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Unheimliche Elementen in E.T.A.

Hoffmanns “Der Sandmann”


Der Ödipuskomplex und der Doppelgänger

FEDERICA CLAUDIA
1302491

Erasmus Studentin

VO: Neuere Deutsche Literatur – Freud


Prof. Michael Rohrwasser
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ................................................................................................... 2

2. Ernst Jentschs Unheimliche ..................................................................... 2

3. Freud und die Bedeutungsgeschichte des Unheimlichen ...................... 3

4. E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ ................................... 5

5. Freud und die psychoanalytische Interpretation des Sandmannes...... 7


5.1 Der Ödipuskomplex .................................................................................. 9
5.1.1 Der Ödipuskomplex in der Erzählung ............................................... 9
5.2 Der Doppelgänger .................................................................................. 12
5.2.1 Die Doppelgänger in der Erzählung ................................................ 13

Schluss ............................................................................................................. 16

Literaturverzeichnis ...................................................................................... 17

1
1. Einleitung

Diese Arbeit befasst sich mit dem Motiv des Unheimlichen in der Erzählung „Der
Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann, die Freud in seinem Aufsatz Das Unheimliche
(1919) analysiert hat. Hier hat Freud verschiedene Erklärungen für das Unheimliche
entwickelt, d.h. die Kastrationsangst, die Ich-Spaltung im Bild vom Doppelgänger,
der Wiederholungszwang, die Angst vor dem Verdrängtem, der Animismus, die
Beziehung zum Tod, die Nähe zu Wahnsinn und Krankheit, und der Wunsch im
Mutterleib zu leben. Trotz der Fülle der Themen in Freuds Text, wird diese Arbeit
nur auf einige dieser Erklärungen zusammenlaufen.
Beginnend mit der psychoanalytischen Analyse Freuds, wird diese Arbeit das Motiv
der Kastrationsangst, der sich auf den Ödipuskomplex stützt, durch das Beisein den
Doppelgänger in der Erzählung zu erklären versuchen.

2. Ernst Jentschs Unheimliche

Der Psychiater Ernest Jentsch hat das Konzept des Unheimlichen im Jahr 1906 mit
seinem Zur Psychologie des Unheimlichen erstmals eingeführt. In seinem Werk
erläutert Jentsch das „Gefühl des Unheimlichen“ als durch die intellektuelle
Unsicherheit gegenüber dem Fremden und Unvertrauten verursacht. Der typische
Fall ist für ihn die Ungewissheit, ob ein Objekt, das scheinbar beseelt ist, wirklich
lebend ist oder nicht. Jentsch bezieht sich auf den Eindruck, die leblose Objekte wie
Wachsfiguren, Automaten und Puppen erwecken. Sehr oft wird das Unheimliche,
beim Beobachter oder Leser durch die Repräsentation automatischer Wiederholung
von Bewegungen oder Situationen erweckt. Nach Jentsch, ist die im Leser bewirkte
„Störung“ das vor epileptischen Anfällen oder Wahnsinnserscheinungen erlebte
Gefühle ähnlich. Jentsch hebt in seinem Essay hervor, wie einige Schriftsteller das
Kunstmittel des Unheimlichen in Literatur benutzen. Tatsächlich führen sie in ihren
Geschichten Figuren ein, deren Natur als ein lebendiges Wesen oder Roboter nicht
erklärt ist, und lassen den Leser im Zweifel über die Beseelung oder Nichtbeseelung
der Dinge stattfindet. Danach gibt Jentsch den Schriftsteller der Romantik E.T.A.

2
Hoffmann als Beispiel an, denn «E.T.A. Hoffmann hat in seinen Phantasiestücken
diese psychologische Manöver wiederholt und mit Erfolg zur Geltung gebracht», und
verweist auf die Figur der Puppe Olympia in Hoffmanns Erzählung Der Sandmann
(1816).
Jentschs Studie wird von Sigmund Freud späterhin in seinem Essay Das Unheimliche
(1919) – eine tiefgehende Analyse von Hoffmans Erzählungen – wieder
aufgenommen und weiterentwickelt.

3. Freud und die Bedeutungsgeschichte des Unheimlichen

Ausgehend davon, dass das Unheimliche ohne Zweifel zum Schreckhaften, Angst-
und Grauenerregenden gehört, wählt Freud für seine Studie einen philologischen
Ansatz, indem er die Bedeutungsgeschichte des Begriffs verfolgt.

Das deutsche Wort unheimlich ist offenbar der Gegensatz zu heimlich,


heimisch, vertraut und der Schluss liegt nahe, es sei eben darum schreckhaft,
weil es nicht bekannt und vertraut ist. (Freud, 1919, 298)

Die Beziehung ist jedoch nicht umkehrbar, da nicht alles Neue und nicht Vertraute
schreckhaft ist. Manches Neuartige wird leicht schreckhaft und unheimlich. Einiges
Neuartige ist schreckhaft, aber durchaus nicht alles. «Zum Neuen und
Nichtvertrauten muss erst etwas hinzukommen was es zum Unheimlichen macht»
(Freud, 1919, 298).
Das Zustandekommen des unheimlichen Gefühls ist, nach Jentsch, auf die
intellektuelle Unsicherheit zurückzuführen, dennoch ist diese Bestimmung für Freud
nicht erschöpfend. Aus diesem Grund bezieht er seine Analyse auf verschiedene
Wörterbücher.
Freud benutzt Daniel Sanders´ Wörterbuch der Deutschen Sprache aus dem Jahr
1860, woraus er folgende Bedeutungen des Wort heimlich herausnimmt:

3
Heimlich, a. (-keit, f. –en): 1. Auch Heimelich, heimelig, zum Hause
gehörig, nicht fremd, vertraut, zahm, traut und traulich, anheimelnd, etc.
[...] (Daniel Sanders' Wörterbuch zitiert nach Freud, 1919, 299)

[...] 2. Versteckt, verbogen gehalten, so dass man Andre nicht davon oder
darum wissen lassen, es ihnen verbergen will, vgl. Geheim [...] H-keit
statt Geheimnis [...] (Daniel Sanders' Wörterbuch zitiert nach Freud,
1919, 300)

Auch das Wort „unheimliche“ wird im Wörterbuch erklärt:

[...] so auch nahm. Der Ggstz: Un-: unbehagliches, banges Grauen


erregend: Der schier hm un-h., gespenstisch erschien [...] Un-h. nennt
man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen… bleiben sollte und
hervorgetreten ist. Schelling, 2, 2, 649 etc. [...] (Daniel Sanders'
Wörterbuch zitiert nach Freud, 1919, 302)

Freud setzt mit einer anderen Erläuterung aus dem Deutschen Wörterbuch von Jacob
und Wihlelm Grimm (Leipzig 1877) fort:

Heimlich; [...] vertraut, freundlich, zutraulich. 4. aus dem heimatlichen,


häuslichen entwickelt sich weiter der Begriff des fremden Augen
entzogenen, verbogenen, geheimen, eben auch in mehrfacher Beziehung
ausgebildet [...] 9. die Bedeutung des versteckten, gefährlichen, die in der
vorigen Nummer hervortritt, entwickelt sich noch weiter, so dasz
heimlich den sinn empfängt, den sonst unheimlich (gebildet nach
heimlich 3, b) sp. 874) hat: »mir ist zu Zeiten wie dem Menschen der in
Nacht wandelt und an Gespenster glaubt, jeder Winkel ist ihm heimlich
und schauerhaft.« [...] (Grimm zitiert nach Freud, 1919, 303)

Mit dieser ausführlichen Analyse des Wortes zeigt Freud, wie die Unterscheidung
zwischen heimlich /unheimlich doch nicht so eindeutig sei. Er verweist überhaupt

4
auf den Romantiker Friedrich Schelling, der bemerkt hat, wie unheimlich «alles, was
im Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist». (Freud, 1919,
301) Dann kommt Freud zum folgenden Schluss: «Also heimlich ist ein Wort, das
seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem
Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist eine Art von heimlich.»
(Freud, 1919, 303)

4. E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“

Um zu erläutern, wodurch das Gefühl des Unheimlichen hervorgerufen wird, greift


Freud die Bemerkung von Jentsch auf und entwickelt sie mit einem neuen
Kommentar über den Sandmann weiter.
An erster Stelle möchte ich eine Zusammenfassung der Erzählung geben.

E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann wurde 1816 im ersten Band seines zweiteiligen
Zyklus Nachtstücke veröffentlicht. Die Novelle beginnt mit einem Briefwechsel
zwischen dem Studenten Nathanael, seiner Verlobten Klara und ihrem Bruder
Lothar. In dem ersten Brief erzählt Nathanael von einer merkwürdigen Begegnung
mit dem Wetterglashändler Coppola, die schlimme Erinnerungen an seine Kindheit
wieder aufgeweckt hat. Er sieht in Coppola den Advokaten Coppelius, mit dem sein
Vater alchemistische Experimente durchführte. Für Nathanael war Coppelius den
grausamen Sandmann, «ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht
zu Bett gehen wollen, und wirft ihnen Hände voll Sand in die Augen, dass sie blutig
zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den
Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben
krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein
Augen auf». (Hoffmann, 2011, 6)
Als Nathanael sich an einem Abend in seines Vaters Zimmer versteckte, beobachtete
er beide Männer bei einem ihrer teuflischen Experimente beschäftigt. Die Furcht
überkam den Jungen, der aufkreischte und von Coppelius herausgefunden wurde.

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Der Advokat versuchte Nathanaels Augen zu nehmen, aber der Vater barg seinen
Sohn und Coppelius verschwand. Ein Jahr nach diesem schockierenden Vorfall,
erschien Coppelius nochmals und experimentierte wieder mit dem Vater.
Unglücklicherweise starb der Letzte während des Experiments, deshalb war
Nathanael fest davon überzeugt, dass der Sandmann seinen Vater ermordete.
Aufgrund der Unruhe und Verunsicherung nach der Begegnung mit Coppola, schickt
Nathanael seinen Brief nicht an Lothar sondern der vernünftigen Klara, die in ihrem
Antwortschreiben ihn zu beruhigen versucht, weil «alles Entsetzliche und
Schreckliche», wovon er geschrieben hat, nur aus seinem Innern herkommt.
Außerdem ist sie davon überzeugt, dass der Tot seines Vaters nur einen Unglücksfall
war.
In seinem nächsten Brief an Lothar ist Nathanael verärgert über die
Verständnislosigkeit Klaras, trotzdem stellt er selbst die Identität von Coppelius und
Coppola in Frage. Danach beschreibt er einige Dinge aus seinem Studienort, nämlich
den neuen Professor der Physik, Spallanzani, und den ersten Blick an seine schöne
Tochter Olimpia.
Nach diesem Briefwechsel schaltet sich der Erzähler erst ein. Er wendet sich an den
Leser und sucht nach Worten der Klärung und Rechtfertigung für diesen
merkwürdigen Textbeginn. Trotzdem macht er nicht klar, ob Nathanaels Geschichte
etwas Reales oder nur eine Erschaffung seiner Phantasie sei. Er berichtet über den
Aufbau des Werkes und setzt die Erzählung fort.
Nathanael kehrt nach Hause zurück, wo die Vorstellung und fixe Idee von Nathanael
über den Sandmann einige Konflikte mit Klara erzeugen und es dadurch fast zu
einem Duell zwischen Nathanael und Lothar kommt. Nach dieser Krise versöhnen
sie sich wieder und Nathanael kehrt zu seinem Studium zurück. Dort muss er in ein
anderes Haus ziehen, weil das andere abgebrannt ist, und dieses Haus liegt direkt
gegenüber der Wohnung von Professor Spallanzani. So hat Nathanael die
Möglichkeit, durch ein Perspektiv, das er während eine zweiten Besuch von Coppola
angekauft hat, Olimpia täglich zu beobachten. Später gibt Spallanzani ein großes
Fest, um seine Tochter öffentlich vorzustellen. Nathanael tanzt mehrfach mit ihr und
verliebt sich in sie. Obwohl sie nur dasselbe monotone Wort wiederholt, merkt er
nicht, dass er sich in eine leblose Puppe verliebt hat, weil er sich nur von ihr ganz

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verstanden fühlt. Dann sieht Nathanael einen Kampf zwischen Coppola und
Spallanzani zu, wo das Objekt ihres Streites Olimpia ist. Nur in diesem Moment
muss er erkennen, dass das Mädchen nur eine leblose Puppe ist, der jetzt die Augen
fehlen, weil sie von Coppola gestohlen worden sind. Darauf packt ihn der Wahnsinn.
Nathanael erwacht nach längerer Krankheit im Kreise seiner Familie, scheinbar von
seiner Paranoia geheilt. Wieder glücklich mit Klara vereint, steigen die beiden kurze
Zeit später auf den städtischen Rathausturm. Ganz plötzlich wird Nathanael dort
wieder in seine Wahn Welt zurückgeworfen. Er versucht Clara vom Turm zu stoßen,
da kommt ihr Bruder Lothar zum Einsatz und es gelingt ihm, sie zu retten. Vor dem
Turm versammelt sich eine Menschenmenge, unter ihnen auch Coppelius, den das
Schauspiel zu belustigen scheint. Als Nathanael den Advokat unter den Leuten
erkennt, stürzt er sich vom Turm und stirbt.

5. Freud und die psychoanalytische Interpretation des


Sandmannes

Sigmund Freud ist der Meinung, dass das Motiv und die Figur des Sandmannes vor
allem im Mittelpunkt der Erzählung (mehr als die unheimliche Puppe Olimpia)
stehen und damit hauptverantwortlich für das Gefühl des Unheimlichen sind. Auf
diese These begründet er seine psychoanalytische Interpretation der Figur selbst und
erklärt, wo das Unheimlich steht.
Seit seiner Kindheit ist Nathanael von dem Sandmann besessen, weil er Angst vor
ihm hat. Dann ist er nach dem Tod seines Vaters davon überzeugt, dass der
Sandmann den Vater ermordet hat. In seinen Gedanken wird der Sandmann mit dem
Advokat Coppelius und dem Wetterglashändler Coppola assoziiert. Tatsächlich sind
die drei Figuren mit das Augenmotiv und der Sehfähigkeit eng verbunden.
In dem Märchen der Kinderfrau erfährt Nathanael, dass der Sandmann böse ist, zu
den Kindern kommt, wenn sie nicht schlafen wollen und als Strafe ihnen dann Sand
in die Augen streut. Das Streuen von Sand in die Augen ist für Nathanael mit dem

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Verlust der Sehfähigkeit unmittelbar verbunden. Also nimmt der Sandmann das
Augenlicht den Menschen. Die Szene im Arbeitszimmer des Vaters zeigt, dass
Coppelius auch das Augenlicht den Menschen nimmt und er versucht die Augen des
kleinen Nathanaels als Strafe für seines Belauschen und Ausspionieren zu nehmen.
Als Nathanael dann dem Wetterglashändler Coppola begegnet, kann man erkennen,
dass er auch eine Personifizierung des Sandmanns ist, weil die Augen im
Vordergrund seiner Arbeit stehen. Tatsächlich verkauft er Okulare und Wettergläser,
also Dinge, die die Augen in ihrer Sehfähigkeit stärken.
Der Sandmann und seine Personifizierungen sind daher mit der Angst, die Augen zu
verlieren, sehr stark verbunden und an dieser Stelle erklärt Freud, welche Rolle
dieses Motiv in der psychoanalytischen Diskussion spielt:

Hingegen mahnt uns die psychoanalytische Erfahrung daran, daß es eine


schreckliche Kinderangst ist, die Augen zu beschädigen oder zu
verlieren. [...] Ist man doch auch gewohnt zu sagen, dass man etwas
behüten werde, wie seinen Augapfel. Das Studium der Träume, der
Phantasien und Mythen hat uns dann gelehrt, dass die Angst um die
Augen, die Angst zu erblinden, häufig genug ein Ersatz für die
Kastrationsangst ist. Auch die Selbstblendung des mythischen
Verbrechers Ödipus ist nur eine Ermäßigung für die Kastration, die ihm
nach der Regel der Talion allein angemessen wäre. [...]

Freud ist der Meinung, dass Nathanaels Angst, seine Augen zu verlieren, ein Symbol
der Kastrationsangst ist, die sich auf die psychoanalytische Theorie des
Ödipuskomplexes stützt.

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5.1 Der Ödipuskomplex

Der Ödipuskomplex spielt in der freudschen Psychoanalyse eine zentrale Rolle. Mit
diesem Begriff beschreibt Freud die Gesamtheit der ambivalenten Wünsche, die das
Kind während der phallischen, bzw. ödipalen Phase, seiner psychosexuellen
Entwicklung der Eltern gegenüber empfindet.
Der ödipale Wunsch tritt zum ersten Mal im dritten bis fünften Lebensjahr auf, wenn
der Junge einen unbewussten Triebwunsch, sich mit der Mutter geschlechtlich zu
vereinigen, entwickelt. Hiermit beginnt er, den Vater als einen Rivalen zu betrachten.
Daher kommt der Junge zu einem Paradox, weil er nicht weiß, ob er seinen Vater
lieben oder hassen soll. Diese Liebe-Hasse-Reaktion wird von Freud als
Ödipuskomplex genannt. In dieser Phase erkennt der Junge auch den anatomischen
Geschlechtsunterschied zu Mädchen. Da er die physische Überlegenheit des Vaters
begreift, phantasiert er (immer unbewusst), dass der Vater sich durch die Kastration
rächen könnte, und damit wird die Kastrationsangst aktiviert. Die Auflösung des
Ödipuskomplex steht am Ende dieser Phase in einem normalen Entwicklungsverlauf,
wenn der Junge erkennt, dass er eine außerfamiliäre weibliche Bezugsperson suchen
muss und verdrängt seine ödipalen Wunschvorstellungen durch die Identifikation
mit dem Vater. (vgl. Freud, 1924)
Nach dieser kurzen Beschreibung des Ödipuskomplexes muss man sagen, dass Freud
selbst nicht die Anwesenheit einer Rivalität zwischen Nathanael und seinem Vater in
der Erzählung hervorgehoben hat. Trotzdem kann man über einen Ödipuskomplex
sprechen, wenn man die Rivalität zwischen Nathanael und Coppelius/Coppola
verlegt.

5.1.1 Der Ödipuskomplex in der Erzählung

In Nathanaels Kindheitsgeschichte ist die Vaterfigur in den guten Vater Nathanaels


und den bösen Vater Coppelius geteilt. Diese beiden Charaktere stellen die zwei
Gegensätze des Vater-Imago dar, das sich in Liebe und Hass teilt. (vgl. Freud, 1919,

9
308) Die nächtliche Szene im Arbeitszimmer des Vaters ist besonders wichtig, um
diese Beziehung zu verstehen.
Als Nathanael sich im Vaterszimmer verbirgt und die teuflische Experimente
beobachtet, verzerren sich die Gesichtszüge seines leiblichen Vaters im Licht der
Flamme des Feuers so, dass jener in diesem Moment für Nathanael wie Coppelius
aussieht: «Er sah dem Coppelius ähnlich» (Hoffmann, 2011, 9). Die beiden
Vaterfiguren verschmelzen in dem Augenblick zu einem einzigen Bild, und der
Vater wird ab diesen Moment wie Coppelius/Sandmann, den Nathanael mit Gefahr
und Kastration verbindet. Coppelius ist, vor dem Hintergrund dieser Lesart, mit dem
drohenden Vater identifiziert, auf den sich der Hass und die Angst des Jungen
richten. Später bedroht er Nathanael, ihn zu blenden (bzw. zu kastrieren): «Da ergriff
mich Coppelius […]: „Nun haben wir Augen – Augen – ein schön Paar
Kinderaugen» (Hoffmann, 2011, 10). Nathanaels idealisierter, leiblicher Vater rettet
dagegen dessen Augen und bewahrt ihn damit vor der Kastration:

Da hob mein Vater flehend die Hände empor und rief „Meister! Meister!
Lass meinem Nathanael die Augen – lass sie ihm!“ Coppelius lachte
gellend auf und rief: „Mag denn der Junge die Augen behalten und sein
Pensum flennen in der Welt. […]“ (Hoffmann, 2011, 10)

Wenn man sich der Terminologie in der freudschen Traumdeutung bedient, findet
hier eine Verdichtung des Vaters zu zwei Vaterfiguren (Väterpaar) auf der latenten
Ebene statt.
Der verdrängte Teil des Ödipuskomplexes, bzw. der Wunsch des Vaters Todes, wird
in dem Tod des guten Vaters dargestellt, und Coppelius wird den Mörder:
«„Coppelius, verruchter Satan, du hast den Vater erschlagen!“ – So schrie ich
[Nathanael] auf» (Hoffmann, 2011, 11).
In seinem ersten Brief an Lothar berichtet Nathanael von seinem Trauma und erzählt
von seiner Angst vor dem Sandmann, die in seiner Kindheit erwacht und ihn seither
unter einer Art Verfolgungswahn leiden lässt. An dieser Stelle ist jedoch zu
erwähnen, dass Hoffmann die Leser im Unklaren darüber lässt, ob die Geschehnisse

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in der Novelle lediglich in Nathanaels Phantasie stattfinden oder der äußeren Realität
entsprechen.
Was wir sicher wissen ist, dass dieser Trauma wieder auftaucht, wenn Nathanael den
Wetterglashändler Coppola begegnet:

Wenn ich dir nun sage, mein herzlieber Freund dass jener
Wetterglashändler eben der verruchte Coppelius war, so wirst du mir es
nicht verargen, dass ich die feindliche Erscheinung als schweres Unheil
bringend deute. Es war anders gekleidet, aber Coppelius Figur und
Gesichtszüge sind zu tief in mein Innerstes eingeprägt, als dass hier ein
Irrtum möglich sein sollte. (Hoffmann, 2011, 12).

Der Kastrationskomplex besteht daher nicht nur in Nathanaels Kindheit, sondern


wird bei ihm auch im Erwachsenenalter sehr deutlich. Freud stellt in Jenseits des
Lustprinzips fest, dass ein traumatisierter Kranker unbewusst einen Drang verspürt,

das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu wiederholen, anstatt es,


wie der Arzt es lieber sähe, als ein Stück der Vergangenheit zu erinnern.
Diese mit unerwünschter Treue auftretende Reproduktion hat immer ein
Stück infantilen Sexuallebens, also des Ödipuskomplexes und seiner
Ausläufer, zum Inhalt. (Freud, 1921, 16)

Dieser sogenannte Wiederholungszwang, den Freud hier beschreibt, stellt sich auch
bei Nathanael in Der Sandmann heraus.
Das führt uns zu ein zweites Thema, das von Freud in seinem Das Unheimlichen
betrachtet wird, und zwar das Motiv des Doppelgängers.

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5.2 Der Doppelgänger

Freud knüpft in seiner Arbeit an Otto Ranks Studien an, wo «die Beziehungen des
Doppelgängers zum Spiegel- und Schattenbild, zum Schutzgeist, zur Seelenlehre und
zur Todesfurcht untersucht [werden], es fällt aber auch helles Licht auf die
überraschende Entwicklungsgeschichte des Motivs» (Freud, 1919, 308). In der Tat
ist die Vorstellung des Doppelgängers ursprünglich eine Versicherung gegen den
Untergang des Ichs. Freud erläutert, dass man diese Erschaffung der Verdoppelung
als Versicherung auch in der Traumsprache finden kann, wo die Kastration durch die
Verdoppelung oder Mehrung eines Genitalsymbols dargestellt wird. Diese
Vorstellungen kommt aus dem primären Narzissmus1, der den Geist des Kindes
beherrscht, und wenn diese Phase überwindet wird, ändert der Doppelgänger seine
Kennzeichnung: von einer Versicherung des Fortlebens verändert er sich auf Melder
des Todes. Von Außenprojektion des Ichs übergeht er zu etwas Fremdes: von
heimlich auf unheimlich. (vgl. Freud, 1919, 309)
Freud assoziiert die Figur des Doppelgängers mit der Abspaltung eines Selbstkritik
(den später als Über-Ich von Freud genannt wird) aus dem Ich:

Die Vorstellung des Doppelgängers […] kann aus den späteren


Entwicklungsstufen des Ichs neuen Inhalt gewinnen. Im Ich bildet sich
langsam eine besondere Instanz heraus, welche sich dem übrigen Ich
entgegenstellen kann, die der Selbstbeobachtung und Selbstkritik dient,
die Arbeit der psychischen Zensur leistet und unserem Bewußtsein als
»Gewissen« bekannt wird. (Freud, 1919, 310)

Dann verbindet Freud den Doppelgänger mit den Elemente des Ichs, die vom Über-
Ich abgelehnt werden. Außerdem erklärt er, dass der Doppelgänger also intime und
verdrängte Wunsche verkörpern kann:

1
«Der Terminus Narzißmus entstammt der klinischen Deskription und ist von P. Näcke 1899 zur
Bezeichnung jenes Verhaltens gewählt worden, bei welchem ein Individuum den eigenen Leib in
ähnlicher Weise behandelt wie sonst den eines Sexualobjekts.» (Freud, Zur Einführung in den
Narzißmus,13 X ;138)

12
Aber nicht nur dieser der Ichkritik anstößige Inhalt kann dem
Doppelgänger einverleibt werden, sondern ebenso alle unterbliebenen
Möglichkeiten der Geschicksgestaltung, an denen die Phantasie noch
festhalten will, und alle Ichstrebungen, die sich infolge äußerer Ungunst
nicht durchsetzen konnten […]

In Der Sandmann sind die Doppelgänger in die Figuren von Spallanzani, Coppola
und Olimpia präsent.

5.2.1 Die Doppelgänger in der Erzählung

Spallanzani und Coppola stellen eine Reinkarnation des Väterpaars dar. Spallanzani
verkörpert als Vater Olimpias den guten Vater, währen die Bedrohung vom
gehassten, gefürchteten Coppola als Augen-Verkäufer kommt. («“Ei, nix Wetterglas,
nix Wetterglas! – hab auch sköne Oke – sköne Oke!“» Hoffmann, 2011, 23) Freud
stellt Analogien dieser Figuren zueinander herauf und schlägt in seinem Text Das
Unheimliche vor, dass die Namen Coppelius und Coppola auf das italienische Wort
coppo, das auch die Augenhöhle bezeichnet, zurückzuführen sind und nochmals auf
das Augenmotiv verweisen. (Freud, 1919, 307) Später wird es in der Erzählung klar,
dass Coppelius und Coppola dieselbe Person sind, weil Spallanzani den
Wetterglashändler Coppelius nennt ( «Coppelius – Coppelius, mein bestes Automat
hat er mir geraubt!» Hoffmann, 2011, 31)
Die gemeinsame Arbeit und Erschaffung der Puppe Olimpia verbindet die
Väterpaare Coppelius - Nathanaels Vater und Coppola – Spalanzani und außerdem
ist Spallanzani der Vater von Olimpia. Weiterhin sind die optischen Analogien der
Väter, das An- und Abschrauben von Gliedmaßen und den Streit um Olimpia
Anzeichen, dass Coppola und Spallanzani Doppelgänger der Väterpaare sind. Zum
Schluss kommt Freud an die Aussage, dass Olimpia und Nathanael, als Väter
identisch sind, da Coppelius Nathanaels Augen zu stehlen versuchte, und später ist es
Coppola der Olimpias Augen entwendet. (vgl. Freud, 1919, 308) Außerdem schraubt

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Coppelius Nathanaels Gliedmaßen in der Kindheitsgeschichte ab und wieder an, als
ob er ein Automat wäre:

Und damit fasste er mich gewaltig, dass die Gelenke knackten, und
schrob mir die Hände ab und die Fuße und setzte sie bald hier, bald dort
wieder ein. (Hoffmann, 2011, 10).

Die Figur Olimpias kann sich an Nathanael nähern, weil ihre Gliedmaßen als Puppe
von Coppola und Spalanzani zusammengeschraubt und ihre Augen von
Coppola/Coppelius gestohlen werden. Zunächst soll im Vordergrund stehen, dass
nicht nur die Väter als Doppelgänger scheinen, sondern auch die Figur Nathanael in
gewisser Weise eine Verdoppelung erfährt. Die Doppelung der Identitäten
Nathanaels mit Olimpia kann in den Wörter von Nathanael erkannt sein: «O du
herrliches, due tiefes Gemüt […] nur von dir, von dir allein werd ich ganz
verstanden» (Hoffmann, 2011, 30)
Freud bezeichnet Nathanaels Liebe gegen Olimpia als narzisistisch (vgl. Freud, 1919,
308), weil Nathanael eine Ich-Spaltung erfährt: er sieht sich selbst in der Puppe
wiederspiegelt und fühlt sich ausschließlich von ihr verstanden. Auch hier wird das
Augenmotiv sehr deutlich, weil die Augen als sprichwörtlichen „Spiegel der Seelen“
benutzen werden. Tatsächlich sagt Nathanael «Du tiefes Gemüt, in dem sich mein
ganzes Sein spiegelt» (Hoffmann, 2011, 27) und schwört «nur in Olimpias Liebe
finde ich mein Selbst wieder.» (Hoffmann, 2011, 29). Die Bedeutung des Spiegels
im Text wird auch vom Erzähler deutlich gemacht:

Vielleicht wirst du, o mein Leser! dann glauben, daß nichts wunderlicher
und toller sei, als das wirkliche Leben und daß dieses der Dichter doch
nur, wie in eines matt geschliffnen Spiegels dunklem Widerschein,
auffassen könne. (Hoffmann, 2011, 17)

Durch den Spiegel wird Olimpia dann Nathanaels Doppelgänger und, nach Freud,
«Materialisation von Nathanaels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher
Kindheit» (Freud, 1919, 308) Aufgrund seines Ödipuskomplex ist Nathanael so

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besessen von seinem Vater und von dessen dunkle Seiten, oder Doppelgänger, dass
er nicht eine echte Frau lieben kann, deshalb vergisst er seine Verlobte Klara. Nach
Freud ist Nathanaels psychologische Realität ausreichend offenbar, weil die gleiche
Situation von anderen realen Krankenanalysen bewiesen ist. (Freud, 1919, 309)

Die Wiederholung des Gleichartigen steht im Zusammenhang mit dem Motiv des
Doppelgängers im Sandmann, da dieses bereits die Wiederholung impliziert.
Nathanaels Trauma, ausgelöst durch den Kastrationskomplex und den Tod seines
geliebten Vaters, verstärkt sich in immer wiederkehrenden Situationen, bzw. durch
das Wiederauftreten derselben Motive in verschiedene Momente. Nathanael ist seit
der traumatischen Erfahrung in seiner Kindheit permanent Wiederholungen
ausgesetzt, die ihn an den Sandmann und den Tod seines Vaters erinnern. Was ihn
hierbei einholt, ist die Augen- oder Kastrationsangst. Mit der Bedrohung durch den
Verlust der Augen, dem Kastrationskomplex, wird Nathanael, lange nach der ersten
traumatischen Erfahrung mit dem Sandmann, als Student erneut konfrontiert. Die
Wiederholungen beginnen mit dem Wiederauftreten des Advokaten Coppelius in
Gestalt des Wetterglashändlers Coppola. Wieder erscheint die Figur des mit
Kastration drohenden Vaters, die lange verschwunden blieb und nun das verdrängte
traumatische Erlebnis der Kindheit in Nathanael wachruft. Er sieht sich der Situation
aus seiner Kindheit erneut ausgesetzt, der böse Vater ist zurückgekehrt und die
Augenangst mit ihm.

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Schluss

«Das Unheimliche des Erlebens kommt dadurch zustande, wenn verdrängte infantile
Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden, oder wenn überwundene
primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.» (Freud, 321)
Meiner Meinung nach, ist dieses Zitat nützlich, um diese Arbeit zusammenzufassen.
Die Analyse von Freud hat uns gezeigt, dass der Ödipuskomplex als Ursache in
Nathanaels Geschichte und Unfähigkeit, ein normales Leben zu haben, steht. Dieser
Ödipuskomplex stellt sich mit der Figur des Sandmanns und seiner Doppelgänger
(Coppelius und Coppola) vor, die die Bedrohung der Kastration verkörpern. Die
Augen werden zum Symbol des Geschlechtsorgans. Zum Schluss sind die Elemente
des Unheimlichen in das Wiederauftreten des verdrängten infantilen Trauma und des
Ödipuskomplexes, die mit dem Wiederholungszwang Nathanaels Geschichte leiten,
zu erkennen.

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Literaturverzeichnis

Sigmund Freud: Das Unheimliche (1919), in Imago. Zeitschrift für Anwendung der
Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1919). S. 297–324.

Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. (1921) In: Gesammelte Werke, Bd. XIII,
Frankfurt a.M.: Fischer (1976). S. 3-69.

Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzißmus. In: Gesammelte Werke, Bd. X,
London: Imago Publishing (1942). S. 137-170.

Sigmund Freud: Der Untergang des Ödipuskomplexes (1924), in: Studienausgabe,


Bd. V, Frankfurt a.M.: Fischer (1975)

E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Das Öde Haus. In: Hamburger Lesehefte (174),
Hamburg: Hamburger Lesehefte (2011)

Ernest Jentsch: Zur Psychologie des Unheimlichen, in Psychiatrisch-Neurologische


Wochenschrift 22, 8 (1906). S. 195-98.

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