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Kopie von Raul Teotonio, abgerufen am 05.09.

2023 21:53 - Quelle: beck-online DIE DATENBANK

StGB § 34 Rechtfertigender Er Münchener Kommentar zum StGB Rn. 72,


Notstand b 4. Auflage 2020 73

3. Rechtsgüter der Allgemeinheit

a) Notstandsfähigkeit, Einbeziehung des Tierschutzes

Rechtsgüter der Allgemeinheit sind grundsätzlich notstandsfähig.131 In diesem 72


Zusammenhang ist auch der Tierschutz zu nennen: Wie schon die (mittlerweile noch
durch einen Verfassungsauftrag in Art. 20a GG unterlegte) Strafbarkeit der
Tierquälerei nach § 17 TierschG zeigt, hat der Gesetzgeber die Einhaltung
tierschutzrechtlicher Standards zu einem rechtsverbindlichen Anliegen der
Allgemeinheit erhoben, das wie andere verrechtlichte Belange der Gemeinschaft
konsequenterweise als Rechtsgut iS von § 34 zu behandeln ist.132 Dies gilt
unabhängig davon, ob und in welcher Form der Tierschutz in die Begrifflichkeit der
anthropozentrisch orientierten allgemeinen Rechtsgutslehren integriert werden
kann,133 weil diese das (sinnvollerweise pragmatisch an der rechtlichen Anerkennung
als schutzwürdiges Interesse des einzelnen oder der Allgemeinheit auszurichtende)
Begriffsverständnis im Rahmen von § 34 nicht präjudizieren können. Da Tiere nach
wie vor keine Träger von eigenen Rechten sind und im vorliegenden Zusammenhang
auch nicht die (vielfach sogar gegenläufigen) Interessen des Eigentümers im
Vordergrund stehen, geht es hier richtigerweise ausschließlich um ein Rechtsgut der
Allgemeinheit.134 Dieses reicht über das Wohl konkreter derzeit lebender Tiere
hinaus, weshalb die für eine Rechtfertigung nach § 34 erforderliche Eignung der
Notstandstat zum Schutz des Erhaltungsguts auch dort vorliegen kann, wo durch die
mittelfristige Ausräumung rechtswidriger Zustände erst künftigen Generationen von
Tieren geholfen wird.135

b) Grundsätzlicher Vorrang staatlicher Abhilfemaßnahmen

Die Einbeziehung von Rechtsgütern der Allgemeinheit ist bei § 34 im Gegensatz zu § 73


32 (→ § 32 Rn. 100) deshalb möglich, weil über das Erfordernis eines „wesentlichen
Überwiegens“ des Interesses am Eingreifen sichergestellt werden kann, dass sich
Private nicht in beliebigem Umfang unter Anmaßung der Befugnis zum Eingriff in
fremde Rechte (!) als Sachwalter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Szene
setzen.136 Um entsprechende Tendenzen, die einem gedeihlichen Zusammenleben
der Bürger abträglicher sein können als die Existenz gewisser Missstände, schon im
Ansatz zu unterbinden, müssen insofern allerdings bei der Interessenabwägung
strenge Maßstäbe und der grundsätzliche Vorrang staatlicher Abhilfemaßnahmen
beachtet werden (→ Rn. 182 ff.).

131 Vgl. zur Erhaltung der Wirtschaft im seinerzeit besetzten Ruhrgebiet RG 21.2.1928 – I 888/27,
RGSt 62, 35 (46); zur Aufrechterhaltung der Lebensmittelversorgung RG 4.6.1944 – 1 C 67/43,
RGSt 77, 113; OLG Stuttgart 30.6.1948 – 1 Ss 38/48, DRZ 1949, 93; zur Volksgesundheit im
Zusammenhang mit der Bekämpfung des Rauschgifthandels BGH 5.7.1988 – 1 StR 212/88, NStZ
1988, 558 (559); zur Sicherheit des Straßenverkehrs OLG München 26.4.1956 – Ws 208/56, MDR
1956, 565; OLG Koblenz 25.7.1963 – (2) Ss 248/63, NJW 1963, 1991; OLG Düsseldorf
10.12.1969 – 2 Ws (Owi) 429/69, NJW 1970, 674; OLG Frankfurt a. M. 28.8.1995 – 3 Ss 116/95,
NStZ-RR 1996, 136; zur Sicherheit des Luftverkehrs OLG Düsseldorf 25.10.2005 – III-5 Ss
63/05-33/05 I, NJW 2006, 630; allgemein Stefanie Bock ZStW 131 (2019), 555 (565 f.); HK-
GS/Duttge Rn. 5; Lackner/Kühl/Kühl Rn. 4; LK-StGB/Zieschang Rn. 53 f.;
Schönke/Schröder/Perron Rn. 10; Fischer Rn. 5; Jakobs AT 13. Abschn. Rn. 9 ff.; Kühl AT § 8 Rn.
21; Roxin AT/1 § 16 Rn. 13; aA Arzt FS Rehberg, 1996, 25 (29 ff.); Matt/Renzikowski/Engländer
Rn. 17; SK-StGB/Hoyer Rn. 9; Frister AT Kap. 17 Rn. 2; einschr. NK-StGB/Neumann 22.
132 Vgl. OLG Naumburg 22.2.2018 – 2 Rv 157/17, NJW 2018, 2064 Rn. 13 = NStZ 2018, 472
(473); Dehne-Niemann/Greisner GA 2019, 205 (211 f.); Ritz JuS 2018, 333 (336); Renzikowski
GS Tröndle, 2019, 355 (359 f.); für eine analoge Anwendung von § 34 NK-StGB/Neumann Rn.
31a; aA Dietlein GS Tröndle, 2019, 187 (194 ff.); Scheuerl/Glock NStZ 2018, 448 (449).
133 Bedenken in dieser Hinsicht bei NK-StGB/Neumann Rn. 31a.

http://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-MueKoStGB-G-StGB-P-34-GL-B-I-3
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Kopie von Raul Teotonio, abgerufen am 05.09.2023 21:53 - Quelle: beck-online DIE DATENBANK

134 Ebenso Dehne-Niemann/Greisner GA 2019, 205 (211 f.); Hecker JuS 2018, 83 (84); Hotz NJW
2018, 2066; Ritz JuS 2018, 333 (336); aA LG Magdeburg 11.10.2017 – 28 Ns 182 Js 32201/14
(74/17), StV 2018, 335 Rn. 23 mAnm Keller/Zetsche StV 2018, 337; Herzog JZ 2016, 190
(192 f.); im Grundsatz wohl auch OLG Naumburg 22.2.2018 – 2 Rv 157/17, NJW 2018, 2064 Rn.
22 = NStZ 2018, 472 (474).
135 Vgl. OLG Naumburg 22.2.2018 – 2 Rv 157/17, NJW 2018, 2064 Rn. 16 f. = NStZ 2018, 472
(474); aA Scheuerl/Glock NStZ 2018, 448 (450).
136 Kühl AT § 8 Rn. 27.
Zitiervorschläge:
MüKoStGB/Erb StGB § 34 Rn. 72, 73
MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, StGB § 34 Rn. 72, 73

http://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-MueKoStGB-G-StGB-P-34-GL-B-I-3
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