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Universität zu Köln

Rechtswissenschaftliche Fakultät

Großer Examenskurs
SS 2018 – WS 2018/19
Für Rückfragen: stefan.muckel@uni-koeln.de

Prof. Dr. Stefan Muckel Öffentliches Recht

PRÜFUNGSSCHEMA II

ABSTRAKTE NORMENKONTROLLE VOR DEM BVERFG

A) Zulässigkeit

I. Zuständigkeit des BVerfG (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG)

II. Antragsberechtigung: Bundesregierung, die Landesregierungen und (mindestens) ein Viertel1 der
Mitglieder des Bundestages gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 BVerfGG

Beachte: Das Verfahren kennt keinen Antragsgegner!

Anmerkung: Eine Erweiterung des Kreises der Antragsberechtigten durch Auslegung oder Analogie ist
wegen des eindeutigen Wortlautes des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG nicht möglich.2 Daher darf auch das in
Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG aufgestellte Quorum nicht im Wege eine Auslegung abgesenkt werden.3

III. Antragsgegenstand: „Bundesrecht oder Landesrecht“ (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG), auch unterge-
setzliches Recht, insbes. Rechtsverordnungen und Satzungen. Das Rechtsetzungsverfahren muss
grundsätzlich (Ausnahme: Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen) abgeschlossen sein,
d.h. das Gesetz muss – zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG – ausgefertigt und verkündet
sein, braucht aber noch nicht in Kraft getreten zu sein. Es findet keine „Normentwurfskontrolle“ statt.

Europarecht ist grds. kein zulässiger Gegenstand einer Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Die ent-
sprechende Rspr. hat das BVerfG mit der „Solange II“-Entscheidung von 1986 begründet4 und seither im We-
sentlichen beibehalten.

IV. „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel“: Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG verlangt, dass „Meinungs-
verschiedenheiten oder Zweifel“ über die Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit dem GG
bzw. sonstigem BundesR bestehen. § 76 Abs. 1 BVerfGG engt dieses Kriterium ein („für nichtig hält“).
Es ist umstritten, ob darin eine verfassungswidrige Einschränkung5 oder eine verfassungskonforme
Konkretisierung6 der weiter gefasste Vorgabe des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG zu sehen ist.

V. Objektives Klarstellungsinteresse:
Eine eigene Antragsbefugnis (wie im Organstreit nach § 64 Abs. 1 BVerfGG) ist nicht erforderlich (die
Normenkontrolle ist objektives Rechtsbeanstandungsverfahren!). Nach BVerfG muss der Ast. aber
ein objektives Klarstellungsinteresse haben, das dem Rechtsschutzinteresse im Verwaltungsprozess

1 Zur Verfassungsmäßigkeit dieses Quorums; BVerfG NVwZ 2016, 922 (926 f. Rn. 109 ff.).
2 BVerfGE 21, 52 (53 f.); 68, 346 (349).
3 BVerfG NVwZ 2016, 922 (926 Rn. 107 ff., bespr. v. Hillgruber, JA 2016, 638 (640).
4 BVerfG NJW 1987, 577; „Solange I“: BVerfG NJW 1974, 1697. Zur weiteren Entwicklung und zu Einzelheiten vgl. die

prägnante (weil knapp gehaltene) Darstellung von Streinz, NJW 2017, 3067 f.; Callies, NJW 2017, 3073 f. (betr. BVerfG
NJW 2014, 907 – OMT-Beschluss zum Ankauf von Staatsanleihen bestimmter Mitgliedstaaten durch die EZB in unbe-
grenzter Höhe).
5 Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl., Art. 93 Rn. 67 m.w.N.
6 BVerfGE 96, 133 (137); 103, 111 (124); 119, 96 (117); Walter, in: Maunz/Dürig, GG, 80 Lfg. Juni 2017, Art. 93 Rn. 247.
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ähnelt und nur ausnahmsweise fehlt, z.B. wenn es um eine Verordnungsermächtigung geht, von der
noch nicht Gebrauch gemacht worden ist und auch nicht mehr gemacht werden kann, oder wenn be-
reits eine verfassungsgerichtliche Entscheidung vorliegt. (Die Möglichkeit eines Verfahrens vor dem
LVerfG lässt das Klarstellungsinteresse nicht entfallen, weil das LVerfG nur LandesverfassungsR als
Prüfungsmaßstab zugrunde legen kann.)

VI. Form: § 23 BVerfGG (Schriftform). Eine Frist für die abstr. NK besteht nicht.

B) Begründetheit

Der Antrag ist begründet, wenn die überprüfte Norm in formeller oder materieller Hinsicht mit dem als
Prüfungsmaßstab heranzuziehenden Recht unvereinbar ist.7 Im Sonderfall von § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVer-
fGG: Antrag begründet, wenn die Norm mit dem Prüfungsmaßstab vereinbar ist, wenn sie also gültig
ist.

BundesR wird umfassend auf seine formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit geprüft, LandesR
ggf. auch auf seine Vereinbarkeit mit einfachem Bundesrecht.

Tenorierung bei erfolgreichem Antrag:


Im Fall eines erfolgreichen Antrags wird das betreffende Gesetz grundsätzlich gem. § 78 Satz 1 BVer-
fGG für nichtig erklärt. Die Nichtigerklärung wirkt lediglich deklaratorisch: Ein Gesetz, das gegen hö-
herrangiges Recht verstößt, ist von Anfang an („ex tunc“) nichtig.8
Ausnahmsweise kann das BVerfG eine bloße Unvereinbarkeitserklärung der überprüften Vorschrift
aussprechen. Dies kommt namentlich in Gleichheitsfällen in Betracht, in denen die Entscheidung über
die Beseitigung der unzulässigen Ungleichbehandlung der Gesetzgeber treffen muss. Ein weiterer An-
wendungsfall der Unvereinbarkeitserklärung sind Konstellationen, in denen durch die Nichtigerklärung
ein Zustand entstünde, der „noch verfassungswidriger“ wäre.9

Konsequenzen einer stattgebenden Entscheidung:


Bei Nichtigerklärungen haben Entscheidungen, die auf der Norm beruhen, haben grundsätzlich weiter
Bestand (§ 79 BVerfGG). Die Unvereinbarerklärung führt ebenfalls zur Unanwendbarkeit der Norm,
eröffnet aber die Möglichkeit, die Vorschrift für eine Übergangsfrist für weiter anwendbar zu erklären.

Sonderfall: abstr. NK nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG zur Prüfung der Voraussetzungen von Art. 72
Abs. 2 GG (Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung bei der konkurrierenden Gesetzge-
bung) mit Abweichungen bei der Antragsberechtigung (s. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG), beim Antragsge-
genstand (nur förmliche Bundesgesetze) und bei den „Meinungsverschiedenheiten“ (Art. 93 Abs. 1
Nr. 2a GG – Zweifel reichen hier nicht)

Literatur: Sachs, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 114 ff.; vgl. auch die schematischen Darstellun-
gen bzw. Schemata bei Gröpl, Staatsrecht I, 8. Aufl. 2016, Rn. 1523 ff.; Degenhart, Staatsrecht I, 33. Aufl. 2017,
Rn. 829 ff.; R. Schmidt, Staatsorganisationsrecht, 17. Aufl. 2016, Rn. 642 ff.

7 Von Coelln, in: Gröpl/Windhorst/von Coelln, Studienkommentar GG, 3. Auflage 2017, Art. 93 Rn. 35.
8 Von Coelln, in: Gröpl/Windhorst/von Coelln, Studienkommentar GG, 3. Auflage 2017, Art. 93 Rn. 35.
9 Von Coelln, in: Gröpl/Windhorst/von Coelln, Studienkommentar GG, 3. Auflage 2017, Art. 93 Rn. 35.

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