzlichen
lenen in einem solchen Fall mittelbar betroffen sein mag25 Begriff „entziehen“ subsumiert werden kann. Denn jede
und „Sorgerecht der Eltern und Entwicklungsrecht des Min- Auslegung (auch die historische, also selbst der Wille des
derjährigen [als] […] nur zwei verschiedene Aspekte eines Gesetzgebers) findet eine Grenze beim allgemeinsprachlich
und desselben Rechtsgedankens“26 verstanden werden. Denn noch möglichen Wortsinn. Eine Interpretation, die darüber
das Interesse des Minderjährigen, vom Sorgerecht des für ihn hinausgeht, verletzt Art. 103 Abs. 2 GG.
Verantwortlichen zu profitieren, wurde (nach herrschender Betrachtet man den Wortsinn des Begriffs „entziehen“,
Ansicht) bereits durch § 235 StGB a.F. reflexartig über den gelangt man dazu, dass diesem Ausdruck im alltäglichen
Schutz des Personensorgerechts erfasst.27 Die Aufwertung Sprachgebrauch unterschiedliche Bedeutungen zukommen
des Kinder- und Jugendschutzes durch das 6. Strafrechtsre- können. Dem Sinnzusammenhang des § 235 StGB lässt sich
formgesetz28 zu einem neben der elterlichen Sorge gleichwer- entnehmen, dass das Verb „entziehen“ in dieser Vorschrift in
tig geschützten Rechtsgut verlöre jeden materiellen Gehalt, der allgemeinsprachlichen Bedeutung „nicht länger überlas-
würde man das „neue“ Schutzgut mit dem über das Sorge- sen, nicht mehr in jmds. Besitz, Verfügungsgewalt o. Ä.
recht bewirkten mittelbaren Schutz des entzogenen Kindes lassen“31 verwendet wird.32 Spricht man aber davon, dass
gleichsetzen. Vielmehr zielt der Tatbestand des § 235 StGB etwas nicht im Besitz oder in der Verfügungsgewalt einer
in gleichem Maße auf die Gewährleistung der körperlichen Person gelassen bzw. belassen wird, deutet dies darauf hin,
und seelischen Integrität der entzogenen Person als eigen- dass das Objekt nicht im Einflussbereich des Berechtigten
ständiges Rechtsgut ab. Dem kann auch nicht entgegengehal- verbleibt, weil es durch entsprechende Einwirkung darauf aus
ten werden, dass die Tatbestände des § 235 Abs. 1 und 2 diesem Bereich entfernt wird. Man könnte stattdessen ebenso
StGB auch dann verwirklicht sind, wenn der Aufenthalt beim gut sagen, dass die Besitzverhältnisse oder die Verfügungs-
Täter für das Kind keine Nachteile nach sich ziehen oder gewalt der Person bezogen auf den Gegenstand geändert
diesem sogar zugutekommen mag.29 Es genügt insoweit, dass werden33 oder dass das Objekt aus dem Besitz oder der Ver-
der Gesetzgeber davon ausgeht, dass sich eine räumliche fügungsgewalt der Person entfernt oder weggenommen bzw.
Trennung von der elterlichen Familie in der Regel nachteilig mitgenommen wird.34
In der Zusammenschau zeichnet sich somit ein allgemei-
nes Begriffsverständnis ab, das eine tatsächliche Einwirkung
auf den entzogenen Gegenstand impliziert, die dazu führt,
[Fn. 8], § 235 Rn. 8; Krehl [Fn. 5], § 235 Rn. 37), meinen
dass dieser Gegenstand nicht mehr im Einflussbereich des
andere, dass es nicht um die persönliche Freiheit des Schutz-
befohlenen gehe (siehe Wolters, in: Wolter [Hrsg.], Systema-
30
tischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 136. Lfg., Stand: Zu dieser Annahme des Gesetzgebers (unter Verweis auf
Oktober 2012, § 235 Rn. 2; Schroth [Fn. 8], § 235 Rn. 2). § 1666a BGB) siehe Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 36.
23 31
Vgl. Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 1; Wieck-Noodt (Fn. 8), Duden, Bd. 10 – Das Bedeutungswörterbuch, 4. Aufl.
§ 235 Rn. 8. 2010, S. 334, Stichwort „entziehen“ Nr. 1 lit. b.
24 32
Sallum (Fn. 11), S. 64; Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 36. Eine grammatikalische, für die hier interessierende Frage
25
Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 32. allerdings nicht ganz eindeutige Auslegung der Tathandlung
26
Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 37. „Entziehen“ findet sich auch in RGSt 18, 273 (277 f.): „Das
27
Dazu überblicksartig Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 32. Nach Wort deutet eigentlich auf ein Trennen hin durch Ziehen
Geppert ([Fn. 4], S. 771 f.) sollte mit der Feststellung, dass dessen, was man trennen will.“ Hier werde es aber in über-
§ 235 StGB „auch“ oder „mittelbar“ dem Schutz des Minder- tragener Bedeutung gebraucht, daher genüge „zur Entziehung
jährigen diene, zum Ausdruck gebracht werden, dass das die Beseitigung der früheren Verbindung“; siehe auch
elterliche Sorgerecht im Interesse des Minderjährigen ge- Freiesleben u.a., in: J. v. Olshausen’s Kommentar zum Straf-
schützt werde, und zwar insofern, als „ein Auseinanderfallen gesetzbuch, 12. Aufl. 1942, § 235 Anm. 2a; Fichtl (Fn. 11),
von Sorgerecht und Sorgepflicht“ (Hervorhebung im Origi- S. 64.
33
nal) verhindert werden sollte. Vgl. Duden (Fn. 31), S. 595, Stichwort „lassen“ Nr. 4.
28 34
BGBl. I 1998, S. 164. Vgl. Duden (Fn. 31), S. 595, Stichwort „lassen“ Nr. 2 lit. c,
29
So aber Schramm (Fn. 13), S. 468. Nr. 7 lit. a.
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Berechtigten ist. Wird davon gesprochen, dass einer Person einer räumlichen Trennung der betroffenen Personen.38 Ver-
etwas „entzogen ist“, wird man das Zustandspassiv zwar langt man aber für ein „Entziehen“ eine räumliche Trennung,
lediglich dahingehend verstehen, dass das Objekt nicht mehr die, wie dies der allgemeinsprachliche Wortsinn nahelegt,
dem Besitz oder der Verfügungsgewalt einer Person unter- durch eine Einwirkung auf die minderjährige Person herbei-
liegt, ohne dem zugleich eine zwingende Aussage in Bezug geführt werden soll, ergibt sich, dass dieses Tatbestands-
auf eine wie auch immer geartete Einflussnahme zu entneh- merkmal nur durch räumliche Entfernung des Schutzbefohle-
men, die den beschriebenen Zustand herbeigeführt haben nen verwirklicht werden kann. Bemerkenswert ist im Übri-
mag. Wird aber zum Beispiel eine Person im Keller eines gen, dass sich auch die herrschende Meinung zur Bestim-
Hauses eingesperrt oder unter Einwirkung von Gewalt an mung der Tathandlung in diesem Punkt nicht allein auf das
einen entfernten Ort verbracht, sodass sie nicht mehr zu dem (weite) Kriterium der Beeinträchtigung der Sorgerechtsaus-
vor ihrem Haus stehenden Fahrrad gelangen kann, liegt eine übung verlassen möchte, obwohl auf der Hand liegt, dass eine
Formulierung wie „man entzieht der Person damit das Fahr- solche Beeinträchtigung auch ohne räumliche Trennung vor-
rad“ nach allgemeinem Sprachgebrauch wenig nahe. Man liegen kann.39
könnte in diesem Fall eher davon sprechen – und würde den Gestützt wird die restriktive Sichtweise zum Wortsinn
zuletzt angeführten Satz in diesem Zusammenhang wohl von der Systematik: § 235 Abs. 2 Nr. 1 StGB enthält als Vor-
letztlich auch so verstehen –, dass man der Person die Verfü- aussetzung, dass der Täter in der Absicht handeln muss, das
gungsgewalt über das Fahrrad entzieht, also wegnimmt. Das Kind ins Ausland zu verbringen. Dies legt nahe, dass das Tat-
Objekt der Entziehung wäre bei genauer Ausdrucksweise bestandsmerkmal „entziehen“ durch einen Ortswechsel des
damit aber ein anderes. Kindes als Vorstufe der beabsichtigten Verbringung ins Aus-
Setzt § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB voraus, dass der Täter eine land begangen wird. Für ein solches Verständnis spricht zu-
Person unter 18 Jahren dem Sorgeberechtigten entzieht, wird sätzlich, dass Abs. 2 Nr. 1 die „aktive Entführung“ von Kin-
damit der Minderjährige als „Tatobjekt“ bzw. als „Objekt der dern – im Unterschied zur „passiven Entführung“ in Abs. 2
Tathandlung“ bestimmt.35 Er ist somit derjenige, auf den die Nr. 2 – erfassen soll.40
Handlung des Täters tatsächlich unmittelbar einwirkt. Der Auch § 235 Abs. 1 Nr. 2 StGB weist in diese Richtung:
Sorgerechtsberechtigte ist von der Entziehung des Schutzbe- Nach dem in den Gesetzgebungsmaterialien formulierten
fohlenen dagegen lediglich betroffen.36 Schutzzweck des § 235 Abs. 1 Nr. 2 StGB soll diese Vor-
Der Blick auf den Wortlaut führt zudem zu der Erkennt- schrift der „besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern“
nis, dass ein „Entziehen“ eine Ortsveränderung des von der Rechnung tragen und „insoweit bereits die schlichte Weg-
Einwirkung betroffenen Gegenstands beinhaltet. In Bezug auf nahme, also eine Entziehung, bei der weder Gewalt oder
das „Entziehen“ im Sinne des § 235 StGB besteht in Recht- Drohung noch List angewendet wird, unter Strafe […] stel-
sprechung und Lehre demgemäß weitgehend Einigkeit, dass len“.41 Dies deutet darauf hin, dass § 235 Abs. 1 Nr. 2 StGB,
diese Tathandlung eine räumliche Trennung zwischen der wenn auch nicht unbedingt ausschließlich, so doch schwer-
entzogenen minderjährigen Person und dem Sorgeberechtig- punktmäßig eine Tatbestandsverwirklichung durch räumli-
ten erfordere. Dadurch solle die Vorschrift konkretisiert und ches Entfernen des Schutzbefohlenen verhindern soll.
der Tatbestand mit Blick auf die geschützten Rechtsgüter Ein weiterer Beleg für eine im Gesetz angelegte unter-
sachgerecht eingeschränkt werden, da insbesondere nicht jede schiedliche Betroffenheit des Minderjährigen und des Sorge-
denkbare Beeinträchtigung des Sorgerechts eine Strafbarkeit rechtsberechtigten durch das Tatgeschehen ist darin zu sehen,
wegen Entziehung Minderjähriger begründen solle.37 Eine dass mit der Bezeichnung „Opfer“ in § 235 Abs. 4 Nr. 1 und
wesentliche, der Ausübung des Personensorgerechts entge- Abs. 5 StGB lediglich die minderjährige Person bzw. das
genstehende Beeinträchtigung liege vielmehr nur vor bei Kind gemeint ist.42 Dafür spricht zum einen der Wortlaut von
Abs. 4 Nr. 1 Var. 3.43 Dort ist die Rede von einer „erhebli-
35
chen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwick-
So etwa auch Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 2 f.; Wieck-
Noodt (Fn. 8), § 235 Rn. 22 f.; Wolters (Fn. 22), § 235
38
Rn. 3 f. und Rn. 13; Schramm (Fn. 13), S. 458; ebenso schon Krehl (Fn. 5), § 235 Rn. 45.
39
Villnow (Archiv für Gemeines Deutsches und für Preußisches Vgl. dazu etwa Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht,
Strafrecht 24 [1876], 104 [117]), der zum Beleg dafür, dass Besonderer Teil, Bd. 2, 10. Aufl. 2012, § 63 Rn. 60.
40
der Minderjährige als „Objekt des Entziehens“ fungiert, dar- BT-Drs. 13/8587, S. 24, 38 f.
41
auf verweist, dass das „Gesetz sagt: ‚Wer eine minderjährige BT-Drs. 13/8587, S. 38.
42
Person […] ihren Eltern oder ihrem Vormund entzieht‘ und So etwa BGH NStZ 2006, 447 (448); Wolters (Fn. 22),
nicht: ‚Wer einer minderjährigen Person […] ihre Eltern oder § 235 Rn. 18 und 20; Fischer (Fn. 8), § 235 Rn. 2, 16a;
ihren Vormund entzieht.‘“ Anders dagegen Valerius (Fn. 8), Braasch (Fn. 8), § 235 StGB Rn. 17 f.; Krehl (Fn. 5), § 235
§ 235 Rn. 2, der als „Tat-“ bzw. „Angriffsobjekt“ das Sorge- Rn. 82; wohl auch Wieck-Noodt (Fn. 8), § 235 Rn. 90;
recht bezeichnet. Hardtung, Versuch und Rücktritt bei den Teilvorsatzdelikten
36
Vgl. Eser/Eisele (Fn. 8), § 235 Rn. 2, der zwischen dem des § 11 Abs. 2 StGB, 2002, S. 144. A.A. etwa Eser/Eisele
„Objekt der Entziehung“ und „den davon betroffenen (Fn. 8), § 235 Rn. 22 f.; Sonnen (Fn. 8), § 235 Rn. 23.
43
Schutzpersonen“ unterscheidet. Ebenso Schramm (Fn. 13), Siehe Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 39), § 63 Rn. 67;
S. 458. Wolters (Fn. 22), § 235 Rn. 18; wohl auch Hardtung (Fn. 42),
37
So Sallum (Fn. 11), S. 75 f. S. 144.
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BGH, Beschl. v. 17.9.2014 – 1 StR 387/14 Putzke
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lung“. Dass es dabei nicht um die Sorgeberechtigten geht,


liegt auf der Hand. Bestätigt wird dies durch die Gesetzesma-
terialen.44

V. Fazit
Wer einen sorgeberechtigten Elternteil zwangsweise für eine
gewisse Dauer von seinem unter achtzehnjährigen Kind ent-
fernt, macht sich nicht wegen Entziehens nach § 235 Abs. 1
Nr. 1 StGB strafbar. Denn dafür genügt es nicht allein, das
Recht zur Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbe-
stimmung durch räumliche Trennung für eine nicht nur ganz
vorübergehende Dauer so zu beeinträchtigen, dass es nicht
mehr ausgeübt werden kann. Vielmehr zieht in der vorliegen-
den Sachverhaltskonstellation der Wortsinn einer derart wei-
ten Auslegung eine Grenze. Die Annahme einer Strafbarkeit
ist mit dem Bestimmtheitsgrundsatz nicht vereinbar. Dass
gleichwohl eine Strafbarkeit nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB in
Betracht kommen könnte, weil die Kinder der Mutter durch
den Vater vorenthalten wurden, ist eine andere Frage.
Prof. Dr. Holm Putzke, LL.M., Passau

44
Dazu BGH NStZ 2006, 447 (448); Wolters (Fn. 22), § 235
Rn. 18.
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319
Schlechtriem/Schroeter, Internationales UN-Kaufrecht Steinrötter
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B uc hre ze ns io n in den zentralen Fragen (Vertragsabschluss; materielles Kauf-


recht) geschieht dies trotz diverser inhaltlicher Änderungen
Peter Schlechtriem/Ulrich G Schroeter, Internationales UN- weitgehend behutsam. In anderen Teilen (Anwendungsbe-
Kaufrecht, 5. Aufl., Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2013, reich; allgemeine Vorschriften; Schlussbestimmungen) ist die
419 S., € 34,-. neue Handschrift hingegen – legt man die Vorauflage da-
neben – nicht mehr zu verkennen. Schroeters Verdienst ist es,
Die Vereinheitlichung des Kaufrechts ist nicht zuletzt wegen dass das Werk gleichwohl in sich stimmig bleibt. Insbesonde-
des Vorschlags für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht re kann man dem im Gesamtumfang nicht unerheblich „an-
(CESL)1 in aller Munde. Während sich dieses ohnehin kei- gewachsenem“ Lehrbuch (von 282 auf 419 Seiten) einen
nesfalls unumstrittene2 Projekt eines optionalen Instruments nunmehr stärkeren internationalen Einschlag bescheinigen.
jedoch noch in der Praxis würde bewähren müssen, ist das Dies gilt einmal mit Blick auf eine deutlichere Berücksichti-
seit dem 1.1.1988 in Kraft befindliche UN-Kaufrecht (CISG)3 gung des EU-Rechts, aber auch hinsichtlich einer stärker
im unternehmerischen Kaufrechtsverkehr als verlässliches ausgeprägten Verwertung ausländischer Judikatur.
Regelwerk weithin anerkannt. Auch hat das CISG an juristi- Warum nun ist das Lehrbuch also derart empfehlenswert?
schen Fakultäten - regelmäßig in Form eigenständiger Vorle- Ganz allgemein gilt Folgendes: Zunächst fallen die ein-
sungen innerhalb der internationalrechtlichen Schwerpunkt- gängigen, unprätentiösen Formulierungen positiv auf. Nur
bereiche - seinen festen Platz. Kein Wunder also, dass UN- äußerst selten muss man einen Satz zweimal lesen, um ihn zu
Kaufrechtler einem etwaigen künftigen „Wettbewerb der verstehen. Das ermöglicht ein zügiges Durcharbeiten. Im
Einheitskaufrechte“ recht „gelassen entgegensehen“ sowie Aufbau hält sich das Buch zwar im Ausgangspunkt „kom-
das CESL als (jedenfalls für Handelskäufe) „verzichtbar“ be- mentarähnlich“ an die Reihung der CISG-Vorschriften,
trachten. Mit dieser selbstbewussten Haltung gegenüber dem nimmt vor dem Hintergrund der inhaltlichen Abstimmung
vermeintlichen „Konkurrenzprodukt“ der EU beginnt dann der Normen zueinander allerdings mitunter auch bereits
auch der Schlechtriem/Schroeter (Rn. 23). knappe Vorgriffe und Inbezugnahmen vor,4 was dem Ver-
Um es vorweg zu nehmen: Diese Buchbesprechung wird ständnis des systematischen Zusammenspiels der einzelnen
äußerst positiv ausfallen. Wenn es ein Lehrbuch zu vollbrin- Regelungen förderlich ist. Ein gutes Händchen muss man
gen vermag, seinem Leser bereits beim ersten konzentrierten auch für den wohl durchdachten Mix aus theoretischem In-
Durcharbeiten die grundlegenden Gedanken sowie die Sys- formationsteil und den zugehörigen Beispielen - basierend
tematik eines Rechtsbereiches derart fundiert zu vermitteln, zumeist auf tatsächlich ergangener Judikatur - bescheinigen.
bleibt nur jener beifällige Befund. Und tatsächlich schafft der Auf diese Weise gerät die Darstellung nicht nur plastisch;
Schlechtriem/Schroeter genau dies. Es handelt sich hierbei man bekommt zudem recht schnell ein Gefühl für Tendenzen
um eines der seltenen Lehrbücher, bei dem es sich lohnt, es der internationalen Rechtsprechung. Auch die „inhaltliche
ganz durchzuarbeiten - dies jedenfalls dann, wenn der Leser Dichte“ des Lehrbuches erscheint vorzüglich abgestimmt.
erstmalig auf die Thematik „UN-Kaufrecht“ zugreift. Danach Weder wird Überflüssiges breitgetreten noch fehlt Wesentli-
darf man getrost von sich behaupten, etwas vom CISG zu ches. Für künftige Auflagen bleibt in diesem Zusammenhang
verstehen. Zugleich schafft der Rezipient sich einen hervor- zu empfehlen, dies so beizubehalten und namentlich der Ver-
ragenden Ausgangspunkt, um seine Kenntnisse sodann hier- suchung zu widerstehen, dem CESL im Rechtsvergleich allzu
auf aufbauend weiter zu vertiefen. Aber auch der versierte viel Platz einzuräumen. Dies mag anderen Büchern vorbehal-
UN-Kaufrechtler mag sich mitunter im Schlechtriem/ ten bleiben, will man die (trotz der Erweiterung in der aktuel-
Schroeter zuverlässig rückabsichern. len Auflage noch) angenehm schlanke Struktur und den Fo-
Das von Peter Schlechtriem begründete Werk hat Ulrich kus auf das Übereinkommen aufrechterhalten.
G. Schroeter in der aktuellen Auflage fortgeführt. Jedenfalls Als hilfreich erweist sich, dass der Übereinkommenstext
am Ende des Buches (S. 363-388) ebenso abgedruckt ist wie
1
das deutsche Vertragsgesetz (S. 389 f.) sowie ein Verzeichnis
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parla- der Vertragsstaaten des CISG (S. 391-400). So liefert das
ments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Lehrbuch alles Notwendige aus einem Guss, der Studierende
Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM (2011) 635 endg. muss insbesondere keine zusätzlichen Gesetzessammlungen
2
Siehe aus der Fülle des Schrifttums nur Ayad/Schnell, BB hinzuziehen, um zwischen den Erläuterungen und dem
2012, 1487; Groß, EuZW 2012, 521; Kroll-Ludwigs, GPR Normtext zu wechseln.
2012, 181; Leible, BB 2008, 1469; Limmer/Huttenlocher/ Inhaltlich besticht das Buch durch seine durchgängig ho-
Simon, EuZW 2013, 86; Loacker, EuZW 2014, 888; Mansel, he Qualität. Die Ausführungen sind argumentativ nachvoll-
WM 2012, 1253; ders., WM 2012, 1309; Mayer/Lindemann, ziehbar und methodisch abgesichert. Es verdient freilich
ZEuP 2014, 1; Schulze, ZEuP 2014, 691; Wendehorst, ZEuP Beachtung, dass Schroeter nicht stets die h.M. vertritt5 und
2013, 199; Wendelstein, GPR 2013, 70. auch von Schlechtriems Auffassung aus der Vorauflage gele-
3
Wiener UN-Übereinkommen über Verträge über den inter-
nationalen Warenkauf v. 11.4.1980 = BGBl. II 1989, S. 588;
in der Bundesrepublik Deutschland ist das Übereinkommen
4
am 1.1.1991 in Kraft getreten, Gesetz zu dem Übereinkom- Z.B. Rn. 307 ff.
5
men der Vereinten Nationen vom 11.4.1980 über Verträge Beispielsweise: Rn. 38; 60; 320; 427 f.; 471/566; 670 ff.;
über den internationalen Warenkauf = BGBl. II 1989, S. 586. 734; 741; 753-755.
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gentlich abweicht.6 Er kennzeichnet dies jedoch (wenn auch damit Art. 31 CISG (bzw. Art. 57 CISG) eine „Restbedeu-
zuweilen lediglich in der Fußnote, weshalb ein rascher Blick tung“ in folgenden Fällen zu (Rn. 353): Die faktische Über-
hierauf zu empfehlen ist) und vermag seine Ansichten so zu nahme des Käufers könne nicht geklärt werden;11 bei der
begründen, dass es den von ihm geführten Leser nicht selten Auslegung vertraglicher Lieferklauseln; in Konstellationen,
überzeugt. in denen der Lieferort außerhalb der EU oder in Dänemark
Nur einmal setzte das gedankliche, Beifall spendende liege. Problematisch erscheint die „Restbedeutung“ dabei in
Kopfnicken des Rezensenten verspätet ein. So ließ die Be- den zuletzt genannten Fällen. Liegt der „faktische“ Lieferort
schreibung des Zusammenspiels der Brüssel I-VO7 mit dem außerhalb der EU, erscheint tatsächlich angezeigt, auf jene
CISG in den Rn. 353 und 522 den Lesefluss ein wenig ins Zuständigkeitsregeln der lit. c, a und damit einhergehend auf
Stocken geraten (beachte für ab dem 10.1.2015 erhobene die de Bloos-12 und Tessili-Rechtsprechung13 des EuGH zu-
Klagen die revidierte Fassung des Sekundärrechtsakts, die rückzugreifen.14
Brüssel Ia-VO)8. An den zuvor genannten Stellen geht es um Aber ist nicht eine andere Beurteilung im Falle des Lie-
die Bedeutung des in Art. 31 sowie Art. 57 CISG geregelten ferortes in Dänemark vorzunehmen? Zwar ist Dänemark
materiell-rechtlichen Liefer- bzw. Zahlungsortes für die örtli- ausweislich Art. 1 Abs. 3 Brüssel I-VO15 kein Mitgliedstaat
che und internationale Zuständigkeit. im Sinne des Sekundärrechtsaktes; allerdings greift hier doch
Sowohl § 29 ZPO (doppelfunktional bzgl. des internatio- - so mag der internationalrechtlich vorgebildete Studierende
nalen Gerichtsstands) als auch Art. 5 Nr. 1 lit. b erster Spie- im Hinterkopf haben - das (inzwischen an die Brüssel Ia-VO
gelstrich Brüssel I-VO bzw. Art. 7 Nr. 1 lit. b erster Spiegel- angepasste) Parallelabkommen.16 Müsste dann nicht wieder-
strich Brüssel Ia-VO stellen auf den Erfüllungsort als An- um wegen des Gleichlaufs mit der Brüssel I-VO im Aus-
knüpfungspunkt ab. Im Unterschied zu § 29 ZPO, der den gangspunkt der „faktische“ und einheitliche Erfüllungsort
Erfüllungsort der jeweils streitgegenständlichen Verpflich- gelten und Art. 31 CISG (bzw. Art. 57 CISG) insofern also
tung in Bezug nimmt und daher eine materielle Vorprüfung gerade nicht einschlägig sein? Dem ist nicht so: Zwar zielt
(grundsätzlich inklusive kollisionsrechtlicher Ermittlung des das Parallelabkommen nicht allein (wenn auch in erster Li-
maßgebenden Statuts) bereits in der Zulässigkeit der Klage nie) auf den dänischen Richter ab. Ausweislich seines Art. 10
nach sich zieht,9 ist dies bei Art. 5 Nr. 1 lit. b erster Spiegel- Abs. 2 lit. a kommt dem Staatsvertrag aus mitgliedstaatliche
strich Brüssel I-VO bzw. Art. 7 Nr. 1 lit. b erster Spiegel- Perspektive jedoch nur ein Vorrang zu, wenn der Beklagte in
strich Brüssel Ia-VO nicht veranlasst. Denn insoweit definiert Dänemark wohnt bzw. die Art. 22 f. Brüssel I-VO/Art. 24 f.
gerade der erste Spiegelstrich der zuvor genannten Normen Brüssel Ia-VO einen dänischen Gerichtsstand konstituieren.
den Erfüllungsort für den „Verkauf beweglicher Sachen“ Damit ist der lakonische Befund Schroeters also zutreffend.
einheitlich, mithin losgelöst von der jeweils eingeklagten Wenn allein der Lieferort in Dänemark liegt, bleibt es bei
Forderung. Danach kommt es sowohl bei Käufer- als auch
Verkäuferklagen auf den Ort in einem Mitgliedstaat an, an 11
dem die Kaufgegenstände „nach dem Vertrag geliefert wor- Dies sei bei Direktlieferungen an den Abnehmer des Käu-
den sind oder hätten geliefert werden müssen“. Dieses An- fers sowie der Veräußerung „schwimmender“ bzw. „rollen-
knüpfungsmoment ist dabei zuvörderst faktisch zu bestim- der“ Ware der Fall.
12
men.10 Soweit die EU-Zuständigkeitsregel räumlich-persön- Nach der de Bloos-Rechtsprechung des EuGH (Slg. 1976,
lich greift, ist sie für UN-Kaufrechtsverträge grundsätzlich. S. 1497) kommt es auf den Erfüllungsort der jeweils streitge-
zugrunde zu legen. Schroeter gesteht Art. 5 Nr. 1 lit. c, a genständlichen Verpflichtung an.
13
Brüssel I-VO bzw. Art. 7 Nr. 1 lit. c, a Brüssel Ia-VO und Ausweislich der Tessili-Doktrin (EuGH, Slg. 1976,
S. 1473) muss das Gericht unter Rückgriff auf sein IPR (so-
fern kein Einheitsrecht Platz greift) das einschlägige Sach-
6
Etwa Rn. 237 a.E.; Rn. 752. recht ermitteln, um den Erfüllungsort der betreffenden Pflicht
7
Verordnung (EG) Nr. 44 des Rates über die gerichtliche festlegen zu können (m.a.W.: Keine autonome Begriffsbil-
Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von dung).
14
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 22.12.2000 = Dies jedenfalls dann, wenn die sonstigen Prämissen des
ABl. EG 2001 Nr. L 12, S. 1. fakultativen Gerichtsstands greifen (beachte insbesondere den
8
Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parla- Eingangssatz von Art. 5 Brüssel I-VO/Art. 7 Brüssel Ia-VO);
ments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und Staudinger/Steinrötter, JuS 2015, 1 (7); dies., JA 2012, 241
die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in (247); a.A. Rauscher, NJW 2010, 2251 (2254), wonach lit. b
Zivil- und Handelssachen v. 12.12.2012 = ABl. EU Nr. L gegenüber lit. c, a im Lichte des Kriteriums der Sachnähe
351, S. 1; dazu Domej, RabelsZ 78 (2014), 508; v. Hein, RIW abschließend sei, wenn die einheitlichen Gerichtsstände des
2013, 97; Staudinger/Steinrötter, JuS 2015, 1; zum Verbrau- lit. b nicht in einen Mitgliedstaat führt.
15
cherprozessrecht Mankowski, RIW 2014, 625. Diese klarstellende Norm hat keinen Eingang in die Brüs-
9
Ganz allgemein ist die Prüfung materiellen Rechts bereits in sel Ia-VO gefunden; siehe dort aber Erwägungsgrund 41.
16
der Zulässigkeit der Klage kritikwürdig, autonome Begriffs- Abkommen zwischen Dänemark und der EG über die An-
klärungen erscheinen demgegenüber grds. vorzugswürdig; erkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil-
vgl. dazu Staudinger/Steinrötter, JuS 2015, 1 (5); dies., JA und Handelssachen = ABl. 2005 Nr. L 299, S. 62 ff.; ange-
2012, 241 (247). passt durch ABl. 2013 Nr. L 79, S. 4; siehe Pohl, IPRax
10
EuGH EuZW 2010, 301 (303, Car Trim [m. Anm. Leible]). 2013, 109.
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Schlechtriem/Schroeter, Internationales UN-Kaufrecht Steinrötter
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lit. c, a. Wohnt der Beklagte ebenfalls dort, greift das Paral- an (Rn. 111-213). Hierbei handelt es sich um einen für Prü-
lelübereinkommen. Dann ist dessen fakultative Zuständig- fung und Praxis äußerst relevanten und anspruchsvollen Be-
keitsregel aber bereits deshalb a priori nicht einschlägig, weil reich des UN-Kaufrechts, den Schwerpunktstudierende unbe-
die Prämisse des Eingangssatzes nicht erfüllt ist („in einem dingt aufmerksam lesen (und im Zweifel weiter vertiefen)
anderen Staat verklagt werden“)17. Es bleibt für künftige sollten.
Auflagen anzuregen, dem Leser bei der Umschiffung derarti- Daraufhin erläutert Schroeter allgemeine Vorschriften
ger potentieller gedanklicher Klippen mit einem erläuternden wie etwa die Auslegung von Willenserklärungen und die
Satz zu Art. 10 des Parallelabkommens zu helfen. Dies mag Formfreiheit (Rn. 214-238). Der nächste große Block betrifft
freilich Geschmackssache sein. Jedenfalls ändert diese kleine die Vertragsabschlussregeln (Rn. 239-304). Diese dürften für
Anregung nichts an der Strahlkraft des Werkes. deutsche Juristen – trotz sachlicher Abweichungen im De-
Im Einzelnen folgt das Lehrbuch folgendem Aufbau: Ein- tail24 – keine nennenswerten Schwierigkeiten aufwerfen.
gangs erläutert Schroeter die Vorgeschichte (Rn. 1-7), den Es folgt mit der Darstellung der Pflichten und Rechtsbe-
Aufbau (Rn. 8-15) sowie die praktische Relevanz des UN- helfe der Parteien (dritter Teil des Übereinkommens) der für
Kaufrechts (Rn. 16 f.), bevor die neueren Entwicklungen im Prüfung und Praxis wohl wichtigste Abschnitt (Rn. 305-803).
Einheitsrecht in den Blick genommen werden (Rn. 18-23). Gerade an dieser Stelle erscheint es als Wohltat für den Ge-
Der eilige Leser mag dies überspringen, wenngleich ihm die samtüberblick, dass dem Kapitel über die wesentliche Ver-
Lektüre für ein besseres Gesamtverständnis ans Herz gelegt tragsverletzung ein Abriss über die vier Basisrechtsbehelfe
sei. Ähnliches gilt für den Teil, welcher sich den Schluss- ([Nach-]Erfüllung, Zurückbehaltungsrechte, Schadensersatz
klauseln widmet (Rn. 804-828). und Vertragsaufhebung)25 vorgelagert ist.
Die dazwischen zu findenden Ausführungen sind sodann Nach den allgemeinen Bestimmungen (Rn. 307-339) fol-
für den „UN-Kaufrecht-Anfänger“ obligatorisch, da es sich gen die Pflichten des Verkäufers (Rn. 340-445) bei deren
hierbei um den für die Falllösung entscheidenden Teil han- Verletzung die sodann dargestellten Rechtsbehelfe des Käu-
delt. Zunächst werden Anwendungsvoraussetzungen und An- fers (Rn. 446-509) greifen. Diesem Aufbau folgt spiegelbild-
wendungsbereich des Übereinkommens behandelt (Rn. 24- lich die Erläuterung der Käuferpflichten (Rn. 510-555) und
87). Nicht oft genug betont werden kann in diesem Zusam- der korrespondierenden Ansprüche des Verkäufers (Rn. 556-
menhang, dass das CISG ein opt-out-Instrument darstellt, es 588). Nach den Spezifika stellt Schroeter – den Vorgaben des
also abgewählt werden muss, soll es nicht zur Anwendung CISG-Textes folgend – die gemeinsamen Bestimmungen
kommen (Art. 6 CISG). Die Gerichte legen hierbei einen über die Käufer- und Verkäuferpflichten dar (Rn. 589-638).
tendenziell strengen Maßstab an.18 So ist die Formulierung Hier hätte es sich meines Erachtens angeboten, diesen Teil
„es gilt deutsches Recht“ nicht ausreichend, um das UN- nach vorne zu dem der übrigen allgemeinen Bestimmungen
Kaufrecht zu „deaktivieren“. Vielmehr wird in derlei Kons- zu ziehen, da es sich entgegen der formalen Systematik des
tellationen das UN-Kaufrecht als Bestandteil der hiesigen Übereinkommens um gemeinsame AT-Vorschriften handelt.
Rechtsordnung mitgewählt. An verschiedenen Stellen wird – Die Erklärung für den anderslautenden Ansatz des Buches
zu Recht – darauf hingewiesen, dass eine Rechtswahl trotz findet sich in Rn. 306: Es soll die parallele Verwendung
Geltung des CISG äußerst sinnvoll ist.19 Denn oftmals sind anderer Lehrbücher und Kommentare ermöglicht werden,
diverse „Zusatzanknüpfungen“20 über das IPR notwendig, um welche ihrerseits entlang des CISG-Textes aufbauen. Das ist
einen grenzüberschreitenden Kaufrechtsfall lösen zu können. nachvollziehbar. Andererseits hätte der Schlechtriem/
Es folgen Erläuterungen zur (autonom vorzunehmenden) Schroeter hier weiter an seiner ihn prägenden Ausrichtung -
Auslegung des Übereinkommens (Rn. 88-110). Dem schlie- „Grundlagen- und Systemverständnis“ zu vermitteln - feilen
ßen sich Ausführungen zur Regelungsmaterie und zu den sog.
internen21 und externen22 Lücken sowie deren Ausfüllung23 22
Eine externe Lücke liegt bei außerhalb der Regelungsmate-
rie des CISG liegenden Sachfragen vor.
17 23
Hervorhebung des Verf. Interne Lücken sind anhand allgemeiner Grundsätze, sub-
18
Als pars pro toto: OLG Hamm NJW-RR 2010, 708 (709); sidiär durch qua IPR berufenes unvereinheitlichtes Recht zu
OLG Stuttgart OLG-Report 2008, 514. schließen (Art. 6 Abs. 2 CISG), externe Lücken nach Maßga-
19
Rn. 24, 51. be des durch das Kollisionsrecht der lex fori berufenen inner-
20
Dies gilt etwa für die Aufrechnung (beachte aber jüngst staatlichen Rechts.
24
BGH BeckRS 2014, 20679, wonach konventionsinterne So ist etwa ein Angebot im Grundsatz bis zu dem Zeit-
Maßstäbe dann maßgebend seien, wenn es sich um beidersei- punkt widerruflich, in dem der Empfänger seine Annahmeer-
tige, auf dem UN-Kaufrecht basierende Ansprüche aus dem- klärung abgesandt hat (Art. 16 Abs. 1 CISG). Im deutschen
selben Vertragsverhältnis handele), die Abtretung, die Stell- Recht kann das Angebot nur bis zum Zugang beim Empfän-
vertretung, die Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die Inhalts- ger widerrufen werden (§§ 130, 145 BGB). Ganz allgemein
kontrolle von AGB, der Zinshöhe usw.; streitige Fälle finden gilt im UN-Kaufrecht nicht (wie im hiesigen BGB) durch-
sich in den Rn. 148-213. gängig der Zugangsgrundsatz von empfangsbedürftigen Wil-
21
Eine interne Lücke liegt vor, wenn die Regelungsmaterie lenserklärungen. Vielmehr sind Willenserklärungen oftmals
des CISG betroffen ist (Art. 6 Abs. 2 CISG: „geregelte Ge- lediglich absende-, nicht zugangsbedürftig (Art. 27 CISG).
genstände“), die jeweilige Sachfrage aber gleichwohl nicht Sie müssen freilich zugangsfähig sein.
25
explizit im Übereinkommenstext behandelt wird. Hinzu tritt auf Käuferseite die Minderung.
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und dem Lehrbuch mit einem Aufbau wider die formale


Reihung der Normen und zu Gunsten der „inhaltlichen Sys-
tematik“ ein Alleinstellungsmerkmal zuweisen können.
Hervorzuheben bleibt innerhalb dieses langen Kapitels,
dass dem Leser in der Folge deutlich vor Augen geführt wird,
dass an die Bejahung einer wesentlichen Vertragsverletzung
(Art. 25 CISG) hohe Anforderungen zu stellen sind und da-
mit regelmäßig Vertragsaufhebung (Art. 49, 64 CISG) sowie
Ersatzlieferung (Art. 46 Abs. 2 CISG) als ultima ratio nicht
durchgreifen (Rn. 317-337; 450; 483; 568-575). Verträge
sollen im grenzüberschreitenden kommerziellen Kaufrecht
nämlich möglichst erhalten, Rückabwicklungen vermieden
werden.
Auch das „scharfe Schwert des Handelsrichters“
(Rn. 404) – die Rügeversäumung des Käufers, an welcher in
der Praxis die meisten der Käuferklagen scheitern – wird dem
Rezipienten anschaulich gemacht. Zu Recht sieht Schroeter
das rein verkäuferschützende telos des Art. 39 Abs. 1 CISG
mit der harschen Rechtsfolge des grundsätzlich26 vollständi-
gen Anspruchsverlusts skeptisch. Tatsächlich erscheint es als
probates Mittel, Unbilligkeiten ein Stück weit durch nicht
allzu hohe Anforderungen an Warenuntersuchung sowie
Mängelanzeige entgegenzuwirken (Rn. 404).
Bemerkenswert ist ferner, dass das aus dem deutschen
Kaufrecht bekannte „Recht zur zweiten Andienung“ zwar
ebenfalls im UN-Kaufrecht existiert; allerdings besteht hier
weder eine Pflicht noch eine Obliegenheit des Käufers zur
Nachfristsetzung. Vielmehr regelt Art. 48 CISG jenes Recht
dadurch, dass der Verkäufer von sich aus tätig werden darf,
um etwaige Mängel zu beheben. Er kann unter bestimmten
Voraussetzungen den Käufer unter Fristsetzung zur Mittei-
lung auffordern, ob Letzterer die (Nach-)Erfüllung annehmen
möchte. Vor Ablauf der Frist sind Rechtsbehelfe des Käufers
weitgehend gesperrt (Rn. 449 f.).
Schließlich finden sich Erläuterungen zum (grundsätz-
lich27 verschuldensunabhängigen und äußerst praxisrelevan-
ten) Schadensersatz (Rn. 639-743) sowie zu den Zinsen
(Rn. 744-756) und der Rückabwicklung (Rn. 757-786), zu
Bewahrungspflichten und dem Selbsthilfeverkauf (Rn. 787-
803).
Es bleibt nach alledem zu resümieren: Für den fundierten
Einstieg in das UN-Kaufrecht gibt kaum ein geeigneteres
Lehrbuch auf dem Markt. Die sechste Auflage dieses vorzüg-
lichen Werks soll frühestens Ende 2016 erscheinen, dann
wohl nochmals (und vermutlich letztmalig) unter
Schlechtriem/Schroeter firmierend. In der Folge dürfte die
Umbenennung exklusiv auf den zuletzt genannten Rechtsleh-
rer ins Haus stehen.
Wiss. Assistent Dr. Björn Steinrötter, Berlin/Hannover

26
Art. 44 CISG als Ausnahme.
27
Beachte aber Art. 79 f. CISG. Allerdings ist die Entlas-
tungsmöglichkeit des Art. 79 Abs. 1 CISG an schwer zu
überwindende Voraussetzungen geknüpft.
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323
Linke/Hau, Internationales Zivilverfahrensrecht Walter
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B uc hre ze ns io n Einzelprobleme. Sehr gelungen sind etwa die Passagen zu


den Anerkennungshindernissen und dem Erfordernis einer
Hartmut Linke/Wolfgang Hau, Internationales Zivilverfah- Vollstreckbarerklärung ausländischer Entscheidungen. Die
rensrecht, 6. Aufl., Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln 2015, Darstellung erfolgt hierbei anschaulich und problemorien-
365 S., € 39,80. tiert. Auf langatmige Ausführungen zu Selbstverständlichkei-
ten und überflüssige Wiederholungen des Gesetzeswortlauts
Der Rechtsanwender sieht sich in einer globalisierten Welt wird erfreulicherweise verzichtet. Manche – insbesondere für
immer häufiger mit grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkei- den Studenten relevante – Themen werden jedoch sehr
ten konfrontiert. Kenntnisse des Internationalen Zivilverfah- knapp, zum Teil in einem Satz, abgehandelt. Beispielhaft ist
rensrechts (IZVR) gewinnen damit zunehmend an Bedeu- die Erläuterung der internationalen Zuständigkeit in Verbrau-
tung. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass mittlerweile auf chersachen, bei welcher oftmals allein auf die ergangene
eine Vielzahl aktueller Lehrbücher zu diesem Rechtsgebiet EuGH-Judikatur verwiesen wird, deren kritische Würdigung
zurückgegriffen werden kann. aber unterbleibt. Gleiches gilt für die Frage, wann beim
Auch das zu besprechende – von Hartmut Linke begrün- Timesharing von einer ausschließlichen Zuständigkeit nach
dete und seit der Vorauflage von Wolfgang Hau fortgeführte Art. 24 Nr. 1 Brüssel Ia-VO auszugehen ist. Eine etwas aus-
– Lehrbuch möchte dem Leser eine verlässliche Orientierung führlichere Betrachtung wäre wünschenswert, wenn auch der
durch das IZVR mit weiterführenden Hinweisen bieten. Die ausführliche Fußnotenapparat zahlreiche Vertiefungshinweise
6. Auflage wurde zu diesem Zweck inhaltlich um knapp 100 gibt.
Seiten erweitert und befindet sich auf dem Rechtsstand von Verzichtet wurde auf Hinweise zur Fallbearbeitung und
Januar 2015. Zielgruppe sind Studierende, Wissenschaftler Aufbauschemata. Dies ist jedoch aufgrund der unterschiedli-
und Praktiker. chen Zielgruppen des Lehrbuchs durchaus konsequent. Zu-
Die Schwerpunktsetzung des in 15 Paragrafen unterglie- dem finden sich in den Fußnoten Verweise auf Falllösungen
derten Buches überzeugt: Nach einer äußerst gelungenen Ein- in Ausbildungszeitschriften. Für zukünftige Auflagen erwä-
führung in das Themengebiet (§ 1), allgemeinen Lehren des genswert wäre es dennoch, ein Verzeichnis über die zitierten
IZVR (§ 2) sowie den völkerrechtlichen Rahmenbedingungen Falllösungen einzufügen, um dem interessierten Leser deren
(§ 3) werden entsprechend ihrer herausragenden Bedeutung Auffinden zu erleichtern.
in Ausbildung und Praxis Fragen der internationalen Zustän- Das Schriftbild ist angenehm und der Text dank zahlrei-
digkeit (§ 4-6) sowie der Anerkennung und Vollstreckbarer- cher Absätze, Zwischenüberschriften und wohldosierter Her-
klärung ausländischer Entscheidungen (§ 12-14) ausführlich vorhebungen übersichtlich gestaltet. Die ausführlichen Nor-
behandelt. Doch kommen erfreulicherweise auch Ausführun- men- und Sachverzeichnisse ermöglichen das zielgerichtete
gen zu Kompetenzkonflikten (§ 7), ausländischen/auslands- Nachschlagen. Zudem ist jedem Kapitel eine ausführliche
ansässigen Verfahrensbeteiligten (§ 8), der Ermittlung und Literaturübersicht vorangestellt und der bereits angesproche-
Anwendung ausländischen Rechts (§ 9), dem internationalen ne Fußnotenapparat ist vorbildlich. Das Buch kann daher
Beweisrecht (§ 10) und dem europäischen Erkenntnisverfah- auch als Ausgangspunkt einer Literaturrecherche für eine
ren (§ 11) nicht zu kurz. Abgerundet wird das Buch mit ei- Seminararbeit dienen. Ein Entscheidungsverzeichnis ist dem-
nem Kapitel zum einstweiligen Rechtsschutz (§ 15). gegenüber leider nicht enthalten. Angesichts der großen Zahl
Kollisions- und völkerrechtliche Vorkenntnisse sind nicht relevanter Rechtsprechung zum IZVR würde eine solche
erforderlich, um den Ausführungen folgen zu können. Fach- Übersicht das Buch als Nachschlagewerk weiter aufwerten.
begriffe und Grundprinzipien werden vielmehr prägnant er- Zumindest ungewöhnlich erscheint schließlich die Fußnoten-
läutert und mit Beispielen veranschaulicht. Vorbildlich ge- zählung, die auf jeder neuen Seite bei „1“ beginnt. Das posi-
lingt außerdem die Darstellung der unterschiedlichen Rechts- tive äußere Gesamtbild wird dadurch aber nicht getrübt.
quellen (Europarecht, Konventionsrecht und autonomes Insgesamt wird das Lehrbuch seinem selbstgesteckten
Recht). Dies erleichtert nicht nur die ersten Berührungen mit Ziel, dem Leser eine verlässliche Orientierung durch das
dem IZVR, sondern ebenso eine Wiederholung und Wissens- IZVR zu bieten, vollends gerecht. Vollständigkeit kann und
kontrolle. darf - insbesondere bei einem Kurzlehrbuch zu einem so
Seine wahre Stärke, namentlich das Aufzeigen übergrei- weiten und sich so dynamisch entwickelnden Rechtsgebiet -
fender Strukturen und Zusammenhänge, kann das Buch aller- natürlich nicht erwartet werden. Dem ist sich Hau ausweis-
dings vor allem dann ausspielen, wenn sich der Leser nicht lich des Vorworts auch bewusst. Umso lobenswerter ist die
zum ersten Mal mit der Materie befasst. Den Einsteiger mag konzentrierte, auf das Wesentliche beschränkte und doch nie
es mancherorts überfordern, wenn die Rechtsquellen bei den oberflächliche Darstellung auf knappem Raum. Das Buch
jeweiligen Sachfragen nicht isoliert betrachtet, sondern stets eignet sich damit sowohl für den (anspruchsvollen aber loh-
im Zusammenhang und in ihrem Zusammenspiel behandelt nenswerten) Einstieg in das Rechtsgebiet als auch zu dessen
werden. Demgegenüber werden durch ein solches Vorgehen Wiederholung, Vertiefung und Auffrischung.
das tiefere Verständnis der entsprechenden Regelungen sowie Jurist (Univ.) Stephan Walter, Passau
die kritische Auseinandersetzung mit den behandelten
Rechtsfragen gefördert. Diesem Zweck dienen ebenso die
zahlreichen aufschlussreichen rechtspolitischen Erwägungen
und die zum Teil vertiefte Behandlung besonders relevanter
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ZJS 3/2015
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Schmidt, Fallrepetitorium Allgemeines Verwaltungsrecht mit VwGO Traub/Fischer-Uebler
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B uc hre ze ns io n Die Fragen und Übungsfälle werden durch knapp 50


Übersichten ergänzt. Deren Darstellungsform reicht von
Thorsten Ingo Schmidt, Fallrepetitorium Allgemeines Ver- knappen Schaubildern, die das systematische Verständnis
waltungsrecht mit VwGO, 2. Aufl., Verlag C.F. Müller, Hei- bestimmter Zusammenhänge erleichtern bis zu ausführlichen
delberg u.a. 2014, 434 S., 35,99 €. Prüfungsschemata aller wichtigen Klage- und Antragsarten.
Dabei hält Schmidt mit überzeugenden Gründen (vgl.
Das kaum noch überschaubare Angebot an verwaltungsrecht- Nr. 353) am klassischen zweistufigen Aufbau (Zulässigkeit
licher Studienliteratur wird manchem Studierenden die Aus- und Begründetheit) fest und orientiert sich damit an der Pra-
wahl eher erschweren als erleichtern. Das Werk von Thorsten xis der Rechtsprechung.
Ingo Schmidt reiht sich aber nicht einfach in die lange Reihe Sowohl die abstrakten Fragen als auch die kurzen Fälle
verwaltungsrechtlicher Lehrbücher verschiedenen Umfangs hat Schmidt jeweils mit einem Schwierigkeitsgrad gekenn-
ein, sondern sticht durch einen besonderen didaktischen Zu- zeichnet. Die Skala reicht dabei von Grundlagen (*) über
gang hervor. Es handelt sich weder um ein klassisches Lehr- etwas schwierigere Fälle für Studenten (**) bis hin zu Fällen
buch, in dem der Stoff systematisch dargestellt wird, noch für Referendare (***) und schließlich kompliziertere, entle-
um einen Klausurenkurs. Stattdessen präsentiert der Autor ein genere Probleme (****).
„Fallrepetitorium“, in dem der Lernstoff anhand von mehr als Als erste Orientierung ist diese Einteilung sicher hilfreich
750 Fragen und Übungsfällen vermittelt wird, die durch zahl- und berücksichtigt, dass sich die Benutzer des Fallrepetitori-
reiche Übersichten ergänzt werden. ums in ganz unterschiedlichen Abschnitten ihrer juristischen
Dieser Ansatz führt allerdings erfreulicherweise nicht zu Ausbildung befinden werden. Allerdings ist es auf den ersten
einer thematischen Verengung auf wenige „Klausurklassi- Blick nicht ohne weiteres überzeugend, wenn einerseits das
ker“. Vielmehr wird das Verwaltungsprozessrecht und – erst- Spannungsverhältnis zwischen Geheimhaltungspflicht (§ 30
mals in der Neuauflage – das Verwaltungsverfahrensrecht in VwVfG) und Amtshilfe (§ 5 VwVfG) den „Grundlagen“ oder
seiner ganzen Breite behandelt. Die ersten acht Teile sind die Beweiserleichterungen im Verwaltungsprozess den „et-
dem allgemeinen Verwaltungsrecht gewidmet. Neben der was schwierigeren“ Fällen für Studenten zugeordnet werden,
obligatorischen Erläuterung der Handlungsformen der Ver- während andererseits Klausurklassiker wie die Eingriffsquali-
waltung (Verwaltungsakt, verwaltungsrechtliche Verträge, tät von staatlichen Warnungen oder die Besonderheiten der
Rechtsverordnungen, Satzungen, Realakte u.a.) erhalten auch Aufhebung unionsrechtswidriger Subventionen als ***-Fälle
entlegenere Themengebiete wie das Verwaltungszustellungs- für Referendare bewertet werden. Wenn es auch in der Natur
recht, das Recht der öffentlichen Sachen oder das Verwal- der Sache liegt, dass man über die Zuordnung zu verschiede-
tungsorganisationsrecht angemessenen Raum. Dieser erste nen Schwierigkeitsgraden im Einzelnen immer wird streiten
große Abschnitt des Fallrepetitoriums wird durch Fragen zu können, mag es sich dennoch empfehlen, die Klassifizierung
den wichtigsten Bereichen des systematisch recht unüber- für eine weitere Neuauflage kritisch zu überprüfen.
sichtlichen Staatshaftungsrechts abgerundet. Die Grundkonzeption als Fallrepetitorium bringt es mit
Die folgenden fünf Teile des Buches beschäftigen sich sich, dass das Buch für den allerersten Einstieg in das Ver-
mit dem Verwaltungsprozessrecht. Vor allem in diesem Ab- waltungs(prozess)recht vermutlich weniger, zur Wiederho-
schnitt wird deutlich, warum das Buch in der Reihe „Refe- lung und Vertiefung dafür umso besser geeignet ist. Neben
rendariat“ erscheint, wovon sich Studierende allerdings kei- reinen Wissens- und kurzen Verständnisfragen enthält das
nesfalls abschrecken lassen sollten. Umgekehrt ist es aber für Buch eine Vielzahl kleinerer Fälle, anhand derer sich be-
Referendare uneingeschränkt geeignet, weil über die klassi- stimmte Probleme besonders gut veranschaulichen lassen.
schen Fragen der Zulässigkeitsprüfung verschiedener Klage- Der Leser wird herausgefordert, sich vor der Lektüre der Ant-
arten hinaus auch die für die Vorbereitung auf das Assessor- worten selbständig Gedanken zu machen und eine überzeu-
examen wichtigen Themen wie Erledigung (§ 56), Streitwert gende Lösung zu entwickeln.
(§ 59), Ablauf der mündlichen Verhandlung oder die Rechts- Dabei lässt es sich kaum vermeiden, dass durch die Über-
behelfe gegen gerichtliche Entscheidungen (§§ 62-66) be- schriften der Fragen in einzelnen Fällen die Lösung bereits
handelt werden. Spätestens während des Referendariats wer- angedeutet wird. So wird z.B. in den Fällen zu den verschie-
den es die Leser zu schätzen wissen, dass Schmidt immer denen Formen der Ermessensfehler (Nr. 134 ff.) durch die
wieder die Bezüge des Verwaltungs- zum Zivilprozessrecht Bezeichnung des Fehlers in der Überschrift der Weg zur
aufzeigt und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Lösung bereits vorgezeichnet.
Regelungen in VwGO und ZPO herausarbeitet. Die Antworten und Lösungshinweise sind durchweg gut
Ebenfalls positiv hervorzuheben ist, dass das Werk kon- nachvollziehbar und ausreichend ausführlich, ohne den stu-
sequent die unions- und völkerrechtlichen Einflüsse verarbei- dentischen Leser mit Ausführungen über allzu entlegene
tet, ohne die sich das Verwaltungsrecht nur noch unvollstän- Spezialprobleme und atypische Sonderfälle zu überfrachten.
dig begreifen lässt. Angesprochen werden u.a. die Kompe- Schmidt findet hier einen sehr gelungenen Ausgleich zwi-
tenz für den Vollzug des EU-Rechts, die Rechtsschutzmög- schen der immensen Stofffülle, die sich aus der Kombination
lichkeiten gegen Rechtsakte der EU, aber auch die Figur des von Allgemeinem Verwaltungsrecht und Verwaltungspro-
transnationalen Verwaltungsakts am praxisrelevanten Bei- zessrecht ergibt und einem realistischen Sinn dafür, was von
spiel des Zollkodex. Studierenden und Referendaren selbst im oberen Bereich der

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Schmidt, Fallrepetitorium Allgemeines Verwaltungsrecht mit VwGO Traub/Fischer-Uebler
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Notenskala realistischerweise erwartet und verarbeitet wer-


den kann.
Wer einzelnen Fragen vertieft nachgehen will, dem bietet
Schmidt weiterführende Literaturhinweise auf dreifachem
Wege: zunächst enthält das Buch im Anschluss an das In-
haltsverzeichnis einen Überblick aller gängigen Lehrbücher,
Kommentare und Fallsammlungen. Des Weiteren finden sich
am Anfang jedes Kapitels Nachweise einschlägiger Literatur
und schließlich tauchen – vermehrt in den Abschnitten, die
das Verwaltungsprozessrecht behandeln – auch in den Ant-
worten Hinweise zur vertiefenden Lektüre auf. Bei den sorg-
fältig ausgewählten Literaturhinweisen orientiert sich
Schmidt konsequent an seinem Leserkreis. Dementsprechend
bilden Aufsätze aus den Ausbildungszeitschriften den
Schwerpunkt.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass das „Fallrepetitorium
Allgemeines Verwaltungsrecht mit VwGO“ nicht erst für
Referendare eine lohnende Lektüre ist, sondern für jeden
Studenten, der sein Grundwissen in diesen Fächern überprü-
fen und erweitern möchte. Wer sich Schmidts Fallrepetitori-
um bereits als Studierender anschafft, den wird es bis zum
Zweiten Staatsexamen begleiten.
Akad. Rat Thomas Traub, stud. Hilfskraft Annika Fischer-
Uebler, Institut für Kirchenrecht der Universität zu Köln

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