Sie sind auf Seite 1von 108

Doppelte Staatsbürgerschaft

als Mittel des Minderheitenschutzes


im europäischen bzw. internationalen Vergleich.
Doppelte Staatsbürgerschaft
als Mittel des Minderheitenschutzes
im europäischen bzw. internationalen Vergleich.
Diese Publikation wurde im Auftrag
der Landtagsfraktion der Süd-Tiroler Freiheit erstellt
und von ihrem Mitarbeiter, Dr. Cristian Kollmann,
wissenschaftlich ausgearbeitet.
Inhalt

 Vorwort S. 9

 Everton Altmayer
Brasilianisch-österreichische Doppelstaatsbürgerschaft
in Dreizehnlinden: Eine positive Realität. S. 13

 Norbert Rasch
Doppelte Staatsbürgerschaft der Deutschen in Schlesien (Polen). S. 19

 Roza Hovhannesyan
Doppelte Staatsbürgerschaft für die armenische Diaspora. S. 25

 Koloman Brenner
Minderheitenrechte der deutschen Minderheit
in Ungarn – ohne doppelte Staatsbürgerschaft. S. 33

 Maurizio Tremul
Die Wiedererlangung der italienischen Staatsbürgerschaft
für die Angehörigen der italienischen Minderheit
in Kroatien und Slowenien. S. 39

 Julijan Čavdek
Die doppelte Staatsbürgerschaft
als Mittel zur nationalen staatsgrenzenübergreifenden
slowenischen Einheit. S. 47
 Ernő Fancsali
Doppelte Staatsbürgerschaft
am Beispiel der ungarischen Gemeinschaft in Siebenbürgen. S. 55

 Daniel Turp
Die doppelte Staatsbürgerschaft als Mittel zum Schutz von
Minderheiten nach europäischen und internationalen Standards. S. 59

 Jan Diedrichsen
Neue Zeiten im Norden:
Dänemark ermöglicht doppelte Staatsbürgerschaft. S. 65

 Andrea Carteny
Zugänge zu doppelten Staatsbürgerschaften in den Donauregionen:
Die Fälle Slowakei, Rumänien und Moldawien. S. 71

 Alexandra von Schantz


Doppelte Staatsbürgerschaft in Finnland
und das åländische „Hembygdsrätt“. S. 81

 Franz Watschinger
Die Umsetzung der doppelten Staatsbürgerschaft für Südtiroler
im österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetz. S. 87

 Nachwort zum Nachdruck S. 95

Herausgeber: Landtagsfraktion der Süd-Tiroler Freiheit.


Herstellung: Effekt! GmbH.
Bild auf der Titelseite: Partie am Wuhnleger, Tiers,
mit Blick zur Rosengartengruppe.
Bildnachweis: Pixoto, © Davide Azzetti.

ISBN: 978-88-97053-47-7
Vorwort

Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis einer gleichnamigen


internationalen Tagung, die im Oktober 2015 in Bozen stattfand
und von der Landtagsfraktion der Süd-Tiroler Freiheit organisiert
wurde. Die Notwendigkeit der Tagung und in der Folge dieser
Publikation ergab sich dadurch, dass die doppelte Staatsbürger-
schaft, besonders in den letzten Jahren, auch in Südtirol immer
mehr zu einem Thema geworden ist. In Südtirol ist, im Vergleich zu
vielen anderen Regionen in Europa und in der restlichen Welt, die
doppelte Staatsbürgerschaft (noch) keine Realität, wenngleich
Bemühungen in diese Richtung bereits mehrfach unternommen
wurden. Das Thema wird politisch sowohl in Österreich als auch
in Südtirol kontrovers diskutiert, hierbei mitunter oberflächlich,
einseitig und polemisch.

Diese Publikation versteht sich als Informationsschrift und Dis-


kussionsgrundlage für politische Entscheidungsträger und für
interessierte Bürger. In zwölf Beiträgen wird das Thema doppelte
Staatsbürgerschaft aus diversen (rechtlichen, länderspezifischen,
minderheitenbezogenen) Perspektiven beleuchtet, und als Leser
gewinnt man dabei zwangsläufig interessante Einblicke in die
Situation einer betreffenden Minderheit. Die Autoren, die aus den
unterschiedlichsten Regionen der Europäischen Union und der
restlichen Welt stammen, sind oft selbst Angehörige der jeweils
gegenständlichen Minderheit und fungieren (nach dem Stand
von Oktober 2015) als politische Vertreter, hohe Beamte, Juristen,
Wissenschaftler an Universitäten oder Vertreter von Kulturvereinen,
wobei sich ihre Funktionen teilweise überschneiden. Im Folgenden
seien sie kurz vorgestellt:
1. Everton Altmayer, Professor für Linguistik an der Universität São
Paolo und Obmann des österreichischen Kulturvereins „Dona
Leopoldina“ in Dreizehnlinden.
2. Norbert Rasch, Vorsitzender der Sozial-Kulturellen Gesellschaft
der Deutschen im Oppelner Schlesien und Abgeordneter des
„Wahlkomitees Deutsche Minderheit“ zum Regionalparlament
der Woiwodschaft Oppeln.
3. Roza Hovhannesyan, Leiterin der Abteilung für Armenische
Gemeinschaften in Amerika und Australien, Ministerium für
Diaspora der Republik Armenien.
4. Koloman Brenner, Vize-Dekan der Philosophisch-Humanwis-
senschaftlichen Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität (ELTE)
Budapest.

9
Vorwort

5. Maurizio Tremul, Vorsitzender des Leitungssausschusses der


„Unione Italiana“ in Kroatien und Slowenien.
6. Julijan Čavdek, politischer Sekretär von „Slovenska Skupnost“
(„Slowenische Gemeinschaft“) für die Provinz Görz.
7. Ernő Fancsali, Vorsitzender von „Erdélyi Magyar Néppárt“
(„Ungarische Volkspartei Siebenbürgens“), Kreis Klausenburg.
8. Daniel Turp, Professor für Völkerrecht und Verfassungsrecht, Uni-
versität Montréal, sowie ehemaliges Mitglied des Kanadischen
Unterhauses und der Nationalversammlung von Quebec.
9. Jan Diedrichsen, Leiter des Sekretariats der Deutschen Volks-
gruppe in Kopenhagen und ehemaliger Direktor der Födera-
listischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV).
10. Andrea Carteny, Assistenzprofessor für osteuropäische
Geschichte, Universität Sapienza.
11. Alexandra von Schantz, Vertreterin von „Ålands Framtid“
(„Ålands Zukunft“).
12. Franz Watschinger, Rechtsanwalt, Innsbruck.

Aus den meisten Beiträgen geht hervor, dass die doppelte Staats-
bürgerschaft EU-weit und darüber hinaus weltweit mitunter ein
gängiges Modell ist, das mittlerweile vielfach als Selbstverständ-
lichkeit wahrgenommen wird. Die Gründe, warum eine zweite
Staatsbürgerschaft in diesen Ländern möglich ist, sind natürlich
vielfältig und nicht immer dieselben, ebenso die mit der jeweili-
gen zweiten Staatsbürgerschaft verbundenen Rechte, Pflichten
und Symbolik. Neben den mehrheitlich positiven Beispielen, wie
einzelne Staaten mit der doppelten Staatsbürgerschaft umge-
hen, kommen in dieser Publikation auch Negativbeispiele zur
Sprache, also Fälle, in denen die doppelte Staatsbürgerschaft
für eine autochthone Minderheit nicht oder nur äußerst bedingt
möglich ist. Selbstverständlich erheben weder die positiven noch
die negativen Fälle Anspruch auf zahlenmäßige Vollständigkeit.
Vielmehr dienen sie der Veranschaulichung und dem Vergleich,
woraufhin es gelten kann, auch im Hinblick auf eine mögliche
doppelte Staatsbürgerschaft für die Südtiroler Schlüsse zu ziehen.

Ein Beitrag konnte in dieser Publikation aus urheberrechtlichen


Gründen nicht berücksichtigt werden. Der Autor Peter Hilpold,
Professor für Völkerrecht und Europarecht an der Universität Inns-
bruck, publizierte ihn bereits in der Zeitschrift „Europa Ethnica“ 1/2
2016, die in besagter Ausgabe den Schwerpunkt auf die doppelte
Staatsbürgerschaft legt. Von Hilpolds Beitrag, der den Titel „Die

10
Vorwort

doppelte Staatsbürgerschaft im Völkerrecht“ trägt, seien an


dieser Stelle die zentralen Aussagen zu fünf ausgewählten, weil
besonders relevanten Fragestellungen, aufgegriffen: 1. Etwaigen
Behauptungen, dass die doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler
völkerrechtlich nicht möglich sei, hält Hilpold entgegen: „Es gibt
völkerrechtlich überhaupt keine Notwendigkeit mehr, im Verhältnis
zwischen Italien und Österreich eine Mehrstaatigkeit zu verhin-
dern.“ (P. Hilpold, Die doppelte Staatsbürgerschaft im Völkerrecht, Es gibt
in: Europa Ethnica 1/2 2016, S. 2.). Resümierend wiederholt Hilpold völkerrechtlich
seine diesbezügliche Auffassung: „Auf völkervertraglicher bzw. überhaupt
keine Notwen-
völkerrechtlicher Ebene stehen der Verleihung einer doppelten
digkeit mehr,
Staatsbürgerschaft somit keine Hindernisse entgegen.“ (ebenda, im Verhältnis
S. 3.). 2. Doch nicht nur aus der Sicht des Völkerrechts, auch aus zwischen Italien
der Sicht des österreichischen Verfassungsrechts glaubt Hilpold an und Österreich
die Realisierbarkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft: „Auch in eine Mehr-
staatigkeit zu
verfassungsrechtlicher Hinsicht ist somit eine doppelte Staatsbür-
verhindern.
gerschaft möglich.“ (ebenda, S. 4). 3. Hilpold thematisiert zudem
die Wehrpflicht für Südtiroler, die mitunter für Südtiroler im Falle Peter Hilpold
einer doppelten italienisch-österreichischen Staatsbürgerschaft
als relevant erwogen wird. Er schreibt: „Eine grenzüberschreitende
Durchsetzung der Wehrpflicht wäre kaum möglich.“ (ebenda,
S. 3). 4. Gegenüber den so genannten „Bozner Empfehlungen“,
die sich in Nummer 11 gegen eine massenhafte Verleihung der
Staatsbürgerschaft aussprechen, äußert Hilpold Bedenken und
schreibt, dass sie „nicht unbedingt als geglückt bezeichnet wer-
den können“ (ebenda, S. 3), sowie: Es „muss die Sinnhaftigkeit
dieser Empfehlungen, konkret jener in Nr. 11, infrage gestellt
werden.“ (ebenda, S. 3, Anmerkung 5). 5. In den Schlussbemer-
kungen bezieht Hilpold zu einem möglichen Argument, dass die
österreichische Staatsbürgerschaft für Südtiroler auf Grund ihrer
EU-Staatsbürgerschaft überflüssig sei, wie folgt Stellung: „Wer
sagt, dass die Unionsbürgerschaft die Staatsbürgerschaft obso-
let mache, verkennt, dass die EU kein Staat ist, dass diese keine
Generalzuständigkeit hat und dass die Unionsbürgerschaft nur
ein Annexrecht ist.“

Auszüge aus Peter Hilpolds Beitrag, der sich vollinhaltlich mit dem
von ihm gehaltenen gleichnamigen Vortrag auf der Tagung deckt,
nehmen einige interessante Punkte und diesbezügliche Zugänge
bereits vorweg. Die Inhalte sind nicht immer nur deskriptiv, sondern
auch argumentativ, wenn sie im Lichte der jeweiligen Rahmen-
bedingungen, der historischen, doch besonders der gesetzlichen,

11
betrachtet werden. Möge es daher insgesamt gelingen, dass die
wissenschaftliche Komponente des Themas doppelte Staatsbür-
gerschaft mehr in den Vordergrund gerückt wird, was für einen
objektiven Diskurs und letztlich für eine politische Entscheidung
im Fall Südtirol nur förderlich sein kann.

Bozen, im September 2017

Landtagsfraktion der Süd-Tiroler Freiheit

Hinweis: Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um einen


Nachdruck, der – aus aktuellem Anlass – mit einem Nachwort
versehen wurde.

Bozen, im Jänner 2018


EVERTON ALTMAYER

Brasilianisch-österreichische
Doppelstaatsbürgerschaft in Dreizehnlinden:
eine positive Realität.

Die Tiroler Einwanderung in Brasilien fand ihren Höhepunkt zwi-


schen dem 19. und 20. Jahrhundert. Die Gründe dafür waren
für viele Österreicher die sozialen Probleme in Europa sowie
die Aussicht auf Reichtum. Zwischen 1859 und 1939 sind etwa
30.000 Tiroler nach Brasilien ausgewandert. Die meisten von
ihnen waren Welschtiroler – Tausende allein zwischen 1874 und
1895. Von Deutschtirolern wurde 1859 das Dorf Tirol gegründet,
im Jahr 1933 schließlich das Dorf Dreizehnlinden – „Treze Tílias“
auf Portugiesisch. Hierbei handelt es sich um die jüngste Kolonie
der Tiroler in Brasilien.

Dreizehnlinden liegt in Südbrasilien, im Bundesstaat Santa Cata- Zwischen 1987


rina. Das genaue Gründungsdatum war der 13. Oktober 1933, und heute
als der damalige österreichische Landwirtschaftsminister Andreas haben laut
Auskunft des
Thaler (aus der Wildschönau in Nordtirol) die erste Gruppe von
Konsulats von
Einwanderern aus Österreich und Deutsch-Südtirol nach Brasilien Dreizehnlinden
brachte. Thaler hatte sich vorgenommen, ein Kolonisationspro- exakt 1.309
gramm zu entwickeln, um die damalige schwere Wirtschaftskrise Familien die
in den Griff zu bekommen. Dreizehnlinden ist heute kein Dorf und österreichische
Staatsbürger-
keine Kolonie mehr, sondern eine echte, wenngleich für brasilia-
schaft durch
nische Verhältnisse kleine Stadt mit fast 8.000 Einwohnern. Man Abstammung
darf nicht vergessen, dass Brasilien ein riesiges Land ist, in dem erworben.
etwa 80 Millionen Menschen leben.

Seit 1963 ist Dreizehnlinden eine selbstständige Gemeinde. Etwa


60 Prozent der Einwohner stammen aus Österreich (die meisten
aus den heutigen Bundesländern Tirol, Vorarlberg, Niederöster-
reich und dem Land Südtirol), aber in Dreizehnlinden leben auch
Nachkommen von Welschtirolern sowie von vielen Italienern (die
meisten aus Venetien und der Lombardei) und von Deutschen
(aus dem Hunsrück und Norddeutschland). Hinzukommen natürlich
die „echten“ Brasilianer, das heißt jene Menschen, die mehrere
Ethnien in sich vereinen (Indianer, Europäer und Afrikaner). Auf
Grund des von den österreichischen Einwanderern mitgebrach-

13
Everton Altmayer

ten Kulturguts einschließlich der Bräuche und Traditionen, die die


Nachkommen bis heute pflegen, ist die Stadt auch als „brasilia-
nisches Tirol“ bekannt. Auf 800 Metern Höhe gelegen
und in einem anmutigen Hügelland eingebettet,
unterscheidet sich Dreizehnlinden durch
den alpenländischen Baustil deutlich von
den brasilianischen Städten in der Um-
gebung. Auf Grund dieser Eigenart wird
die Stadt von einheimischen Touristen
sehr gerne besucht. Pro Jahr sind
es circa 100.000, hauptsächlich BRASILIEN
aus Brasilien, aber auch aus Ar-
gentinien, Uruguay und Paraguay.
Der Tourismus ist, gemeinsam mit der
Milchwirtschaft vor allem dank der Mol-
kerei „Tirol“, die 1974 in Dreizehnlinden gegründet
wurde, der wichtigste Wirtschaftsfaktor der Stadt. Wo vor
80 Jahren noch Urwald war, vermitteln schöne Tiroler Häuser,
die schöne Kirche, Hotels und Gasthäuser den Eindruck eines
alpinen Touristenortes wie in der Region Tirol.

Dreizehnlinden gilt als positives Beispiel für das Miteinander


verschiedener Volksgruppen und Kulturen. Österreicher, Italiener,
Deutsche und Brasilianer leben in Eintracht zusammen. Die in den
Alpen anzutreffende Architektur, die Sprache, die Gastronomie,
die Musik, die Schuhplattlergruppen, die österreichische Kultur
und die Volkstümlichkeit verwandeln Dreizehnlinden in ein typisch
österreichisches Städtchen im Süden von Brasilien. Zum Tirolerfest,
mit dem jedes Jahr die österreichische Einwanderung gefeiert
wird, kamen im Jahr 2015 50 Österreicher, aber auch Südtiroler
nach Dreizehnlinden. Auch sonst bekommt die Stadt immer
wieder Besuch aus dem alten Vaterland, manchmal sogar von
Brasilianern, die aus Dreizehnlinden ausgewandert sind und heute
in Österreich, besonders in Vorarlberg und Tirol, leben. Manche
haben sich auch in der Schweiz, Deutschland und Liechtenstein
niedergelassen. Insgesamt sind es in diesen Ländern 500 Personen,
die aus Dreizehnlinden stammen, während sich die Gesamtzahl
der in Österreich lebenden Brasilianer auf etwa 22.000 beläuft.
Den Höhepunkt erreichte die brasilianische Einwanderung in
Österreich in den Jahren 1995 bis 2000.

14
Österreicher in Dreizehnlinden

Dreizehnlinden verfügt über ein österreichisches Konsulat. Dieses


ist seit 1987 u. a. dafür zuständig, den Nachkommen von österrei-
chischen Einwanderern die österreichische Staatsbürgerschaft zu
gewähren. Die Antragsteller müssen ungefähr einen Monat war-
ten, bis sie den österreichischen Pass erhalten. Zwischen 1987 und
heute haben laut Auskunft des Konsulats von Dreizehnlinden exakt
1.309 Familien die österreichische Staatsbürgerschaft
durch Abstammung erworben. Der allererste Antrag,
vom 9. Oktober 1987, stammt von einer Familie aus
Vahrn, die ab 1930 in Breitenbach am Inn und seit
1935 in Brasilien lebte. Der jüngste Antrag, vom 6.
Mai 2015, kam von einer Familie aus Niederöster-
reich, die 1933 nach Brasilien auswanderte.

Spätestens jetzt drängt sich die Frage auf: Wird die österrei-
chische Staatsbürgerschaft nur an österreichischstämmige
Einwanderer in Brasilien vergeben und auf welcher Grundla-
ge geschieht dies? Nach meiner Auffassung ist die Situation
in anderen Einwandererländern gleich. Aufschluss darüber gibt
die Internetseite der österreichischen Botschaft in Buenos Aires,
also in Argentinien, wo es unter „Feststellung der österreichischen
Staatsbürgerschaft“ heißt: „Altösterreichische Staatsbürger/Innen
(StaatsbürgerInnen des Kaiserreichs Österreich) wurden nach dem
Untergang der Monarchie (1918) nur österreichische Staatsbürge-
rInnen (StaatsbürgerInnen der Republik Österreich), wenn sie beim
Inkrafttreten des Staatsvertrages von St. Germain (16. Juli 1920)
das Heimatrecht in einer bei der Republik Österreich verbliebenen
Gemeinde besaßen. Heimatberechtigte einer Gemeinde, die an
einen sogenannten Nachfolgestaat (Italien, Jugoslawien, Polen,
Rumänien, Tschechoslowakei) fiel, erwarben unter Ausschluss der
österreichischen Staatsbürgerschaft die Staatsangehörigkeit des
Nachfolgestaates. Ausgenommen sind jene Personen, die in der
Folge für die österreichische Staatsbürgerschaft optierten. Diese
Option hatte in der Regel die Übersiedlung ins Gebiet der Republik
Österreich zur Bedingung.“ – Eine wichtige Voraussetzung, um in
den Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft zu kommen, ist
also der Nachweis, dass ein Vorfahr des Antragstellers im Gebiet
des heutigen Österreichs das Heimatrecht besaß.

Eine weitere Frage, die sich nun stellt, ist: Erhalten die neuen öster-
reichischen Staatsbürger auch besondere Rechte? Diesbezügliche

15
Everton Altmayer

Informationen sind z. B. auf der offiziellen Seite der österreichischen


Botschaft in Brasilien zu finden: „Unter Staatsbürgerschaft versteht
man das Rechtsverhältnis der Zugehörigkeit eines Menschen zu
einem bestimmten Staat. Mit der österreichischen Staatsbürger-
schaft sind zahlreiche Rechte wie die Teilnahme an Wahlen, aber
auch einzelne Pflichten wie die Leistung des Militärdienstes ver-
bunden. / Darüber hinaus besitzen österreichische Staatsbürger/
innen auch die Unionsbürgerschaft, nämlich als Staatsangehörige
Die brasilia- eines der 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Aufgrund
nisch-österrei- der Unionsbürgerschaft haben Unionsbürger/innen eine Reihe von
chischen Dop- Rechten in anderen Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit
pelstaatsbürger
sie nicht besitzen.“
besitzen das
Wahlrecht bei
den Bundesprä- Die brasilianisch-österreichischen Doppelstaatsbürger besitzen
sidentenwah- das Wahlrecht bei den Bundespräsidentenwahlen, Nationalrats-
len, National- wahlen und Europawahlen. Der Wahlschein und der Stimmzettel
ratswahlen und
werden auf dem Postweg zugestellt.
Europawahlen.

Dank der österreichischen Staatsbürgerschaft haben viele Drei-


zehnlindener die Gelegenheit ergriffen, ein paar Jahre in Öster-
reich, aber auch, da sie EU-Staatsbürger sind, anderswo in Europa
zu leben und zu arbeiten. Ein großer Teil von ihnen ist mittlerweile
nach Dreizehnlinden zurückgekehrt. Dort haben sie ihre neuen
Häuser im alpinen Stil errichtet und leben vielfach vom Touris-
mus. Das Gefühl einer doppelten österreichisch-brasilianischen
Identität ist bei diesen neuen „Einwanderern“ besonders stark
ausgeprägt. In Dreizehnlinden sind es insgesamt etwa 50 Kinder,
die in Österreich geboren sind, da ihre Eltern dort arbeiteten. Die
Mit ihren knapp Wurzeln dieser Kinder liegen somit klar in Österreich.
8.000 Einwoh-
nern, davon Mit ihren knapp 8.000 Einwohnern, davon 2.000 brasilianisch-öster-
2.000 brasilia- reichische Doppelstaatsbürger, ist die doppelte Staatsbürgerschaft
nisch-österrei-
eine wichtige und sehr positive Realität für Dreizehnlinden. Obwohl
chische Dop-
pelstaatsbürger, viele Nachkommen (Enkel wie Urenkel) von österreichischen
ist die doppelte Einwanderern noch nie in Europa waren, fühlen sie sich als Öster-
Staatsbürger- reicher, da sie die in Dreizehnlinden sehr präsente Tiroler Kultur bis
schaft eine heute prägt. Viele dieser Menschen sprechen kein Deutsch, denn
wichtige und
die Sprache der Bevölkerung ist Portugiesisch, aber es besteht
sehr positive
Realität für Drei- durchaus das Interesse, die deutsche Sprache zu lernen. Es gibt
zehnlinden. auch eine deutsche Schule, die von unserem österreichischen
Verein „Dona Leopoldina“ verwaltet wird. Darüber hinaus können
die Kinder in der Dreizehnlindener Gemeindeschule zweimal pro
Woche Deutsch lernen.

16
Österreicher in Dreizehnlinden

Auf Grund der zahlreichen Mischehen zwischen Österreichern,


Deutschen, Italienern und Brasilianern wurden viele Tiroler Fami-
liennamen nicht tradiert. Dies tut der Dreizehnlindener Identität
als brasilianische Realität mit österreichischen Wurzeln keinen
Abbruch.

Abschließend noch die Frage: Was macht, auf den Punkt ge-
bracht, die Identität der Dreizehnlindener aus? Die Dreizehnlin-
dener – oder die „Trezetilienses“, wie sie auf Portugiesisch heißen
– sind Brasilianer mit Tiroler Wurzeln, Brasilianer und Österreicher. Die
doppelte brasilianisch-österreichische Staatsbürgerschaft ist für sie
ein positives Beispiel, das ihre doppelte Identität unterstreicht.

17
NORBERT RASCH

Doppelte Staatsbürgerschaft der Deutschen


in Schlesien (Polen).

Nicht alle Deutschen in ganz Polen haben die Möglichkeit, die


polnisch-deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Zum Einstieg
in die Thematik sei das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch-
land zitiert. In Artikel 116, Absatz 1 heißt es: „Deutscher im Sinne
dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher
Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder
als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit
oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des
Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937
Aufnahme gefunden hat.“

Diesen Stichtag benutzten auch die Alliierten in der Potsdamer


Konferenz zur Definition der deutschen Reichsgrenzen, welche,
kraft des Potsdamer Abkommens, verschoben wurden. Unter Wir, die Deut-
anderem wurde dabei Schlesien samt der zurückgebliebenen schen in Polen,
Bevölkerung Polen zuerkannt. Diese bekam in einem komplizierten sind somit
Nachkommen
Verifizierungsverfahren, das bis 1950 andauerte, von den polni-
der Personen,
schen Behörden die polnische Staatsangehörigkeit zugewiesen. die am 31.
850.000 autochthone Schlesier wurden als polnische Staatsbürger Dezember
verifiziert. Wer keine Verifizierung erlangte, wurde enteignet und 1937 deutsche
ausgewiesen. Viele von den Verbliebenen sind in den nachfol- Reichsbürger
waren und
genden Jahren dennoch nach Deutschland ausgewandert. Von
1945 von den
1950 bis 1989 waren es mehr als eine Million. Nach dem Fall des polnischen
Eisernen Vorhangs stieg die Zahl der Spätaussiedler noch deutlicher Behörden
an. Rückläufig wurde der Anstieg erst mit der Anerkennung der die polnische
deutschen Minderheit in Polen und der Aufhebung der Visums- Staatsangehö-
rigkeit zugewie-
pflicht für Deutschland, also Ende 1990.
sen bekamen.
Anspruch auf
Wir, die Deutschen in Polen, sind somit Nachkommen der Perso- die deutsche
nen, die am 31. Dezember 1937 deutsche Reichsbürger waren Staatsangehö-
und 1945 von den polnischen Behörden die polnische Staatsan- rigkeit haben
wir auf der
gehörigkeit zugewiesen bekamen. Anspruch auf die deutsche
Grundlage
Staatsangehörigkeit haben wir auf der Grundlage des deutschen des deutschen
Grundgesetzes. Die polnische Staatsangehörigkeit haben wir Grundgesetzes.
durch Geburt erworben.

19
Norbert Rasch

Die polnische Gesetzgebung hingegen spricht ausschließlich


von polnischer Staatsbürgerschaft, schließt aber wortwörtlich
Als Kardinal
Karol Wojty a keine andere Staatsbürgerschaft aus. In diesem Zusammenhang
1978 zum Papst möchte ich an einen Präzedenzfall erinnern: Als Kardinal
gewählt wurde, Karol Wojty a 1978 zum Papst gewählt wurde, wurde er
wurde er pol- polnisch-vatikanischer Doppelstaatsbürger. Polen fing
nisch-vatikani-
an, Doppelstaatsbürgerschaften zu dulden. Im Grunde
scher Doppel-
staatsbürger. hatte es auch keine andere Wahl, denn den Papst
Polen fing an, sozusagen einzusperren, wenn er nach Polen kommt,
Doppelstaats- wäre sicher vermessen gewesen. Dennoch sieht das
bürgerschaften polnische Gesetz bis heute doppelte Staatsbürger-
zu dulden. Im
schaften nicht vor, wohingegen Deutschland erst
Grunde hatte
es auch keine 2014 die doppelte Staatsbürgerschaft ausge-
andere Wahl, weitet hat. Ungeachtet der Rechtslage in Polen
denn den Papst begannen ab 1990 die deutschen Konsulate DEUTSCH-
sozusagen ein-
zusperren, wenn
in Polen, namentlich in Breslau und Oppeln, LAND
für die Deutschen in Schlesien deutsche Päs-
er nach Polen
kommt, wäre si- se auszustellen. So ist es im Laufe der Jahre
cher vermessen bis heute zu 300.000 polnisch-deutschen Dop-
gewesen. pelstaatsbürgerschaften gekommen. Obwohl
dieses Verfahren nicht ausdrücklich legal ist, wird
es von beiden Regierungen toleriert. Offiziellen
Zuspruch durch die polnische Regierung hat es
bis heute nicht gefunden, denn ähnlich wie Deutsch-
land, lehnt auch Polen doppelte Staatsbürgerschaften
grundsätzlich ab. Der polnischen Vertretung in Berlin zufolge ver-
stoßen doppelte Staatsbürgerschaften gegen die Verfassung. Der
Grund, warum Polen die Ausstellung von deutschen Pässen durch
die deutschen Konsulate dennoch duldet, ist ein sozialer, doch
darauf werde ich später noch zurückkommen. Die Bundesrepublik
musste sich an das Europarats-Abkommen zur Vermeidung von
Doppelstaatsbürgerschaften aus dem Jahr 1963 halten, doch
die Bundesregierung argumentierte, die Deutschstämmigen in
Polen hätten ihre deutsche Staatsbürgerschaft nicht freiwillig
aufgegeben, sondern nur „ruhen lassen“.

Seit Anfang 2014 dürfen die deutschstämmigen Schlesier zusätzlich


zum deutschen Pass den deutschen Personalausweis ausgestellt
bekommen. Darüber hinaus besaßen sie bei der letzten Bundes-
tagswahl (2013) sowie bei der letzten Europawahl (2014) zum
ersten Mal das Wahlrecht.

20
Deutsche in Schlesien

Werfen wir nun einen Blick auf die Geschichte der Deutschen in
Polen nach 1945. In den Jahren 1945 bis 1989 wurden die Deut-
schen in Polen einer intensiven Assimilierungspolitik unterzogen,
besonders in Schlesien. Jene, die nicht als polnische Staatsbür-
ger anerkannt wurden, wurden ausgesiedelt. Das
Erlernen und die Verwendung
der deutschen Sprache, so-
wohl in der Öffentlichkeit
als auch zu Hause, wur-
den strengstens verboten.
Deutsche Vor- und Nach-
POLEN namen wurden von Amts
wegen zwangsweise ge-
ändert. Die Zerstörung der
deutschen Inschriften auf
Schildern, Grabsteinen Seit Anfang
und Gebrauchsgegen- 2014 dürfen die
ständen wurde angeord- deutschstäm-
TSCHECHIEN net, ebenso die Zerstörung migen Schlesier
zusätzlich zum
der deutschen Denkmäler und
deutschen Pass
Vernichtung sämtlichen deut- den deutschen
schen Schriftguts. Dieser Prozess Personalaus-
der Ausrottung der materiellen Spuren deutscher Vergangenheit weis ausgestellt
dauerte bis in die Siebzigerjahre und sogar darüber hinaus. Die bekommen.
Darüber hinaus
deutsche Gesellschaft im polnischen Staat, die durch den Eiser-
besaßen sie bei
nen Vorhang vom demokratischen Europa getrennt worden war, der letzten Bun-
lebte in völliger Isolation von ihrer eigenen kulturellen Kontinuität. destagswahl
Das eigene Zuhause war der einzige mögliche Ort, wo man die (2013) sowie bei
sprachliche und kulturelle Identität bewahren und pflegen konnte, der letzten Euro-
pawahl (2014)
allerdings im ständigen Bewusstsein, dass Repressalien drohten.
zum ersten Mal
Das Ergebnis der Assimilierungspolitik war der völlige Schwund das Wahlrecht.
der deutschen Sprache im öffentlichen Raum, wo sie seit Jahr-
hunderten verwendet worden war. Selbstverständlich durfte
unter diesen Umständen von einer nationalen Minderheit nicht
die Rede sein, somit auch nicht von einer Minderheitensprache.
In den Schulen wurde die deutsche Sprache nicht einmal als
Fremdsprache angeboten.

All diese Verluste sind praktisch unwiederbringlich. Obwohl circa


jeder vierte Einwohner Schlesiens deutschstämmig ist, ist nicht jeder
Vierte deutschsprachig. Unter anderem aus diesem Grund ist die
deutsche Minderheitensprache bei uns immer noch nicht als offi-

21
Norbert Rasch

zielles Kulturgut der Region anerkannt. Bis heute hat die deutsche
Minderheit in Polen keinen einfachen Stand. Zu gut erinnert sich
Polen an die nationalsozialistische Besatzung von 1939 bis 1945.
Noch immer kennzeichnen uns die Folgen der Tragödie der Flucht
und der Vertreibung, der Leugnung der Existenz der deutschen
Volksgruppe und der langjährigen kulturellen Unterdrückung.

Seit 25 Jahren bemühen wir uns, die sprach- und kulturpolitisch


schwierige Lage der Deutschen in Polen mit legalen Tätigkeiten
und mit staatlicher Hilfe zu verbessern. Die diesbezüglichen Grund-
lagen wurden im deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von
1991 festgelegt. In den letzten Jahren wurde dieser Vertrag vom
deutsch-polnischen Runden Tisch reanalysiert. Man suchte dabei
nach besseren Möglichkeiten für die in Deutschland lebenden
Polen und für uns, die deutsche Minderheit in Polen, für den Erhalt
unseres nationalen, kulturellen und sprachlichen Erbes. Mit dem
deutsch-polnischen Runden Tisch als Vermittler dürfen wir mit der
Unterstützung der beiden Regierungen, sowohl der deutschen
als auch der polnischen, rechnen. Dennoch stehen wir, trotz der
vergangenen 25 Jahre, immer noch erst am Anfang unseres We-
ges. Viele Schlesier sprechen selbst Zuhause kein Deutsch. Um die
Kenntnis der deutschen Sprache zu erwerben bzw. zu verbessern,
lernen fast 30.000 Schüler aus den deutschen Familien die deutsche
Sprache in Form von zusätzlichen Unterrichtsstunden. Aber bis
heute steht uns keine einzige Schule mit Deutsch als Unterrichts-
sprache zur Verfügung. Die Gründung einer zweisprachigen Schule
stößt jedes Mal auf enormen Widerstand. Was wir indes erkämpft
haben, ist die Anbringung von zweisprachigen Ortsschildern, die
Zulassung von deutschsprachigen Medien und die Einführung von
Deutsch als zweite Amtssprache. Uns ist durchaus bewusst, dass
die deutsche Sprache nicht nur ein Identitätsmerkmal ist, sondern
verstärkt zu einem Wirtschaftsfaktor geworden ist.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch den sozialen Grund,


warum Polen die Ausstellung von deutschen Pässen durch die
deutschen Konsulate duldet, näher erläutern: Polnisch-deutsche
Doppelstaatsbürger können nicht nur visumsfrei in die USA reisen,
sondern in Deutschland arbeiten, aber in Polen leben. Die sozialen
Spannungen in Schlesien werden dadurch entschärft. Allerdings
fühlt sich in manchen Fällen die polnische Bevölkerung unzufrieden,
da die Deutschen in Polen über ein deutsches Einkommen verfü-
gen, das weit über dem polnischen liegt. Die von den Deutschen

22
Deutsche in Schlesien

bewohnten Dörfer und Städte sind zwar wohlhabender, aber das


Pendeln in die Arbeit nach Deutschland hat auch eine negative
Seite. Familien, in denen der Vater oder die Mutter für mehrere
Im Laufe von
Wochen und Monate das Haus verlassen, um in der Ferne zu ar- mittlerweile
beiten, leiden sehr unter der Trennung. In der Ehe und Erziehung 25 Jahren
der Kinder treten Probleme auf. haben die
polnisch-deut-
schen Doppel-
Im Laufe von mittlerweile 25 Jahren haben die polnisch-deutschen
staatsbürger
Doppelstaatsbürger Milliarden von Euro nach Schlesien gebracht Milliarden von
und dort ausgegeben. Es entstehen kleine und mittlere Unterneh- Euro nach
men. Die Firmen wachsen. Investoren aus den deutschsprachigen Schlesien ge-
Ländern gründen in Schlesien Niederlassungen. Aktuell kommen bracht und dort
ausgegeben. Es
etwa 70 Prozent aller Auslandsinvestoren aus Deutschland.
entstehen klei-
ne und mittlere
Weil wir Deutsche unsere Heimat Schlesien über alles lieben, sorgen Unternehmen.
wir für das Land mehr als die nach 1945 zugewanderte Bevölke- Die Firmen
rung. Dies sieht man auch bei unseren Bürgermeistern, Landräten wachsen. Inves-
toren aus den
oder Landtagsabgeordneten. Wir schöpfen aus beiden Kulturen
deutschspra-
und aus der Politik von beiden Staaten. Für den polnischen Staat chigen Ländern
sind wir keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung, und Polen gründen in
weiß dies langsam zu schätzen. Schlesien Nie-
derlassungen.

23
ROZA HOVHANNESYAN

Doppelte Staatsbürgerschaft
für die armenische Diaspora.

Die armenische Diaspora ist eines der einzigartigsten Phänomene


der Weltgeschichte. Seit über einem Jahrhundert leben mehr als
zehn Millionen Armenier in über 100 Ländern der Welt. Sieben
Millionen leben außerhalb Armeniens, und weniger als ein Drittel,
drei Millionen, leben in Armenien selbst – in ihrem unabhängigen
Heimatland. Die Entstehung der armenischen Diaspora ist in
mehreren Etappen erfolgt:
XX Vor dem Ende des 19. Jahrhunderts: Armenische Händler und
Kaufleute wanderten nach Europa und Asien ab.
XX 1895 bis 1923: In Folge des armenischen Völkermordes, der
vom Osmanischen Reich verübt worden war, bildeten sich
Gemeinschaften in weltweit über 100 Ländern.
XX 1923 bis 1948: Armenier, die sich im Nahen Osten niedergelas-
sen hatten, wanderten nach Westeuropa aus. Ab 1946 wurden
sie aus dem Nahen Osten und Westeuropa in die Armenische
Sozialistische Sowjetrepublik zurückgeholt.
XX 1990er Jahre: Die schwierigen sozialen und wirtschaftlichen
Bedingungen im nunmehr unabhängigen Armenien lösten
eine weitere Auswanderungswelle aus. Die armenischen
Gemeinschaften der Diaspora wurden dadurch größer, und
zudem entstanden neue Gemeinschaften.

Die armenische Diaspora ist sehr gut organisiert. Sogar in den


kleinsten Gemeinschaften finden sich armenische Institutionen
und Organisationen. Es gibt armenisch-apostolische bzw. -or-
thodoxe, armenisch-katholische und armenisch-evangelische
Kirchen, ferner gesamt-armenische Einrichtungen sowie Jugend-,
Kultur-, Sportverbände, Universitäten, Schulen und Internate. Im
Einzelnen hat die armenische Diaspora:
XX vier religiöse Organisationen mit Diözesen in mehr als
50 Ländern,
XX 18 gesamt-armenische Einrichtungen mit Zweigstellen in über
30 Ländern,
XX über 800 Schulen und Internate,
XX über 30.000 Nichtregierungsorganisationen,
XX über 200 Massenmedien.

25
Roza Hovhannesyan

Das Hauptziel dieser Institutionen und Organisationen besteht


darin, der Assimilierung entgegenzuwirken und die armenische
Sprache, Kultur und nationale Identität zu bewahren.

Unsere Landsleute, die schon seit Jahrzehnten im Ausland gelebt


hatten, vermochten es, ihre Volkskul-
tur und ihr nationales Selbst-
bewusstsein beizubehalten.
Ebenso unge-
brochen blieb
ihre Visi-
on von der
Rückkehr in
ihr Heimat-
land und
von dessen
Eigenstaat-
lichkeit. Klar
zum Ausdruck
kam dies durch die
Welle der Repatriierung zwi-
schen 1946 und 1948, als Hunderte von ar-
menischen Familien aus dem Nahen Osten
und Westeuropa in die Armenische Sozialisti-
sche Sowjetrepublik zurückkehrten und sich
dort niederließen. Viele taten es ihnen nach,
als Armenien am 21. September 1991 seine
Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärte.
Vom ersten Tag der Unabhängigkeit an stellte
sich die Diaspora hinter ihr Heimatland und unterstützt bis heute
dessen Entfaltung und nachhaltige Entwicklung.

Allerdings sah die armenische Verfassung, die mit dem landeswei-


ten Referendum vom 5. Juli 1995 genehmigt wurde, zum Zwecke
der Entwicklung Armeniens keine vollwertige Ausschöpfung des
Potenzials der Diaspora in politischen, wirtschaftlichen, sozialen
und anderen Angelegenheiten vor. Unter den diesbezüglich
festgelegten Einschränkungen war die Bestimmung über das
Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft wohl die vordergrün-
digste. Doch unter der Präsidentschaft von Robert Kocharyan,
dem zweiten Präsidenten der Republik, wurden am 27. November
2005 Verfassungsänderungen verabschiedet. Das armenische

26
Armenische Diaspora

Grundgesetz wurde mit den neuen zeitgenössischen Demokra-


tie-Standards in Einklang gebracht. Eine der wichtigsten positiven
Änderungen, die die neue Verfassung hervorbrachte, war die
Abschaffung des Verbots der doppelten Staatsbürgerschaft.

Entscheidend für die dop-


pelte Staatsbürgerschaft
war zweifellos die Beson-
derheit der armenischen
Nation in ihrer Gesamtheit.
Es galt, einen Beitrag zur Das Institut für
die doppelte
Festigung der Heimat ei-
ARMENIEN ner derart großen Diaspo-
Staatsbürger-
schaft hat sich
ra, die auf der ganzen Welt die einseitige
verbreitet ist, zu leisten. Verpflichtung
der Republik
Armenien aufer-
Das Institut für die dop-
legt, Armenien,
pelte Staatsbürgerschaft im Rahmen des
hat sich die einseitige Völkerrechts,
Verpflichtung der Repu- zur geistigen
blik Armenien auferlegt, Heimat für alle
Armenier zu
Armenien, im Rahmen
machen, zur
des Völkerrechts, zur Stärkung der
geistigen Heimat für alle Beziehungen zur
Armenier zu machen, zur Diaspora beizu-
Stärkung der Beziehungen tragen, ebenso
zum Erhalt des
zur Diaspora beizutragen,
armenischen
ebenso zum Erhalt des arme- historischen
nischen historischen und kulturellen Erbes im Ausland sowie zur und kulturellen
Entwicklung des armenischen Bildungs- und Kulturlebens. Erbes im Aus-
land sowie zur
Entwicklung des
Mit der Gewährung der doppelten Staatsbürgerschaft verfolgt
armenischen
die Republik Armenien folgende Ziele: Bildungs- und
 die Verwurzelung der armenischen Diaspora mit ihrer nati- Kulturlebens.
onalen Identität zu stärken. Dadurch soll jeder die Chance
erkennen und diese gewahrt wissen, sein nationales Potenzial
einzubringen;
 die Rechte und Pflichten der Doppelstaatsbürger gesetzlich
zu regeln und ihnen hierbei einen staatlichen institutionellen
Rahmen zuzusichern.

27
Roza Hovhannesyan

Der Hauptgrund für die verfassungsrechtliche Einrichtung des


Instituts für die doppelte Staatsbürgerschaft ist die Stärkung der
Beziehungen zwischen Armenien und der Diaspora – was in der
Innen- und Außenpolitik zweifellos richtungsweisend ist. Doch dür-
fen, bemerkenswerterweise, auch ausländische, nicht-ethnische
Armenier die doppelte Staatsbürgerschaft erwerben. Das Thema
doppelte Staatsbürgerschaft wird mit dem armenischen Gesetz
„Über die Staatsbürgerschaft“ geregelt. Folglich:

Wer darf ein Doppelstaatsbürger der Republik Armenien sein?


Eine Person, die, zusätzlich zur armenischen Staatsbürgerschaft,
die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes besitzt, darf ein
Doppelstaatsbürger der Republik Armenien sein.

Erkennt die Republik Armenien die andere Staatsbürgerschaft


eines Doppelstaatsbürgers der Republik Armenien an? Bei einem
Doppelstaatsbürger der Republik Armenien zählt für die Republik
Armenien nur die Staatsbürgerschaft der Republik Armenien.

Welche Rechte und Pflichten hat ein Doppelstaatsbürger der Re-


publik Armenien? Ein Doppelstaatsbürger hat dieselben Rechte,
die einem armenischen Staatsbürger zustehen. Er trägt dieselbe
Verantwortung und haftet genau so wie ein Bürger der Republik
Armenien, außer in jenen Fällen, in denen internationale Abkom-
men und das Gesetz der Republik Armenien anders verfügen.

Welche Verpflichtung hat ein Doppelstaatsbürger der Republik


Armenien, wenn er die Staatsbürgerschaft eines anderen Staates
erwirbt? Wenn ein Bürger der Republik Armenien die Staatsbür-
gerschaft eines anderen Staates erwirbt, ist er verpflichtet, dies
innerhalb eines Monats der von der Regierung der armenischen
Republik namhaft gemachten Stelle – d. h. der Reisepass- und
Visumabteilung der Polizei – in der von der Regierung der Republik
Armenien vorgeschriebenen Weise zu melden.

Wie ist die Frage der Wehrpflicht der Doppelstaatsbürger der


Republik Armenien geregelt? Nach dem Gesetz der Republik
Armenien „Über die Wehrpflicht“ ist der Bürger eines anderen
Staates, der die Staatsbürgerschaft der Republik Armenien er-
worben hat, von der Wehrpflicht befreit, wenn er vor dem Erwerb
der armenischen Staatsbürgerschaft bereits mindestens zwölf
Monate in den Streitkräften des anderen Staates gedient hat

28
Armenische Diaspora

oder einen alternativen Militärdienst im anderen Staat für min-


destens 18 Monate abgeleistet hat. Ausgenommene Staaten
sind von der Regierung der Republik Armenien festgelegt. Ein
Bürger der Republik Armenien, der die Staatsbürgerschaft eines
anderen Staates erworben hat, ist vom Wehrdienst nicht befreit,
unabhängig davon, ob er in einem anderen Staat gedient hat.

Dürfen Doppelstaatsbürger der Republik Armenien an den in der


Republik Armenien stattfindenden Wahlen teilnehmen? Nur Dop-
pelstaatsbürger, die in der Republik Armenien leben und gemeldet
sind, dürfen an den Wahlen in der Republik Armenien teilnehmen. Armenier nach
nationaler Her-
kunft erwerben
Armenier nach nationaler Herkunft erwerben die armenische die armenische
Staatsbürgerschaft durch ein vereinfachtes Verfahren. Um die Staatsbürger-
Staatsbürgerschaft der Republik Armenien zu erwerben, reicht schaft durch ein
der Antragsteller die erforderlichen Unterlagen bei folgenden vereinfachtes
Verfahren.
Behörden ein:
 im Inland: bei der Reisepass- und Visumabteilung der Polizei
der Republik Armenien.
 im Ausland: bei der diplomatischen Vertretung oder dem
Konsulat der Republik Armenien.

Bei der Einreichung der Unterlagen muss der Antragsteller einen vorge-
fertigten Fragebogen ausfüllen. Der Fragebogen muss in armenischer
Sprache und in einer leserlichen Schrift ausgefüllt sowie frei von Kor-
rekturen und Tilgungen sein. Der Fragebogen wird vom Antragsteller
und vom Beamten, der den Antrag entgegennimmt, unterzeichnet.

Armenier nach nationaler Herkunft reichen, um die armenische


Staatsbürgerschaft zu erwerben, folgende Dokumente ein:
1. den Antrag;
2. den Reisepass und eine Kopie davon;
3. sechs Farbfotos mit den Maßen 35 mal 45 Millimeter;
4. die Geburtsurkunde und eine Kopie davon (oder das Fami-
lienbuch);
5. sämtliche Dokumente, die die armenische nationale Herkunft
beweisen:
 die Taufurkunde, ausgestellt von der armenisch-aposto-
lischen, armenisch-katholischen oder armenisch-evan-
gelischen Kirche und genehmigt nach dem Verfahren
der jeweiligen Diözese sowie mit dem Hinweis auf den
armenischen nationalen Ursprung der getauften Person
oder deren Eltern versehen;

29
Roza Hovhannesyan

XX ein Dokument, ausgestellt von den zuständigen Stellen des


ausländischen Staates, das den armenischen nationalen
Ursprung bescheinigt. Das Dokument muss von einem
Konsulat beglaubigt oder mit einer Apostille versehen sein;
XX die Geburtsurkunde oder ein anderes Ausweisdokument
eines Elternteils (Großvater, Großmutter, Geschwister),
woraus die nationale armenische Herkunft hervorgeht. Als
Bescheinigung für die nationale Herkunft des Antragstellers
kann ferner die Geburtsurkunde oder ein anderes Doku-
ment dienen, in dem sich der Hinweis auf die nationale
Herkunft eines väterlichen oder mütterlichen Bruders oder
einer Schwester findet. Dieser Hinweis ist dann gegeben,
wenn der armenische nationale Ursprung des Bruders
oder der Schwester durch den nationalen Ursprung des
gemeinsamen Elternteils bedingt ist;
6. das Dokument, das die Zahlung der Verwaltungsgebühr be-
stätigt (3.300 armenische Dram für die Identitätskarte, 25.300
Dram für den elektronischen Reisepass).

Während des Zeitraums von 2008 bis 2015 wurden 86.412 auslän-
dischen Bürgern die armenische Staatsbürgerschaft gewährt.
Die Mehrheit von ihnen sind Armenier auf Grund ihrer ethnischen
Herkunft. Zwischen 2011 und 2014 hat sich, angesichts der Lage
in der Syrischen Arabischen Republik, die Zahl der Personen, die
die Staatsbürgerschaft der Republik Armenien erlangt haben,
deutlich erhöht. Für das Jahr 2015 sind nur die Zahlen der ersten
Jahreshälfte verfügbar. Die Zahlen des gesamten Jahres ent-
sprechen voraussichtlich den Zahlen des Jahres 2014. In Folge
des Bürgerkriegs in Syrien sind 16.000 syrische Armenier in den
Jahren 2012 bis 2015 nach Armenien ausgewandert und haben
sich dort niedergelassen. Die Regierung der Republik Armenien
hat verschiedene Maßnahmen zur Unterstützung dieser Lands-
leute umgesetzt und dabei Fragen angesprochen, die für sie
von entscheidender Bedeutung sind. Das Verfahren zum Erwerb
der Staatsbürgerschaft der Republik Armenien wurde für syrische
Armenier vereinfacht. Mit Beschluss der Regierung der Republik
Armenien vom 26. Juli 2012 dürfen sich, um die armenische
Staatsbürgerschaft zu erwerben, die armenischstämmigen Bürger
der Libanesischen Republik, der Republik Irak und der Syrischen
Arabischen Republik, den armenischen Pass in den diplomatischen
Vertretungen oder Konsulaten der Republik Armenien in den
jeweiligen ausländischen Staaten ausstellen lassen, wenn diese
die Staaten ihrer bisherigen Staatsbürgerschaft sind.

30
Armenische Diaspora

Zum Abschluss noch folgende Bemerkung: Armenien verfügt zwar


nicht über natürliche Ressourcen wie Erdöl, dafür aber über eine
mächtige und etablierte Diaspora. Es ist die Diaspora, die den
Reichtum unseres Landes ausmacht! Die Republik Armenien hat
Die Republik Ar-
mit der Einrichtung des Instituts für die doppelte Staatsbürgerschaft
menien hat mit
den Diaspora-Armeniern die Möglichkeit eröffnet, ihre Rechte in der Einrichtung
Armenien in vollem Umfang auszuüben und sie in unserem Land des Instituts für
am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und pädagogischen die doppelte
Leben sowie in anderen Bereichen vollwertig teilhaben zu lassen. Staatsbürger-
schaft den Dias-
pora-Armeniern
die Möglichkeit
eröffnet, ihre
Rechte in Arme-
nien in vollem
Umfang auszu-
üben und sie in
unserem Land
am politischen,
wirtschaftlichen,
kulturellen und
pädagogischen
Leben sowie in
anderen Berei-
chen vollwertig
teilhaben zu
lassen.

31
KOLOMAN BRENNER

Minderheitenrechte der deutschen Minderheit


in Ungarn – ohne doppelte Staatsbürgerschaft.

Die deutsche Minderheit in Ungarn hat kurz nach der Wende


den Versuch in Richtung einer doppelten Staatsbürgerschaft
gestartet, doch der Versuch scheiterte. Im Folgenden möchte
ich aufzeigen, wie wir als Ungarndeutsche ohne die doppelte
Staatsbürgerschaft leben, und ich werde auch kurz darauf ein-
gehen, warum diese nicht funktionierte.

Die deutsche Minderheit ist mit schätzungsweise 200.000 bis 220.000


Angehörigen die größte nationale Minderheit in Ungarn. Es gibt
drei größere ungarndeutsche Siedlungsgebiete: 1. Westungarn
entlang der österreichischen Grenze (in Ödenburg gibt es übrigens
auf meine Initiative hin seit 1993 zweisprachige Ortsschilder). 2.
Das ungarische Mittelgebirge in der Umgebung von Budapest
(wo es einst sehr viele deutsche Dörfer gab) mit den Zentren Ofen
und Sirtz. 3. Südungarn mit dem Zentrum Fünfkirchen.

Wie ist die Situation der Ungarndeutschen heute? Ähnlich wie


die übrigen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa haben auch
wir mit Sprachverlust und Assimilation zu kämpfen. Unsere ange-
stammten deutschen Dialekte sind im Rückzug. Weniger ist dies der
Fall in den drei genannten größeren Siedlungsgebieten. Ungarn
zeichnet sich durch eine besonders große Vielfalt von autoch-
thonen Identitäten aus. Angehörige der deutschen Minderheit
haben dabei sehr unterschiedliche Identitätsmuster. Erstens gibt
es den harten Kern mit einer singulären deutschen Identität, das
sind schätzungsweise 20.000 bis 30.000 Personen. Dann gibt es,
zweitens, das typische Muster einer doppelten Identität, sowohl
für Angehörige der deutschen Minderheit, aber auch für Ungarn.
Drittens gibt es die Kategorie, die sich dunkel an ihren deutschen
Familienhintergrund erinnert. Und es gibt, viertens, eine sehr inte-
ressante Kategorie, nämlich jene der assimilierten Ungarndeut-
schen, die bemüht sind, ihre deutsche Abstammung mit einem
übersteigerten ungarischen Nationalismus zu kaschieren (was
wir übrigens auch von anderen Minderheitengemeinschaften
kennen). Neuerdings zeigt sich jedoch die Tendenz, sich auf die
deutsche Identität zurückzubesinnen und sie neu zu beleben.

33
Koloman Brenner

Die rechtlichen Voraussetzungen dafür sind mittlerweile geschaf-


fen. Ihre Wurzeln liegen in der Mitte der 1980er Jahre. Bereits in
dieser Zeit ging nämlich in Ungarn, trotz der kommunistischen
Herrschaft, eine positive Entwicklung los. Die Bundesrepublik
Deutschland war der wichtigste Wirtschaftspartner, weshalb schon
1985 in Ungarn der erste deutsche Verein gegründet werden
konnte. Nach der Wende wurde
die Frage, wie die Minderhei-
tenproblematik in Ungarn
gelöst wird, besonders
relevant, und zwar auf 2
Grund der großen unga- 1
rischen Minderheitenge-
meinschaften in den
Nachbarländern.
Die Minderheiten UN G A R N
waren demnach in
der Wendezeit keines-
wegs ein Randthema,
sondern ein absolut politi-
sches Thema, das auf höchster
politischer Ebene diskutiert wurde.
3
Im Rahmen dieser Diskussion ist das Min-
derheitengesetz aus dem Jahr 1993 entstan-
Das Nationalitä- den. Dieses wurde 2011 durch ein neues „Nationalitätengesetz“
tengesetz stellt abgelöst, wobei sich am juristischen Status der Minderheiten
in Ungarn 13 nichts geändert hat. Laut diesem Nationalitätengesetz bezeichnet
Nationalitäten
man als Nationalität eine seit mindestens einem Jahrhundert in
in zahlenmäßi-
ger Minderheit Ungarn ansässige Volksgruppe, die im Vergleich zur Bevölkerung
fest: Armenier, des Staates in zahlenmäßiger Minderheit lebt, sich von der restli-
Bulgaren, Deut- chen Bevölkerung durch eigene Sprache, Kultur und Brauchtum
sche, Griechen, unterscheidet, ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl aufweist,
Kroaten, Polen,
deren Ziel die Bewahrung der eigenen Sprache, Kultur und des
Roma, Rumä-
nen, Ruthenen, Brauchtums bzw. die Interessensvertretung und der Schutz der
Serben, Slowa- sich historisch entwickelten Gemeinschaften ist. Das Nationali-
ken, Slowenen, tätengesetz stellt in Ungarn 13 Nationalitäten in zahlenmäßiger
Ukrainer. Minderheit fest: Armenier, Bulgaren, Deutsche, Griechen, Kroaten,
Polen, Roma, Rumänen, Ruthenen, Serben, Slowaken, Slowenen,
Ukrainer.

Eine weitere Voraussetzung für die Anerkennung als Angehöriger


einer Minderheit ist die ungarische Staatsbürgerschaft. Ohne

34
Deutsche Minderheit in Ungarn

diese greift das Minderheitengesetz nicht. Um ein konkretes Bei-


spiel zu nennen: Bei Kommunalwahlen sind in Ungarn ansässige
EU-Staatsbürger wahlberechtigt, somit auch Deutsche
und Österreicher. Doch da diese EU-Staats-
bürger nicht im Besitz der ungarischen
Staatsbürgerschaft sind, dürfen sie
nicht die deutschen Selbstverwal-
tungen wählen (zu diesen, siehe
weiter unten). Zwar haben wir uns
dafür eingesetzt, dass ihnen dieses Im Zusammen-
Recht gewährt wird, aber der Gesetzgeber hang mit der
Entstehung des
blieb rigoros.
ungarischen
Minderheiten-
Im Zusammenhang mit der Entstehung des un- gesetzes und
garischen Minderheitengesetzes und somit in der somit in der
kurzen Zeitspanne von 1990 und 1993 wurde auch kurzen Zeitspan-
ne von 1990
über die doppelte Staatsbürgerschaft diskutiert. Der
und 1993 wurde
damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl machte auch über
einen vorsichtigen Vorstoß für eine zusätzlich deutsche die doppelte
Staatsbürgerschaft für die Ungarndeutschen. Die Frage Staatsbürger-
war damals auch deswegen aktuell geworden, weil die aus schaft diskutiert.
Der damali-
Ungarn vertriebenen und mittlerweile in Deutschland leben-
ge deutsche
den Deutschen im Zuge ihrer offiziellen Rehabilitierung nunmehr Bundeskanzler
ihre einst unfreiwillig verlorene ungarische Staatsbürgerschaft Helmut Kohl
zurückbekommen konnten. Da aber das ungarische Minder- machte einen
heitengesetz von 1993 als Voraussetzung für die Ausübung der vorsichtigen
Vorstoß für eine
Minderheitenrechte die ungarische Staatsbürgerschaft vorschrieb,
zusätzlich deut-
wäre umgekehrt eine zusätzliche deutsche Staatsbürgerschaft sche Staats-
für die Ungarndeutschen nicht von Vorteil gewesen, weil sie bürgerschaft
ihre Minderheitenrechte ausschließlich auf der Grundlage der für die Ungarn-
ungarischen Staatsbürgerschaft geltend machen konnten und deutschen.
können. Zudem ließ die Bundesrepublik Deutschland im Freund-
schaftsvertrag zwischen Deutschland und Ungarn von 1992 die
Förderung der deutschen Minderheit in Ungarn verankern; auch
deswegen kam die Frage nach einer deutschen Staatsbürger-
schaft für die Ungarndeutschen schnell von der Tagesordnung.

In der Tat wird seit 1992 von der deutschen Botschaft und den
deutschen Organisationen vieles für die Ungarndeutschen geleis-
tet. Aber die doppelte Staatsbürgerschaft als juristisches Mittel zum
Schutz der deutschen Minderheit in Ungarn ist dabei nie mehr ein
Thema gewesen, wenngleich Ungarndeutsche als Spätaussiedler,

35
Koloman Brenner

allerdings nur ein paar Tausende, nach Deutschland gezogen


sind. Diese konnten, wie andere Spätaussiedler, die deutsche
Staatsbürgerschaft durchaus erwerben, wenn sie einen ständigen
Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland nachweisen konnten.
Aber der großen Mehrheit jener Ungarndeutschen, die in Ungarn
geblieben sind (und zwar deswegen, weil es zwischen Ungarn
und Deutschland, im Vergleich zu anderen kommunistischen
Ländern, kein großes Wohlstandsgefälle gab), blieb das Recht
auf die deutsche Staatsbürgerschaft verwehrt.

Indes sind wir bemüht, auf der Grundlage des Minderheitenge-


setzes unsere Autonomie weiter auszubauen, worüber ich nun
berichten möchte. Momentan haben wir in 422 Gemeinden und
Städten so genannte deutsche Minderheitenselbstverwaltungen.
Dies sind Körperschaften, die bei der Kommunalwahl gewählt
werden, also keine Vereine (auch in Ödenburg gibt es eine ge-
wählte deutsche Minderheitenselbstverwaltung, wo ich bis 2011
selbst Mitglied war). Wir haben ferner eine Landesselbstverwaltung
der Ungarndeutschen (LdU). Sie ist unser politisches und kulturel-
les Repräsentationsorgan, sozusagen das „Parlament“, das die
Interessen der Minderheit auf gesamtstaatlicher Ebene vertritt.
Der Schwerpunkt der Tätigkeit der LdU ist die Übernahme von
ungarndeutschen Bildungsinstitutionen in eigene Trägerschaft.
Als letztes Jahr Ungarn versuchte, die Schulen zu verstaatlichen,
haben wir als Gegenreaktion 19 örtliche Kindergärten und Grund-
schulen übernommen. Diese Kompetenz traute man uns als
deutsche Minderheit durchaus zu, denn lieber wollte man, dass
über diese Bildungseinrichtungen vor Ort verfügt wird als in einem
Amt im fernen Budapest. Dass ein Staat so wie Ungarn versucht,
alles zu verstaatlichen, kann also, so wie in unserem Fall, auch
seine Vorteile haben. Für uns hatte diese Situation jedenfalls einen
angenehmen Nebeneffekt.

Zu den Institutionen in der Trägerschaft der LdU gehören darüber


hinaus folgende Bildungseinrichtungen in den großen regionalen
Zentren:
XX das Valeria-Koch-Schulzentrum in Fünfkirchen mit zweisprachi-
gem und seit drei Jahren einsprachig deutschem Kindergarten,
ferner mit Grundschule, Mittelschule und Schülerwohnheim.
Die Neubelebung der deutschen Sprache im Kindergarten
kann hier, nach dem Prinzip „so früh wie möglich und nicht
erst im Gymnasium“, richtig beginnen;

36
Deutsche Minderheit in Ungarn

XX das Friedrich-Schiller-Gymnasium (berufliches Gymnasium mit


Schülerwohnheim) in Werischwar bei Budapest;
XX das Ungarndeutsche Bildungszentrum in Frankenstadt in Süd-
ungarn (in der Mitträgerschaft der LdU in Stiftungsform);
XX das Ungarndeutsche Pädagogische Institut (UZB) in Fünf-
kirchen. Das UZB ist eine offiziell anerkannte deutsche Aus-
landsschule. Man bekommt zwei Maturazeugnisse, einmal die
ungarische und einmal die deutsche nach dem baden-würt-
tembergischen Lehrplan;
XX In der Übernahme befindlich ist die Deutsche Bühne in Ungarn
in eigener Trägerschaft in Sechshard.

Die LdU und mit ihr insgesamt über 500 eingetragene Vereine,
Kulturgruppen und Organisationen tragen zum Aufbau der bür-
gerlich-demokratischen Gesellschaft bei. Die Basis für unsere Arbeit
ist das Selbstverwaltungssystem. Das Ziel der deutschen Selbstver-
waltung ist die Durchsetzung der Interessen der ungarndeutschen
Wähler, die Pflege von Sprache und Traditionen, die Förderung von
Partnerschaften sowie der Wirtschaft, Literatur und Kunst. Unsere
Finanzmittel sind zwar bescheiden, aber sie sind wichtig, weil uns
dadurch gewissermaßen das Betteln bei der Mehrheit erspart bleibt.

Der Erfolg unserer Arbeit zeigt sich am Vergleich der Daten der
Volkszählungen von 1990, 2001 und 2011. Gefragt wurden dabei
die Ungarn u. a. nach ihrer Muttersprache, Nationalität und ihrem
nationalen Zugehörigkeitsgefühl. 1990 gaben 37.511 Personen
Deutsch als Muttersprache an. 2001 war die Zahl auf 33.774 ge-
sunken, doch 2011 stieg sie wieder auf 38.248 und erreichte somit
den höheren Wert als 1990. Hingegen die deutsche Nationalität
zu besitzen, gaben 1990 30.824 Ungarn an. 2001 hat sich die Zahl
mit 62.105 mehr als verdoppelt, ebenso 2011 mit 131.951. Auch
die Zahlen über die Personen, die sich der deutschen Nationalität
zugehörig fühlen, sprechen für sich: 2001 waren es 120.344, 2011
waren es, deutlich erhöht, 185.696. Diese letzte Zahl ist durchaus
reell, denn sie liegt nicht viel unter der Zahl der zwischen 1946
und 1948 vertriebenen Ungarndeutschen, die sich auf 200.000 bis
250.000 belief und die Hälfte jener Ungarndeutschen ausmachte,
die im Land verblieben waren. Es darf schlussgefolgert werden,
dass diejenigen, die noch ein deutsches Identitätsmuster oder
Teile davon in sich tragen, dies bei der offiziellen Volkszählung
allmählich auch zugeben. Letztlich ist dies ein Zeichen dafür,
dass unser Autonomiemodell für gut befunden und genutzt wird.

37
Koloman Brenner

Dass seit 1993 unsere Autonomie im Ausbau begriffen ist, zeigt auch
folgendes Beispiel: Mit der Verabschiedung des Minderheitenge-
setzes von 1993 hat man es verabsäumt, eine parlamentarische
Vertretung der Minderheit einzufordern. 1998 hat man einen
weiteren Versuch unternommen, doch erst 2013 war es soweit.
2014 konnten wir unseren Sprecher wählen. Bedauerlicherweise
haben wir nicht genügend Stimmen erhalten, um einen vollwer-
In Ungarn tigen, mit Stimmrecht ausgestatteten Vertreter der Ungarndeut-
haben wir die
schen ins Parlament zu entsenden. In Ungarn gilt nämlich eine
interessante
Situation, dass 25-Prozent-Regelung, derzufolge die deutsche Liste 25 Prozent
die doppelte vom kleinsten Mandat bekommen muss, um einen vollwertigen
Staatsbür- deutschen Parlamentarier ins ungarische Parlament entsenden
gerschaft zu können. Diese Hürde haben wir knapp verfehlt, aber bei der
bei anderen
nächsten Parlamentswahl im Jahr 2018 wollen wir es schaffen.
Minderheiten,
zum Beispiel der Einstweilen haben wir einen Fürsprecher, der über alle anderen
armenischen Rechte eines Parlamentariers verfügt. Die 13 Fürsprecher aller
Minderheit, der Minderheitenvertreter bilden automatisch den Minderheitenaus-
kroatischen schuss des ungarischen Parlaments und können durchaus Einfluss
oder der slowa-
auf die politischen Geschehnisse in Ungarn ausüben.
kischen, Realität
ist, weil die
jeweiligen Pat- Abschließend möchte ich auf das Thema der doppelten Staats-
ronagestaaten bürgerschaft zurückkommen. In Ungarn haben wir die interessante
die doppelte Situation, dass die doppelte Staatsbürgerschaft bei anderen
Staatsbürger-
Minderheiten, zum Beispiel der armenischen Minderheit, der kro-
schaft bereit-
stellen. Für uns atischen oder der slowakischen, Realität ist, weil die jeweiligen
als deutsche Patronagestaaten die doppelte Staatsbürgerschaft bereitstellen.
Minderheit ist Für uns als deutsche Minderheit ist die doppelte Staatsbürgerschaft
die doppelte keine Realität, und wir sind diesbezüglich auf uns gestellt. Selbst
Staatsbürger-
der ungarische Staat vergibt seit dem Regierungswechsel 2010
schaft keine
Realität, und wir seine Staatsbürgerschaft an die Auslandsungarn. Es besteht also
sind diesbe- ein kleines asymmetrisches Verhältnis, wobei die hier geschilder-
züglich auf uns ten positiven Seiten, deren Grundlage das Minderheitengesetz
gestellt. Selbst von 1993 bildet, nicht kleingeredet werden sollen. Als deutsche
der ungarische
Minderheit in Ungarn sind wir nicht unglücklich, aber für einen
Staat vergibt
seit dem Regie- vollwertigen Minderheitenschutz wäre die doppelte Staatsbür-
rungswechsel gerschaft ein sehr gutes Modell.
2010 seine
Staatsbürger-
schaft an die
Auslandsun-
garn.

38
MAURIZIO TREMUL

Die Wiedererlangung der italienischen


Staatsbürgerschaft für die Angehörigen der
italienischen Minderheit in Kroatien und Slowenien.

Die „Unione Italiana“ ist eine Bürgerorganisation, die die nationale


italienische Minderheit in Kroatien und Slowenien vertritt. Unsere
Vereinigung ist durch ein internationales Abkommen anerkannt:
das bilaterale Abkommen zwischen Italien und Kroatien aus dem
Jahr 1996 zum Schutz der italienischen Minderheit in Kroatien und
der kroatischen Minderheit in Italien. In diesem Abkommen wird die
„Unione Italiana“ als „Organisation, die die italienische Minderheit
vertritt“, definiert, und die italienische Minderheit in Kroatien und
Slowenien wird als Einheit beschworen. Die Organisation reprä-
sentiert somit die italienische Gemeinschaft in beiden Ländern.

Die Italiener in Kroatien, Slowenien, Istrien, Fiume und Dalmatien


sind das, was übrig geblieben ist von einer einst viel stärkeren Prä-
senz von Italienern, welche nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben
wurden. Dies geschah in Folge der tragischen Ereignisse des 20.
Jahrhunderts: der Faschismus und all das, was er mit seiner Politik
der Unterdrückung der kroatischen und slowenischen Identität in
diesen Gebieten leider hervorgebracht hat; die darauffolgende
Gewalt, der Zweite Weltkrieg, dann die kroatisch-slowenische
Revanche, das gegen die Italiener gerichtete kommunistische Re-
gime, das Foibe-Phänomen und der Exodus. Ca. 350.000 Italiener
wurden aus jenen Gebieten vertrieben, nachdem diese mit dem
Pariser Vertrag von 1947 an die Sozialistische Föderative Republik
Jugoslawien abgetreten worden waren – wobei allerdings die
endgültige Aufteilung des Gebiets zwischen Italien und Jugosla-
wien erst mit dem Vertrag von Osimo von 1975 besiegelt wurde.

Die „Unione Italiana“ in Kroatien und Slowenien zählt heute 37.000


erwachsene Mitglieder. Im Schuljahr 2015/16 sind 4.522 Einge-
schriebene in den Kindergärten, Pflichtschulen und Oberschulen,
welche alle Teil des öffentlichen kroatischen und slowenischen
Bildungssystems sind, zu verzeichnen (die Pflichtschule dauert
acht Jahre in Kroatien, neun Jahre in Slowenien).

39
Maurizio Tremul

Folgende kurze Informationen sollen die Identität der Italiener in


diesen Gebieten veranschaulichen: Die Italiener verfügen über
einige wichtige Einrichtungen, die die italienische Spra-
che, Kultur und Identität lebendig halten. Zu nennen
sind insbesondere die italienischen Radio- und
Fernsehsendungen von Radio und TV
Capodistria. TV Capodistria und
Tele Montecarlo ist allen
in Italien ein Begriff.
Die beiden Fernseh-
sender waren die
ersten, die in Italien
in Farbe sendeten. ITA L I EN
Radio Capodistria
sendet 24 Stunden
Programme täglich
in italienischer Spra-
che. TV Capodistria
sendet neuneinhalb
Stunden Programme in
italienischer Sprache. Von
diesen stammen zwei aus
eigener Produktion. Das Ver-
lagshaus Edit hat seinen Sitz in
der kroatischen Stadt Fiume und
gibt die Tageszeitung „La voce del
popolo“ heraus. Diese Zeitung wurde
1944 ins Leben gerufen und war somit
zu jenem Zeitpunkt noch eine Partisanen-
zeitung. Heute repräsentiert die Zeitung die
gesamte italienische Gemeinschaft. Das Ver-
lagshaus Edit gibt auch andere Zeitungen heraus,
darunter „La battana“ (Ausdruck für ein regionalty-
pisches Paddelboot), die, wie ich finde, die langlebigste
aller italienischen Kulturzeitschriften ist. In Rovigno betreibt das
„Centro di Ricerche Storiche di Rovigno“ historische und soziolo-
gische Forschungen, und in Fiume spielt das „Dramma Italiano“
– eine kleine Schauspieltruppe, die im kroatischen Volkstheater
von Fiume, „Ivan de Zajc“, tätig ist. Es handelt sich um das einzige
italienische Repertoire-Ensemble außerhalb Italiens.

40
Italienische Minderheit in Kroatien und Slowenien

So weit die wesentlichen Daten. Kommen wir


SL O W E NIEN nun zur doppelten Staatsbürgerschaft. Die
„Unione Italiana“ ist der Rechtsnachfolger,
doch nicht der politische Erbe der Vorgänge-
rorganisation. 1944, während des Volksbe-
freiungs- kampfes – so wurde der
Partisanenkampf ge-
gen die Besatzer des
Dritten Reichs be-

KROATIEN zeichnet –, wurde


die „Unione degli
Italiani dell’Istria
e di Fiume“ ins
Leben gerufen. Die
Gründungsväter waren
einige Italiener und viele Kroaten, die in der
Organisation die italienische Minderheit im
zukünftigen Jugoslawien vertreten und die
Rückkehr Istriens zum kroatischen Mutter-
land fordern sollte. Die „Unione degli
Italiani dell'Istria e di Fiume“ war bis
1991 der Vertreter der italienischen
Minderheit in Kroatien und Slo-
wenien, also in Jugoslawien.
Der ideologisch-kommu-
nistische Zug war da-
bei offensichtlich und
durfte nicht fehlen,
da er dem Regime jener Zeit geschuldet war. 1991 hielten wir in
unserer Organisation zum ersten Mal freie Wahlen ab. Wir haben
die alte „Unione degli Italiani dell’Istria e di Fiume“ aufgelöst und
auf einer neuen Grundlage die „Unione Italiana“ gegründet. In
der Organisation finden alle vier Jahre freie Wahlen statt, wobei
die letzte Wahl ein Jahr her ist. Fast 10.000 Menschen gingen zur
Wahl. Gewählt wurden die neuen Vertreter der Union, darunter
die beiden Vorsitzenden (ich und Furio Radin). Wir sind somit
der gesetzliche, doch nicht der politische Erbe der alten Union.
Unmittelbar nach der Gründung der „Unione Italiana“ im Jahr
1991 haben wir die doppelte Staatsbürgerschaft gefordert, das
heißt, die Wiedererlangung der italienischen Staatsbürgerschaft
neben der kroatischen oder slowenischen. Aus diesem Grund
wurden zwischen 1990 und 1991 4.175 Unterschriften für eine

41
Maurizio Tremul

Petition gesammelt, die an die italienische Regierung ging. Dies


alles geschah während der Zeit, als Ex-Jugoslawien im Begriff war
zu implodieren um sich aufzulösen. Die damit einhergehenden
Gewalttaten und leidvollen Geschichten kennen wir alle. Wir
forderten die Wiedererlangung der italienischen Staatsbürger-
schaft für alle, die nach dem Zweiten Weltkrieg in jenen Gebieten
geblieben sind, die Italien abtreten musste. Dazu zählten Istrien,
Fiume, die Kvarner-Bucht und Zadar. Unsere Forderung rief damals
Unsere Forde- bei den Behörden der nunmehr unabhängigen Staaten Kroatien
rung rief damals
und Slowenien, in der öffentlichen Meinung, bei den politischen
bei den Behör-
den der nun- Mächten, bei den Medien, bei der kroatischen und slowenischen
mehr unabhän- Kirche sowie bei der so genannten, leider manipulierten „Zivil-
gigen Staaten gesellschaft“ feindselige und gewalttätige Reaktionen hervor.
Kroatien und Man versuchte, einen historisch dramatischen Zusammenhang
Slowenien, in
herzustellen: der Balkankrieg beziehungsweise der Krieg im Zentrum
der öffentlichen
Meinung, bei Europas, das Risiko einer neuerlichen endgültigen Abwanderung
den politischen der italienischen Bevölkerung aus ihrem historischen Siedlungsge-
Mächten, bei biet. Die Angehörigen der italienischen Minderheit in Kroatien und
den Medien, Slowenien, die ab 1990/1991 ins Mutterland Italien einwanderten,
bei der kroa-
waren, trotz ihrer Zugehörigkeit zur italienischen Sprache und
tischen und
slowenischen Kultur, mit allen Einwanderern aus Nicht-EU-Ländern gleichgestellt
Kirche sowie bei und demnach keine EU-Bürger. Dies änderte sich erst am 1. Mai
der so genann- 2004 bzw. am 1. Juli 2013, als Slowenien bzw. Kroatien Mitglied
ten, leider mani- der Europäischen Union wurde. Was sah unsere Forderung, die
pulierten „Zivil-
wir wie gesagt im Jahr 1990 vorbrachten, im Einzelnen vor? Sie
gesellschaft“
feindselige und sah die Wiedererlangung der italienischen Staatsbürgerschaft
gewalttätige vor. Ich möchte gleich erklären, warum ich von einer Wieder-
Reaktionen erlangung und nicht von einer Erlangung spreche. Es geht um
hervor. die Wiedererlangung der Staatsbürgerschaft durch jene, die
in den Gebieten, die von Italien an Jugoslawien nach dem
Zweiten Weltkrieg abgetreten wurden, geboren waren, sowie
durch deren Nachfahren in direkter Linie. Es handelt sich somit
um eine Wiedererlangung als Akt der moralischen Anerkennung
gegenüber all jenen, die beschlossen hatten, im ursprünglichen
Siedlungsgebiet zu bleiben und hierbei, trotz der jugoslawischen
Diktatur, die italienische Sprache, Kultur und Identität zu pflegen;
eine Wiedererlangung als Instrument für einen wirksamen und
internationalen Rechtsschutz der italienischen Gemeinschaft.

Ein erstes Ergebnis wurde 1992 mit dem italienischen Staatsgesetz


„5. Februar 1992“, „Neue Bestimmungen für die Staatsbürgerschaft“
erzielt. Dieses Gesetz gestattete den Angehörigen der italienischen

42
Italienische Minderheit in Kroatien und Slowenien

Gemeinschaft die Wiedererlangung der italienischen Staatsbürger-


schaft. Diese Bestimmung galt jedoch nur für jene Landsleute, die
vor dem Friedensvertrag von Paris vom 10. Februar 1947 geboren
wurden bzw. vor dem Vertrag von Osimo vom 10. November 1975
in der so genannten Ex-Zone B lebten. Diese Zone umfasste den
Nordwesten Istriens, der bis zur Unterzeichnung des Vertrags von
Osimo im Wesentlichen von Jugoslawien verwaltet wurde. Es war
jedoch sozusagen noch nicht verlorenes bzw. abgetretenes Ge-
biet. Doch genau genommen, wurde es bereits 1945 abgetreten,
aber die Politik hat eine andere Dynamik. Erwachsene Personen,
die nach 1947 geboren waren, waren jedoch wie bereits erwähnt
von der Bestimmung für die Wiedererlangung der italienischen
Staatsbürgerschaft ausgeschlossen. Die „Unione Italiana“ be-
grüßte zwar dieses neue Gesetz, aber wir haben unmittelbar
eine Korrektur dieser Unstimmigkeit gefordert: Das Recht auf
die Wiedererlangung der italienischen Staatsbürgerschaft sollte
auch an minderjährige Kinder von Eltern, bei denen das Abstam-
mungsprinzip (ius sanguinis) greift und die vor 1947 bzw. vor 1975
geboren wurden, vergeben werden. Unser politischer Einsatz hat
14 Jahre später seine ersten Früchte getragen. Es handelt sich
um das Gesetz „8. März 2006, Nr. 124“. Dieses wurde vom italie-
nischen Parlament parteiübergreifend genehmigt – ich glaube,
dass damals nur Rifondazione Comunista dagegen stimmte. Am
9. Februar 2006 wurde das letzte Gesetz der Legislaturperiode
auf den Weg gebracht, bevor sich das Parlament auflöste und
zum x-ten Mal vorgezogene Wahlen stattfanden. Dieses Gesetz
beinhaltet eben die Abänderung des Gesetzes „5. Februar 1992“
von 1991 betreffend die Bestimmungen für die Anerkennung der
italienischen Staatsbürgerschaft für die in Istrien, Fiume und Dalm-
atien lebenden italienischen Landsleute und deren Nachkommen.
Es handelt sich somit um eine Abänderung des Gesetzes, das sich
genau auf unsere Situation bezieht. Mit diesem Gesetz wird das
Recht auf Wiedererlangung der italienischen Staatsbürgerschaft
auch auf die Nachkommen jener Personen ausgedehnt, die die
italienische Staatsbürgerschaft bereits mit dem Gesetz von 1992
erworben hatten, d. h. auch auf die Nachfahren in direkter Linie
der nach 1947 in den abgetretenen Gebieten Geborenen. Unser
Antrag wurde somit, über eine parlamentarische Gesetzesinitiative,
vollinhaltlich von der Regierung angenommen.

Was muss heute jemand, der die italienische Staatsbürgerschaft


haben will, vorlegen? Er muss eine Reihe von Dokumenten vor-

43
Maurizio Tremul

legen, die die Zugehörigkeit zur italienischen Volksgruppe in


irgendeiner Weise belegen. Zum Beispiel den Nachweis, dass
jemand italienische Schulen besucht hat, dass er dafür bekannt
ist, für gewöhnlich Italienisch zu sprechen, dass er die Einrichtun-
gen der italienischen Gemeinschaft besucht. Also all das, was,
unabhängig vom Nachweis der direkten Nachkommenschaft
eines italienischen Bürgers, in irgendeiner Weise die Zugehörigkeit
zur italienischen Gemeinschaft bzw. Nationalität bezeugt.

In Kroatien und Slowenien werden die Italiener in rechtlicher


Hinsicht selbstverständlich als eine nationale Minderheit be-
handelt, als „national minority“, so wie es auch die internatio-
nalen Abkommen vorsehen. Wenn es also darum geht, unsere
Rechte als Minderheit geltend zu machen, ist die italienische
Staatsbürgerschaft nicht hilfreich. Wir können die italienische
Staatsbürgerschaft nicht dafür hernehmen, um unsere Rechte als
kroatische oder slowenische Staatsbürger, die der italienischen
Minderheit angehören, geltend zu machen. In diesem Fall greifen
die europäischen und international anerkannten Übereinkom-
men über die Minderheitenrechte, die auch uns zustehen. Viele
unserer Landsleute haben unter anderem an dem so genannten
Die Wiederer- patriotischen Kroatienkrieg teilgenommen. Manche sind da-
langung der
bei umgekommen. Dieser Krieg führte zur Besetzung Kroatiens
italienischen
Staatsbürger- durch das serbische Heer und endete 1995. Als das Gesetz zur
schaft hat für italienischen Staatsbürgerschaft genehmigt wurde, hat die Ver-
uns einen be- sammlung der „Unione Italiana“ auch eine wichtige Resolution
sonderen mora- politischer Natur verabschiedet. Ich werde nun einige der in der
lischen Wert. Sie
Resolution enthaltenen Konzepte kurz zusammenfassen, da ich
unterstreicht die
Verbundenheit sie für wichtig erachte. Für uns galt es festzuhalten, dass sich die
zwischen der Italiener in Kroatien und Slowenien effektiv als Erbe der gesamten
Mutternation italienischen Nation fühlen. Aus diesem Grund haben wir uns
Italien und den bei allen politischen Kräften, der Regierung und dem Parlament
Italienern von
für die Unterstützung bedankt, und selbige haben wir auch von
Kroatien und
Slowenien und Italien gefordert bzw. fordern wir noch immer. Die italienische
sie trägt dazu Gemeinschaft in Kroatien und Slowenien ist als Angelegenheit
bei, dass die von nationalem und strategischem Interesse zu betrachten und
italienische hat insbesondere alle politischen Kräfte und die Regierung dafür
Identität, Spra-
zu sensibilisieren. Die Wiedererlangung der italienischen Staats-
che und Kultur
gestärkt und in- bürgerschaft hat für uns einen besonderen moralischen Wert. Sie
tensiver gelebt unterstreicht die Verbundenheit zwischen der Mutternation Italien
werden. und den Italienern von Kroatien und Slowenien und sie trägt dazu
bei, dass die italienische Identität, Sprache und Kultur gestärkt

44
Italienische Minderheit in Kroatien und Slowenien

und intensiver gelebt werden. Die italienische Staatsbürgerschaft


hat einen großen ethischen Wert, weil sie uns die Teilnahme am
politischen, sozialen und kulturellen italienischen Leben ermöglicht.
Die Italiener mit Doppelpass nehmen an den Parlamentswahlen
in Italien teil (die Stimme wird auf dem Korrespondenzweg mit den
diversen Konsulaten abgegeben), ebenso an den Kommunal-
wahlen in jener Wohnsitzgemeinde, die im so genannten A.I.R.E.
(Register der Auslandsitaliener) eingetragen ist. Auch dürfen sie
an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen, aller-
dings müssen sie sich hier zwischen einem italienischen und einem
kroatischen/slowenischen Kandidaten entscheiden, zumal das
doppelte Wahlrecht nicht gilt. Es kommt zu einer Selbsterklärung,
einer Entscheidung, die jeder für sich individuell treffen kann.
Darüber hinaus wählen die Italiener im kroatischen Konsularbezirk
Fiume den so genannten „Comites“, den Ausschuss der Aus-
landsitaliener. Die Italiener, die in diesen Gebieten leben, haben
einen großen Beitrag zur demokratischen, kulturellen, zivilen und
wirtschaftlichen Entwicklung Kroatiens und Sloweniens geleistet,
ebenso zu den europäischen Integrationsprozessen. Wir haben,
auch in den schwierigen Momenten der frühen 1990er Jahre, stets
gefordert, dass Kroatien und Slowenien der Europäischen Union
beitreten, obwohl es uns an Rechten kaum mangelte. Ich denke
jedoch, dass der EU-Beitritt Kroatiens und Sloweniens am Ende
auch einen großen, nunmehr moralischen Wert hat. Heutzutage, Viele ältere Per-
sonen haben
wo wir alle in der Europäischen Union leben, stellt die italienische
die italienische
Staatsbürgerschaft nicht mehr jene Erleichterung dar, wie dies zu Staatsbürger-
Anfang der 1990er oder 2000er Jahre der Fall war, wo man ohne schaft wiederer-
italienische Staatsbürgerschaft auch kein EU-Bürger war, was langt. Vielleicht
sich beispielsweise bei der Einschreibung an einer ausländischen haben sie den
italienischen
Universität oder bei internationalen Arbeitsverträgen bemerkbar
Pass nie ge-
machte. Heute ist es anders, doch der ethisch-moralische und braucht, aber
der emotionale Stellenwert werden immer noch stark verspürt. viele sagen
Viele ältere Personen haben die italienische Staatsbürgerschaft sich: „Schauen
wiedererlangt. Vielleicht haben sie den italienischen Pass nie ge- Sie, ich lege ihn
unters Kopfkis-
braucht, aber viele sagen sich: „Schauen Sie, ich lege ihn unters
sen, ich schlafe
Kopfkissen, ich schlafe drauf. Ihn wiedererlangt zu haben, hat drauf. Ihn
für mich einen wichtigen emotionalen Wert.“ Den italienischen wiedererlangt
Pass haben sie womöglich nie verwendet, und dennoch ist dieser zu haben, hat
emotionale Aspekt der Verbundenheit äußerst wichtig. Aktuell für mich einen
wichtigen emo-
– und damit komme ich zum Abschluss – beläuft sich die Zahl
tionalen Wert.
der im A.I.R.E. eingeschriebenen italienischen Staatsbürger (die
meisten davon Doppelstaatsbürger) auf 21.226 im kroatischen

45
Maurizio Tremul

Konsularbezirk Fiume und auf 4.132 im slowenischen Konsularbezirk


Capodistria. Insgesamt leben also 25.359 Italiener im historischen
Siedlungsgebiet der Italiener. Nicht mitgezählt habe ich Laibach
und Agram, weil diese Städte nicht zum historischen Siedlungs-
gebiet der Italiener gehören.

Die praktische Bedeutung der italienischen Staatsbürgerschaft


ist heute nicht mehr so erheblich wie einst, vielmehr ist es die
ethisch-moralische. Ganz zentral ist nämlich das Gefühl, Teil der
italienischen Nation zu sein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass
die Staatsgrenzen und die Souveränität der Staaten in Frage
gestellt werden. Wir sind eine sehr friedliebende und sehr ruhige
Minderheit. Bei uns gibt es 80 Prozent Mischehen, unsere italieni-
schen Schulen werden von sehr vielen Kroaten, Slowenen und
von Angehörigen anderer Ethnien des ehemaligen Jugoslawiens
besucht. Wir sind integriert, wir sind treue Bürger dieser beiden
Staaten. Wir sind auch treue Bürger Italiens, und wir arbeiten
daran, dass Italien, Kroatien und Slowenien freundschaftliche
Auch hier Beziehungen entwickeln und verstärkt zusammenarbeiten. Es be-
zeigt sich, dass
steht auch eine sehr gute Zusammenarbeit mit der slowenischen
die doppelte
Staatsbürger- Gemeinschaft in Italien. Auch hier zeigt sich, dass die doppelte
schaft für uns Staatsbürgerschaft für uns diese Beziehungen nur stärken kann,
diese Beziehun- und sie stellt für keinen Staat eine Bedrohung dar.
gen nur stärken
kann, und sie
stellt für keinen
Staat eine Be-
drohung dar.

46
JULIJAN ČAVDEK

Die doppelte Staatsbürgerschaft


als Mittel zur nationalen staatsgrenzen-
übergreifenden slowenischen Einheit.

In der Republik Slowenien ist die Staatsbürgerschaft per Gesetz


geregelt, so wie dies von Artikel 12 der Verfassung vorgesehen ist.
Die doppelte Staatsbürgerschaft wird unter besonderen Bedin-
gungen zugelassen. In diesem kurzen Bericht möchte ich vor allem
darauf hinweisen, wie wichtig es ist, dass uns der slowenische Staat
die Möglichkeit der slowenischen Staatsbürgerschaft bietet – ca.
5.000 Bürger in Italien besitzen sie bereits. Die Wichtigkeit ergibt
sich nicht nur für uns als slowenische Minderheit, sondern auch für
alle Slowenen, die außerhalb der Staatsgrenzen Sloweniens leben.

Zu diesen Gemeinschaften unterhält die Republik Slowenien eine


besondere Beziehung, die in Artikel 5 der Verfassung verankert
und mit einem ordentlichen Gesetz vom 6. Mai 2006 geregelt ist. In
Slowenien trat am 25. Juni 1991 das Gesetz über die Staatsbürger-
schaft in Kraft – an jenem Tag, als Slowenien seine Unabhängigkeit
von Jugoslawien ausrief. Es handelte sich um einen ersten Schritt
zur Auflösung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugosla-
wien, welche soeben zusammengebrochen war. Die Ausrufung
der Unabhängigkeit Sloweniens war der Höhepunkt eines in den
1980er Jahren begonnenen Demokratisierungsprozesses des
slowenischen Volkes. Der Unabhängigkeit von 1991 gingen seit
dem Ende des Zweiten Weltkrieges erstmals freie und demokra-
tische Wahlen, die am 8. April 1990 stattfanden, voraus; ebenso
die Volksabstimmung für die Unabhängigkeit vom 23. Dezember
1990, für welche 95 Prozent der Wähler stimmten. Nahezu das
gesamte slowenische Volk sprach sich für die Unabhängigkeit
Sloweniens vom damaligen Jugoslawien aus. Darüber hinaus
begann die Republik Slowenien, den Weg der europäischen
Integration zu beschreiten. Mit dem Eintritt Sloweniens in die Eu-
ropäische Union im Jahr 2004, in die Nato im selben Jahr sowie
im Schengenraum im Jahr 2007 wurde dieser Weg im frühen 21.
Jahrhundert abgeschlossen.

47
Julijan Čavdek

Doch wo besteht
der Zusammen-
hang dieser ge-
schichtlichen Er- ÖSTERREIC H
eignisse mit der
doppelten Staats-
bürgerschaft? Es
gilt zu beach-
ten, dass in der
Zeit zwischen
1945 und 1990
in Slowenien
das kommu-
I T A LI EN
nistische Re-
gime an der
Macht war.
Dieses Regi-
me behan-
delte nicht
alle Slowenen
gleich. Die Er-
eignisse während
und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg,
als unter der nazifaschistischen Besatzung auch ein Bürgerkrieg
unter den Slowenen stattfand, sowie unterschiedliche ideolo-
gische Beweggründe und politische Überzeugungen führten
zu einer starken politischen Auswanderung und Zerreißung des
slowenischen Volkes. Wenn sie ihr Leben retten wollten, mussten
viele Slowenen mit katholisch-demokratischer Gesinnung aus
Slowenien fliehen. Auf diese Weise entstand die Diaspora der
Slowenen mit starken Gemeinschaften in Argentinien, Brasilien,
in den Vereinigten Staaten und Australien. Für die Zerreißung des
slowenischen Volkes stehen auch die autochthonen slowenischen
Minderheiten, deren Siedlungsgebiet außerhalb der Grenzen
des damaligen Jugoslawiens geblieben ist. Wir sprechen hier
von der slowenischen Minderheit in Italien und von der slowe-
nischen Minderheit in Österreich. Es gab auch eine Minderheit
in Ungarn, aber in Ungarn, das wie Jugoslawien ebenfalls unter
einem kommunistischen Regime stand, waren andere politische
Gesinnungen nicht gestattet. In der damaligen Sozialistischen
Republik Slowenien gab es Slowenen der Kategorie A und der
Kategorie B. Mit dem Prozess der Demokratisierung und Unabhän-

48
Slowenische Minderheit in Italien

gigkeit des Landes gab es den Versuch, die


beiden Gruppen näher zusammenzubringen.
Dies mag zwar einfach klingen, ist aber ein
Unterfangen, das seine Zeit braucht.

Ich glaube, dass die damalige neue politi-


sche Generation die doppelte Staatsbür-
gerschaft gewährte, um die nationale
Versöhnung des seit 1945 geteilten
Volkes zu erreichen
und die Folgen
SLOW E N I E N einer Ungleich-
behandlung
KR O A T I E N gegenüber
jenen Lands-
leuten, die
auf Grund
von verschie-
denen histo-
risch-politischen Ereignissen außer-
halb der slowenischen Staatsgrenzen
lebten, zu beseitigen. Gleichzeitig
wollte das Mutterland ihnen ge-
genüber ein Zeichen der Auf-
merksamkeit sowie der Dank-
barkeit für ihre Unterstützung
im Unabhängigkeitspro-
zess setzen. Es wurden
die Rechtsgrundlagen
für die Anerkennung
und Rückkehr derje-
nigen, die während Das Gesetz
über die Staats-
des Kommunismus
bürgerschaft
von Slowenien vergessen, isoliert oder vertrieben worden wa- der Republik
ren, geschaffen. Selbstverständlich musste das Gesetz über die Slowenien sieht
Staatsbürgerschaft auch diejenigen Prozeduren beinhalten, eine doppelte
die für ein demokratisches System typisch sind. So können auch Staatsbürger-
schaft unter
diejenigen, die nicht slowenischer Volkszugehörigkeit sind und
besonderen
die slowenische Sprache nicht sprechen, die doppelte Staats- Bedingungen
bürgerschaft erwerben, doch auf Einzelheiten kann hier nicht vor.
eingegangen werden. Das Gesetz über die Staatsbürgerschaft
der Republik Slowenien sieht eine doppelte Staatsbürgerschaft

49
Julijan Čavdek

unter besonderen Bedingungen vor. Artikel 2 des Gesetzes legt


fest, dass ein slowenischer Staatsbürger mit ausländischer Staats-
angehörigkeit im Hoheitsgebiet der Republik Slowenien als slo-
wenischer Staatsbürger gilt, wenn das internationale Abkommen
nicht anders verfügt. Artikel 3 sieht vor, dass die slowenische
Staatsbürgerschaft erworben werden kann durch:
XX Abstammung,
XX Geburt im Gebiet der Republik Slowenien,
XX Einbürgerung auf der Grundlage eines Ansuchens,
XX internationale Vereinbarung.

Ich besitze die doppelte Staatsbürgerschaft auf Grund meiner Ab-


stammung. Dies wusste ich jedoch nicht. Ich wollte die slowenische
Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung beantragen. Aber dann
merkte ich, dass ich bereits slowenischer Staatsbürger war, zumal
meine Mutter einen jugoslawischen Pass hatte, weil sie auf der
anderen Seite der Grenze lebte. Und so habe ich gleichzeitig die
doppelte Staatsbürgerschaft meinen drei Kindern weitergegeben.

In Artikel 10, der die doppelte Staatsbürgerschaft auf der Basis von
Einbürgerung regelt, werden zehn Voraussetzungen angeführt:
1. Die Vollendung des 18. Lebensjahres.
2. Der Verlust der Staatsbürgerschaft des anderen Staates oder
der Verzicht auf dieselbe.
3. Der Nachweis, dass die Person seit zehn Jahren in Slowenien lebt.
4. Der Nachweis, dass die Person über ausreichend Lebensun-
terhalt verfügt.
5. Der Nachweis von slowenischen Sprachkenntnissen.
6. Die Nachweis, weder eine Verurteilung noch eine Freiheitsstrafe
erlitten zu haben.
7. Der Nachweis, nicht aus dem slowenischen Territorium ausge-
wiesen worden zu sein.
8. Der Nachweis, keine Gefahr für die Öffentlichkeit darzustellen.
9. Der Nachweis, im Einklang mit der Steuerbehörde zu sein.
10. Der Treueschwur auf die Verfassung.

Die unter Punkt 2 angeführte Voraussetzung, also der Verzicht


der Staatsbürgerschaft des anderen Staates, bereitet Probleme.
Zu diesem Punkt gibt es einige Ausnahmeregelungen, die unter
Artikel 12 des Staatsbürgerschaftsgesetzes fallen. Sie greifen in
folgenden Fällen:

50
Slowenische Minderheit in Italien

 Der Antragsteller ist ein Einwanderer mit slowenischer Nationalität


oder ist sein direkter Nachkomme bis zum vierten Grad und lebt
seit mindestens einem Jahr in Slowenien.
 Der Antragsteller hat die slowenische Staatsbürgerschaft auf der
Grundlage der Staatsbürgerschaftsgesetze, die vor der slowe-
nischen Unabhängigkeit und damit unter Jugoslawien galten,
verloren. In diesem Fall muss er seit mindestens sechs Monaten
in Slowenien leben. Hiervon handeln auch die Artikel 40 und 41,
die die Möglichkeit der Rückführung jener Slowenen vorsehen,
die aus politischen Gründen gezwungen waren auszuwandern.
 In Ausnahmefällen kann die Staatsbürgerschaft auch einem
nicht-slowenischen Staatsbürger gewährt werden, wenn dieser
seit drei Jahren mit einem slowenischen Staatsbürger verheiratet
ist und seit mindestens einem Jahr in Slowenien lebt. In diesem
Fall ist zudem eine staatliche Genehmigung erforderlich.
 Die anderen Voraussetzungen sind: Der Antragsteller hat das
Recht auf politisches Asyl oder er hat den Status als Staatenloser.

Wichtig ist auch Artikel 13, der vorsieht, dass, bei staatlichem Inte-
resse, einer Person die slowenische Staatsbürgerschaft durch Ein-
bürgerung auf Grund der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen oder
kulturellen Verdienste gewährt werden kann, wobei diese Person Laut diesem
seit mindestens einem Jahr in Slowenien leben muss. In diesem Fall Gesetz wird der
autochthonen
greift Punkt 2 des Artikels 10, wonach die Staatsbürgerschaft des
slowenischen
anderen Staates aufgegeben werden muss, nicht. Bevölkerung
in Österreich,
Der zweite Absatz des Artikels 13 sieht eine weitere Ausnahmere- Kroatien, Italien
gelung zu der unter Punkt 2 in Artikel 10 angeführten Vorausset- und Ungarn
die doppelte
zung (Verzicht auf die Staatsbürgerschaft des anderen Staates)
Staatsbürger-
vor, und zwar für Antragsteller, die in Artikel 2 des Gesetzes schaft gewährt.
über die Beziehungen der Republik Slowenien mit Slowenen, Mit diesem
die außerhalb der Staatsgrenzen leben, fallen. Laut diesem besonderen
Gesetz wird der autochthonen slowenischen Bevölkerung in Gesetz wurden
die Beziehun-
Österreich, Kroatien, Italien und Ungarn die doppelte Staats-
gen der Repu-
bürgerschaft gewährt. Mit diesem besonderen Gesetz wurden blik Slowenien
die Beziehungen der Republik Slowenien zu den unmittelbar zu den unmittel-
außerhalb der Staatsgrenzen lebenden Bürger slowenischer bar außerhalb
Nationalität geordnet. Dieses Gesetz gilt zudem für die Slowenen, der Staatsgren-
zen lebenden
darunter politische Emigranten oder Wirtschaftsmigranten, die
Bürger sloweni-
in der restlichen Welt und nicht in den Grenzgebieten Sloweni- scher Nationali-
ens leben. Der Antragsteller hinterlegt den Antrag im Konsulat tät geordnet.
oder im zuständigen Amt in einer slowenischen Gemeinde.

51
Julijan Čavdek

Dem Antrag müssen der Lebenslauf sowie eine oder mehrere


Bescheinigungen durch eine zivilgesellschaftliche Organisation
beigefügt sein, und zwar darüber, wo die Person arbeitet, dass
sie die slowenischen Schulen besucht hat, dass sie mindestens
fünf Jahre lang in einem slowenischen Sport- oder Kulturverein
tätig war oder ist. Kurzum: Es muss bescheinigt werden, dass
die Person ein aktives Mitglied der slowenischen nationalen
Gemeinschaft ist. Das ganze Verfahren zur Anerkennung der
slowenischen Staatsbürgerschaft hat sich mittlerweile in der Regel
auf etwa drei Monate eingependelt. Früher dauerte es länger.

In den letzten beiden erwähnten Kategorien (autochthone


slowenische Bevölkerung in den Nachbarländern, slowenische
Es ist vielmehr Landsleute in der Welt) gibt es die größte Anzahl von sloweni-
eine emotiona- schen Doppelstaatsbürgern. Obwohl der ideologische Bruch
le Angelegen- noch nicht repariert ist, wurde den slowenischen Landsleuten
heit, wenn der die Staatsbürgerschaft und auch das Wahlrecht gewährt, was
slowenische
zweifellos ein wichtiges Signal war. Nach dem starken Hass
Staat, die
slowenische zwischen den beiden Teilen meines Volkes ist es nun zu einem
Nation endlich Schritt nach vorne und zu normalen politischen Debatten, die
unser Referenz- westliche Demokratien auszeichnen, gekommen. In einigen
staat, unsere Fällen kam es zu Rückwanderungen von Slowenen, die in Slo-
Mutternation
wenien wieder ein neues Leben aufgebaut haben. Im Übrigen
und Heimat ist,
und zwar für besteht jedoch allgemein Übereinstimmung darüber, dass uns
alle Slowenen, auf praktischer Ebene die slowenische Staatsbürgerschaft keine
das heißt, für großen Besonderheiten bietet. Es ist vielmehr eine emotionale
die sloweni- Angelegenheit, wenn der slowenische Staat, die slowenische Na-
schen Minder-
tion endlich unser Referenzstaat, unsere Mutternation und Heimat
heiten in Italien,
Österreich, ist, und zwar für alle Slowenen, das heißt, für die slowenischen
Kroatien und Minderheiten in Italien, Österreich, Kroatien und Ungarn sowie
Ungarn sowie für die Ausgewanderten einschließlich der politischen Diaspora.
für die Aus- Slowenien sehen wir alle als das gleiche Land und nicht mehr
gewanderten
so wie früher, als es eine Unterscheidung gab.
einschließlich
der politischen
Diaspora. Am meisten Freude bereitet es uns, dass wir bei politischen Wahlen
in Slowenien mitbestimmen dürfen, also bei Parlamentswahlen
und Europawahlen. Im letzteren Fall wählen wir entweder die
europäischen Kandidaten in Slowenien oder die Kandidaten auf
der italienischen Liste.

52
Slowenische Minderheit in Italien

Die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft ist auch im Zusam-


menhang mit einer parlamentarischen Vertretung von Slowenen,
die außerhalb der Grenzen der Republik Slowenien leben, ent-
scheidend. Seit ein paar Jahren sind wir bemüht, für die Slowenen
im Ausland zwei Sitze im slowenischen Parlament zugestanden
zu bekommen. Hierbei würde es sich jeweils um einen Sitz für die
an den Grenzen lebenden slowenischen Minderheiten und für
die ausgewanderten Slowenen in der restlichen Welt handeln.
Die Durchsetzung dieses Anliegens ist ein bisschen ins Stocken
geraten, weil ein wichtiger Teil des slowenischen Volkes ausge-
schlossen wäre: Den slowenischen Landsleuten in Kärnten gewährt
Österreich nicht die doppelte Staatsbürgerschaft, doch diese
wäre für das Wahlrecht die Voraussetzung. Trotz der momentan
stagnierenden Situation bleibt zu hoffen, dass in naher Zukunft
eine Vereinbarung zwischen den beiden Staaten erzielt wer-
den kann und auch Österreich die Möglichkeit einer doppelten
Staatsbürgerschaft eröffnet, damit wir Slowenen im Ausland um
so mehr eine parlamentarische Vertretung in Laibach einfordern
können. Uns ist dies ein wichtiges Anliegen.

53
ERN FANCSALI

Doppelte Staatsbürgerschaft
am Beispiel der ungarischen Gemeinschaft
in Siebenbürgen

Von den ethnischen Minderheiten in Europa sind die Ungarn


eine der größten. Etwa 2,2 Millionen Ungarn leben außerhalb der
ungarischen Staatsgrenzen in den Nachbarstaaten, und verstreut
in der Welt gibt es wahrscheinlich weitere Millionen. In Rumänien
siedeln laut letzter Volkszählung 1,2 Millionen Ungarn, die meis-
ten von ihnen in Siebenbürgen. Die Siebenbürger Ungarn sind
die größte nationale Gemeinschaft, die über keine Autonomie
verfügt. Dies ist der Grund, warum Ungarn im Vergleich zu den
Nachbarstaaten einer der proaktivsten Patronagestaaten ist.
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Friedensvertrag von Trianon,
mit dem Siebenbürgen mit Rumänien zusammengeschlossen
wurde, fanden sich viele Ungarn in einem fremden Staat wieder.
Rumänien fuhr gegen die ungarische Minderheit eine unver-
blümte Assimilierungspolitik. Unter dem Staatssozialismus wurde
ein extrem nationalistischer Diskurs geführt, der gegen nationale
Minderheiten gerichtet war. Die ungarische Minderheit trotzte
dieser Politik. Das kommunistische System vermochte es nicht,
den Fortbestand der ungarischen Gemeinschaft in Rumänien
zur Gänze zu zerstören. Nach der Revolution von 1989 suchten
sowohl die ungarische Elite in Rumänien als auch die ungarische
Führungsriege in Ungarn Beziehungen zueinander. Die ungarische
Auslandspolitik fußte nunmehr auf drei Säulen:
XX die euroatlantische Integration,
XX die Beziehung zu den Nachbarstaaten,
XX die Beziehung mit den Ungarn, die außerhalb der ungarischen
Staatsgrenzen leben.

József Antall, der erste Ministerpräsident des demokratischen


Ungarns, hielt eine Rede, die berühmt wurde. Er erklärte, dass
er der Ministerpräsident von 15 Millionen Ungarn sein wolle – Un-
garn sei auch verantwortlich für jene Ungarn, die außerhalb der
ungarischen Staatsgrenzen leben. Antall gründete das Amt für
Auslandsungarn. Die nachfolgende Regierung unter Gyula Horn
legte den Schwerpunkt auf die euroatlantische Integration und

55
Ernő Fancsali

die Beziehungen zu den Nachbarstaaten. Die erste Regierung


unter Viktor Orbán konzentrierte sich dann auf die Beziehungen
mit den Ungarn, die außerhalb der ungarischen Staats-
grenzen lebten und finanzierte Institutionen des
Patronagestaates zur Förderung der Ungarn in
den Nachbarländern. Die Folgeregierungen
Ungarn hat
sein Gesetz zur unter Ferenc Gyurcsány und Attila Mester-
Staatsbürger- házi behielten dieses Schutzsystem bei und
schaft im Jahr übertrugen die Entscheidungsbefugnis
2010 geän- über die Ressourcenzuweisung an die
dert. Dieses
ausländischen ungarischen Organi-
ermöglichte es
ehemaligen sationen. Die zweite Orbán-
ungarischen regierung führte schließlich
Staatsbürgern ein neues Gesetz zur Staats-
und deren bürgerschaft und zum Wahlrecht
Nachkommen,
ein. Dabei ging es darum, das
die ungarische
Staatsbür- Rechtsverhältnis zwischen dem un-
gerschaft zu garischen Staat und den Angehörigen
erlangen, ohne der ungarischen Minderheit zu klären.
dabei in Ungarn So wurden das Zeugnis des nationalen
leben zu müs-
Zusammenhalts und die Einheit der unga-
sen.
rischen Nation gesetzlich festgeschrieben.

Ungarn hat sein Gesetz zur Staatsbürgerschaft im Jahr


2010 geändert. Dieses ermöglichte es ehemaligen
ungarischen Staatsbürgern und deren Nachkommen,
die ungarische Staatsbürgerschaft zu erlangen, ohne dabei in
Ungarn leben zu müssen. Vor der Änderung des Staatsbürger-
schaftsgesetzes war die doppelte Staatsbürgerschaft nur möglich,
wenn der Antragsteller nach Ungarn zog. Mit der nunmehrigen
Änderung dürfen jene, die die ungarische Sprache sprechen
Mit Ende und entweder einst ungarische Staatsbürger waren oder Nach-
August 2015 kommen eines Ungarns sind, die ungarische Staatsbürgerschaft
haben mehr beantragen. Jeder, der die ungarische Staatsbürgerschaft er-
als 750.000
worben hat, ist, unabhängig von seinem Wohnsitz, zur Teilnahme
Menschen die
ungarische an den gesamtstaatlichen Wahlen berechtigt. Mit Ende August
Staatsbürger- 2015 haben mehr als 750.000 Menschen die ungarische Staats-
schaft bean- bürgerschaft beantragt. Mehr als 400.000 der Anträge kamen
tragt. Mehr als aus Siebenbürgen. Die Antragsteller sind meist junge Menschen,
400.000 der
und es ist zu erwarten, dass sich dieser Trend in den kommenden
Anträge kamen
aus Siebenbür- Jahren fortsetzen wird.
gen.

56
Ungarische Gemeinschaft in Siebenbürgen

Ungarn hat ein gemischtes Wahlsystem. Bürger, die in Ungarn


wohnhaft sind, dürfen zwei Stimmen abgeben: eine für
den regionalen Kandidaten und eine für den gesamt-
staatlichen. Ungarische Staatsbürger, die nicht in Un-
garn wohnhaft sind, haben nur das Stimmrecht für
die gesamtstaatliche Liste. Dafür müssen sie sich
online oder auf dem Postweg anmelden. Dank
dieses Wahlsystems können die im Ausland
lebenden Ungarn lediglich ein oder höchs-
tens zwei Mandate beeinflussen. In einem
Parlament mit 200 Mitgliedern könnten sich
diese beiden Mandate auf die Sitzverteilung
auswirken, doch dass sich am Gesamtergeb-
nis der Wahlen groß etwas ändert, ist weniger
wahrscheinlich. Dadurch dass
Ungarn seinen im Ausland
lebenden Landsleuten die
Staatsbürgerschaft und das
R U MÄNIEN Wahlrecht bei gesamtstaat- Bei den Parla-
lichen Wahlen gewährt, mentswahlen
trägt es – so wird vielfach be- wahlberechtigt
zu sein, gibt den
hauptet – einem langersehnten
Auslandsungarn
Wunsch dieser Menschen Rechnung. das Gefühl, bei
Bei den Parlamentswahlen wahlbe- der Regierung
rechtigt zu sein, gibt den Auslandsun- in Budapest
garn das Gefühl, bei der Regierung in Budapest und und somit bei
deren Politik
somit bei deren Politik gegenüber den ungarischen Minderheiten
gegenüber den
in den Nachbarsaaten sowie gegenüber den Ungarn in der ungarischen
weltweiten Diaspora ein Mitspracherecht zu besitzen. Minderheiten in
den Nachbar-
Dennoch bleibt in Ungarn selbst dessen Beziehung mit den Ungarn staaten sowie
gegenüber den
im Ausland ein umstrittenes Thema. Diesbezügliche Diskussionen
Ungarn in der
finden zwischen Linken und Rechten statt und reichen bis in die weltweiten Di-
Mitte der 1990er Jahr zurück. Die Spannungen erreichten ihren aspora ein Mit-
Höhepunkt mit einem Referendum über die doppelte Staatsbür- spracherecht zu
gerschaft im Jahr 2004, als die ungarische sozialistische Partei besitzen.
eine Kampagne gegen die Auslandsungarn fuhr. Nachdem im
Jahr 2011 das neue Wahlgesetz, das den Auslandsungarn das
Wahlrecht gewährte, verabschiedet worden war, entschuldigte
sich der Chef der sozialistischen Partei in der rumänischen Stadt
Klausenburg, in der der Anteil der ethnischen Ungarn besonders
hoch ist, für die einstige Gegenkampagne. Offensichtlich haben

57
Ernő Fancsali

die Oppositionsparteien in Ungarn das Potential der auslandsun-


garischen Stimmen erkannt, und nun galt es, sich bei den Wahlen
Es gibt kei-
nen legitimen 2014 auf diese neue Situation einzustellen.
Grund, diese
Staatsbürger, Es gibt viele Gründe, warum Ungarn für seine außerhalb der Staats-
nur weil sie grenzen lebenden Landsleute das Wahlrecht einführte, aber der
in anderen
Grundgedanke ist, dass diese Bürger das Recht auf eine Stimme in
Staaten leben,
vom Wahlrecht der Regierung haben sollen. Die Ausweitung des Wahlrechts versteht
auszuschließen. sich als Ausdruck der nationalen Solidarität, der die Vision von einer
Dies zeigt auch grenzübergreifenden ungarischen Nation, die gewissermaßen eine
die europäische Familie bildet, zu Grunde liegt. Jene Ungarn, die sich durch ihre
Tendenz der
Staatsbürgerschaft an ihre Heimat gebunden fühlen, sollten die Mög-
letzten Jahre,
besonders in lichkeit haben zu wählen – unabhängig davon, wo sie wohnen, sei
Anbetracht der es in den Nachbarstaaten oder irgendwo weiter entfernt im Ausland.
in ganz Europa
stattfindenden Es gibt keinen legitimen Grund, diese Staatsbürger, nur weil sie in
Wirtschafts-
anderen Staaten leben, vom Wahlrecht auszuschließen. Dies zeigt
migration.
auch die europäische Tendenz der letzten Jahre, besonders in An-
betracht der in ganz Europa stattfindenden Wirtschaftsmigration.
Die steigende Zahl von Bürgern, die in einem anderen Land als
in ihrem Vaterland leben und arbeiten, soll sich diesem weiterhin
verbunden fühlen. Und wenn schließlich die Ungarn, die in den
ungarischen Nachbarstaaten und im Rest der Welt leben, das
Wahlrecht haben, bedeutet dies für die ungarische Regierung,
Ungarn trägt
die Verantwor- dass sie ihrer Pflicht gerecht wird, so wie es die Verfassung vorsieht:
tung für das „Ungarn trägt die Verantwortung für das Schicksal der Ungarn, die
Schicksal der außerhalb der ungarischen Staatsgrenzen leben.“
Ungarn, die
außerhalb der
Wie nehmen die Ungarn, die in Siebenbürgen leben, dieses Thema
ungarischen
Staatsgrenzen wahr? Viele Ungarn in Siebenbürgen glauben, dass sie Teil der
leben. ungarischen Nation sind. Die Anzahl jener, die nicht glauben, Teil
der rumänischen Nation zu sein, ist im Steigen begriffen. Für viele
ethnische Ungarn in Rumänien hat die ungarische Staatsbürger-
schaft vorwiegend eine eine symbolische Bedeutung. Die Zahl
jener, die nicht die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen
wollen, ist rückläufig. Einige Politiker aus Siebenbürgen kritisieren das
Wahlrecht und die doppelte Staatsbürgerschaft der ungarischen
Minderheit in Rumänien, aber die Zahl der Kritiker ist sehr niedrig.
Bukarester Beamte haben kein Problem mit dem Thema. Traian B -
sescu sagte während seiner Amtszeit als Bürgermeister von Bukarest
(2000–2004): „Wir haben keine Einwände gegen das ungarische
Gesetz, das den ethnischen Ungarn außerhalb ihres Landes den
Erwerb der ungarischen Staatsbürgerschaft erleichtert.“

58
DANIEL TURP

Die doppelte Staatsbürgerschaft als


Mittel zum Schutz von Minderheiten nach
europäischen und internationalen Standards.

Das Thema doppelte Staatsbürgerschaft wurde in der wissen-


schaftlichen Literatur zu Völkerrecht, EU-Recht oder Verfassungs-
recht bisher kaum berücksichtigt. Besonders ist dies der Fall,
wenn es um die doppelte Staatsbürgerschaft mit Blick auf die
Minderheiten geht, wenngleich in der Vergangenheit viele Dis-
kussionen rund um die Staatsbürgerschaft im Allgemeinen, die
europäische Staatsbürgerschaft oder die Staatsbürgerschaft
von Einzelstaaten stattfanden. Um so begrüßenswerter sind dann
Unternehmungen, die dazu beitragen, den Zusammenhang
zwischen dem Minderheitenschutz und der Staatsbürgerschaft
als ein Konzept an sich zu verstehen.

Im Folgenden werde ich Fragen rund um die doppelte Staats-


bürgerschaft aus der Sicht des Völkerrechts und des EU-Rechts
erörtern, und am Schluss werde ich noch einige Fragen aus der
Sicht des Verfassungsrechts ansprechen. Im Laufe meiner Ausfüh-
rungen werde ich einige Verträge und Instrumente präsentieren,
die für unsere Debatte besonders interessant sind.

Geht es um das Recht auf die Staatsangehörigkeit und um das


Recht auf die doppelte Staatsbürgerschaft von Personen, wel-
che laut Völkerrecht einer Minderheit angehören, ist es wichtig
zu wissen, dass es im Völkerrecht ein eigenes Recht auf eine
Staatsangehörigkeit gibt. Es mag überraschen, aber bereits in
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr
1948 heißt es in Artikel 15, dass Einzelpersonen und Bürger das
Recht auf eine Staatsangehörigkeit haben. Einige Staaten haben
dieses Recht insofern umgesetzt, als die meisten Verfassungen
Regelungen vorsehen, wie man dieses Recht, d. h. beispielsweise
durch Geburt, Zugehörigkeit oder Einbürgerung, erlangen kann.
Auf jeden Fall gilt es festzuhalten, dass die Vorstellung von Staats-
angehörigkeit als Menschenrecht bereits 1948 entstanden ist.

59
Daniel Turp

Etwas Äquivalentes, doch nicht genau dasselbe, findet sich


im Europäischen Übereinkommen über die Staatsan-
gehörigkeit aus dem Jahr 1997. In Artikel 4
ist immerhin davon die Rede, dass die
Staaten das Recht auf eine Staats-
angehörigkeit anerkennen sollen.
Hierbei handelt es sich nicht um
ein Recht, das durch das
Übereinkommen von selbst
anerkannt wird. Vielmehr
handelt es sich um eine
Verpflichtung jener Länder,
die dem Übereinkommen
beitreten, ein solches
Recht anzuerkennen. Der
sprachliche Rahmen des
Übereinkommens ist somit
ein anderer als jener in der
Allgemeinen Erklärung der KA N A D A
Menschenrechte.

Im Völkerrecht dagegen wur-


de die Frage der Staatsangehörig-
keit hauptsächlich im Zusammenhang
mit der Umsetzung des diplomatischen Schutzes
erörtert. Dabei hat sich herausgestellt, dass ein Staat, der
diplomatischen Schutz ausüben will, zuerst beweisen muss, dass
dieser Schutz einem Bürger gelten soll, der sein Staatsangehöri-
ger ist. Zu dieser Rechtsprechung gelangten u. a. der Ständige
Internationale Gerichtshof 1923 („Nationality Decrees Issued in
Tunis and Morocco“), der Internationale Gerichtshof 1955 (Fall
Nottebohm, Rechtsstreit zwischen Lichtenstein und Guatemala)
sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2012 (Fall
Genovese versus Malta).

Aber es gibt auch eine Einschränkung, und diese wird seit einiger
Zeit sogar als ein Teil des Völkergewohnheitsrechts angesehen: Ein
Staat kann zwar den Schutz seiner eigenen Staatsangehörigen
ausüben, doch wenn diese die doppelte Staatsbürgerschaft
besitzen, kann der Staat seinen diplomatischen Schutz für diese
Staatsangehörigen nicht im anderen Staat, in dem die zweite
Staatsbürgerschaft gilt, ausüben. Auf den Fall Südtirol angewen-

60
Doppelte Staatsbürgerschaft zum Schutz von Minderheiten

det, würde dies bedeuten, dass ein italienisch-österreichischer


Doppelstaatsbürger – sich auf seine österreichische Staatsbürger-
schaft berufend – nicht den Schutz durch Österreich einfordern
kann, wenn in Italien ein Recht verletzt wird. Diese Regel wurde
im fernen Jahr 1930 in Artikel 4 des Haager Abkommens über
gewisse Fragen beim Konflikt von Staatsangehörigkeitsgesetzen
verankert. Doch scheint sich diese Regel weiterzuentwickeln: Im
Jahr 2007 entwarf die Völkerrechtskommission einen Artikel
über den diplomatischen Schutz. Da es zu diesem Thema
noch kein universelles Abkommen gibt, ist der Entwurf
noch nicht Gesetz, doch besagt Artikel 7, dass ein Staat
der Staatsangehörigkeit diplomatischen Schutz für eine
Person gegenüber einem Staat, dessen Staatsange-
höriger diese Person ebenfalls ist, dann ausüben Die Gesetzes-
darf, wenn die Staatsangehörigkeit des ers- lage ist somit
teren Staates überwiegt. Die Gesetzes- im Wandel
lage ist somit im Wandel begriffen, begriffen, und
und der Schutz eines Bürgers der Schutz
eines Bürgers
im anderen Staat, dessen im anderen
Staatsangehörigkeit dieser Staat, dessen
Bürger besitzt, könnte zukünf- Staatsangehö-
tig erlaubt sein, wenn bei ihm rigkeit dieser
die Staatsbürgerschaft dieses Bürger besitzt,
könnte zukünf-
Staates vorherrschend ist. Dies tig erlaubt sein,
bedeutet, dass man wahrschein- wenn bei ihm
lich in dem anderen Staat leben oder die Staatsbür-
die meisten Aktivitäten haben muss. Der gerschaft dieses
diplomatische Schutz im Zusammenhang mit Staates vorherr-
schend ist.
der doppelten Staatsbürgerschaft wird auf jeden
Fall weiterhin ein wichtiger Gegenstand der juristischen
Diskussion bleiben.

Werfen wir nun einen Blick in die Instrumente, Verträge und


Erklärungen der Vereinten Nationen und anderer Stellen, wo es
um den Schutz der nationalen Minderheiten geht. Interessan-
terweise wird dort die Frage der Staatsangehörigkeit gar nicht
diskutiert. Nicht einmal in den Verträgen findet sie Erwähnung.
Beispielsweise ist in der im Jahr 1992 von den Vereinten Natio-
nen verabschiedeten Erklärung über die Rechte von Personen,
die nationalen oder ethnischen, religiösen oder sprachlichen
Minderheiten angehören, das Wort „Staatsangehörigkeit“ nicht
einmal enthalten. Das heißt, es findet sich kein Hinweis auf das

61
Daniel Turp

Konzept der Staatsangehörigkeit, das Recht auf selbige sowie auf


das Recht auf die doppelte Staatsbürgerschaft von Personen,
die einer Minderheit angehören. Genausowenig ist dies der Fall
im europäischen Rahmenübereinkommen zum Schutz nationa-
ler Minderheiten. In diesem Übereinkommen, dem auch Italien
und Österreich angehören, fehlt ebenfalls der Hinweis auf die
Staatsangehörigkeit und den Erwerb derselben oder der Hinweis
darauf, dass Staaten, in denen nationale Minderheiten leben,
sowie Staaten, die in einem benachbarten Staat Volksangehörige
des eigenen Staates haben, die doppelte Staatsbürgerschaft
gewähren sollen. Es zeigt sich somit, dass im Völkerrecht die Fra-
ge der Staatsangehörigkeit, speziell wenn es um Minderheiten
geht, kein Thema ist.

In den im Jahr 2008 von der OSZE ausgesprochenen Bozner


Empfehlungen zum Minderheitenschutz in zwischenstaatlichen
Beziehungen wird die doppelte Staatsangehörigkeit, wenn es
um Minderheiten geht, negativ bewertet. Mit der Frage der
doppelten Staatsbürgerschaft in diesem Zusammenhang kon-
frontiert zu werden, wird von den Staaten offenbar als störend
empfunden. Zu diesem Schluss gelangt man auf Grund der
Empfehlung Nummer 11. Sie lautet: „Bei der Entscheidung über
die Verleihung der Staatsbürgerschaft an eine Person im Ausland
kann ein Staat die Sprache, die diese Person besser beherrscht,
sowie ihre kulturellen, historischen oder familiären Bindungen in
Betracht ziehen. Die Staaten sollten jedoch sicherstellen, dass bei
einer solchen Verleihung der Staatsbürgerschaft die freundschaft-
lichen Beziehungen, einschließlich die gut-nachbarlichen, sowie
die territoriale Souveränität respektiert werden, und sie sollten es
unterlassen, Staatsbürgerschaften en masse zu verleihen, auch
wenn die doppelte Staatsbürgerschaft im Wohnsitzstaat erlaubt
ist. Für den Fall, dass ein Staat doppelte Staatsbürgerschaften als
Teil seines Rechtssystems akzeptiert, sollte er keine Doppelstaats-
bürger diskriminieren.“ – Die Abneigung gegenüber dem Umgang
mit der doppelten Staatsbürgerschaft liegt also auf der Hand.
Die doppelte Staatsbürgerschaft ist zwar nicht verboten, aber
es besteht die Vorstellung, dass ein Staat davon absehen sollte,
die Staatsbürgerschaft an eigene Volksangehörige im fremden
Staat, die dort eine Minderheit sind, „en masse“ zu verleihen –
dies ist gewissermaßen der Schlüsselsatz.

62
Doppelte Staatsbürgerschaft zum Schutz von Minderheiten

Diese Position zur doppelten Staatsbürgerschaft findet sich teil-


weise im Völkerrecht, wie wir bereits gesehen haben, sowie im
EU-Recht, das im Folgenden weiter zu Sprache kommen wird,
wieder. Auch wird noch die Frage der Staatsbürgerschaft im
Verfassungsrecht zu diskutieren sein.

Sowohl im Zusammenhang mit dem EU-Recht als auch mit dem So besagt z. B.
Verfassungsrecht kann ein – noch weiter auszubauendes – du- Artikel 22 der
ales Modell ins Spiel gebracht werden, nach dem die doppelte Charta, dass
die Union kultu-
Staatsbürgerschaft ebenfalls funktionieren könnte: das Modell der
relle, religiöse
supranationalen (über den Nationalstaaten stehenden) und das und sprachliche
Modell der infranationalen (unter den Nationalstaaten stehenden) Vielfalt respek-
Staatsbürgerschaft. Eine supranationale Staatsbürgerschaft wäre tieren muss.
für die Europäische Union interessant. Es sei daran erinnert, dass Gemäß dieser
Verpflichtung
auf Grund des EU-Rechts die Bürger der Europäischen Union bereits
könnten meines
Doppelstaatsbürger sind. Sie haben die Staatsangehörigkeit des Erachtens die
Nationalstaates, aber sie haben auch die Staatsangehörigkeit Angehörigen
der Europäischen Union. Dies scheint für niemanden ein Problem von nationalen
darzustellen und wirkt weder merkwürdig noch inakzeptabel, Minderheiten
innerhalb der
zumal die EU-Staatsangehörigkeit nationalen und ethnischen
EU dank einer
Minderheiten einige Rechte gewährt. Diese Rechte sind im Vertrag supranationa-
über die Europäische Union, im Vertrag über die Arbeitsweise der len Staatsbür-
Europäischen Union sowie in der Charta der Grundrechte der gerschaft bes-
Europäischen Union festgeschrieben. So besagt z. B. Artikel 22 ser geschützt
werden.
der Charta, dass die Union kulturelle, religiöse und sprachliche
Vielfalt respektieren muss. Gemäß dieser Verpflichtung könnten
meines Erachtens die Angehörigen von nationalen Minderheiten
innerhalb der EU dank einer supranationalen Staatsbürgerschaft
besser geschützt werden. Vielfach ist dieser Artikel von der Euro-
päischen Union noch nicht umgesetzt worden, aber er könnte
eine Schlüsselrolle beim Schutz von Minderheiten innerhalb der
Europäischen Union einnehmen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass
sich der Europäische Gerichtshof für eine breite Interpretation
offen zeigen wird.

Abschließend möchte ich noch kurz auf die doppelte Staats-


bürgerschaft aus der Sicht des Verfassungsrechts eingehen. Die
Frage, in wie vielen Verfassungen weltweit die doppelte Staats-
bürgerschaft Erwähnung findet, kann erst nach umfangreichen
Forschungen beantwortet werden. Es kann jedoch festgehalten
werden, dass manche Verfassungen das Modell der doppelten
Staatsbürgerschaft, einschließlich jener für Minderheiten, durch-

63
Daniel Turp

aus akzeptieren und auch praktizieren. Manche Staaten, zum


Beispiel Kanada, beschäftigen sich mit dieser Frage nicht in der
Verfassung, sondern in der Gesetzgebung.

Interessant aus der Sicht des Verfassungsrechts ist die infrana-


tionale Staatsbürgerschaft. Sie wäre eine neuartige Form der
Die infranati- doppelten Staatsbürgerschaft in Staaten, in denen nationale
onale Staats-
Minderheiten leben. In föderalistischen Staaten gibt es einige
bürgerschaft
könnte insofern Beispiele für solche infranationalen Staatsbürgerschaften: Arti-
als Mittel des kel 6 der Verfassung der Republik und des Kantons Genf sieht
Minderhei- beispielsweise eine „nationalité genevoise“ vor, was mit „Genfer
tenschutzes Bürgerrecht“ übersetzt wird. Artikel 8 der Verfassung des Freistaats
verwendet
Bayern spricht von „bayerischen Staatsangehörigen“. Artikel 8
werden, als mit
ihr bestimmte der Nisga’a-Verfassung gewährt kanadischen Staatsbürgern, die
Rechte geltend dem indigenen Volk der Nisga’a angehören, die Nisga’a-Staats-
gemacht wer- bürgerschaft. Schließlich gibt es in Artikel 10 des Gesetzentwurfs
den könnten. Nr. 195 Québec Identity Act der Quebecer Nationalversammlung
Ist zum Beispiel
aus dem Jahr 2007 noch den Vorschlag, eine Quebecer Staats-
die Kenntnis
der Sprache bürgerschaft im kanadischen Bundeskontext einzuführen. Die
der Minderheit infranationale Staatsbürgerschaft könnte insofern als Mittel des
Voraussetzung Minderheitenschutzes verwendet werden, als mit ihr bestimmte
für die infrana- Rechte geltend gemacht werden könnten. Ist zum Beispiel die
tionale Staats-
Kenntnis der Sprache der Minderheit Voraussetzung für die infra-
bürgerschaft,
kann man nationale Staatsbürgerschaft, kann man sich auf diese berufen,
sich auf diese wenn es darum geht, die Sprache der Minderheit zu schützen und
berufen, wenn deren Identität und Kultur zu erhalten. Es wäre zu überlegen, ob
es darum geht, dieses Modell auch für Südtirol interessant sein könnte.
die Sprache der
Minderheit zu
schützen und
deren Identität
und Kultur zu
erhalten.

64
JAN DIEDRICHSEN

Neue Zeiten im Norden:


Dänemark ermöglicht doppelte Staatsbürgerschaft.

Das Thema doppelte Staatsbürgerschaft ist aus dänischer Pers-


pektive höchst aktuell, da es im deutsch-dänischen Grenzland
zum ersten Mal seriös diskutiert wird. Dabei kann es aus zwei
Perspektiven betrachtet werden: einerseits aus der Perspektive
des Leiters des Sekretariats der deutschen Minderheit in der dä-
nischen Regierung und im dänischen Parlament, wo ich mit den
Regierungsvertretern und Abgeordneten seit nunmehr fast zehn
Jahren zusammenspiele, andererseits aus der Perspektive eines
Kämpfers auf europäischer Ebene, wo ich mich u. a., innerhalb
der Föderalistischen Union Europäischer Völker (FUEV), seit sechs
Jahren für Minderheitenrechte einsetze und dies weiterhin zu tun
gedenke. Ferner ist die doppelte Staatsbürgerschaft zum einen
eine rechtliche, zum anderen aber vor allem eine emotionale
Frage – zumindest für sehr viele Minderheiten, darunter auch die
deutsche Minderheit in Dänemark, der ich angehöre.

Die doppelte Staatsbürgerschaft war für uns Deutsche in Dä-


nemark nie ein Thema, schon gar nicht aus der Sicht des Min-
derheitenrechts. In diesem Zusammenhang die Geschichte im
deutsch-dänischen Grenzland in ihren Einzelheiten zu beleuch-
ten, würde jedoch zu weit führen. Es sei lediglich daran erinnert,
dass der nationale Kampf zwischen Dänen und Deutschen im
Grenzland, so wie in manch anderen Minderheitenregionen,
über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, äußerst hart geführt wurde.
Unter der jeweiligen Besatzung kursierten viele Geschichten,
die letztendlich häufig dazu dienten, die Minderheiten für einen
nationalen Kampf zu instrumentalisieren. Um eine lange Ge-
schichte sehr kurz zu machen: Nach 1945 dauerte es nur zehn
Jahre, bis Dänemark und Deutschland wieder zueinander fan-
den. Im Gegensatz zu jenen Deutschen, die in den ehemaligen
deutschen Ostgebieten zurückgeblieben waren, war es für uns
als deutsche Minderheit in Dänemark das große Glück, dass
wir nicht auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs lebten.
Deutschland und Dänemark haben sich im Jahr 1955 gemeinsam
hingesetzt und sich in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen auf
Minderheitenrechte geeinigt. Bei diesen Erklärungen handelt es

65
Jan Diedrichsen

sich um zwei separate Regierungserklärungen von


Deutschland und Dänemark, die völkerrechtlich
nicht bindend sind und keinen Vertragscharakter,
sondern nur empfehlenden Charakter haben. Sons-
tige minderheitenbezogene Vereinbarungen, die D Ä N E-
schriftlich festgelegt wären, liegen kaum vor. Die MARK
deutsche Minderheit in Dänemark findet somit
weder Erwähnung in der Verfassung, noch profi-
tiert sie von einem Minderheitengesetz. Dennoch
haben die Bonn-Kopenhagener Erklärungen ein
Modell geschaffen, demzufolge beide Staaten
auf ihre Minderheit auf der jeweils anderen Seite
der Grenze achten sollen. Dies hat man akzeptiert
und nach und nach umgesetzt. Die Umsetzung
ist nach dem so genannten „Check
and Balances“-System vonstatten
gegangen. Etwas platt formuliert
heißt dies: Wenn die Dänen den
Deutschen etwas Böses antun,
dann tun auch die Deutschen den
Dänen etwas Böses. Und wenn die
Deutschen etwas Gutes kriegen, dann
müssen die Dänen auch etwas Gutes kriegen.

Besagtes Verhandlungsmodell hat sich rückblickend als Erfolgs-


modell erwiesen, da es sehr gut funktioniert. Zudem hat es eine
Grundkonstante, deren Inhalt de facto leer ist: die Bekenntnis-
freiheit. Diese bedeutet, dass das Bekenntnis zur Volkszugehö-
rigkeit frei ist und von Amts wegen nicht überprüft werden darf.
Beispielsweise in Dänemark darf man demnach nicht gefragt
werden, ob man Däne oder Deutscher ist, oder ob man Friese
oder Sinti ist. Für Außenstehende, besonders auch für Südtiroler,
mag dieses Prinzip der Bekenntnisfreiheit, das bis in die höchs-
ten Ebenen gilt, schwer zu verstehen sein, da es dem in Südtirol
etablierten Proporzsystem sozusagen entgegengesetzt ist. Es sei
an einen Fall erinnert, wo ein Bürgermeister in Dänemark meinte,
es müsse geprüft werden, ob unsere deutschen Schulen, zumal
diese eine besondere finanzielle Förderung in Anspruch nehmen,
tatsächlich auch von deutschen Kindern besucht werden oder
ob sich auch dänische Kinder daruntermischen. Die Forderung
des Bürgermeisters wurde nicht erfüllt, denn auch in diesem Fall
berief man sich auf das Prinzip der Bekenntnisfreiheit.

66
Deutsche Minderheit in Dänemark

Nun steht die deutsche Minderheit vor einer neuen Herausforde-


rung: die doppelte Staatsbürgerschaft. Aktuell sehr häufig wird
gefragt: Welche Kriterien werden für die Vergabe der Staats-
bürgerschaft an eine Minderheit angesetzt? Wie will man nach
dem Prinzip der Bekenntnisfreiheit feststellen, wer zur Minderheit
gehört und wer nicht? Derartige Fragen hatten sich bislang in
Seit dem 1.
Dänemark erübrigt, weil doppelte Staatsbürgerschaften gesetzlich
September 2015
nicht zugelassen waren. Wollte man Däne werden, musste man erkennt Däne-
die bisherige Staatsbürgerschaft abgeben. Es galten auch keine mark die dop-
Sonderregelungen. Doch nachdem in Deutschland seit dem pelte Staats-
1. Dezember 2014 das neue Staatsangehörigkeitsgesetz angehörigkeit
im Verhältnis zu
in Kraft ist, kommt auch in Dänemark Bewegung in die
anderen EU-Mit-
Sache: Seit dem 1. September 2015 erkennt Dänemark gliedsstaaten
die doppelte Staatsangehörigkeit im Verhältnis zu an. Wenn
anderen EU-Mitgliedsstaaten an. Wenn sich deut- sich deutsche
sche Staatsangehörige in Dänemark einbürgern Staatsangehöri-
ge in Dänemark
lassen möchten, müssen sie weder ihre deutsche
einbürgern
Staatsbürgerschaft aufgeben noch eine Beibe- lassen möch-
D EUTSC H - haltungsgenehmigung vorlegen. ten, müssen

LAND Doch was für Auswirkungen hat die neue


sie weder
ihre deutsche
Staatsbürger-
Gesetzeslage auf die dänische Minderheit
schaft aufge-
in Südschleswig und die deutsche Minder- ben noch eine
heit in Nordschleswig? Erstere sind per de- Beibehaltungs-
finitionem deutsche Staatsbürger, so wie ich genehmigung
dänischer Staatsbürger bin. Die dänische Minderheit vorlegen.
in Südschleswig reagierte durchaus positiv. Eine zweite Staats-
bürgerschaft zu beantragen, findet sie jedoch weniger vor dem
minderheitenrechtlichen Hintergrund interessant, sondern vor
allem deshalb, weil eine zusätzliche Möglichkeit geschaffen
wird, die Identität zu stärken und die Verbundenheit mit dem
Mutterland zu unterstreichen.
Feststeht soweit,
dass das däni-
Feststeht soweit, dass das dänische Parlament für das Modell der sche Parlament
doppelten Staatsbürgerschaft sich nunmehr grundsätzlich offen für das Modell
zeigt. Doch da die dänische Minderheit in Südschleswig keinen der doppelten
Wohnsitz in Dänemark hat, müsste als Nächstes eine Änderung Staatsbürger-
schaft sich
in der Gesetzgebung vorgenommen werden. Mit diesem Vor-
nunmehr grund-
haben geht – und damit sind wir wieder bei dem bereits ange- sätzlich offen
sprochenen „Check and Balances“-System – dieselbe Forderung zeigt.
an Deutschland einher. Für Deutschland ergibt sich hierbei das

67
Jan Diedrichsen

Problem, dass Deutschland noch weitere deutsche Minderheiten


in Europa hat. Mit der Eröffnung dieser Diskussion befinden wir uns
meines Erachtens in einem der wichtigsten politischen Prozesse
seit 1955, wenn es um die Entwicklung der faktischen Rechte der
Minderheiten im deutsch-dänischen Grenzland geht. Allerdings ist
der Begriff „Recht“ in diesem Zusammenhang meines Erachtens
insofern irreführend, als eine zusätzliche Staatsbürgerschaft auf die
beiden jeweiligen Minderheiten keine rechtlichen Einflüsse haben
wird. Beide Minderheiten sind so gut abgesichert, dass in recht-
licher Hinsicht die zweite Staatsbürgerschaft keine Rolle spielen
würde. Dies bedeutet aber nicht, dass sie nicht wesentlich wäre.

Als Angehöriger der deutschen Minderheit würde ich mich über


die Möglichkeit, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen,
sehr freuen. Aber das im Laufe von über 60 Jahren gewachsene
Wäre noch vor
deutsch-dänische Grenzlandmodell, das auf der Bekenntnisfrei-
zwanzig oder heit fußt, dürfte für einen zweiten Pass keinesfalls aufgegeben
dreißig Jahren werden. Genau derart inhaltlich interessante und aber zum Teil
die doppelte auch sehr kontroverse Diskussionen sind zur Zeit im Gange, und
Staatsbürger- dabei ist man, besonders wie in der jüngeren Vergangenheit, stets
schaft Thema
der politischen
um gegenseitige Verständigung bemüht. Wäre noch vor zwanzig
Diskussion oder dreißig Jahren die doppelte Staatsbürgerschaft Thema der
gewesen, wäre politischen Diskussion gewesen, wäre sie ein Fall für die nationalen
sie ein Fall für Parlamente geworden, und man hätte sich den Vorwurf einge-
die nationalen handelt, dass man die Minderheiten instrumentalisieren wolle.
Parlamente
geworden, und
In der Zwischenzeit wurde jedoch zwischen Deutschland und
man hätte sich Dänemark ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, auf dessen Basis
den Vorwurf bislang die Probleme immer gelöst werden konnten.
eingehandelt,
dass man die Wie sich die Möglichkeiten rund um die doppelte Staatsbürger-
Minderheiten
instrumentalisie-
schaft speziell für die jeweilige Minderheit in fünf oder sechs Jahren
ren wolle. entwickelt haben werden, bzw. welche gesetzlichen Regelungen
konkret gelten werden, bleibt abzusehen – ebenso, ob eine
zweite Staatsbürgerschaft von den Minderheiten entsprechend
gewünscht sein wird. Nicht nur die Perspektiven, aus denen man
sich dieser Thematik nähert, sondern auch deren Umsetzungen
sind weltweit recht unterschiedlich. Es sei zum Beispiel an Polen
erinnert, wo die doppelte Staatsbürgerschaft weder offiziell ver-
boten noch offiziell erlaubt ist, sondern toleriert wird und sich
daher in einem Graubereich befindet.

68
Deutsche Minderheit in Dänemark

Abschließend möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass


es für uns als deutsche Minderheit entscheidend ist, dass das
gewachsene historische Modell, das wir im deutsch-dänischen
Grenzland leben, nicht in Frage gestellt wird durch die Mög-
lichkeit des Erwerbs der doppelten Staatsbürgerschaft als Akt,
der zwar grundsätzlich wichtig ist, doch dem in unserem Fall nur
eine symbolische Bedeutung zukäme. Europas Minderheiten
sind vielfältig, weshalb jede Situation in Europa individuell zu
beleuchten ist. Entsprechend zu unterscheiden ist beispielsweise
die Situation der 20.000 bis 25.000 Deutschen in Dänemark von
jener der Südtiroler, die über eine Mehrheitsautonomie verfügen.
Auch gilt es, sich im Rahmen des Völkerrechts zu bewegen und
vor allem die Staaten für die doppelte Staatsbürgerschaft zu ge-
winnen. Wenn die Staaten in dieser Frage nicht mitspielen, kann
es ein sehr harter Kampf werden. Doch genau diesen zeichnen
wiederum Minderheiten aus. Schließlich gibt es auch Kämpfe, die
wir durchaus gewinnen können, und ich bin ganz zuversichtlich,
dass uns dies in diesem Fall gelingen wird.

69
ANDREA CARTENY

Zugänge zu doppelten Staatsbürgerschaften


in den Donauregionen: Die Fälle Slowakei,
Rumänien und Moldawien.

Mein Beitrag versteht sich, angesichts der Komplexität des The-


mas, als Einführung. Den Schwerpunkt bildet dabei der historische
Zugang zur doppelten Staatsbürgerschaft und damit auch der
Zugang zu einer Kultur des Gespürs für Toleranz sowie des Respekts
vor der Staatsbürgerschaft im Sinne einer Nationalität innerhalb
der Donauregionen. Dies deshalb, weil – wie bereits aus anderen
Beiträgen interessanterweise hervorgeht – die Frage der doppel-
ten Staatsbürgerschaft mit Umsicht zu behandeln ist, um eben
unerwünschten Reaktionen von Seiten der Regierungen vorzu-
beugen. Vielmehr geht es darum, für Respekt vor dem Gefühl
für die Wertschätzung der individuellen und kollektiven Rechte
zu sensibilisieren. Das kollektive Recht unter Rücksichtnahme auf
die eigene Identität ist ein in den Donau- und Balkanregionen
sehr präsentes und stark gefühltes Thema. Die geografischen
Schwerpunkte meiner Ausführungen liegen auf der Slowakei,
Rumänien und Moldawien. Warum?

Mein Forschungsgebiet ist die Geschichte Osteuropas, insbeson-


dere jene der Ungarn im Karpatenbecken. Unter anderem habe
ich in Siebenbürgen studiert, und deshalb habe ich die dortige
Situation zum Teil auch miterlebt. Die Frage der Ungarn im Karpa-
tenbecken ruft positive wie negative Empfindlichkeiten hervor,
sowohl in der Slowakei als auch in Rumänien und Moldawien.

Die Slowakei bzw. die Slowaken sind in mehrerlei Hinsicht inter-


essant: Der Süden der Slowakei ist ungarisches Siedlungsgebiet
– dieser Streifen wird von früheren Historikern auch als „ethnischer
Block Oberungarns“ bezeichnet. Slowaken siedeln andererseits
als Minderheit in Ruthenien sowie in Siebenbürgen in Rumänien.
Ferner finden wir sie in Serbien, wo sie eine größere Gemeinschaft
mit einer stark ausgeprägten ethnisch-kulturellen Identität bilden.
Allerdings sind sie auf die Dörfer zerstreut, teilweise assimiliert, wo-
bei sie sich mittlerweile wieder auf ihre Wurzeln besinnen und ent-
sprechende Aktivitäten wieder aufgenommen haben. Die meis-

71
Andrea Carteny

ten Slowaken außerhalb der Slowakei siedeln auf ungarischem


Staatsgebiet, vornehmlich im Zentrum und im
Süden. Mit dem Bevölkerungsaustausch in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
wurde das Problem – glücklicherweise
– nicht gelöst, und zwar insofern, als im
Süden der Slowakei eine starke ungari-
sche Gemeinschaft geblieben ist, die
fast zu einem ethnischen Block ge-
worden ist, wenngleich sie früher
viel größer war. Innerhalb der
fünf Millionen zählenden Bevöl-
kerung der Slowakei macht die
ungarische Gemeinschaft heu-
te mehr als zehn Prozent aus.
Auf der anderen Seite gibt es
Das neue
ungarische die slowakischen Gemeinschaf-
Staatsbürger- ten außerhalb der Slowakei, SL O WA KEI
schaftsgesetz und diese bilden sozusagen
gestattete das Gegenstück, wenn es
es den au-
darum geht, für die Ungarn
ßerhalb des
ungarischen in der Südslowakei Autono- R UMÄ N I EN
Staatsgebietes mie einzufordern. Die Frage ist
siedelnden somit bekanntermaßen recht
Ungarn, nicht komplex und muss auf Grund
nur die unga-
der unterschiedlichen histori-
rische Staats-
bürgerschaft schen Gegebenheiten und der
zu erwerben, Rechtslagen, die in diesen Ländern anzu-
sondern auch, treffen sind, regionenspezifisch angegangen
einige Rechte werden. Um ein Beispiel zu nennen: Gleichzeitig
zuerkannt zu
mit der doppelten Staatsbürgerschaft wird deren
bekommen,
insbesondere Verbot diskutiert. Dies war unter anderem der Fall
das Recht, in der Slowakei. Dabei handelte es sich praktisch
ungarischer um eine Reaktion auf das von Ungarn im Jahr
Herkunft zu sein, 2010 eingeführte Gesetz zur doppelten Staats-
und dies unter
bürgerschaft für die außerhalb Ungarns leben-
Beibehaltung
der nicht-unga- den ethnischen Ungarn. Dieses Gesetz, das von der
rischen Staats- zweiten Orbánregierung auf den Weg gebracht worden
bürgerschaft. war, sorgte in der Slowakei für viel Aufsehen. Plötzlich war
von einem „Statusgesetz“ die Rede, einer Art Subnationalität
oder Unterstaatsbürgerschaft. Das neue ungarische Staatsbür-
gerschaftsgesetz gestattete es den außerhalb des ungarischen

72
Doppelte Staatsbürgerschaft in der Slowakei, Rumänien

Doppelte Staatsbürgerschaft in der Slowakei, Rumänien und Moldawien

Staatsgebietes siedelnden Ungarn, nicht nur die ungarische


Staatsbürgerschaft zu erwerben, sondern auch, einige Rechte
zuerkannt zu bekommen, insbesondere das Recht, ungarischer
Herkunft zu sein, und dies unter Beibehaltung der nicht-un-
garischen Staatsbürgerschaft. Das Gesetz wurde sehr
kontrovers diskutiert und auf politischer Ebene be-
kämpft, nicht nur in der Slowakei, teilweise auch in
Rumänien. Seit der Einführung des ungarischen
Gesetzes ist die Slowakei bemüht, dass die-
ses auf die slowakischen Staatsbür-
ger möglichst limitiert zur
Anwendung kommt.
Und das Thema be-
schäftigt auch die

M OLDAWIEN Juristen. Es geht um


die Frage, ob und
inwiefern die doppel-
te Staatsbürgerschaft als
Mittel zur Verletzung der
nationalen Souveränität
eingesetzt werden kann.
Mit dieser Frage werden sich
auch zukünftige Generationen
auseinandersetzen müssen. Dabei wird sicher-
gestellt werden müssen, dass der Grundsatz der
Solidarität keine Einschränkung des individuellen
und kollektiven Rechts der europäischen Bürger
oder grundsätzlich von Bürgern unter einer
demokratischen Regierung bedeutet. Vor die-
sem Hintergrund wurde in der Slowakei über die
doppelte Staatsbürgerschaft diskutiert.

Allerdings war den Slowaken das Modell der doppel-


ten Staatsbürgerschaft nicht unbekannt. Es existierte
bereits in der Tschechoslowakei und baute auf die
österreichisch-ungarische Tradition auf, deren Ansatz
darin bestand, die lokalen Nationalitäten mit der
österreichisch-ungarischen Staatsbürgerschaft zu
verknüpfen. Mit letzterer wurde weniger die nationale
Identität als vielmehr die Treue zur Monarchie zum Ausdruck ge-
bracht. Dies war bekanntermaßen bis vor dem Ersten Weltkrieg
im gesamten Habsburgerreich der Fall. Mit dem System der

73
Andrea Carteny

Nachfolgestaaten hat sich die Sachlage geändert, doch die


Rechtskultur ist in diesen Regionen teilweise geblieben. Aus die-
sem Grund mag die heftige Reaktion der Slowakei im Jahr 2010
befremdlich erscheinen, zumal die Regierung Fico in anderen
Situationen bereits durchaus Pragmatismus an den Tag gelegt
hatte. Die Anwendung der ungarischen Staatsbürgerschaft auf die
eigenen Bürger einzuschränken, zeugt von einem nationalistischen
Ansatz. Und dieser kommt nicht von ungefähr: In einem von der
europäischen Universität Fiesole vorgelegten Bericht wird darauf
hingewiesen, dass das Konzept der Staatsbürgerschaft und jenes
der Nationalität oder eines Volkes oft verwechselt werden. Hinter
Die Tschechen dieser Verwirrung mag die Absicht stecken, eine Art Heiligkeit der
beantragen Rechte des Staates oder der Loyalität eines Bürgers als unantas-
die slowakische
tbar zu rechtfertigen. Und somit ergibt sich in der Slowakei das
Staats-
bürgerschaft, Problem paradoxerweise nicht so sehr gegen die Ungarn, sondern
oder die hingegen deutlicher gegenüber den Tschechen. Nach 1918
Slowaken und 1992/93 mit der Teilung der tschechoslowakischen Republik
beantragen die gab es nunmehr zum Beispiel viele Mischfamilien. Die gegensei-
tschechische.
tige Nähe der Sprachen hatte zu einer starken gegenseitigen
Abhängigkeit geführt, ebenso zu einer starken Mobilität. Daher
sind es bis heute nicht Wenige, die, obwohl die Grenze – die so
genannte ethnisch-sprachliche Grenze – ziemlich genau festge-
legt ist, die jeweils andere Staatsbürgerschaft beantragen können
und damit über zwei Staatsbürgerschaften verfügen dürfen. Die
Tschechen beantragen die slowakische Staatsbürgerschaft, oder
die Slowaken beantragen die tschechische. Doch in Tschechi-
en ist, im Gegensatz zur Slowakei, der Zugang zur doppelten
Staatsbürgerschaft mehr im Einklang zu dem, was bis 1969 eine
tschechoslowakische Staatsbürgerschaft ausmachte. Nach 1968
wurde unter dem sozialistischen Regime das Land föderalisiert.
Ebenso wurde der Kontext für eine tschechische oder slowakische
Staatsbürgerschaft innerhalb des tschechoslowakischen Staates
rechtmäßig begründet. Nun bestand die Möglichkeit, beide
Identitäten anzuerkennen. Offen behielt man sich aber auch
die Möglichkeit des Vorhandenseins von unterschiedlichen Emp-
findlichkeiten in der Frage der Zugehörigkeit. Die diesbezügliche
Einstellung der Slowakei ist vergleichsweise restriktiver. Für jene,
die die Staatsbürgerschaft erwerben wollen, gilt es es, – so, wie
wir später hören werden, auch in Rumänien – einen Eid zu leisten.
Jene, die bereits im Besitz der Staatsbürgerschaft sind, müssen
dies nicht tun. Es ist bezeichnend, dass jedoch im ersteren Fall
auf gesetzlicher Ebene der Beweis der Loyalität eines Bürgers

74
Doppelte Staatsbürgerschaft in der Slowakei, Rumänien und Moldawien

gegenüber seinem Saat erbracht werden muss. Nach welchem


Grundsatz wird somit beispielsweise die doppelte ungarische
Staatsbürgerschaft bekämpft? Wenn jemand als slowakischer
Staatsbürger der Südslowakei beispielsweise völlig natürlich Szabó
Kovács heißt, also einen typisch ungarischen Namen trägt, be-
sucht er auch die ungarische Schule und lebt in einer Region, in
der der ungarische Anteil über 90 Prozent ausmacht. Doch wenn
diese Person als slowakischer Staatsbürger sich auf ihre ungarische
Volkszugehörigkeit berufend ungarischer Staatsbürger werden
will, verstößt sie gegen das Prinzip der politischen Nation, genau
genommen, gegen das französische Prinzip der Zugehörigkeit zur
politischen Nation getreu dem Zitat von Ernest Renan: „La nation,
c’est un plébiscite de tous les jours“ – „die Nation ist ein tägliches
Plebiszit“. Das heißt, jeden Tag will ich Teil der französischen
Nation sein. Es darf also nicht sein, dass jemand einer anderen
Nation oder einem anderen Staat angehören will. Darüber hinaus
ergeben sich im Verlauf der Geschichte Fragen, die immer ein
bisschen schwierig sind. Beispielsweise erließ die Slowakei unmit-
telbar nach dem ungarischen Gesetz eine Gesetzesänderung,
um gegen den Antrag auf die ungarische Staatsbürgerschaft
vorzugehen. Der Antrag auf die ungarische Staatsbürgerschaft
wurde meldungspflichtig. Wird er nicht gemeldet, macht man
sich strafbar. Wird er freiwillig gemeldet, verliert man die bisherige
Staatsbürgerschaft. Genau dies ist auf der Grundlage von einigen
Gesetzesänderungen geschehen. Dies hatte natürlich Einsprüche
zur Folge, ebenso weitere Gesetzesanpassungen und Änderun-
gen. Hierbei stellte sich zum Beispiel heraus, dass diejenigen, die
auf der Grundlage der vorangegangenen Gesetze die doppelte
Staatsbürgerschaft beantragt hatten, nicht betroffen waren. Die
Gesetzesänderungen galten nämlich nicht rückwirkend. Dies
hätte jedoch auch anders sein können, denn wenn jemand, zu
seinem eigenen Prinzip gelangend, Teil eines Staates sein will, der
nicht seiner ist, kann er als Feind des Staates bezeichnet werden.
Handelt es sich hierbei um Terrorismus? Nein, denn zum Terrorismus
gibt es spezielle Gesetze, die mittlerweile recht verbreitet sind.
Mitunter dienen sie auch dazu – zu Recht oder zu Unrecht – die
Meinungs- oder Handlungsfreiheit einzuschränken. Und dies war
in etwa auch der Zugang in der Slowakei. Allerdings handelt es
sich dabei vielmehr um eine Sache zwischen den Staaten als un-
ter der Bevölkerung. Derartige Situationen werden letzten Endes
politisch genutzt, um ein Niveau des Konsenses zu halten, etwa
im Verwaltungsapparat und in den Sektoren einer Gesellschaft

75
Andrea Carteny

mit nationalistischen Ansätzen. In der Slowakei ist die Frage der


ungarischen Staatsbürgerschaft sicherlich auch deshalb zum Prob-
lem geworden, zumal sie den Ansatz zu einer Territorialautonomie
bedeuten würde. Eine diesbezügliche Diskussion wird tunlichst
gemieden, weil man die Gefahr einer Sezession befürchtet.

Dasselbe gilt übrigens für Rumänien, und die Befürchtung kommt


nicht von ungefähr. Man erinnert sich immer noch an den Ersten
Wiener Schiedsspruch von 1938 (mit dem Gebiete mit ungarischer
Bevölkerungsmehrheit in der Südslowakei und in der Karpatoukraine
von der Tschechoslowakei abgetrennt und Ungarn zugesprochen
wurden) sowie an den Zweiten Wiener Schiedsspruch von 1940
(mit dem Rumänien vom nationalsozialistischen Deutschen Reich
und vom faschistischen Italien gezwungen wurde, u. a. einen Teil
Siebenbürgens an Ungarn abzutreten). Über bestimmte Fragen
darf daher nicht geredet werden. Pressburgs kühle Haltung und
Versteifung, die letztlich in der Gesetzesänderung zur doppelten
Staatsbürgerschaft gipfelte, ist eben auch vor diesem Hintergrund
zu sehen.

Zudem müssen viele Angehörige der ungarischen Gemeinschaft


– Angehörige somit, die direkt vor Ort wohnen – jeden Tag mit
diesen Gegebenheiten leben. Einige finden, dass das Staats-
bürgerschaftsgesetz von der Orbánregierung nicht klug war,
weil sie sich vorher mit ihnen nicht abgesprochen hatte. Es geht
immer um die übliche Frage: Sollte man eher pragmatisch sein,
in kleinen Schritten die Dinge angehen, um besser überleben zu
können, oder sollte man reißerisch vorgehen, um mehr Aufmerk-
samkeit zu erlangen und um auch gewissermaßen die Frage zu
internationalisieren? Vor demselben Problem stehen Rumänien
und Moldawien. Im Folgenden werde ich insbesondere den ru-
mänischen Umgang mit dieser Thematik beschreiben. Warum?
Rumänien und Moldawien haben, so wie die Slowakei und Tsche-
chien, einen gemeinsamen Vorgängerstaat: Großrumänien,
das am 1. Dezember 1918 entstand. Seit März 1918 gibt es das
Rumänische Nationalkomitee (im vergangenen Jahr fand in Rom
– in einem für die rumänische Gemeinde im Grunde peripheren
Ort – eine Feier des Rumänischen Nationalkomitees statt, und
diese wurde als erste Proklamation der Bessarabien-Union mit
Rumänien angesehen). Die Verfassung des einstigen Rumäniens –
vom großen Königreich bis zum Königreich Großrumänien – ist ein
historischer Bezugspunkt mit einem hohen emotionalen Wert für

76
Doppelte Staatsbürgerschaft in der Slowakei, Rumänien und Moldawien

die gesamte rumänische Welt. Dies nicht nur für die Moldawier,
sondern auch für die Rumänen im ukrainischen Czernowitz – die
Die Staatsbür-
Rumänen im Norden; ebenso für die Rumänen der Donauregio-
gerschaft und
nen, beispielsweise der Donaumündung. Vor diesem Hintergrund eine Nationa-
wird klar, dass auch hier das Prinzip des „ius sanguinis“, das Ab- lität kann also
stammungsprinzip, gilt. Die Staatsbürgerschaft und eine Nationa- unter Berufung
lität kann also unter Berufung auf die eigenen Vorfahren, deren auf die eigenen
Vorfahren, de-
rumänische Staatsangehörigkeit oder Nationalität zu erweisen ist,
ren rumänische
geltend gemacht werden. Das Kriterium ist demnach in diesem Staatsange-
Fall ebenfalls die gemeinsame Geschichte. Dies bedeutet in der hörigkeit oder
Praxis, dass, wie übrigens in sämtlichen Zeitungen berichtet wur- Nationalität zu
de, alle Moldawier rumänische Vorfahren nachweisen können. erweisen ist, gel-
tend gemacht
Konkret also: Wenn aus den Registern, Namen und Dokumen-
werden.
ten tatsächlich hervorgeht, dass jemand seit Generationen in
Moldawien lebt, dann können im Grunde all diese Personen die
rumänische Staatsbürgerschaft erwerben. Diese neue Möglichkeit
hat einen kleinen Schwarzmarkt geschaffen, der in den letzten
Jahren regelrecht explodiert ist. Die Frage der rumänischen
Staatsbürgerschaft für die Bürger der Republik Moldawien ist
bis heute sehr im Umlauf. Was bedeutet es für einen Moldawier,
der sich ansonsten eigentlich kaum für die Staatsbürgerschaft
interessiert, die rumänische Staatsbürgerschaft zu erwerben? Er
tritt in die Europäische Union ein, und von der Europäischen Uni-
on in den Schengenraum. Er betreibt Handel und kann sich frei
bewegen. Das heißt, er genießt eine Reihe von Vorteilen, was er
als Moldawier aus der ehemaligen Sowjetunion nicht tut. Diese
Vorzüge haben zu einer hohen, vielleicht zu hohen Anzahl von
Ansuchen um die rumänische Staatsbürgerschaft geführt. Ein
Teil der Ansuchen wurde, wie sich später herausstellte, auf der
Basis von Dokumentationen angenommen, die gekauft waren. Alle, die nach
Es kam zu einem Pass-Skandal. Doch was uns interessieren sollte, dem Abstam-
ist nicht dieser Pass-Skandal als solches, sondern vielmehr der in mungsprinzip
diesem Zusammenhang geführte politische Diskurs. Es geht um nachweisen
können, dass
die Frage, wann die Vergabe der doppelten Staatsbürgerschaft
sie zurück bis zur
effektiv notwendig und wie diese effektiv zu verwalten ist. Alle, dritten Gene-
die nach dem Abstammungsprinzip nachweisen können, dass ration rumäni-
sie zurück bis zur dritten Generation rumänische Vorfahren ha- sche Vorfahren
ben, können die rumänische Staatsbürgerschaft beantragen. haben, können
die rumänische
Gewissermaßen als Garantie dafür müssen sie die Hingabe an
Staatsbürger-
das rumänische Land und an das rumänische Volk schwören. schaft beantra-
Wozu hat dies geführt? Dies hat zu einem Wahlmotiv geführt, gen.
das wir auch von den Auslandsungarn kennen. Auf Grund der

77
Andrea Carteny

für sie günstigen Rechte neigen sie dazu, die Orbánregierung


bzw. deren Partei Fidesz („Ungarischer Bürgerbund“) zu wählen.
Ähnlich bringen in Rumänien die Staatsbürgerschaftspolitik und
der Ausbau des Einflusses Rumäniens auf die Republik Molda-
wien die neuen im Ausland lebenden rumänischen Staatsbürger
dazu, für die Regierungspartei zu stimmen. In diesem Fall ist es
die demokratische Partei von Traian Băsescu, der in seiner Zeit
als Präsident (2004–2014) diese Bevölkerungsschicht im Wähler-
becken hatte. In den letzten Jahren kam es bis zu einer halben
Million Anfragen. Diese Zahl ist, angesichts der 22 Millionen Ru-
mänen, die im Land selbst sowie der anderthalb Millionen, die
im Ausland leben, überschaubar. Aber aus politischer Sicht kann
Jene Ungarn, sie interessant sein. Auf der anderen Seite kommen die Ungarn
die die unga-
in Rumänien auf die annähernd gleiche Zahl. Wie hoch sie ge-
rische Staats-
bürgerschaft nau ist, weiß man nicht, doch sie ist im Sinken begriffen. Jene
beantragen, Ungarn, die die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen,
machen höchs- machen höchstens eine halbe Million aus. Es ist also nicht die
tens eine halbe gesamte Gemeinschaft, die geschlossen agiert. Auch dies gilt
Million aus. Es
es zur Kenntnis zu nehmen. In der Slowakei beispielsweise gibt es
ist also nicht
die gesamte sehr wenige Antragsteller. Im Gegensatz zur Slowakei gewährt
Gemeinschaft, Rumänien durchaus die zweite Staatsbürgerschaft, tendiert aber
die geschlossen dennoch zu gewissen Einwänden, zum Beispiel bei der Dokumen-
agiert. tation. Es gelten Regeln, denen zufolge vom anderen Land, das
die Souveränität ausübt und die Zuständigkeit besitzt, verlangt
wird, Dokumentationen, Beweise und Zeugnisse vorzulegen. Dies
bedeutet jedoch nicht, dass es zur doppelten Staatsbürgerschaft
einen negativen Zugang geben würde. Aber es zeigt sich, dass
in Rumänien die ungarische Staatsbürgerschaft für die eigenen
rumänischen Staatsbürger negativer eingestuft wird als die ru-
mänische Staatsbürgerschaft für die Moldawier. Die Moldawier
leben in einer Gemeinschaft mit den Slawen, die immerhin 30, 40
Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Der slawische Teil
der moldawischen Bevölkerung hat auch ein politisches Gewicht
und hat die doppelte Staatsbürgerschaft verurteilt. Es wurde ar-
gumentiert, dass die zweite Staatsbürgerschaft – obwohl diese für
moldawische Staatsbürger gesetzlich vorgesehen ist – Ausdruck
der Loyalität gegenüber einem Staat ist, von dem man nicht
regiert wird und für den man keine Regierungsverantwortung
übernehmen kann. Diese Diskussion ist äußerst interessant, denn
es geht hierbei um das Ausmaß der Loyalität und der Rechte
innerhalb eines Konzeptes. Das moldawische Parlament verab-
schiedete im Jahr 2007 ein Gesetz, dass es Bürgern mit doppelter

78
Doppelte Staatsbürgerschaft in der Slowakei, Rumänien und Moldawien

Staatsangehörigkeit untersagte, öffentliche Stellen zu bekleiden


und im Parlament ein politisches Mandat auszuüben. Daraufhin
haben moldawische Abgeordnete mit moldawisch-rumänischer
Doppelstaatsbürgerschaft Klage beim Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte eingereicht. Sie argumentierten, dass durch
dieses Gesetz Unterschiede zwischen Bürgern desselben Staates
geschaffen würden. Die Klage wurde angenommen. Es klingt
paradox, aber erst unter Bezugnahme auf die Gleichheit der
Bürger unter ein- und derselben Staatshoheit erwirkt man dieses
Recht, das von derselben Hoheit verneint wurde. Juristen mögen
einmal mehr davon beeindruckt sein, wie man sich ein- und
demselben Gesetz aus der rechtlichen Sicht einer Person und
weniger hingegen aus der Sicht eines Staates nähert.

Zum Abschluss sei noch einmal auf den in der Politologie beste-
henden Unterschied zwischen Nation und Staat, zwischen Natio-
nalität und Staatsbürgerschaft hingewiesen, doch aus rechtlicher
Sicht gelingt es nicht, diese Unterschiede auch anzuwenden. In
diesem Zusammenhang sei an einen Entwurf für ein baskisches
Statut erinnert, in dem ein Unterschied zwischen der baskischen
Staatsbürgerschaft und der baskischen Nationalität vorgesehen
war, und zwar im folgenden Sinne: Zu den baskischen Bürgern
zählen alle im Baskenland ansässigen spanischen Staatsbürger;
die baskische Nationalität besitzen aber nur jene Bürger, die sich
einer baskischen Familie und der baskischen Sprache rühmen
können. Besagter Statutsentwurf passierte nicht einmal die ers-
te Gerichtsinstanz, eben deshalb, weil er eine Unterscheidung
zwischen Bürgern desselben Staates schuf. Dennoch war der
Entwurf interessant. Mit diesem wurde nämlich erstmals versucht,
im europäischen Rechtsrahmen einen Unterschied zu integrieren,
der in der akademischen Debatte durchaus gemacht wird. Ihn
jedoch auf die Rechtsstrukturen anzuwenden, ist schwierig.

79
ALEXANDRA VON SCHANTZ

Doppelte Staatsbürgerschaft in Finnland


und das åländische „Hembygdsrätt“.

Finnland ist ein zweisprachiges Land, in dem ungefähr fünf bis sechs
Prozent der Bevölkerung Schwedisch als Muttersprache sprechen.
Åland, die Inselgruppe zwischen Finnland und Schweden, gehört
zu Finnland und ist als autonome Region bekannt. Im Jahr 1856
nach dem Krimkrieg wurde Åland für entmilitarisiert und 1921 für
neutralisiert erklärt. 1920 wurde den Ålandinseln vom finnischen
Parlament eine weitreichende Autonomie gewährt. Laut Gesetz
ist Åland die einzige einsprachig schwedische Region Finnlands.

Autonom zu sein, bedeutet für uns Åländer, dass unsere Inselgrup-


pe zwar Teil von Finnland ist, wir uns jedoch selbst verwalten. Åland
war in seiner Geschichte immer schon schwedischsprachig, und
seit je war dessen Kultur jener von Schweden sehr ähnlich. Åland
wie auch Finnland waren Teil des Schwedischen Königreichs bis
1808/1809, als Schweden gezwungen wurde, Finnland und Åland
an Russland abzugeben.

Laut den letzten Statistiken beträgt die Bevölkerung Ålands 28.916.


Die große Mehrheit, das sind 89 Prozent, spricht Schwedisch.
Trotz seiner sprachlichen Homogenität gibt es auf Åland auch
eine reiche Sprachenvielfalt. Es sind mehr als 50 verschiedene
Sprachen vertreten, und die offizielle Bevölkerungsstatistik aus
dem Jahr 2012 zeigt, dass ungefähr 15 Prozent der Einwohner
Ålands aus 91 Herkunftsländern eingewandert sind. Die meisten
Einwanderer stammen aus Schweden. Ungefähr sechs Prozent
der Bevölkerung, das sind 1.700 Personen, kamen aus nicht-skan-
dinavischen Ländern. Die Herkunftsländer außerhalb der EU sind
meistens Thailand, Russland, Iran und die Philippinen. Da Åland
trotz seiner Autonomie ein Teil Finnlands ist, unterliegen die Åländer
als Staatsbürger Finnlands dem finnischen Gesetz.

Wie kann die finnische Staatsbürgerschaft erworben werden?


Die Bürger in Finnland erwerben die finnische Staatsbürgerschaft
durch Geburt, Eheschließung der Eltern oder durch Adoption.

81
Alexandra von Schantz

Zusätzlich kann die finnische Staatsbürgerschaft


erworben werden, nachdem bei den Behörden
ein entsprechender Antrag eingereicht wurde.

Die finnische Staatsbürgerschaft beruht in


erster Linie auf dem Grundsatz des „ius
sanguinis“ (Blutsrecht). Dieses entspricht
dem gesamtstaatlichen Recht, demzu-
folge die Staatsbürgerschaft nicht durch
den Geburtsort, sondern vielmehr durch
einen oder beide Elternteile, die Bürger
eines bestimmten Staates sind, bestimmt
wird. Kinder sind bei ihrer Geburt automa-
tisch dann finnische Staatsbürger, wenn
ihre Eltern bereits die Staatsbürgerschaft
dieses Staates besitzen. Um ein Beispiel zu
nennen: Mein jüngerer Bruder wurde in
Deutschland geboren und erlangte nach
dem Grundsatz des „ius sanguinis“ bei
der Geburt die finnische Staatsbür- SC H WED EN
gerschaft, da beide Eltern die finni-
sche Staatsbürgerschaft besitzen.
Später entschied er, zusätzlich die
deutsche Staatsbürgerschaft zu
erwerben, was recht einfach
ging. Demnach ist er jetzt ein
EU-Bürger mit doppelter
Staatsbürgerschaft.

Die finnische
Staatsbürger-
schaft kann DÄNE-
darüber hi-
naus dann
MAR K
erworben
werden,
wenn man
lange genug in Finnland gelebt hat. Ausreichende Sprachkennt-
nisse sind hierfür ein Muss; seien es Kenntnisse des Finnischen,
Schwedischen oder sogar der finnischen Zeichensprache.

82
Doppelte Staatsbürgerschaft in Finnland

Sind in Finnland auch doppelte


Staatsbürgerschaften möglich?
Seit dem 1. Juni 2003 akzeptiert
Finnland doppelte Staatsbürger-
schaften. Dieses Gesetz gestattet
Seit dem 1. Juni
den Erwerb einer ausländischen
2003 akzeptiert
Staatsbürgerschaft, ohne dass Finnland dop-
man dabei die finnische Staats- pelte Staatsbür-
bürgerschaft verliert. Sucht man gerschaften.
im finnischen Gesetz nach Informa-
tionen über die doppelte Staats-
bürgerschaft, findet man weder
Informationen, die besagen, dass
diese möglich ist, noch findet man
Informationen, die besagen, dass
FINNLAND sie nicht möglich ist. Zur doppelten
Staatsbürgerschaft nimmt Finnland
demnach eine neutrale Position
ein. Finnlands Migrationsbehör-
de führt keine Statistiken über die
doppelte Staatsbürgerschaft von
einzelnen Bürgern. Laut Migrations-
E STLAND behörde verfügt auch keine an-
dere Behörde über derartige In-
formationen. Ist dem wirklich so?

Wirft man einen Blick auf die Da-


ten, die vom gesamtstaatlichen
L E TT LAND Statistikamt herausgegeben wer-
den, kann man die Zahl jener Bür-
ger, die neben der finnischen
Staatsbürgerschaft eine weitere Im Jahr 2014
Staatsbürgerschaft besitzen, un- hat Ålands
offizielle Sta-
L ITAU EN gefähr abschätzen. Im Jahr 2014
lag die Zahl der Personen, die so-
tistikbehörde
(ASUB) erklärt,
wohl die finnische als auch eine dass doppelte
ausländische Staatsbürgerschaft Staatsbürger-
besitzen, bei ungefähr 63.350. Dies entspricht 1,17 Prozent der schaften mög-
Gesamtbevölkerung Finnlands. Im Jahr 2014 hat Ålands offizielle lich sind.
Statistikbehörde (ASUB) erklärt, dass doppelte Staatsbürgerschaf-
ten möglich sind. Demnach gibt es auf Åland 1.633 Personen, die
die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen. Dies entspricht sechs

83
Alexandra von Schantz

Prozent der åländischen Gesamtbevölkerung. Eine Person, die


Staatsbürger von zwei Staaten ist, wobei einer dieser Staaten
Finnland ist, zählt in der Statistik als finnischer Staatsbürger. Dies
trifft auf 1.622 Personen zu, von denen 1.236 Personen zusätzlich
schwedische Staatsbürger sind und 386 Personen die Staatsbür-
gerschaft eines anderen Staates besitzen. Elf Personen besitzen
eine doppelte Staatsbürgerschaft, doch ist keine davon die
finnische. Sechs Personen sind dreifache Staatsbürger.

Dadurch, dass sie das Konzept der doppelten Staatsbürgerschaft


akzeptieren, zeigen die Åländer, die aus der Sicht Finnlands eine
Minderheit darstellen, in ihrer eigenen Gesellschaft viel Verständ-
nis für Minderheiten, für deren Hintergrund und deren Identität.

Nachfolgend nun Erläuterungen zum åländischen „Hembygds-


rätt“: Die Bevölkerung der autonomen finnischen Region Åland be-
sitzt, zusätzlich zur finnischen Staatsbürgerschaft, das nur regional
geltende „Hembygdsrätt“. An dieses Recht, das übersetzt soviel
wie „Heimatrecht“ bedeutet, sind besondere Rechte gebunden.
Diese Rechte, die anderen finnischen Staatsbürgern verwehrt
bleiben, umfassen:
Der Haupt-  das Recht, Landbesitz zu erwerben;
zweck des  das Recht, ein Gewerbe zu betreiben (dieses kann jedoch
„Hembygds-
auch in anderen Fällen gewährt werden, wenn z. B. die Person
rätts“ ist der
Schutz der schon seit fünf Jahren auf Åland lebt);
kulturellen  das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum ålän-
Identität und dischen Parlament;
der Land-  das Recht, vom finnischen Wehrdienst befreit zu sein, wenn
schaft Ålands.
die Person bereits vor Vollendung des 12. Lebensjahres auf
Dies sind die
wichtigsten Åland gelebt hat.
Bestandteile
des Minder- Um als Neubürger auf Åland das „Hembygdsrätt“ zu erwerben,
heitenschutzes muss dieser zuerst die finnische Staatsbürgerschaft besitzen. Nach
auf Åland im
fünf Jahren Aufenthalt auf Åland kann das „Hembygdsrätt“
Rahmen der
Selbstverwal- beantragt werden. Um es zu erlangen, ist der Nachweis von
tung der Region. Schwedischkenntnissen erforderlich. Eine Person, die derzeit auf
Ein weiteres Ziel die Gewährung des „Hembygdsrätts“ wartet, ist zum Beispiel also
des „Hemby- jemand, der finnischer Staatsbürger ist, die schwedische Sprache
gdsrätts“ ist
spricht und seit drei Jahren auf Åland lebt.
der Schutz der
schwedischen
Sprache. Der Hauptzweck des „Hembygdsrätts“ ist der Schutz der kulturellen
Identität und der Landschaft Ålands. Dies sind die wichtigsten

84
Doppelte Staatsbürgerschaft in Finnland

Bestandteile des Minderheitenschutzes auf Åland im Rahmen der


Selbstverwaltung der Region. Ein weiteres Ziel des „Hembygds- Die doppelte
rätts“ ist der Schutz der schwedischen Sprache. Staatsbür-
gerschaft zu
diskutieren und
Das „Hembygdsrätt“ kann man verlieren, wenn die Person seit zuzulassen, trägt
über fünf Jahren außerhalb Ålands lebt (doch es kann sein, dass zur Stärkung des
sich die derzeitige Gesetzeslage mit einer anderen Regierung Selbstverständ-
ändern kann). nisses und damit
der Identität
von Angehö-
Abschließend noch Überlegungen zur doppelten Staatsbürger- rigen einer
schaft aus soziologischer Sicht und aus der Sicht des Minderhei- Minderheit bei.
tenschutzes. Auf der ganzen Welt gibt es Minderheiten, die als
solche anerkannt werden wollen und auf Möglichkeiten hoffen,
ihre Identität zu schützen. Es gibt Länder, die die Minderheiten
und Personen anderer Herkunft anerkennen und ihnen somit die Befürchtungen,
doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen. Unsere moderne Ge- dass eine dop-
sellschaft ist ständig im Wandel begriffen. Wir alle sind eingeladen, pelte Staats-
unseren Beitrag zu dieser Entwicklung zu leisten. Insbesondere ist bürgerschaft
die Gesell-
es Aufgabe der so genannten „totalen Institution“ – also jener
schaft spalten
Komponente eines Landes, wo alle Lebensbereiche von Indi- könnte, haben
viduen einer Institution untergeordnet und abhängig von den sich nirgends
Behörden sind –, sich an die ständig wachsenden Bedürfnisse bewahrheitet.
des Individuums, durch das letztlich die Gesellschaft in ihrer Ge- Im Gegenteil:
Die Gesellschaft
samtheit bestimmt wird, anzupassen. Wir befinden uns mitten in
wird nicht ge-
der Globalisierung, alles wird zeitweiliger, der politische Kontext spalten, sondern
verändert sich. All dies macht, zum Zwecke der Stärkung des Iden- gestärkt, weil
titätsbewusstseins und des Selbstbewusstseins, Anpassungsfähigkeit durch die dop-
und Flexibilität unerlässlich. Die doppelte Staatsbürgerschaft zu pelte Staatsbür-
gerschaft die
diskutieren und zuzulassen, trägt zur Stärkung des Selbstverständ-
Minderheiten
nisses und damit der Identität von Angehörigen einer Minderheit mehr Anerken-
bei. Ein Land, das das Privileg hat, aus einer Komponente zusam- nung erfahren.
mengesetzt zu werden, die sich Minderheiten nennt, sollte alles Finnland und
tun, um diese Komponente zu unterstützen und zu stärken. Der Åland sind gute
Beispiele dafür.
Erhalt der eigenen Identität und die Aufrechterhaltung des Wis-
Vielmehr sind
sens auf der Grundlage des einheimischen Hintergrundes ist von es die Nicht-Ak-
entscheidender Bedeutung. Es ist also außerordentlich wichtig, zeptanz und die
dass den Bürgern das Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft vor Unterdrückung
allem dann gewährt wird, wenn es darum geht, eine Minderheit von Minderhei-
ten, die zu einer
zu schützen. Befürchtungen, dass eine doppelte Staatsbürger-
Spaltung der
schaft die Gesellschaft spalten könnte, haben sich nirgends be- Gesellschaft
wahrheitet. Im Gegenteil: Die Gesellschaft wird nicht gespalten, führen.
sondern gestärkt, weil durch die doppelte Staatsbürgerschaft die

85
Alexandra von Schantz

Minderheiten mehr Anerkennung erfahren. Finnland und Åland


sind gute Beispiele dafür. Vielmehr sind es die Nicht-Akzeptanz
und die Unterdrückung von Minderheiten, die zu einer Spaltung
der Gesellschaft führen. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist der
Schlüssel zur doppelten Identität.

86
FRANZ WATSCHINGER

Die Umsetzung der doppelten Staatsbürger-


schaft für Südtiroler im österreichischen
Staatsbürgerschaftsgesetz.

Die beiden Juristen und Universitätsprofessoren Peter Hilpold und


Walter Obwexer sind, unabhängig voneinander, zum Ergebnis ge-
kommen, dass doppelte Staatsbürgerschaften rechtlich möglich
sind. Peter Hilpold schreibt, dass es aus völkerrechtlicher Sicht nichts
gibt, was einer doppelten Staatsbürgerschaft entgegenstehen wür-
de (Genaueres, siehe im Vorwort dieses Werks). Ähnlich schlussfolgert
Walter Obwexer in seinem Gutachten Rechtliche Rahmenbedin-
gungen für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft
durch ‚Südtiroler‘, das er im Jahr 2011 im Auftrag der Südtiroler
Volkspartei erstellt hat, dass eine doppelte Staatsbürgerschaft für
die Südtiroler weder völkerrechtlich noch europarechtlich problema-
tisch wäre. Die doppelte Staatsbürgerschaft zuzulassen, liegt somit,
fernab von den diplomatischen Gewogenheiten, ausschließlich im
Kompetenzbereich Österreichs. Dies ist in der heutigen Zeit insofern
bemerkenswert, als die Nationalstaaten, anders als früher, über nur
noch wenige Kompetenzen verfügen.

Im Jahr 2011 wurde vom damaligen Südtiroler Landeshauptmann


die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft für Südtiroler an die
Entscheidungsträger in Wien herangetragen. Deren Reaktionen
waren sehr bürokratisch und nicht minder zurückhaltend. Es wurde
auf das derzeitige Verleihungsverfahren hingewiesen, das äußerst
kompliziert sei. Die Erlangung der österreichischen Staatsbürger-
schaft sei für die Südtiroler nur bei gleichzeitiger Aufgabe der ital-
ienischen Staatsbürgerschaft möglich. Zudem, so abschließend das
Innenministerium, liefe eine ausschließlich Südtiroler begünstigende
Regelung Gefahr, unsachlich und daher vor dem Hintergrund des
Gleichheitssatzes verfassungsrechtlich bedenklich zu sein. In dieselbe
Kerbe schlug das damalige Bundesministerium für europäische und
internationale Angelegenheiten: „Es scheint sich zu ergeben, dass
die Einräumung der Möglichkeit für Südtiroler, die österreichische
Staatsbürgerschaft zusätzlich zur italienischen Staatsbürgerschaft
zu erwerben, ohne dass eine Ansässigkeit auf dem Staatsgebiet
der Republik Österreich gegeben wäre, jedenfalls einen größeren

87
Franz Watschinger

Umbau des österreichischen Staatsbürgerschaftsrechts er-


forderlich machen würde.“ In besagter Stellungnahme ist
also von einem „größeren Umbau“ die Rede. Es drängt
sich die Frage auf, was gegen einen „größeren Umbau“
sprechen würde, sollte dieser tatsächlich erforderlich
sein. Mit entsprechenden Mehrheiten könnten Ver-
fassungsbestimmungen erlassen werden. Dabei wird
eine Bestimmung über die doppelte Staatsbürger-
schaft für Südtiroler ohnehin von den österreichischen
Parteien einstimmig erlassen werden müssen. Für die
Behauptung, dass all dies, wenngleich mit einem Umbau
verbunden, nicht möglich sei, gibt es keinen schlüssigen
Grund. Ausschlaggebend ist vielmehr die Tatsache,
dass die Vergabe der doppelten Staatsbürgerschaft,
wie erwähnt, in der Kompetenz Österreichs liegt.
Es sei an das vorgenannte Gutachten von Walter
Bereits nach kür-
zerem Studium Obwexer erinnert, aus dem hervorgeht, dass die
haben wir völkerrechtliche und europarechtliche Zulässigkeit
festgestellt, dass der doppelten Staatsbürgerschaft geklärt ist.
es keineswegs
eines größeren
Auch an unsere Kanzlei ist man herangetreten. Peter
Umbaus bedarf,
sondern dass Pernthaler, ehemaliger Universitätsprofessor in Innsbruck,
eine Änderung und ich wurden gebeten, das österreichische Staatsbürgerschafts-
mit einfachen recht zu analysieren, vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit einer
gesetzlichen Änderung. Bereits nach kürzerem Studium haben wir festge-
Regelungen
stellt, dass es keineswegs eines größeren Umbaus bedarf,
möglich ist. Es
wäre nur die sondern dass eine Änderung mit einfachen gesetzlichen
Einfügung eines Regelungen möglich ist. Es wäre nur die Einfügung eines ein-
einzigen Absat- zigen Absatzes erforderlich. Wir haben einen Änderungsent-
zes erforderlich. wurf – im Folgenden Regierungsvorlage genannt – erstellt, der,
außer dem österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetz, auch
das Wählerevidenzgesetz betrifft. Untenstehend der genauer
Titel und das Inhaltsverzeichnis der Regierungsvorlage (Teil 1 von 3):

***

Regierungsvorlage/Initiativantrag/Antrag eines Ausschusses

Bundesgesetz, mit dem das Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 und


das Wählerevidenzgesetz 1973 geändert werden (2. Südtiroler-
gleichstellungsgesetz 2012)

Der Nationalrat wolle beschließen:

88
Doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler

Inhaltsverzeichnis

Artikel 1 Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985


Artikel 2 Änderung des Wählerevidenzgesetzes 1973

***

Bevor wir auf die Regierungsvorlage näher eingehen,


sei noch kurz das österreichische Staatsbürgerschafts-
gesetz in seiner derzeit gültigen Fassung erklärt. Das
österreichische Staatsbürgerschaftsrecht sieht grund-
sätzlich drei Möglichkeiten vor, wie die Staatsbürgerschaft
erworben werden kann. Die erste, klassische Möglichkeit des
Erwerbs erfolgt auf Grund der Abstammung. Als Kind eines
Österreichers erwirbt man die österreichische Staatsbürger-
schaft. Die zweite Möglichkeit des Erwerbs besteht
in der Verleihung. Diese wird in erster Linie von den
klassischen Gastarbeitern oder Bürgern bemüht,
die, aus irgendwelchen Lebensumständen, in Ös-
terreich ankommen, dort ansässig und eingebürgert
werden wollen. Je nach Fall muss man mindestens
zehn, fünfzehn oder sechs Jahre im Staatsgebiet
leben. Ferner sind Deutschkenntnisse, österreichi-
sche Geschichtskenntnisse sowie ein guter Leumund
erforderlich, und man darf keine Finanzstrafverfahren
haben. Die Verleihung der Staatsbürgerschaft ist in
diesem Fall jedoch unpraktikabel, weil gleichzeitig
die bisherige Staatsbürgerschaft abgelegt werden
muss. Es gilt nämlich das Prinzip der Vermeidung
von Doppelstaatsbürgerschaften. Die dritte Möglich-
keit des Erwerbs der österreichischen Staatsbürgerschaft
besteht in einer Anzeige. Besonders interessant in diesem
Zusammenhang ist Paragraph 58c, der einen Sondertatbe-
stand im Staatsbürgerschaftsgesetz darstellt. Dieser Paragraph
besagt im Wesentlichen, dass jene österreichischen Staatsbür-
ger, die in Folge der Vertreibung oder Repressionen unter dem
NS-Regime Österreich verlassen mussten oder emigriert sind, aber
ihre Bindung zu Österreich beibehalten haben, durch einfache
Anzeige die Staatsbürgerschaft wiedererlangen können. Diese
Verleihungsart der Staatsbürgerschaft hat weder die Aufgabe der
zweiten Staatsbürgerschaft zur Folge, noch muss die betreffende
Person im österreichischen Staatsgebiet ansässig sein. Es handelt

89
Franz Watschinger

sich somit um den idealen Paragraphen, bei dem man einhaken


könnte, um auch den Südtirolern die österreichische Staatsbürger-
Es handelt schaft zu ermöglichen.
sich somit um
den idealen
Paragraphen, Unsere Lösung ist ganz einfach: Es wird ein zweiter Punkt angeführt,
bei dem man demzufolge die Südtiroler ebenso nach dem Prinzip der Anzeige die
einhaken könn- österreichische Staatsbürgerschaft erwerben können. Untenstehend
te, um auch die Regierungsvorlage (Teil 2 von 3):
den Südtirolern
die österreichi-
sche Staatsbür- ***
gerschaft zu
ermöglichen. Artikel 1
Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985

Das Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG), Bundesgesetzblatt


311/1985, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz, Bundesge-
setzblatt I Nr. 38/2011, wird wie folgt geändert:
1. § 58c Absatz 1 lautet:
§ 58c. (1) Ein Fremder erwirbt unter den Voraussetzungen des §
10 Absatz 1 Z 2 bis 6 und 8 und Absatz 2 Z 1 und 3 bis 7 die Staats-
bürgerschaft, wenn er der Behörde (§ 39) unter Bezugnahme auf
dieses Bundesgesetz schriftlich anzeigt,
1. sich als Staatsbürger vor dem 9. Mai 1945 in das Ausland
begeben zu haben, weil er Verfolgungen durch Organe der
NSDAP oder der Behörden des Dritten Reiches mit Grund zu
befürchten hatte oder erlitten hat oder weil er wegen seines
Eintretens für die demokratische Republik Österreich Verfol-
gungen ausgesetzt war oder solche zu befürchten hatte;
2. dass er oder einer seiner Vorfahren in direkter Linie im Sinne
der §§ 7, 7a vor Inkrafttreten des Staatsvertrags von Saint
Germain, Staats- und Bundesgesetzblatt Nr. 303/1920, ös-
terreichischer Staatsbürger (bzw. Staatsbürger der österrei-
chisch-ungarischen Monarchie) mit Heimatrecht im Gebiet
der heutigen autonomen Provinz Bozen-Südtirol war.

***

Nun könnte man diskutieren, welche Südtiroler konkret das Recht


haben sollen, die österreichische Staatsbürgerschaft durch Anzei-
ge zu erwerben. Mögliche Antworten wurden in den genannten
juristischen Expertisen schon aufgezeigt. Eine Möglichkeit bestünde
darin, alle derzeit in Südtirol lebenden italienischen Staatsbürger,

90
Doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler

die deutscher oder ladinischer Muttersprache sind, einzuschließen.


Dies wäre dann die so genannte „extensive Interpretation“, indem
man an die Volksgruppenzugehörigkeitserklärungen anknüpft. Eine
zweite Möglichkeit – und diese haben wir gewählt – ist dagegen
restriktiver. Man knüpft an das Abstammungsprinzip an: Nur jene
Südtiroler, die Nachfahren von österreichischen Staatsbürgern
sind, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Staatsvertrags von
Saint-Germain in Südtirol, also im Gebiet der jetzigen Autonomen
Provinz Bozen beheimatet waren, sollen inkludiert werden.

Soweit zur Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes. Eine wei-


Eine Folge des
tere, kleine Änderung wäre dann noch im Wählerevidenzgesetz Erwerbs der
erforderlich. Eine Folge des Erwerbs der österreichischen Staats- österreichischen
bürgerschaft durch Südtiroler wäre nämlich, dass, so wie bei Staatsbürger-
allen Auslandsösterreichern, die Südtiroler auch in Österreich schaft durch
Südtiroler wäre
das Wahlrecht hätten. In diesem Zusammenhang ergäbe sich
nämlich, dass,
dann die Frage, zu welchem Wahlkreis Südtirol kommen sollte. so wie bei allen
Nachstehend hierzu die von uns ausgearbeitete Regierungsvor- Auslandsöster-
lage (Teil 3 von 3): reichern, die
Südtiroler auch
in Österreich
***
das Wahlrecht
hätten.
Artikel 2
Änderung des Wählerevidenzgesetzes 1973

Das Wählerevidenzgesetz 1973, Bundesgesetzblatt 601/1973,


zuletzt geändert durch das Bundesgesetz, Bundesgesetzblatt I
Nr. 43/2011, wird wie folgt geändert:
1. § 2a Absatz 2 lautet:
(2) Kann eine solche Zuordnung nicht vorgenommen werden,
so richtet sich der Ort der Eintragung in die Wählerevidenz nach
folgenden, im Antrag (Absatz 1) glaubhaft gemachten, zum Inland
bestehenden Lebensbeziehungen, die in der nachstehenden
Reihenfolge heranzuziehen sind:
1. Ort der Geburt
2. Hauptwohnsitz des Ehegatten
3. Hauptwohnsitz nächster Verwandter
4. Sitz des Dienstgebers
5. Eigentums- oder Bestandsrechte an Grundstücken oder
Wohnungen
6. Vermögenswerte
7. sonstige Lebensbeziehungen

91
Franz Watschinger

8. Südtiroler, die österreichische Staatsbürger gemäß § 58c


Absatz 1 Z 2 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG), Bundes-
Wenn die Süd- gesetzblatt 311/1985, sind und keine Anknüpfungspunkte
tiroler in Öster- nach Z 1 bis 7 haben, werden in die Wählerevidenz der
reich wahlbe- Gemeinde Innsbruck eingetragen.
rechtigt wären,
würde dies, wie
es der Verfas-
***
sungsrechtler,
Menschen- Relevanter als die Frage nach dem Wahlkreis erscheint mir die
rechtsexperte Frage nach anderen konkreten Auswirkungen: Welche Rech-
und National- te sind für die Südtiroler mit dem Erwerb der österreichischen
ratsabgeordne-
te der Öster-
Staatsbürgerschaft verbunden? Vordergründig sind natürlich die
reichischen Staatsbürgerrechte, das heißt, die Südtiroler können sich auf die
Volkspartei, Felix Gleichheit vor dem Gesetz berufen. Sie haben das Aufenthalts-
Ermacora († recht. Dieses Recht würde für die Südtiroler keine besonderen
1995), so schön Änderungen bedeuten, da es bereits das Südtiroler Gleichstel-
formulierte, die
Verbundenheit
lungsgesetz gibt und da auch im Rahmen der Europäischen Union
der Südtiroler ganze Freiheiten bestehen.
mit dem Vater-
land Österreich Weitaus wesentlicher wäre die Änderung des Wahlrechts, und
stärken. zwar bei österreichischen Nationalratswahlen und Bundespräsi-
dentenwahlen. Wenn die Südtiroler in Österreich wahlberechtigt
wären, würde dies, wie es der Verfassungsrechtler, Menschen-
rechtsexperte und Nationalratsabgeordnete der Österreichischen
Das Wahlrecht Volkspartei, Felix Ermacora († 1995), so schön formulierte, die Ver-
für Südtiroler bundenheit der Südtiroler mit dem Vaterland Österreich stärken.
hätte einerseits Das Wahlrecht für Südtiroler hätte einerseits den Vorteil, dass die
den Vorteil, dass Südtiroler das Gemeinwesen mitgestalten könnten, auch mehr
die Südtiroler
das Gemeinwe-
Interesse hätten an Österreich. Andererseits müsste sich Österreich
sen mitgestalten umgekehrt mehr um die Angelegenheiten der Südtiroler kümmern
könnten, auch und deren Befindlichkeiten berücksichtigen. Das Wahlrecht wäre,
mehr Interesse kurzum, ein probates Mittel, um die Beziehungen zwischen der
hätten an Öster- Schutzmacht und der Südtiroler Volksgruppe zu stärken. Das
reich. Anderer-
seits müsste sich
Wahlrecht bei Landtagswahlen des Bundeslandes Tirol wäre mit
Österreich um- der doppelten Staatsbürgerschaft nicht verbunden.
gekehrt mehr
um die Angele- Ein dritter, allerdings eher vernachlässigbarer Vorzug der öster-
genheiten der reichischen Staatsbürgerschaft für die Südtiroler wäre, dass sie
Südtiroler küm-
mern und deren
den Zugang zu den österreichischen Beamtenstellen eröffnet. Die
Befindlichkeiten Südtiroler könnten in Österreich Notar oder Staatsanwalt werden
berücksichtigen. oder im Bundesheer sowie bei der Polizei dienen, wobei dann der
Wohnsitz ohnehin nach Österreich verlegt werden müsste.

92
Doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler

Zu diskutieren bliebe noch die Frage der Wehrpflicht. Aktuell sieht


das österreichische Staatsbürgerschaftsgesetz vor, dass ein öster-
reichischer Staatsbürger, der freiwillig den Militärdienst in einem
anderen Land leistet, die österreichische Staatsbürgerschaft verliert.
Für einen Südtiroler mit italienisch-österreichischer Doppeltstaatsbür-
gerschaft würde dies somit theoretisch bedeuten, dass er, würde
er in Italien die Wehrpflicht leisten, die österreichische Staatsbür-
gerschaft verlieren würde. Dieses Problem würde sich mittlerweile
gar nicht mehr stellen, zumal in Italien keine Wehrpflicht mehr be-
steht. Direkt hier anschließen ließe sich die Frage, ob die Südtiroler
mit italienisch-österreichischer Doppeltstaatsbürgerschaft dann
in Österreich wehrpflichtig wären. Die Praxis der österreichischen
Behörden zeigt, dass österreichische Staatsbürger mit ständigem
Aufenthalt im Ausland, also klassische Auslandsösterreicher, nicht
eingezogen werden. Ob dies in Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten
gehandhabt wird oder einfach nur Behördenwirklichkeit geworden
ist, habe ich nicht untersucht, doch ich verweise auf die von Pe-
ter Hilpold angeführten Anhaltspunkte, denen zufolge genannte
behördliche Vorgehensweise auch der Erfüllung völkerrechtlicher
Pflichten entsprechen kann (Siehe hierzu im Vorwort dieses Werks) .

Darüber hinaus hat Peter Pernthaler zu unserer Regierungsvorlage


umfangreiche Erläuterungen formuliert und dabei den rechtshis-
torischen Aspekt akribisch und anschaulich aufgearbeitet. Es wird
angeführt, welche Nachweise für den Antrag auf die österreichische
Staatsbürgerschaft, die im Grunde ein Heimatrecht ist, zu erbrin-
gen wären, und welcher dieser Nachweise bei welcher Behörde
einzureichen wäre.

Aus administrativer Sicht würde es sich um keinen aufwändigen


Verwaltungsakt handeln, und aus rechtlicher Sicht bestehen Aus adminis-
trativer Sicht
keine Probleme, die sich nicht lösen ließen. Wenn man bedenkt,
würde es sich
dass in einer Legislaturperiode durchschnittlich 540 Gesetze er- um keinen
lassen werden, die mitunter durchaus umfangreich sein können, aufwändigen
wäre die Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes sowie des Verwaltungsakt
Wählerevidenzgesetzes eine Kleinigkeit. Allein zum Staatsbür- handeln, und
aus rechtlicher
gerschaftsgesetz hat es seit 2011 meines Wissens fünf Novel-
Sicht bestehen
len gegeben. Unsere Regierungsvorlage könnte da ruhig auch keine Probleme,
einmal sozusagen mitrutschen. Doch anscheinend fehlt es am die sich nicht
politischen Willen. Soweit ich es ihrer Genese entnehme, hat, wie lösen ließen.
oben erwähnt, die Forderung nach der österreichischen Staats-
bürgerschaft für die Südtiroler bereits im Jahr 2011 der damalige

93
Franz Watschinger

Südtiroler Landeshauptmann gestellt. Österreich sollte sich also


davor hüten zu behaupten, dass von den Südtirolern dieser po-
litische Wille zu wenig laut artikuliert worden sei. Vielmehr sollte
Österreich – so bleibt zu hoffen – Österreich ein Zeichen setzen, dass es in
sollte sich also der Frage der österreichischen Staatsbürgerschaft für Südtiroler
davor hüten seiner Schutzmachtrolle gerecht wird und den Südtirolern eine
zu behaupten, späte Wiedergutmachung angedeihen lässt.
dass von den
Südtirolern
dieser politische
Wille zu wenig
laut artikuliert
worden sei.

94
Nachwort zum Nachdruck

Im Dezember 2017 wurde die Wiedererlangung der österreichischen


Staatsbürgerschaft für Südtiroler im Koalitionsabkommen der neuen
österreichischen Bundesregierung festgeschrieben. Nachfolgend
der Text im Wortlaut:

„Im Geiste der europäischen Integration und der Förderung einer


immer engeren Union der Bürgerinnen und Bürger der Mitglieds-
staaten wird in Aussicht genommen, den Angehörigen der Volks-
gruppen deutscher und ladinischer Muttersprache in Südtirol, für die
Österreich auf Grundlage des Pariser Vertrages und der nachfol-
genden späteren Praxis die Schutzfunktion ausübt, die Möglichkeit
einzuräumen, zusätzlich zur italienischen Staatsbürgerschaft die
österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben.“

Auf der Grundlage des Textes im Koalitionsabkommen wurde der


von DDr. Franz Watschinger und von em. O.Univ.-Prof. Dr. Peter
Pernthaler ausgearbeitete Gesetzentwurf angepasst. Er soll aufzei-
gen, wie die österreichische Staatsbürgerschaft für Südtiroler nach
den Vorgaben des Koalitionsabkommens umgesetzt werden kann.
Untenstehend der ausgearbeitete Gesetzentwurf und diesbezüg-
liche Erläuterungen:

Regierungsvorlage/Initiativantrag/Antrag eines Ausschusses

Bundesgesetz, mit dem das Staatsbürgerschaftsgesetz 1985, das


Wählerevidenzgesetz 1973 und das Europa-Wählerevidenzgesetz
geändert werden (2. Südtirolergleichstellungsgesetz 2018)

Der Nationalrat wolle beschließen:

Inhaltsverzeichnis

Artikel 1 Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985


Artikel 2 Änderung des Wählerevidenzgesetzes 1973
Artikel 3 Änderung des Europa-Wählerevidenzgesetzes

95
Nachwort zum Nachdruck

Artikel 1
Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985

Das Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG), BGBl. 311/1985, zuletzt


geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 68/2017, wird wie
folgt geändert:
1. § 58c Abs.1 lautet:
§ 58c. (1) Ein Fremder erwirbt unter den Voraussetzungen des § 10
Abs. 1 Z 2 bis 6 und 8 und Abs. 2 Z 1 und 3 bis 7 die Staatsbürger-
schaft, wenn er der Behörde (§ 39) unter Bezugnahme auf dieses
Bundesgesetz schriftlich anzeigt,
1. sich als Staatsbürger vor dem 9. Mai 1945 in das Ausland
begeben zu haben, weil er Verfolgungen durch Organe
der NSDAP oder der Behörden des Dritten Reiches mit
Grund zu befürchten hatte oder erlitten hat oder weil er
wegen seines Eintretens für die demokratische Republik
Österreich Verfolgungen ausgesetzt war oder solche zu
befürchten hatte;
2. dass er Südtiroler deutscher oder ladinischer Sprachzu-
gehörigkeit ist und zum Zeitpunkt der Geburt im Gebiet
der heutigen autonomen Provinz Bozen-Südtirol oder in
Österreich ansässig oder österreichischer Staatsbürger
war. Die Zugehörigkeit zur deutschen oder ladinischen
Sprachgruppe kann durch eine aktuelle Bescheinigung
über die Zugehörigkeit zur deutschen oder ladinischen
Sprachgruppe (Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung),
bei Minderjährigen durch eine aktuelle Bescheinigung
über die Zugehörigkeit zur deutschen oder ladinischen
Sprachgruppe eines Elternteils, nachgewiesen werden.

1. § 49 Abs.2 lautet:
(2) Evidenzstelle ist
a) für Personen, die vor dem 1. Juli 1966 im Gebiet der Republik
geboren sind:
die Geburtsgemeinde (Gemeindeverband);
b) für Personen, die ab dem 1. Juli 1966 im Gebiet der Republik
geboren sind:
die Gemeinde (Gemeindeverband), in der die Mutter im Zeit-
punkt der Geburt der zu verzeichnenden Person laut Eintragung
im Geburtenbuch ihren Wohnort hatte, wenn dieser aber im
Ausland liegt, die Geburtsgemeinde (Gemeindeverband) der
zu verzeichnenden Person;

96
Nachwort zum Nachdruck

c) für Personen, die im Ausland geboren sind oder bei denen


sich nach lit. a oder b keine Zuständigkeit feststellen lässt:
die Gemeinde Wien.
d) Für Südtiroler, die nicht in Österreich geboren sind und bei
denen sich nach lit. a oder b keine Zuständigkeit feststellen
lässt:
die Stadt Innsbruck.

***

Artikel 2
Änderung des Wählerevidenzgesetzes 1973

Das Wählerevidenzgesetzes 1973, BGBl. 601/1973, zuletzt geändert


durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 120/2016, wird wie folgt geändert:
1. § 2a Abs.2 lautet:
(2) Kann eine solche Zuordnung nicht vorgenommen werden,
so richtet sich der Ort der Eintragung in die Wählerevidenz nach
folgenden, im Antrag (Abs. 1) glaubhaft gemachten, zum Inland
bestehenden Lebensbeziehungen, die in der nachstehenden
Reihenfolge heranzuziehen sind:
1. Ort der Geburt
2. Hauptwohnsitz des Ehegatten
3. Hauptwohnsitz nächster Verwandter
4. Sitz des Dienstgebers
5. Eigentums- oder Bestandsrechte an Grundstücken oder
Wohnungen
6. Vermögenswerte
7. sonstige Lebensbeziehungen
8. Südtiroler, die keine Anknüpfungspunkte nach Z 1 bis 7 haben,
werden in die Wählerevidenz der Stadt Innsbruck eingetragen.

***

Artikel 3
Änderung des Europa-Wählerevidenzgesetzes

Das Bundesgesetz über die Führung ständiger Evidenzen der Wahl-


und Stimmberechtigten bei Wahlen zum Europäischen Parlament
(Europa-Wählerevidenzgesetz – EuWEG), BGBl. Nr. 118/1996 idF
BGBl. I Nr. 35/1998, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl.
I Nr. 120/2016, wird wie folgt geändert:

97
Nachwort zum Nachdruck

1. § 4 Abs.2 lautet:
(2) Kann eine solche Zuordnung nicht vorgenommen werden, so
richtet sich der Ort der Eintragung in die Europa-Wählerevidenz
nach folgenden, im Antrag (Abs. 1) glaubhaft gemachten, zum
Inland bestehenden Lebensbeziehungen, die in der nachstehenden
Reihenfolge heranzuziehen sind:
1. Ort der Geburt
2. Hauptwohnsitz des Ehegatten
3. Hauptwohnsitz nächster Verwandter
4. Sitz des Dienstgebers
5. Eigentums- oder Bestandsrechte an Grundstücken oder
Wohnungen
6. Vermögenswerte
7. sonstige Lebensbeziehungen
8. Südtiroler, die keine Anknüpfungspunkte nach Z 1 bis 7 haben,
werden in die Wählerevidenz der Stadt Innsbruck eingetragen.

98
Nachwort zum Nachdruck

Erläuterungen
Allgemeiner Teil

1. Die Südtiroler Volksgruppe hat im Zuge des Staatsvertrags von


Saint Germain gegen ihren Willen die österreichische Staatsbürger-
schaft verloren, indem das Gebiet von Tirol südlich des Brenners
von Österreich abgetrennt wurde und dem Staatsgebiet Italiens
zugeschlagen wurde. Mit gegenständlichem Gesetzesentwurf
wird dem politischen Wunsch der Südtiroler entsprochen, durch
die zusätzliche Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft
(Doppelstaatsbürgerschaft) die Bindung zum Vaterland Österreich,
das immer auch die Schutzmachtrolle für die Südtiroler ausgeübt
hat, und die ethnische Identität der Volksgruppe zu stärken.

2. Das Pariser Abkommen (1946) verbindet die (völkerrechtlich ge-


währleistete) Autonomie Südtirols noch sehr klar mit dem Schutz der
deutschsprachigen Volksgruppe (German speaking element) in der
Provinz Bozen-Südtirol. „Deutschsprachig“ wurde als Kennzeichen
der Volksgruppe gewählt, weil die deutsche Sprache das Verbin-
dungsglied zwischen dem Muttervolk in Österreich/Bundesland Tirol
und der eingesessenen Bevölkerung des durch die Brennergrenze
abgetrennten Landesteiles Südtirol war. Die deutschsprachige
Volksgruppe Südtirols ist nämlich (zusammen mit der ladinischen
Volksgruppe) auch die „autochthone“ Volksgruppe in der Provinz
Bozen-Südtirol, verknüpft mit dem im Pariser Abkommen definierten
territorialen Geltungsbereich durch die Generationen-übergreifende
Ansässigkeit in ihrer Heimat. Auch die österreichische Bundesverfas-
sung definiert jetzt in der Staatszielbestimmung des Artikels 8 Absatz
2 B-VG den Volksgruppenschutz durch das Merkmal „autochthone
Volksgruppe“, das schon im Staatsrecht der Monarchie das Kenn-
zeichen des verfassungsrechtlich geschützten „Volksstammes“
(Art 19 STGG) war (Marko, Rz. 27 - 30 zu Art 8 Abs. 2 B-VG in: Kori-
nek u.a., Österreichisches Bundesverfassungsrecht. Kommentar).
Die geplante Neuregelung knüpft an diese beiden Elemente der
autochthonen Volksgruppe an: An die deutsche Sprache als das
ethnische Kriterium der Zugehörigkeit zum österreichischen/Tiroler
Volk und an das Merkmal der „Alteingesessenheit“ durch das Kri-
terium der Ansässigkeit zum Zeitpunkt der Geburt in Südtirol.

3. Die Schutzmachtfunktion Österreichs beruht auf zwei Pfeilern:


Der völkerrechtlichen Verankerung, die im folgenden Punkt näher
erläutert wird, und der ethnischen Verbundenheit zwischen der

99
Nachwort zum Nachdruck

Südtiroler Volksgruppe und ihrem „Muttervolk“, dem Staatsvolk Ös-


terreichs und dem Landesvolk Tirols. Das geschichtlich begründete
Bindeglied dieser volksmäßigen Verbundenheit ist die deutsche
Sprache, die einerseits die Staatssprache und Volkssprache des
Nationalstaates Republik Österreich und die Landessprache Tirols
ist (Art. 8 Abs. 1 B-VG; Art 4 LV Tirol) und anderseits das rechtlich
maßgebliche Kriterium der Südtiroler Volksgruppe ist. Nach der
österreichischen Verfassung sind das Bundesvolk und das Landes-
volk Tirols jeweils durch die „Summe der Bundesbürger“ und die
„Summe der Landesbürger“ definiert, wobei Bundesbürger alle
Staatsbürger und Landesbürger jene Staatsbürger sind, die im
Land ihren Hauptwohnsitz haben (Art 6 Abs. 1 B-VG). Damit ist das
„Muttervolk“ der Südtiroler Volksgruppe nicht nur durch die deut-
sche Sprache charakterisiert, sondern in gleicher Weise durch die
Staatsbürgerschaft der (deutschsprachigen) Republik Österreich.
Daher ist die Möglichkeit der erleichterten Erlangung der österrei-
chischen Staatsbürgerschaft – neben der unbedingt notwendigen
Beibehaltung der italienischen Staatsbürgerschaft – ein besonders
starkes ethnisches Bindeglied zwischen der Südtiroler Volksgruppe
und ihrem deutschsprachigen „Muttervolk“ Österreichs/Tirols. Die
Notwendigkeit eines solchen neuen und starken rechtlichen Bin-
degliedes auf Grund der ethnischen Zusammengehörigkeit wird in
den folgenden Punkten näher begründet.

4. Die Schutzmachtfunktion Österreichs ist völkerrechtlich zunächst


im Pariser Abkommen (1946) begründet (Miehsler, Das Gruber-De-
gasperi-Abkommen und seine Auslegung, in: Huter (Hrsg), Südtirol
1965, 385ff). In der Folge wurde die Schutzmachtfunktion durch
den bilateralen Verhandlungsprozess Österreich-Italien über die
„Paketlösung“ und über die Reform des neuen Autonomiestatutes
(1972) durch 30 Jahre bis zur Streitbeilegungserklärung (1992) und
den darauf bezüglichen Notenwechsel zwischen Österreich und
Italien auf die völkerrechtliche Verankerung des „Paketes“ der
neuen Südtirolautonomie erweitert (Hilpold, Die völkerrechtliche
Absicherung der Südtirolautonomie, in: Marko et al. (Hrsg), Die Ver-
fassung der Südtiroler Autonomie 2003, 38ff; derselbe/Perathoner,
Die Schutzfunktion des Mutterstaates im Minderheitenrecht 2006,
93; Obwexer, Die Schutzfunktion Österreichs, in: Gamper/Pan (Hrsg),
Volksgruppen und regionale Selbstverwaltung in Europa 2008, 76ff).

100
Nachwort zum Nachdruck

Die Schutzmachtfunktion Österreichs bezieht sich jedenfalls auf


die deutschsprachige Volksgruppe in Südtirol als Teil des durch die
Brennergrenze geteilten Landesvolkes von Tirol (Präambel zu Tiroler
Landesordnung 1989). Daher erstreckt sich der persönliche Gel-
tungsbereich der geplanten Regelung ausschließlich auf „Südtiroler
deutscher oder ladinischer Sprachzugehörigkeit“. Anderseits ist die
Schutzmachtfunktion auch durch den territorialen Geltungsbereich
der Provinz Bozen-Südtirol rechtlich festgelegt (zum personellen
und territorialen Geltungsbereich des Pariser Abkommens als An-
knüpfungspunkt für die Südtirol–Autonomie und die Schutzfunktion
Österreichs vgl. Pernthaler, Die Identität Tirols in Europa 2007, 76 ff).
Auf das Siedlungsgebiet der deutschsprachigen und ladinischen
Volksgruppe als völkerrechtlich garantiertes Territorium der Schutzbe-
stimmungen für die Volksgruppen (so ausdrücklich: Riz/Happacher,
Grundzüge des italienischen Verfassungsrechts unter Berücksichti-
gung der verfassungsrechtlichen Aspekte der Südtiroler Autonomie
3. Aufl. 2008, 381) bezieht sich das Erfordernis der „Ansässigkeit zum
Zeitpunkt der Geburt im Gebiet der heutigen autonomen Provinz
Bozen-Südtirol“ in der geplanten Regelung.

5. Die erleichterte Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft


neben der italienischen ist für die Südtiroler Volksgruppe deshalb ein
so wichtiges neues Element des Volksgruppenschutzes, weil sich die
Autonomie Südtirols seit dem neuen Autonomiestatut (1972) und
der Streitbeilegungserklärung (1992) rechtlich und politisch immer
mehr vom Schutz der deutschen Sprache als dem eigentlichen
Schutzziel der Autonomie entfernt. Grund dafür ist vor allem die
außerordentlich komplexe rechtliche Verankerung der Autonomie in
der italienische Rechtsordnung und ihre subtile verfassungsrechtliche
Absicherung in der Verfassung, in der Verfassungsrechtsprechung
und in ungeschriebenen Verfassungsprinzipien Italiens. Dadurch
wurde ein rechtliches und politisches System begründet, das vor
allem intensive Verflechtungen und Kooperationszwänge in Italien
für die politischen Repräsentanten der Volksgruppe mit sich bringt
und deren Beziehungen zu Tirol und Österreich in den Hintergrund
drängt. Dazu kommt, dass die neue Autonomie sehr stark auf die
Kooperation mit den Sprachgruppen ausgerichtet ist (vgl. dazu
eingehend: Pernthaler, Identität, Kapitel „Volk und Sprachgruppen
in Südtirol“, 114 ff.). Daraus hat sich ein sehr komplexes politisches
und rechtliches System und eine politisch/gesellschaftliche Identität
des Landes Südtirol entwickelt, die sich von der des Bundeslandes
Tirol völlig unterscheiden.

101
Nachwort zum Nachdruck

Als Ausgleich für die starken Bindungen und Kooperationszwänge


mit dem italienischen Staat und der italienischen Sprachgruppe, die
das neue Autonomiesystem für die deutschsprachige Volksgruppe
mit sich bringt, soll die geplante doppelte Staatsbürgerschaft zusätz-
lich zum Schutz durch die im italienischen Staatsrecht verankerte
Autonomie eine neue Verbindung mit dem „Muttervolk“ als Stär-
kung der deutschsprachigen Identität der Volksgruppe bewirken.

6. Erst durch die geplante doppelte Staatsbürgerschaft der deutsch-


sprachigen Südtiroler wird eine wirksame Grundlage für einen
effizienten Schutz dieser Volksgruppe in der Doppelfunktion des
heutigen politischen und rechtlichen Autonomiesystems geschaffen:
Die italienische Staatsbürgerschaft ist die unabdingbare Basis für
die notwendige Kooperation und Koordination der Volksgruppe
mit dem italienischen Staat und der italienischen Sprachgruppe
im System der komplizierten Regeln und Verfahren der ethnischen
Konkordanzdemokratie in Südtirol (Pernthaler, Identität 114 ff.). Die
österreichische Staatsbürgerschaft ist notwendig zu Stärkung der
deutschen Sprachgruppe in ihrer Identität als ethnisch selbständi-
ges Subjekt und eigentliches Schutzziel der komplexen Autonomie
Südtirols. Daher ist die Schaffung dieser doppelten Basis des Volks-
gruppenschutzes auch die Grundlage dafür, dass die notwendige
Dynamik der Autonomie zu Stärkung der deutschen Identität der
Südtiroler Volksgruppe und nicht zu ihrer Assimilation nach dem
Muster der „Verelsässerung“ beiträgt.

7. Mit diesem Gesetz erhalten jene Südtiroler, die die österreichi-


sche Staatsbürgerschaft beantragen, zusätzlich zur italienischen
Staatsbürgerschaft den Status von Auslandsösterreichern. Damit
verbunden ist das Wahl- und Stimmrecht, das sich nach den allge-
meinen Regelungen insbesondere nach dem Wählerevidenzgeset-
zes 1973, BGBl. Nr. 601/1973, dem Bundesgesetz über die Führung
ständiger Evidenzen der Wahl- und Stimmberechtigten bei Wahlen
zum Europäischen Parlament (Europa-Wählerevidenzgesetz - Eu-
WEG), BGBl. Nr. 118/1996, dem Bundesgesetz über die Wahl des
Nationalrates (Nationalrats-Wahlordnung 1992 - NRWO), BGBl. Nr.
471/1992, das Bundespräsidentenwahlgesetz 1971, BGBl. Nr. 57/1971
und das Volksabstimmungsgesetz 1972, BGBl. Nr. 79/1973, richtet.
Voraussetzung für die Ausübung des Wahl- und Stimmrechts ist ein
Antrag des österreichischen Staatsbürgers in Südtirol auf Eintrag in
die Wählerevidenz.

102
Nachwort zum Nachdruck

Ein Wahlrecht zum Landtag besteht gemäß Art 95 Abs.1 B-VG in


jenen Bundesländern, die in den jeweiligen Landtagswahlordnungen
das Wahlrecht für österreichische Staatsbürger mit Hauptwohnsitz im
Ausland verankert haben. Dies ist derzeit in Niederösterreich, Tirol und
Vorarlberg vorgesehen. Gem. Art. 17 der Tiroler Landesverfassung
ist das Wahlrecht zum Tiroler Landtag aber nur für österreichische
Staatsbürger für längstens zehn Jahre zulässig, die vor Verlegung
ihres Hauptwohnsitzes in das Ausland einen Hauptwohnsitz im Land
hatten. Diesen Ausschluss der Südtiroler mit österreichischer Staats-
bürgerschaft vom Wahlrecht zum Landtag müsste landesgesetzlich
beseitigt werden.

8. Im Hinblick auf die besondere Situation der Südtiroler muss gewähr-


leistet sein, dass der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft
nicht von der Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft abhängig
ist, wie dies etwa bei der Verleihung (vgl. etwa § 10 Abs. 3 StbG)
der Fall ist. Schon bisher ist das Ausscheiden aus dem bisherigen
Staatsverband nicht die Voraussetzung für den Erwerb der Staats-
bürgerschaft durch Anzeige gemäß §§ 58c und 59 Abs. 1 StbG. Es
erscheint auch vor diesem Hintergrund sachgerecht, den Erwerb
der Staatsbürgerschaft für Südtiroler durch Anzeige vorzusehen.

Die Entziehungsgründe im StbG, insbesondere §§ 32, 33 gelten auch


für Südtiroler, die die Staatsbürgerschaft erworben haben. Schon
bisher führte der Eintritt in den Militärdienst eines fremden Staates
nur dann zur Entziehung der Staatsbürgerschaft, wenn der Eintritt
freiwillig erfolgte. Militärpflicht etwa aufgrund einer allgemeinen
Wehrpflicht erfüllt den Tatbestand nicht, wobei infolge der Aufhe-
bung der allgemeinen Wehrpflicht in Italien dafür derzeit praktische
Relevanz nicht besteht. § 33 wird im Hinblick auf Beamte in Südtirol so
zu interpretieren sein, dass die pflichtgemäße Erfüllung des Dienstes
nicht als schädigendes Verhalten zu werten ist.

9. Für die Regelung der Materie wird der im Gesetzgebungsbereich


des Bundes gelegene Kompetenztatbestand „Staatsbürgerschaft“
(Art 11 Abs. 1 Z 1) in Anspruch genommen.

103
Nachwort zum Nachdruck

Erläuterungen
Besonderer Teil

Zu Art. 1 (Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985)


Zu Z 2 (§ 58c Abs. 1 StbG):

Die Bestimmung sieht einen erleichterten Zugang zur Staatsbürger-


schaft für Südtiroler durch Anzeige an die Behörde vor. Die zustän-
dige Behörde gemäß § 39 iVm § 49 StbG wäre in aller Regel die
Gemeinde Wien. Durch die Ergänzung von § 49 Abs. 2 lit. d StbG
wird die Zuständigkeit zentral bei der Stadt Innsbruck als Evidenzstelle
und der Tiroler Landesregierung als zuständige Behörde gebündelt,
was aufgrund der Nähe zu Südtirol und der zu erwartenden Menge
der Anträge zweckmäßig erscheint.

Die Voraussetzungen sind durch geeignete Dokumente, insbesonde-


re etwa durch Vorlage einer Bescheinigung über die Zugehörigkeit
oder Zuordnung zu einer der Sprachgruppen und eine historische
Wohnsitzbescheinigung nachzuweisen.

Die Anzeige ist nicht persönlich bei der Behörde zu stellen, weil § 19
Abs. 1 StbG nur auf Verfahren auf Verleihung oder Verlängerung
der Verleihung der Staatsbürgerschaft anzuwenden ist.

Zu Art. 2 (Änderung des Wählerevidenzgesetzes 1973)


Zu Z 8 (§ 2a Abs. 2):

Bei Südtirolern besteht naturgemäß eine enge Beziehung zum


Bundesland Tirol (ethnische und sprachliche Gemeinsamkeit, Ver-
wandtschaftsbeziehungen, Optanten, Landesuniversität Innsbruck,
Europaregion Tirol, …), wobei aber überwiegend eine Lebensbe-
ziehung zu einer bestimmten Gemeinde nach den bestehenden
Anknüpfungspunkten nicht bestehen wird. Durch die ergänzte
Bestimmung wird dem Rechnung getragen und subsidiär die Lan-
deshauptstadt Innsbruck für zuständig erklärt.

104
Nachwort zum Nachdruck

Zu Art. 3 (Änderung des Europa-Wählerevidenzgesetzes)


Zu Z 8 (§ 4 Abs. 2):

Die Südtiroler können gemäß § 4 Abs. 7 EuWEG erklären, bei Wahlen


zum Europäischen Parlament die Mitglieder im Sinne des Art. 23a
B-VG wählen zu wollen. Dadurch wird den Südtirolern die Möglich-
keit eröffnet, an den Wahlen zum Europäischen Parlament sowohl
aktiv als auch passiv in Österreich mitzuwirken.

Da bei Wahlen zum Europäischen Parlament die Mitgliedsstaaten


einheitliche Wahlkörper bilden, ist es den Südtirolern nur erschwert
möglich, bei Wahlen in Italien eigene Volksvertreter in das Europä-
ische Parlament zu entsenden. Die Möglichkeit, in Österreich auch
Südtiroler als Kandidaten aufzustellen, stärkt die grenzüberschrei-
tende Zusammenarbeit, die Europaregion Tirol und die Einheit des
Landes Tirol.

105
In Südtirol ist, im Vergleich zu vielen anderen Regionen in Europa
und in der restlichen Welt, die doppelte Staatsbürgerschaft (noch)
keine Realität, wenngleich Bemühungen in diese Richtung bereits
mehrfach unternommen wurden. Das Thema wird politisch so-
wohl in Österreich als auch in Südtirol kontrovers diskutiert, hierbei
mitunter oberflächlich, einseitig und polemisch.

Diese Publikation versteht sich als Informationsschrift und Dis-


kussionsgrundlage für politische Entscheidungsträger und für
interessierte Bürger. In zwölf Beiträgen wird das Thema doppelte
Staatsbürgerschaft aus diversen (rechtlichen, länderspezifischen,
minderheitenbezogenen) Perspektiven beleuchtet, und als Leser
gewinnt man dabei zwangsläufig interessante Einblicke in die
Situation einer betreffenden Minderheit.

Die Autoren, die aus den unterschiedlichsten Regionen der Eu-


ropäischen Union und der restlichen Welt stammen, sind oft
selbst Angehörige der jeweils gegenständlichen Minderheit und
fungieren (nach dem Stand von Oktober 2015) als politische
Vertreter, hohe Beamte, Juristen, Wissenschaftler an Universitäten
oder Vertreter von Kulturvereinen, wobei sich ihre Funktionen
teilweise überschneiden.

 
  




 

Das könnte Ihnen auch gefallen