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BVerfG: Verspätete Errichtung der Bilanz im Fall des Bankrotts - beck-online 27.08.

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BVerfG: Verspätete Errichtung der Bilanz im NJW 1978, 1423


Fall des Bankrotts

Verspätete Errichtung der Bilanz im Fall des Bankrotts

GG Art. 103 II; KOa.F. § 240 I Nr. 4 = ; StGB § 283 I Nr. 7b, VI; HGB § 39

Die Strafvorschrift des § 240 I Nr. 4 KO in der bis zum 31. 8. 1976 geltenden Fassung
war - i. V. mit § 39 II 2 HGB - „gesetzlich bestimmt” im Sinne des Art. 103 II 2 GG.

BVerfG, Beschluß vom 15. 3. 1978 - 2 BvR 927/76

Zum Sachverhalt:

Der Bf. wurde im Jahre 1975 wegen eines vorsätzlich begangenen Vergehens des einfachen Bank-
rotts (§ 240 I Nr. 4 KO a.F.) zu einer Geldstrafe verurteilt. § 240 I Nr. 4 KO lautete: „(1) Schuld-
ner, welche ihre Zahlungen eingestellt haben oder über deren Vermögen das Konkursverfahren
eröffnet worden ist, werden wegen einfachen Bankrotts mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder
mit Geldstrafe bestraft, wenn sie … 4. es gegen die Bestimmung des Handelsgesetzbuchs unter-
lassen haben, die Bilanz ihres Vermögens in der vorgeschriebenen Zeit zu ziehen.” § 240 KO ist
durch Art. 5 Nr. 4 des am 1. 9. 1976 in Kraft getretenen Ersten Gesetzes zur Bekämpfung der
Wirtschaftskriminalität (1. WiKG) vom 29. 7. 1976 (BGBl I, 2034) aufgehoben worden. An seine
Stelle ist die im wesentlichen inhaltsgleiche Regelung des § 283 I Nr. 7 b, VI StGB getreten (ein-
gefügt durch Art. 1 Nr. 5 des 1. WiKG). Diese Vorschrift verweist, was die Pflicht zur Bilanzerstel-
lung und die dafür maßgebende Frist angeht, nicht mehr - wie seinerzeit § 240 I Nr. 4 KO - auf
das „Handelsgesetzbuch”, sondern auf das „Handelsrecht”. Darüber hinaus ist die Unterlassung
rechtzeitiger Bilanzziehung nach neuem Recht auch unabhängig von Überschuldung oder drohen-
der Zahlungsunfähigkeit strafbar (§ 283 b I Nr. 3 b StGB, der insoweit über § 283 StGB
hinausgeht).
Mit der Verfassungsbeschwerde machte der Bf. geltend, er hätte nicht wegen Bankrotts verurteilt
werden dürfen, weil die Strafvorschrift des § 240 I Nr. 4 KO a.F. gesetzlich nicht bestimmt und
deshalb mit Art. 103 II GG unvereinbar sei. Die Verfassungsbeschwerde wurde zurückgewiesen.

Aus den Gründen:

… B. III. 1. § 240 I Nr. 4 KO in der bis zum 31. 8. 1976 geltenden Fassung, auf dessen Anwen-
dung die angegriffenen Entscheidungen beruhen, verstieß - i. V. mit § 39 II HGB - nicht gegen
das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG.
a) Nach Art. 103 II GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit „gesetzlich be-
stimmt” war, bevor die Tat begangen wurde. Der einzelne soll von vornherein wissen können, was
strafrechtlich verboten ist, damit er in der Lage ist, sein Verhalten danach einzurichten (BVerfGE
25, 269 [285] = NJW 1969, 1059; BVerfGE 26, 41 [42] = NJW 1969, 1759; BVerfGE 37, 201
[207] = NJW 1974, 1860; NJW 1978, 101 = EuGRZ 1977, 308 [309]).
Allerdings darf das Gebot der Gesetzesbestimmtheit nicht übersteigert werden; die Gesetze wür-
den sonst zu starr und kasuistisch und könnten der Vielgestaltigkeit des Lebens, dem Wandel der
Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalles nicht mehr gerecht werden. Diese Gefahr läge
nahe, wenn der Gesetzgeber stets jeden Tatbestand bis ins letzte ausführen müßte (BVerfGE 14,

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245 [251] = NJW 1962, 1563). Das Strafrecht kann deshalb nicht darauf verzichten, allgemeine
Begriffe zu verwenden, die formal nicht allgemeingültig umschrieben werden können und mithin in
besonderem Maße einer Deutung durch den Richter bedürfen (BVerfGE 4, 352 [358] = NJW 1956,
99; BVerfGE 11, 234 [237]). Das Gebot der Gesetzesbestimmtheit bedeutet also nicht, daß der
Gesetzgeber gezwungen ist, sämtliche Straftatbestände ausschließlich mit deskriptiven, exakt er-
faßbaren Tatbestandsmerkmalen zu umschreiben (BVerfG, NJW 1978, 101 = EuGRZ 1977, 308
[309]). Generalklauseln oder unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht sind
deshalb nicht von vornherein verfassungsrechtlich zu beanstanden. Gegen die Verwendung derar-
tiger Klauseln oder Rechtsbegriffe bestehen jedenfalls dann keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe
der üblichen Auslegungsmethoden - insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften des-
selben Gesetzes und durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs - oder aufgrund einer ge-
festigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der
Norm gewinnen läßt, so daß der einzelne die Möglichkeit hat, den durch die Strafnorm geschütz-
ten Wert sowie das Verbot bestimmter Verhaltensweisen zu erkennen und die staatliche Reaktion
vorauszusehen (BVerfGE, NJW 1978, 101 = EuGRZ 1977, 308 [309]).
Die Beurteilung der Frage, ob der Tatbestand einer Strafnorm „gesetzlich bestimmt” im Sinne des
Art. 103 II GG ist, kann danach auch davon abhängen, an welchen Kreis von Adressaten sich die
Vorschrift wendet. Richtet sie sich ausschließlich an Personen, bei denen aufgrund ihrer Ausbil-
dung oder praktischen Erfahrung bestimmte Fachkenntnisse regelmäßig vorauszusetzen sind, und
regelt sie Tatbestände, auf die sich solche Kenntnisse zu beziehen pflegen, so begegnet die Ver-
wendung unbestimmter Rechtsbegriffe unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 II GG keinen Beden-
ken, wenn allgemein davon ausgegangen werden kann, daß der Adressat aufgrund seines Fach-
wissens imstande ist, den Regelungsinhalt solcher Begriffe zu verstehen und ihnen konkrete Ver-
haltensanweisungen zu entnehmen (vgl. BVerfGE 26, 186 [204] = NJW 1969, 2192).
b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügte § 240 I Nr. 4 KO a.F. i. V. mit § 39 II 2
HGB. Das Gebot, die Jahresbilanz „innerhalb der einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entspre-
chenden Zeit” (§ 39 II 2 HGB) zu erstellen, war „gesetzlich bestimmt” i.S. des Art. 103 II GG.
aa) Ob sich unter handelsrechtlichen Gesichtspunkten für alle denkbaren Anwendungsfälle des §
39 II 2 HGB allgemeingültig bestimmen läßt, wann eine Jahresbilanz frühestens errichtet werden
kann und spätestens errichtet sein muß, erscheint allerdings fraglich (vgl. schon die Denkschrift
zu dem Entwurf eines HGB und eines Einführungsgesetzes, 1897, S. 22). Die Pflicht zur Erstellung
solcher Bilanzen trifft sowohl Einzelkaufleute als auch Handelsgesellschaften und damit kaufmän-
nische Unternehmen der unterschiedlichsten Art und Größe. Die Frage, ob eine Bilanz rechtzeitig
errichtet worden ist, kann danach je nach den Verhältnissen des betroffenen Unternehmens ver-
schieden zu beantworten sein.
bb) Dem hat der Gesetzgeber Rechnung getragen, indem er bewußt davon abgesehen hat, in § 39
II 2 HGB - anders als bei den Kapitalgesellschaften - für die Erstellung der Jahresbilanzen eine
Höchstfrist vorzuschreiben. Art. 4 Nr. 1 des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Bekämpfung der
Wirtschaftskriminalität (BR-Dr 5/75) sah vor, § 39 II HGB dahin zu ändern, daß die Bilanz „inner-
halb der einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang entsprechenden Zeit, spätestens in den ersten
neun Monaten des Geschäftsjahres für das vergangene Geschäftsjahr aufzustellen (ist), soweit
nicht gesetzlich oder aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung eine andere Frist bestimmt ist”.
Mit der vorgeschlagenen Änderung sollte - wie die Begründung des Entwurfs erkennen läßt, -
nicht verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet werden; ihr Sinn bestand vielmehr darin, aus

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handelsrechtlicher Sicht eindeutige Verhältnisse zu schaffen und vor allem der Praxis entgegenzu-
wirken, die Jahresabschlüsse später als 9 Monate nach Ablauf des Geschäftsjahres aufzustellen
(aaO, S. 46). Im Gesetzgebungsverfahren wurden jedoch gegen die vorgeschlagene Regelung un-
ter Hinweis darauf, daß Kaufleute bei der Erstellung der Jahresbilanzen weitgehend auf die Hilfe
Dritter - insbesondere der Buchstellen sowie der Angehörigen der steuerberatenden und wirt-
schaftsprüfenden Berufe - angewiesen seien, Bedenken erhoben (Sonderausschuß für die Straf-
rechtsreform, 79. und 80. Sitzung, 7. Wahlp., S. 2586 sowie Anl. 6 [S. 2625] und 8 [S. 2629 f.]
hierzu). Mit Rücksicht hierauf sah der Sonderausschuß davon ab, für die Erstellung der Bilanzen
die Einführung einer Frist vorzuschlagen. Im Bericht des Ausschusses heißt es dazu, es solle wei-
terhin der Rechtsprechung überlassen bleiben, welche Frist im Einzelfall als einem ordnungsgemä-
ßen Geschäftsgang entsprechend anzusehen sei (BT-Dr 7/5291. S. 22).
cc) Die damit angesprochene Schwierigkeit, für die Bemessung der „einem ordnungsmäßigen Ge-
schäftsgang entsprechenden Zeit” eine aus handelsrechtlicher Sicht gerechte, alle wesentlichen
Gesichtspunkte berücksichtigende, allgemeingültige Lösung zu finden, spiegelt sich auch im han-
delsrechtlichen Schrifttum wider. Einige Autoren vermeiden es, sich in der erwähnten Frage auf
eine bestimmte Frist festzulegen (Schlegelberger-Hildebrandt-Steckhan, HGB, 5. Aufl. [1973], §
39 Rdnr. 7 b; Brüggemann, in: Großkomm, z. HGB, 3. Aufl. [1967], § 39 Anm. 3; Brönner, Die

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Bilanz nach Handels- und Steuerrecht, 8. Aufl. [1971], S. 12 Rdnr. 43); sie verweisen überwie-
gend auf die „Verhältnisse des betreffenden Unternehmens” und die „billigerweise zu stellenden
Anforderungen”, betonen aber zugleich auch die Vordringlichkeit der Bilanzerstellung. Andere ver-
treten die Auffassung, die gesetzlichen Fristen für die Kapitalgesellschaften sollten für Einzelkauf-
leute und Personalgesellschaften das Höchstmaß bilden (Baumbach-Duden, HGB, 21. Aufl. [1974],
§ 39 Anm. 1 C; Heymann-Kötter, HGB, 21. Aufl. [1971], § 39 Anm. 10; Bandasch, HGB, 2. Aufl.
[1973], § 39 Anm. 7). Verschiedentlich wird auch darauf abgestellt, ob sich der Bilanzierungs-
pflichtige in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen befindet; ist dies nicht der Fall, so soll die
Bilanz „ohne jede Verzögerung” zu erstellen sein (Baumbach-Duden, aaO; Brönner aaO, Rdnr. 44;
Rowedder, BB 1955, 109; Gronenborn, Steuerberater-Jahrbuch 1970/71, S. 425 [430]).
dd) Auch der BFH hat sich wiederholt mit der Auslegung und Anwendung des § 39 II 2 HGB be-
faßt. Dabei hat er - unter steuerrechtlichem Aspekt - die Erstellung einer Bilanz „spätestens 6 bis
7 Monate nach dem Bilanzstichtag” (Betr 1965, 1075) und „nicht volle 10 Monate” nach diesem
Zeitpunkt ( 1968 II, 5 [7]) als noch rechtzeitig angesehen. Hingegen entspricht es nach Ansicht
des BFH nicht mehr einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang, die Bilanz erst 2½ Jahre (Betr 1975,
85) oder gar mehr als 5 Jahre (Betr 1965, 690) nach dem Bilanzstichtag zu errichten.
ee) Dürfte danach die Möglichkeit ausscheiden, dem § 39 II 2 HGB für die Erstellung der Jahresbi-
lanz eine für alle denkbaren Anwendungsfälle geltende Frist zu entnehmen, so lassen sich die an-
geführten Äußerungen doch dahin verallgemeinern, daß die Errichtung einer solchen Bilanz vor-
dringlich zu erfolgen hat und daß sie aus handelsrechtlicher Sicht nur dann als noch im Zuge eines
ordnungsmäßigen Geschäftsgangs liegend angesehen werden kann, wenn sie unter Berücksichti-
gung aller Umstände - insbesondere der Verhältnisse des betreffenden Unternehmens - alsbald
nach dem Ende des Geschäftsjahres erfolgt, auf das sie sich bezieht. Hierfür spricht auch die Ent-
stehungsgeschichte des § 39 II HGB. Nach Art. 29 des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetz-

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buchs von 1861 war die Bilanz „in jedem Jahre” anzufertigen. Das RG hatte diese Bestimmung -
aus strafrechtlicher Sicht - dahin ausgelegt, daß die Bilanz am Schluß des Geschäftsjahres vorlie-
gen müsse (RGSt 2, 30 [33]). Es war die erklärte Absicht des Gesetzgebers des HGB, diese ihm
wenig praktikabel erscheinende Regelung zu ändern und dem Bilanzierungspflichten noch eine ge-
wisse Zeit nach Ablauf des Geschäftsjahres zur Fertigstellung der Bilanz einzuräumen (Denkschrift
zu dem Entwurf eines HGB und eines Einführungsgesetzes, 1897, S. 22.).
ff) Mag hiernach die nähere Bestimmung der „einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entspre-
chenden Zeit” unter handelsrechtlichen Gesichtspunkten im Einzelfall schwierig bleiben, so bieten
sich doch aus strafrechtlicher Sicht für eine den Anforderungen des Art. 103 II GG genügende Ein-
grenzung jenes Zeitraums hinreichende Anhaltspunkte. Indem § 240 I Nr. 4 KO a.F. hinsichtlich
der Pflicht zur Bilanzerrichtung auf „die Bestimmung des HGB” und die dort „vorgeschriebene Zeit”
verwies, verlieh er dem § 39 II HGB im Umfang jener Bezugnahme den Charakter einer Straf-
norm. Dies bedeutet, daß das Tatbestandsmerkmal der „einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang
entsprechenden Zeit” nunmehr, soweit eine Bestrafung nach § 240 I Nr. 4 KO a.F. in Frage steht,
unter strafrechtlichen Gesichtspunkten und nach den Maßstäben zu würdigen ist, die für die Aus-
legung von Strafgesetzen gelten. Bei der Beurteilung der Frage, inwieweit eine nähere Bestim-
mung jenes Zeitraums möglich ist, sind mithin vor allem der sachliche Zusammenhang zwischen
dem genannten Tatbestandsmerkmal und den übrigen Normbestandteilen des § 240 I Nr. 4 KO
a.F. sowie der Zweck der Strafnorm zu beachten. Daß hierbei auch auf handelsrechtliche Belange
Rücksicht zu nehmen ist, versteht sich von selbst.
§ 240 I Nr. 4 KO a.F. bedrohte die verspätete Bilanzziehung nicht schlechthin, sondern nur für
den Fall mit Strafe, daß die Unterlassung im Zusammenhang mit einem Bankrott stand. Die An-
wendung der Vorschrift kam also erst in Betracht, sobald ein Kaufmann seine Zahlungen einge-
stellt hatte oder das Konkursverfahren über sein Vermögen eröffnet worden war (hierbei handelte
es sich nach herrschender Meinung um sogenannte objektive Bedingungen der Strafbarkeit [Dre-
her, StGB, 36. Aufl. [1976], § 239 KO Rdnr. 3 m.w. Nachw.]). Mithin war im Falle des § 240 I Nr.
4 KO a.F. die Versäumung rechtzeitiger Bilanzerstellung nur dann strafbar, wenn sie mit einer
wirtschaftlichen Krise des betroffenen Unternehmens einherging. In einer solchen Situation ge-
winnt das Interesse der Gläubiger an der unverzüglichen Durchführung einer Bestandsaufnahme
über die Vermögensverhältnisse des Unternehmens und damit auch das Interesse der Allgemein-
heit an der Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft erhöhtes Gewicht. Deshalb erschien es dem
Gesetzgeber notwendig, für den Fall des Eintritts einer derartigen Krisenlage Vorkehrungen zu
treffen, die gewährleisten sollten, daß sowohl der betroffene Kaufmann als auch seine Gläubiger
durch die Errichtung der Bilanz alsbald nach dem Ende des Geschäftsjahres Klarheit über den Ver-
mögenszustand des Unternehmens erlangen konnten. Dieser Zweck des § 240 I Nr. 4 KO a.F.
(dazu RGSt 39, 165; BGH, Urt. v. 25. 3. 1977 - 2 StR 375/76; Dreher, StGB, 36. Aufl. [1976], §
239 KO Rdnr. 1; Schönke-Schröder, StGB, 18. Aufl. [1976], § 240 KO Rdnr. 1) nötigt ersichtlich
dazu, das Tatbestandsmerkmal der „einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechenden
Zeit”, soweit es Bestandteil der genannten Strafvorschrift ist, eng auszulegen.
Dem hat der BGH bei der Anwendung des § 240 I Nr. 4 KO a.F. wiederholt Rechnung getragen. So
heißt es im Urteil vom 19. 4. 1956 - 4 StR 409/55 -, für einen Geschäftsbetrieb mittleren Umfangs
hätte die Bilanz für das Jahr 1952 „spätestens zum 31. 3. 1953 fertiggestellt werden müssen”. In
zwei weiteren Entscheidungen vom 31. 1. 1961 und 28. 10. 1969 hat der BGH die „einem ord-
nungsmäßigen Geschäftsgang entsprechende Zeit” noch enger umrissen: Gegen die Annahme, die
Bilanz hätte - im damals zu entscheidenden Fall - acht bis zehn Wochen nach dem Ablauf des Ge-

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schäftsjahres aufgestellt werden müssen, könnten berechtigte Einwendungen nicht erhoben wer-
den (IStR 463/60, vgl. GA 1961, 359; Dreher, StGB, 37. Aufl. [1977], § 283 Rdnr. 30)…
Diese Rechtsprechung bot in Verbindung mit dem Normzweck und den sich aus der Person der
Normadressaten ergebenden Besonderheiten eine hinreichend zuverlässige, den Anforderungen
des Art. 103 II GG genügende Grundlage für die Auslegung und Anwendung des § 240 I Nr. 4 KO
a.F. Die „einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechende Zeit” ließ sich danach in einer
dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot Rechnung tragenden Weise eingrenzen. Schuld-
ner i.S. des § 240 I Nr. 4 KO a.F. konnte nur ein Vollkaufmann - oder eine diesem gesetzlich
gleichgestellte Handelsgesellschaft - sein; denn nur Vollkaufleute sind nach dem HGB verpflichtet,
für den Schluß eines jeden Geschäftsjahres die Bilanz ihres Vermögens zu ziehen (Dreher, StGB,
36. Aufl. [1976], § 240 KO Rdnr. 13). Von ihnen kann und muß erwartet werden, daß sie stets ei-
nen allgemeinen Überblick über die wirtschaftliche Lage ihres Unternehmens haben und imstande
sind zu erkennen, zu welchem Zeitpunkt ihnen die Aufstellung der Jahresbilanz frühestens möglich
ist und wann diese mit Rücksicht auf ihre wirtschaftlichen Verhältnisse und die Belange ihrer Gläu-
biger spätestens erfolgt sein muß. Für die Bestimmung des zuletzt genannten Zeitpunkts bot ih-
nen die erwähnte Rechtsprechung des BGH deutliche Anhaltspunkte. Danach machte sich ein
Kaufmann, der seiner Pflicht zur Bilanzziehung innerhalb von zwei bis drei Monaten nach dem
Schluß des Geschäftsjahres nachkam, in der Regel nicht nach § 240 I Nr. 4 KO a.F. strafbar, wäh-
rend eine Überschreitung dieser Frist die Bestrafung nach der genannten Vorschrift zur Folge ha-
ben konnte. Ob dies im konkreten Fall tatsächlich gerechtfertigt war, hatten Strafverfolgungsbe-
hörden und Gerichte anhand aller Einzelheiten des ihnen zur Entscheidung unterbreiteten Sach-
verhalts zu prüfen. Dabei konnte die Beurteilung der Rechtzeitigkeit auch davon abhängen, zu
welchem Zeitpunkt der Kaufmann mit den notwendigen Vorbereitungen für die Bilanzziehung be-
gonnen hatte, ob er für die Aufstellung seiner Bilanzen die Hilfe Dritter - Buchstellen, Steuerbera-
ter usw. - in Anspruch nahm, wann er diesen die für die Anfertigung der Bilanz benötigten Unter-
lagen zugeleitet und ob er sie in geeigneter Form auf seine etwaigen wirtschaftlichen Schwierig-
keiten und damit auf die besondere Eilbedürftigkeit der Bilanzerrichtung hingewiesen hatte.

Anm. d. Schriftltg.:

Mit Grundfragen des neuen Konkursstrafrechts befaßt sich Tiedemann, NJW 1977, 777.

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