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Aus: Eisenberg, P. (2000). Grundriss der deutschen Grammatik. Das Wort.

Stuttgart; Weimar:
Metzler. S. 8-10

1.2 Grammatik und Norm


Gutes Deutsch und Standarddeutsch
Wer sich irgendwo als Grammatiker oder Deutschlehrer zu erkennen gibt, muss damit
rechnen, dass man ihn nach dem guten und richtigen Deutsch fragt. Kann man sagen Wir
fahren nach Ikea? Heißt es richtig dieselbe Farbe oder die gleiche Farbe? Und darf
man neben am Montag abend auch am Montagabend, am Montag Abend oder sogar
am montag Abend schreiben? Viele Leute meinen, Grammatik sei vor allem dazu da,
gutes von schlechtem und richtiges von falschem Deutsch zu unterscheiden.
Dass man Germanisten eine besondere Qualiğ kation zuschreibt, solche Auskünfte zu
geben, ist die eine Sache. Die andere und wichtigere ist folgende. Eine große Mehrheit
der Sprachteilhaber ist sich sicher, dass es das gute und richtige Deutsch tatsächlich ir-
gendwo gibt. Wo es sich in welcher Form aufhält, weiß man nicht genau. Aber es existiert.
Walther Dieckmann nennt solche Annahmen einer Volkslinguistik »eine Form der Ausei-
nandersetzung mit Sprache aus eigenem Recht« (1991: 371; dazu auch Brekle 1986; An-
tos 1996; I. Paul 1999).
Erfahrungen von Sprachberatungsstellen wie der beim Aachener Grammatischen Te-
lefon oder bei der Duden-Redaktion bestätigen das. Die Auskunft gebenden Mitarbeiter
werden kaum einmal um ihre Ansicht zu diesem oder jenem Problem gebeten. Meist wird
vielmehr gefragt, wie es sich denn ›wirklich‹ verhalte. Ist die Antwort nicht klipp und klar,
so ruft sie Enttäuschung und oft genug querulierendes Beharren hervor. Es müsse doch
möglich sein, eine Entscheidung zu treffen (Berger 1968; Stetter 1995; Wermke 2007).
Dass viele an das gute Deutsch glauben, ist noch kein Grund, eine normative Gramma-
tik zu schreiben. Die Linguistik ist eine empirische Wissenschaft, was sonst. Eine empi-
risch fundierte Grammatik ist deskriptiv, nicht präskriptiv. Sie beschreibt, was ist, und
nicht, was nach Meinung irgendwelcher Leute sein soll. Dennoch bleibt die Frage, woher
das sichere Wissen von einer sprachlichen Norm kommt und worin diese bestehen könnte.
Es kann ja nicht auf sich beruhen, wenn die Mehrheit der Sprecher die Existenz einer
Sprachnorm unterstellt, die Mehrheit der Sprachwissenschaftler aber davon nichts wis-
sen möchte.
Der Realisierung einer deskriptiven Grammatik stehen zudem hohe praktische und
theoretische Hürden im Wege. Soll die Grammatik etwa das Standarddeutsche beschrei-
ben, so muss der Standard aus dem Kontinuum der Varietäten isoliert werden. Allein die
Frage, ob das Standarddeutsche auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt werden
kann oder soll und wie man es mit dem in Österreich und der Schweiz gesprochenen und
geschriebenen Deutsch vermittelt, wird ganz unterschiedlich beantwortet (dazu Polenz
1990; Ammon 1995; Takahashi 1996).
Eine Verständigung über den Standard ist schwierig, aber noch schwieriger ist die Be-
schaffung geeigneter Daten. Denn eigentlich genügt es nicht einmal, authentische Daten
zu bearbeiten, sondern man müsste auch über statistische Verteilungen Bescheid wissen.
Wieviele Leute reden tatsächlich so, wie die Grammatiker annehmen? Beschreiben wir
nicht eine Sprachform, die es so gar nicht gibt? Geht man solchen Fragen mit einiger
Konsequenz nach, verselbständigt sich das Datensammeln sofort und aus der Grammatik
wird nichts mehr.
Gelingt eine Verständigung über den Standard, erhebt sich als nächste die Frage nach
Konsistenz und Vollständigkeit der Grammatik. Eine vollständige Grammatik soll die
ganze Sprache beschreiben. Aber, so sagt die neuere Linguistik, sie soll auch nicht mehr
als diese Sprache beschreiben, d. h. sie soll genau auf die Sprache passen. Es muss eine
Grenze gezogen werden zwischen Einheiten, die zum Deutschen gehören, und solchen,
für die das nicht gilt. Deskription und Präskription sind nicht ohne weiteres zu trennen.
Die in 1.1 angesprochenen kombinatorischen Regularitäten legen den Umfang fest, in
dem Daten von einer Grammatik erfasst werden. Natürlich besteht dann zum Beispiel die
Gefahr, dass man als Grammatiker bestimmte Daten ausschließt, weil sie die Regularitä-
ten komplizieren. Andererseits ist ein Deskriptivismus nicht blind. Nicht alles, was ir-
gendwo geäußert wird, gehört unbesehen zum Deutschen.
Die Sprache als Menge von wohlgeformten Einheiten und die Grammatik als Speziğ -
kation der Regularitäten, die genau auf diese Menge von Einheiten passt und damit selbst
zwischen grammatisch und ungrammatisch trennt, bringt die Möglichkeit von reiner De-
skription ins Wanken. Im Deutschen gibt es tausende von Formvarianten und Doppelfor-
men, die der Grammatikschreibung als sog. Zweifelsfälle entgegentreten (Muthmann
1994; W. P. Klein 2003). Die Grammatik bewertet solche Zweifelsfälle, indem sie feststellt,
warum und wo sie auftreten. In diesem Sinne bleibt es Aufgabe der Grammatik, zwi-
schen richtig und falsch zu unterscheiden (s. u.).
Ist damit aber das Normproblem überhaupt getroffen? Sehr häuğ g bezeichnet man eine
Sprache wie das Deutsche als ›natürlich‹, um sie von ›künstlichen‹ wie Logikkalkülen oder
Programmiersprachen zu unterscheiden. Aber die Unterscheidung impliziert mehr. Das
Reden von natürlichen Sprachen bringt das Normproblem in gewisser Weise zum Ver-
schwinden. Ist die menschliche Sprache ein Stück Natur, dann können wir sie von außen
betrachten wie die Natur überhaupt. Sie wäre uns als natürlicher Gegenstand gegeben.
Sprachliche Normen dagegen versteht man als gesellschaftliche oder soziale Normen. Mit
ihnen hätte die Sprachwissenschaft nichts zu tun (afğ rmativ so z. B. Pinker 1996: 431 ff.).
Einen im Ergebnis vergleichbaren Standpunkt beziehen Sprachwissenschaftler häuğ g,
indem sie den Gegensatz zwischen Sprachsystem und Sprachnorm hervorheben. Im Zen-
trum der Sprachwissenschaft stehe die Erforschung des Sprachsystems, die Sprachnorm
sei von nur marginalem Interesse. Die Begriffe System und Norm sind jedoch durchaus
und sogar in mehrfacher Weise aufeinander beziehbar. Zeichnen wir eine mögliche Ar-
gumentationslinie in Kürze nach (vgl. z. B. Coseriu 1971; Hartung 1977; Busse 2006; W. P.
Klein 2009).
Die grammatischen Regularitäten unserer Sprache brauchen nicht bewusst zu sein,
aber sie sind verbindlich. Wir erwerben sie und halten uns an sie. Man hat sie deshalb
implizite Normen genannt.
Eine ausformulierte Phonologie oder Syntax sind Theorien über die Regularitäten, auf
denen das Sprechen basiert. Insofern machen sie eine implizite Norm explizit. Sagt die
Theorie etwas Zutreffendes aus, dann werden Regularitäten des Systems fassbar, sie sind
uns bekannt. Sind Regularitäten einmal formuliert, kann es vom Beschreiben des Systems zum
Vorschreiben mithilfe einer normativen Regel ganz schnell gehen. Keine de-
skriptive Grammatik ist davor gefeit, dass sie normativ verwendet wird.

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