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[x / Christos Thanatos
\ Gedicht. Dr. Kurt Piper 309

Fragmente eines Geistsuchers


(Henri Frederic Amiel)
Herbert Thinius 309

Gemeinschaftsleben
CL [ (Impulse der Gegenwart 4)
“ Dr. Friedrich Rittelmeyer 316

Das kleine Kind


Nachahmung, das Präludium aller Erziehung
Dr. Herbert Hahn 318

inem Sohn
dicht. Dorothea Letzsch 321

Aus der Bücherwelt


Alexandra David-Neel: „Vom Leiden zur Erlösung. Sinn und
Lehre des Buddhismus“ Prof. Dr. Richard Karutz 321
Albert Steffen: „Merkbuch“ Rudolf Meyer 322

Aus meinem Leben


(; f 2. Das Kind und die Menschheit A
a I Prof. Dr. Hermann Beh f 323

Erwiderungen auf Briefe


Konfirmationsvorbereitung Arnold Goebel 327
Skandinavische Reise G. D. Horne /Lie. Emil Bock 328
Lebensangst Rudolf Fuchte 329

Antworten auf Fragen


y
VA g& £ Warum hat die Christengemeinschaft ein neues Priestertum
re gebracht? Dr. Friedrich Rittelmeyer 330
Warum ist äußerer Kultus notwendig?
Dr. Friedrich Rittelmeyer 331
Blicke in die Zeit
Krisis in der anglikanischen Kirche 332
„Synthetischer Schlaf“ 333
Wissenschaftliches über das „Weiterleben“ 334

Religiöse Zeugnisse aus der Vergangenheit


. Aus „System der Ethik“ II, S. 430 ff. von Immanuel Hermann
IR} Fichte 336
Aus „Hyperion“, 1. Buch, 7. Brief von Friedrich Hölderlin 336
Die Christengemeinschaft
Diese Zeitschrift dient der religiösen Erneuerung der Gegen-
wart aus dem Geist eines sakramentalen Christentums, das
durch die Christengemeinschaft vertreten wird. Sie erscheint am
Anfang jedes Monats in Stuttgart und wird herausgegeben von
Dr. Friedrich Rittelmeyer
14. Jahrgang 12 März 1938

Christos Thanatos
Kurt Piper
Vorspruck
Sterben und Sterben ist ein großer Unterschied und „das
Zeitliche segnen“ etwas ganz anderes als „den Weg allen
Fleisches geben“...

Nichts kann ärger dir begegnen Nichts mehr hat der Tod zu bergen
Als die Menschen dumpf und träge Hinter Larven wie von Leichen.
Wandeln seh’n des Fleisches Wege, Charon muß die Segel streichen
Statt das Zeitliche zu segnen... Vor dem himmlischeren Fergen...

Denn wer selbst die Zeitgewalten Tönegold aus höhern Harfen


Aus dem Geiste segnen lernte, Lockt hervor ein Weltendichter,
Braucht sich bis zur Lebensernte Wo voraus die Christuslichter
Nicht mit Sterben aufzuhalten... Selbst die Griechenschatten warfen...

Spielend gleitet er hinüber, Mag in Blut- und Tränenbächen


Ein im Geist geübter Fechter; Sich in Siegen und Erliegen
Denn der dunkle Schwellenwächter Fleisch um Fleisch zu Bergen trümmern:
Ging schon hier an ihm vorüber... Einen Segnenden bekümmern
Schwerer nicht die Zeitgebrechen,
Als sie vor der Gottheit wiegen...

Fragmente eines Geistsuchers (Henri Frederic Amiel)


Herbert Thinius
Jeder dringt in Gott ein, soweit Gott in ihm ist.
(Amiel: 1821—1881)
Man schrieb den 11. Mai 1881, als der Schriftsteller und Philosoph Henri Frederic Amiel auf dem
kleinen Friedhof von Clarens beigesetzt wurde. Seine Freunde, die ihm die letzte Ehre erwiesen
‘hatten, machten sich voller Trauer und widerstreitender Empfindungen auf ihren Heimweg. Zurück-
blickend auf das Leben Amiels, konnten sie sich einer gewissen Enttäuschung nicht erwehren, denn

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es war ihnen unerklärlich, warum dieser scharfsinnige Denker und künstlerisch so begabte Mensch
es nicht verstanden hatte, sich in der Öffentlichkeit einen Namen zu machen. — Niemand vermochte
das Rätsel zu lösen, bis eines Tages seine Tagebücher entdeckt wurden.
Was für eine Persönlichkeit verbarg sich hinter dem zurückgezogen lebenden Universitätsprofessor
Amiel? Was waren seine Ziele, um deren willen er auf jeglichen äußeren Erfolg verzichtete? Seine
Lebensaufzeichnungen geben Antwort auf diese Fragen. Vertieft man sich in diese Tagebuchblätter,
dann offenbart sich einem der tragische Schicksalskampf eines Menschen, der die Gefahr der Ver-
dunkelung und Unterdrückung des Geistes durch die Todeskräfte des heraufkommenden Maschinen-
zeitalters mit wachen Augen erlebte.
Noch wurde die Mehrzahl der Menschen seelisch getragen von einem überkommenen religiösen
Lebensgefühl und nur wenige erkannten die Konsequenzen, die aus einer solchen Weltanschauung
notwendigerweise erwachsen würden. Mit Grauen sah Amiel, wie das Rad der Entwicklung immer
schneller dem Abgrund zulief. Hier gab es für ihn nur eine Möglichkeit der Rettung: den Anschluß
zu finden an reale geistige Kräfte. Ahnend empfand er, daß diese Kräfte einzig und allein dem
kultischen Leben entspringen — aber wo sollte er diesen Kultus finden? Der katholischen Kirche
entglitt diese spirituelle Lebenskraft immer mehr und im Protestantismus war der Sinn für kul-
tisches Leben bereits am Erlöschen.
Am 26. April 1852 schrieb er in sein Tagebuch folgendes:
su.» Doch mir fehlt etwas: der Kultus, die positive, mit anderen teilbare Frömmig-
keit. Wann wird die Kirche, derichinnerlich angehöre, begründet sein? Ich
kann mich nicht wie Scherer damit zufrieden geben, für mich allein Recht zu haben. Ich brauche ein
weniger einsames Christentum. Meine religiösen Bedürfnisse sind nicht befriedigt, es ist wie mit
meinem sozialen und mit meinem Liebesbedürfnis. Wenn ich sie im Halbschlaf zu vergessen beginne,
so erwachen sie mit um so schmerzlicheren Stacheln ... . .“
Dieser Ruf aus der Einsamkeit nach religiöser Gemeinschaft zeugt von einer tiefen Sehnsucht nach
einer wahren, geistigen Lebenssubstanz. Amiel war erfüllt von der Hoffnung auf eine zukünftige
Menschengemeinschaft, die es wieder verstehen würde, kultisches Leben in rechter Weise zu pflegen.
Es entsprach nicht seinem Wesen, in Passivität das Kommende zu erwarten, sondern er empfand
die Pflicht, selbst auf die Suche zu gehen nach dem verlorenen Geisteslicht. Aus dem Johannes-
Evangelium, das er bis zu seinem leidvollen Tode wie ein Heiligtum verehrte, schöpfte er immer
wieder Kraft und Seelensicherheit, um seine sich selbst gestellten Aufgaben zu erfüllen.
Am 1. Oktober 1849 schrieb der 28jährige Amiel in sein Tagebuch:
„Gestern, Sonntag, habe ich wieder das gesamte Johannes-Evangelium gelesen und Auszüge daraus
gemacht. Meine Ansicht hat sich nur gefestigt:
Es ist das Einzige, dem man glauben darf, wenn man Jesus Christus sucht, das wahre Bild des
Herrn entdecken will... . Ein leuchtender Himmelsstrahl fiel auf die Menschheit: das Wort
Christi! In tausend Farben wurde das Licht zerstreut, nach tausend Seiten wurde es getragen.
Es ist die historische Aufgabe des Christentums, jedes Jahrhundert durch neue Metamorphosen zu
gehen, das Verständnis für Jesus Christus, für die Erlösung immer mehr zu vergeistigen.
Überrascht hat mich die unglaubliche Summe von Judentum und Formalismus, die neunzehn Jahr-
hunderte fortbesteht, nachdem der Erlöser verkündet hat: Der Buchstabe tötet!
Die neue Religion ist so tief, daß sie bis zur Stunde unverstauden ist und von den meisten
Christen als ketzerisch empfunden wird. Die Person Christi ist der Mittelpunkt dieser Offenbarung.
Offenbarung, Auferstehung, ewiges Leben, Sühneopfer, Menschwerdung, jüngstes Gericht, Satan,
Himmel, Hölle, — all das ist ins Materielle hineingezogen worden und wird — welch seltsame
Ironie! — trotz seines tiefen Sinnes materiell ausgelegt.
Christlichen Mut und christliche Freibeit gilt es wieder zu erobern, die Kirche ist die Ketzerin,
weil ihr Auge trübe und ihr Herz kleinmütig ist. Wir mögen wollen oder nicht, es gibt
eine esoterische Lehre. Die Offenbarung ist jedem einzelnen eine andere, jeder dringt in

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Gott ein, soweit Gott in ihm ist. Mit Angelus Silesius.glaube ich, daß das Auge, mit dem ich. Gott
sehe, dasselbe ist, mit dem er mich sieht ...*
Das Leben Amiels war ein dornuenvoller Weg durch tiefste Seeleneinsamkeit. Allein das geistige
Ziel, zu dem er auch in Zeiten der Mutlosigkeit und qualvollen Leidens aufblickte, gab ihm die Kraft,
sein Schicksal zu vollenden. Obwohl ihm sein Ruf als eines besonders begabten und geistreichen
Menschen die Salons und literarischen Zirkel der gebildeten Genfer Gesellschaftskreise öffnete, fand
er doch nicht einen einzigen Freund, der ihn und seine geistigen Ziele verstehen konnte. Man konnte
es überhaupt nicht begreifen, warum ein. Mensch wie Amiel, der doch als Wissenschaftler außer-
ordentlich befähigt war und wirtschaftlich sorgenlos hätte leben können, sich Sorgen machte um die
Zukunft des Christentums und eine Sehnsucht empfand nach neuem religiösem Leben. Schließlich
hatte man ja doch auch noch die Kirche! —
Es ist wohl das schwerste Schicksal, wenn man das Herannahen einer großen. Gefahr für die
Menschheit: wahrnimmt, warnen und helfen möchte, aber auf absolutes Unverständnis stößt. und
vielleicht sogar als religiöser Phantast belächelt wird! Amiels Warnungsrufe verhallten ungehört,
und die Menschen taumelten selbstbewußt und überheblich lächelnd dem Abgrund einer allgemeinen
Seelenverödung entgegen.
Oft gab es für Amiel Stunden der Mutlosigkeit und Verzweiflung, daß er sich fragte: Ist denn
nicht mein ganzes Streben sinnlos? Was nützen mir alle die Erkenntnisse und Bemühungen, wenn
ich das Mittel nicht finde, den Menschen deutlich zu machen, daß es an der Zeit ist, den Aufstieg
zum Geist vorzubereiten. Unsagbar schwer trug er an seiner ungewollten Einsamkeit. Sich der
Gefahr dieser Verzagtheit bewußt werdend, schreibt er:
ae... Dicht müde und kalt werden, geduldig, liebevoll und gütig sein;- nach der Blume spähen,
die aufbricht und dem Herzen, das sich erschließt; immer hoffen wie Gott, immer lieben — das
ist unsere Pflicht.“
Viele Probleme des inneren Lebens, die heute im Niedergang einer traditionellen Religiosität zu
entscheidenden Schicksalsfragen angewachsen sind, empfand Amiel damals bereits als brennende Zeit-
fragen. Als Wissenschaftler hatte er erleben müssen, wohin es führt, wenn man das System der
Logik und der Analyse überschätzt. Seelenkälte läßt den Menschen langsam erstarren, wenn er sich
zu lange diesem phosphorisierenden Scheinlicht hingibt. Wie heilende Wärmekraftströme empfand
er dagegen die Wirkungen eines geistdurchströmten Gebetslebens. Am 25. November 1863 schreibt
er in sein Tagbuch:.
„Das Gebet ist die stärkste Waffe der Religion. Wer nicht mehr beten kann, weil er zweifelt, ob
es ein Wesen gibt, das das Gebet empfängt und Segen spendet, ist furchtbar einsam und bitter arm.
Drei Jahre später schrieb er:
so Ich glaube, daß die Gegner der Religion sich über die Bedüfnisse des abendländischen
Menschen nicht ganz klar sind. Die gegenwärtige Welt würde ihr Gleichgewicht verlieren, wenn sie
allein der wenig gefestigten Lehre des Fortschritts huldigen wollte. Wir können des Unendlichen,
Ewigen, Absoluten nicht entraten; und da die Wissenschaft sich mit dem „Relativen“ begnügt, so
bleibt eine Lücke, die man am fruchtbarsten mit Kontemplation, Religion und Anbetung schließt . . .“
Immer wieder weist sein Tagebuch darauf hin, wie lebensnotwendig und wie real er die Wirkungen
des meditativen Lebens empfand. Bemühte er sich, Menschen und Schicksale zu verstehen, dann
machte er sich frei von Kritik und Voreingenommenheit und versuchte innerlich aufzuhorchen, was
die andere Wesenheit ihm wohl zu sagen hatte. Wie etwas ganz Selbstverständliches beginnt er einen
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Bericht über seine philosophischen Studien mit den Worten:


„= - - Ich habe heute mit Schopenhauer meditiert.“
Trotz seiner schmerzlichen Einsamkeit geriet er niemals in Gefahr, weltfremd, hart und verbittert
zu werden, denn bis an das Ende seines Lebens hütete er die heilige Flamme der Menschenliebe und
des Opfers. Nichts konnte ihn mehr betrüben, als mit Menschen zusammenzukommen, die in ihrer
geistigen Unwissenheit über heilige und erhabene Dinge spotteten. Nach einer solchen Begegnung
schrieb er in sein Tagebuch:

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» + » - Die Spötter opfern sich selten. Warum sollten sie auch?.Ein Opfer verlangt Ernst, und
es heißt aus seiner Rolle fallen, wenn man zu lachen aufhört. Um sich zu opfern muß man lieben;
um zu lieben, an die Realität dessen glauben, was man liebt; man muß leiden können, sich vergessen,
sich hingeben, ernst werden. Ewiges Lachen muß zu absoluter Vereinsamung führen, mit ihm wird
der Egoismus auf den Schild gehoben. Um den Menschen zu helfen, muß man sie lieben — nicht
verachten; man darf sie nicht: die Dummen heißen, sondern: die Unglücklichen! Dem skeptischen
Pessimisten und Nihilisten ist meuschlich leichter beizukommen als dem spöttischen Atheisten. Es ist
besser, unterzugehen, als sich allein zu retten, und man tut unrecht an seinem Geschlecht, wenn man
allein vernünftig sein und seine Vernunft nicht mitteilen will. Übrigens ist es eine Torheit, sich die
Möglichkeit eines solchen Privilegiums vorzustellen, wo alles die Solidarität der Einzelwesen beweist
und man nicht anders denken kann als mit der allgemeinen Denkkraft, an der Kultur und Erfahrung
von Jahrhunderten gearbeitet ‚haben.
Absoluter Individualismus ist eine Albernheit. Man kann in seinem besonderen
und zeitlich begrenzten Milieu einsam sein, aber jeder Gedanke und jedes Gefühl finden ihren. Wider-
hall in der Menschheit, dort haben sie ihn gefunden und dort werden sie ihn finden. Der Widerhall
ist unendlich weittragend für einige Auserwählte, die Führer, Propheten, Reformatoren der Mensch-
heit waren, aber niemandes Wort verhallt ganz. Jedes Wort, das aus der Seele quillt, jedes Eintreten
für seine Überzeugung hilft den Menschen ein Stück weiter, fördert eine Sache — selbst dann, wenn
man ein Schloß vor dem Munde trägt und einen Strick um den Hals. Der Eindruck des gesprochenen
Wortes läßt sich nicht zerstören, es ist wie eine Bewegung, die sich verwandelt ohne zu verschwinden!
Das ist Grund genug, um sich zu beteiligen und zu wirken, nicht zu spotten und zu schweigen. Man
muß an die Wahrheit Blauben; nach dem Wahren suchen und es verbreiten; die Meuschen lieben und
ihnen dienen... .*
Geht man dem weiter nach, was Amiel in diesen wenigen Sätzen angedeutet hat, dann erkenut
man, wie tief und wie umspannend sein Wissen von den Gesetzen der Menschheitsentwicklung ‚war.
Ausgehend von einer mehr philosophischen Betrachtungsweise, verläßt er fast unmerklich den Bereich
der physischen Erfahrung und betritt den Höhenweg einer esoterischen Welterkenntnis.. Wie anders
sollte man sonst seine Worte verstehen:
„Der Eindruck des gesprochenen Wortes läßt sich nicht zerstören, es ist wie eine Bewegung,. die
sich verwandelt ohne zu verschwinden.“ De
Fast ausgesprochen hat er biermit das, Mysterium vom. Logos, der schöpferischen Wortkraft, deren
lebenerweckender Odem den Weltenäther bewegt und dadurch formt, gestaltet und immer wieder
neues Leben schafft.
Der Schlüssel, der Amiel alle Türen auf seinem Entwicklungspfad öffnete, war seine unendliche
Liebe und seine bejahende, positive Einstellung zum Leben und zum Schicksal. Nichts im alltäglichen
Geschehen erschien ihm zu gering oder gar sinnlos. Mit ungeheurer Intensität erlebte er überall das
Wirken göttlicher Kräfte und sprengte somit die vom Menschen künstlich errichteten Erkenntnis-
schranken. Nicht theoretische Vorstellungen, sondern Erlebnisse bildeten die Grundlage seiner Welt-
anschauung, die er mit folgenden Worten skizziert:
„Man lebt, solange man sich fortentwickelt ..... . Um sich lebendig zu erhalten, muß man sich
fortwährend verjüngen durch innere Wandlung und durch Liebe... .“
Amiels außerordentlich zarte Konstitution wurde etwa um das Jahr 1870 durch ein schmerzhaftes
Keblkopfleiden und Erkrankung der Atmungswege stark erschüttert. Vollbewußt erlebte er das
Herannahen der Todesschatten, aber er bestand auch diese Prüfung und bemühte sich, in Gelassenheit
dem Augenblick entgegenzusehen, wo seine Erdenmission beendet sein würde und die Forderung
zum Überschreiten der Todesschwelle an ihn herantreten sollte. Wie selbstverständlich und vertraut
ibm die Vorstellung von den wiederholten Erdenleben war, beweist eine Tagebuchaufzeichnung aus
dem Jahre 1868:
„Wenn ich an die Intuitionen aller Art denke, die ich seit meiner Jugend gehabt habe, bin ich der
Meinung, daß ich Dutzende, ja vielleicht Hunderte von Leben gelebt habe. Jede ausgesprochene

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Individualität findet unmittelbar ihren. Widerhall in mir, oder vielmehr formt wichtmach ihrem Bilde.
Ich brauche mich in solchen Augenblicken nur selbst zu beobachten, um solche neue Art des Daseins
zu begreifen. So.bin ich alles schon gewesen: Mathematiker, Mönch, Musiker, Kind, Mutter ....
In meine eigene Haut zu schlüpfen ist mir immer erschienen wie etwas Zufälliges, Sonderbares,
Konventionelles ... :.. infolgedessen kann ich mich nur schwer 'entschließen, die zufällige Rolle eines
Staatsbürgers zu spielen, der einem bestimmten Lande, einer bestimmten Stadt angehört ..... .“
Kurz vorker findet sich noch folgende merkwürdige und bedeutsame Bemerkung:
3». +. Wäre mir darum zu tum gewesen, so hätte ich die Hellsichtigkeit einer Somnambule in
mir entwickeln und eine Reihe seltsamer Erscheinungen an mir beobachten können. Ich bin mir dessen
wohl bewußt, aber ich habe mich davor gehütet — aus Überlegung!“
Vertieft man sich mit dem notwendigen Ernst in diese fragmentarischen Aufzeichnungen seelischer
Erlebnisse und geistiger Erkenntnisbemühungen, so ist man immer wieder überrascht, wie weit Amiel
bereits eingedrungen war in jene Gebiete, die die moderne Geisteswissenschaft der heutigen Mensch-
heit langsam und Schritt für Schritt wieder nahezubringen versucht.
In den letzten 10 Jahren seines Lebens wird es ganz besonders deutlich, daß er ein „Bürger zweier
Welten“ war. Alle irdischen Erlebnisse und Beobachtungen waren für ihn nur Erkenntnismaterial
zum Verständnis und zur Erklärung des göttlichen Weltenplanes. Aus der Geschichte hatte er gelernt,
wie gering der Erfolg war, wenn Menschen gegen die Schlechtigkeit der Welt wetterten und die
Untergründe der menschlichen Seele bloßstellten, um dadurch die Sehnsucht nach dem Guten zu
wecken. Hat der Mensch noch nicht die moralische Reife, so gerät er bei der ständigen Analyse des
Bösen in Gefahr, sich darin zu verstricken. Für den inneren Reifeprozeß ist es wertvoller, seine
Blicke auf die Symbole der Vollkommenheit des Guten und Idealen zu richten, denn der Aufblick
zum Ziel sporut mehr zur Entwicklung an, als das dauernde Stehenbleiben bei dem Negativen und
Entarteten. Bereits mit 31 Jahren versuchte er diese bejahende Lebensanschauung zu formulieren
und schrieb folgendes in sein Tagebuc:
ae ss + Heute wurde ich 31 Jahre alt... Das Leben ist das schönste Gedicht, das Leben, das
sich einen neuen Mikrokosmos weiß und vor Gott das göttliche Gedicht des Universums noch einmal
im Kleinen abspielt. Ja sei Mensch, d. h. sei Natur, sei Geist, sei Bild Gottes, sei das Größte,
Schönste, Erhabenste in allen Sphären des Seins, sei eine Idee und ein unendlicher Wille, eine Wieder-
geburt des großen Alls. Und sei alles, indem du nichts bist, indem. du. Gott in dich einströmen läßt,
wie Luft in einen leeren Raum, indem du dein egoistisches Ich darauf beschränkst, nur die Hülle des
Göttlichen zu sein. Sei demütig, schweigsam, um die zarte Stimme tief in dir zu hören; sei Geist
und sei rein, um mit dem reinen Geist in Einklang zu stehen. Ziehe dich zurück in das Heiligtum
deines innersten Bewußtseins, um frei zu werden von Raum, Zeit, Materie, Versuchung, Zerstreuung,
um deinen Organen, deinem eigenen Leben zu entgehen, mit anderen Worten: stirb oft und prüfe
dich angesichts dieses Todes, denn er ist die Vorbereitung für den letzten Tod. Wer furchtlos Blind-
heit, Taubheit, Lähmung, Krankheit, Verlassensein und Elend ins Auge faßt, kann ohne Zittern dem
höchsten Richter gegenübertreten und kann sich allein bereit nennen für den halben oder ganzen
Tod. — Wie weit bin ich davon entfernt und wie fremd ist meinem Herzen dieser Stoizismus. Aber
sich wenigstens loslösen von dem, was genommen werden kann, alles empfangen wie ein Pfand und
eine Gabe, und sich nur ans Unvergängliche halten — diesen Versuch gilt es... .
Nur wenn wir das Leben vom Standpunkt einer tätigen, sittlichen und vergeistigten, vertieften
F

Religion betrachten, erkennen wir seine Würde und Energie. Wir werden unverletzlich und unbesieg-
bar. Die Erde kann man nur im Namen des Himmels überwinden. Alle Güter werden dem im Über-
fluß, der nichts will als Weisheit. Wenn man selbstlos ist, ist man am stärksten und die Welt liegt
dem zu Füßen, den sie nicht in Versuchung führen kann. Warum? Weil der Geist Herr ist über die
Materie und die Welt Gott gehört. Fasset Mut — hat eine himmlische Stimme gesagt — ich habe
die Welt überwunden.
Herr, leihe deine Kraft den Schwachen, die erfüllt sind vom guten Willen!“
Dieses Bekenntnis Amiels verrät seine. Bemühungen; :in 'ehrfurchtsvoller Geisteshaltung alles anzu-

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erkennen, was wahrhaft anerkennenswert ist, und zugleich mit michaelischem Mut die vom Schicksal
geforderten Aufgaben zu meistern. Amiel verkündet den Primat des Geistes in einer Zeit, in der die
Menschen von der Materie fasziniert und überwältigt werden und deshalb vergessen, wer der Schöpfer
der Materie ist.
Wie ahnend empfand er das Heraufkommen der dunklen Mächte, deren Ziel es ist, jegliche
Erinnerungen an den Ursprung der Menschen, an die wahren Menschheitsaufgaben auszumerzen.
Das Bild des ringenden Laokoon stand warnend vor seiner Seele, als er die ernsten Worte prägte:
„Unablässige Selbstzucht ist der Charakter moderner Sittlichkeit. Dieses schmerzliche Werden steht
an der Stelle von Harmonie, Gleichgewicht, Freude und Sein. Wir alle sind Faune, Satyre, Silene, die
danach streben Engel zu werden, häßliche Wesen, die an ihrer Verschönerung arbeiten, Puppen, die
ihren Schmetterling erzeugen. Das Ideal ist nicht mehr die abgeklärte Schönheit der Seele; es ist
Laokoons Angst, die sich gegen die Schlange des Verderbens wehrt. Die Würfel sind gefallen. Es gibt
keine glücklichen, vollendeten Menschen mehr, sondern nur noch Kandidaten der Vollendung, die wie
Sträflinge auf der Erde leben... .“
Man schrieb den 1. September 1874, als ihm der Arzt die beunruhigende Mitteilung über seinen
Gesundheitszustand machte. Es wurde ihm an diesem Tage zur Gewißheit, daß er sich nun vor-
bereiten mußte, um würdig die Todesschwelle überschreiten zu können. Eine Zeit unsagbären Leides
zog nun für ihn herauf, denn die durch sein Kehlkopfleiden verursachten Erstickungsanfälle ließen
ihn bei vollem Bewußtsein einen martervollen, langsamen Tod erleiden. Visionär erkannte er diesen
letzten, leidvollen Lebensabschnitt bereits an diesem ersten Septembertag wid nötierte folgendes in
sein Tagebuch: : “
»° + - „ Mein Organismus ist nicht sonderlich haltbar. Er hat gehalten, solange es ging. Jetzt sind
andere an der Reihe, es gilt sich zu bescheiden. Nur Bevorzugten wird ein plötzlicher Tod zuteil;
du sollst stückweise sterben. Unterwirf dich. Zorn wäre sinnlos. Du gehörst noch zur bevorzugten
Hälfte, und dein Los ist glücklicher als das des Durchschnitts :”. . Böse ist es, sein Selbst zu wollen,
d. h. seine Eitelkeit, seinen Hochmut, seine Sinnlichkeit, selbst seine Gesundheit. Gut ist. es, seine
Bestimmung zu wollen, sein Schicksal hinzunehmen, zu wollen, was Gott befiehlt, auf alles zu ver-
zichten, was er verbietet, und zuzustimmen, wenn er uns nimmt oder versagt. Was dir in deinem
besonderen Falle genommen, es ist die Gesundheit, d. h. die sicherste Basis jeder Unabhängigkeit;
aber dir bleibt materieller Wohlstand und Freundschaft. Noch droht dir weder die Kunechtschaft des
Elends, noch die Hölle völliger Vereinsamung. “
Hier zeigt es sich deutlich, daß er selbst im Angesicht des Todes bemüht ist, sein Ja zu sprechen
zu dem, was das Schicksal von ihm fordert. Christian Morgenstern, der 50 Jahre später als Amiel
geboren wurde, sagt einmal: Man muß zum Schicksal ja sagen, selbst wenn das Schicksal zu einem
nein sagt.
Langsam wurde der Körper Amiels von der schleichenden Kehlkopfkrankheit zerstört, um schließ-
lich wie ein kostbares Gefäß zu zerbrechen. Je weiter der äußere Zerfall seines Leibes fortschritt,
desto mehr konzentrierte und verinnerlichte sich seine geistige Schaffenskraft. Die Aufzeichnurigen
werden bis in den Stil hinein klarer, kürzer, und es ist, als ob die letzten irdischen Panzerringe
zerspringen, um noch einmal mit ungeheurer Intensität die geistige Individualität Amiels sprechen
zu lassen. Diese letzten Aufzeichnungen spiegeln den Weg einer Seele, die sich bereits aus der Leibes-
hülle herauszieht und nun von einer höheren Warte aus auf das Leben mit allen seinen Wünschen,
Schwächen, Hoffnungen, Aufgaben und Zielen zurückblickt.
Auf Anraten seines Arztes war er an die Südküste Frankreichs gefahren, aber auch dort fand er
keine Linderung. In seinem Tagebuch steht die Notiz:
„Trotz meiner Pulver eine schlechte Nacht. Einen Augenblick war es mir zu Mute, als würde ich
ersticken, da mir der Atem ausging. Der leiseste Anstoß genügt, und ich bin arbeits- und lebens-
unfähig. Meine Freunde leben in dem Wahn, mir stünde noch eine Zukunft bevor, aber ich fühle,
wie der Boden unter mir schwankt, und wie es vergebene Liebesmüh ist, meine Gesundheit zu
schützen. Ich weiß, daß nicht ein einziger meiner Wünsche in Erfüllung gehen wird, und ich habe

314
schon lange aufgehört zu wünschen. Was zu mir kommt, empfange ich wie den Besuch eines Vogels
an meinem Fenster. Ich lächle ihm zu, aber ich weiß, der Gast hat Flügel und wird nicht lange
weilen. Der Verzicht aus Hoffnungslosigkeit hat eine melancholisch-weiche Note. Man betrachtet das
Leben wie vom Totenbette aus, ohne Bitterkeit und vergebliches Bedauern. .
Ich hoffe nicht mehr gesund zu werden, im Leben nützlich, glücklich zu sein. Mögen die, die mich
geliebt haben, mir ihre Liebe bis zuletzt erhalten; ich möchte ihnen im Leben Gutes erwiesen haben
und mir ein freundliches Erinnern bewahren. Ohne Auflebhnung, ohne Schwäche möchte ich auslöschen.
Das ist ungefähr alles. Ist dieser Rest von Hoffnung und Wuusch noch zuviel? — Gottes Wille
geschehe. In seine Hände lege ich mein Geschick.“
In diesem Abschied vom Leben offenbart sich die geistige Haltung eines Menschen, der sich nicht
auflehnt gegen das Schicksal, sondern der selbst im tiefsten Leid mit der göttlichen Weltenordnung
in harmonischer Verbindung zu bleiben versucht. Etwa sieben Monate vor seinem Tode erlebte er
deutlich, daß sich in ihm eine Bewußtseinsveränderung vollzog. Die letzten Schleier wichen vor
seinem Blick, so daß es ihm nun vergönnt war, die Geheimnisse der kosmischen Lebensprozesse klarer
zu erkennen. Deshalb konnte er von sich sagen:
„Es erscheint mir, als würde ich desto.mehr Geist werden, je mehr meine aktive Kraft schwindet;
alles wird mir klar, ich sehe die Phänomene, das Innerste der Wesen, den Sinn der Dinge. — Alle
persönlichen Erlebnisse, alle besonderen Erfahrungen sind mir nur Vorwand zum Nachdenken, Tat-
sachen, die sich in Gesetze verallgemeinern, Wirklichkeiten, die sich auf Ideen zurückführen lassen;
‚das Leben ist nur ein Dokument, das es zu denken, ein Stoff, den es zu vergeistigen gilt. Das ist das
Leben des Denkers. Er entpersönlicht sich jeden Tag, wenn es gilt zu dulden und zu handeln... ..
Nicht einmal seinen Körper hält er für sein Eigentum; er fühlt den Lebensstrom in sich wirken, der
ihm verliehen ist für den Augenblick, damit er die kosmischen Schwingungen erkenne... .*
In seinem ganzen Denken und Fühlen stellt Amiel sich um auf die neue Lebensphase in einer rein
geistigen Welt. Obwohl sein immer schmerzhafter werdendes Leiden ihn wie mit schweren Ketten
hinabziehen will in die Tiefen des irdischen Lebenskampfes, gelingt es ihm doch durch Schulung
und meditatives Leben, sein Ich zu retten aus den herunterziehenden Seelenströmungen des Schmerzes,
‚der Angst- und Verzweiflungszustände.
Während dieser letzten Leidensstationen führte er sein Tagebuch immer noch weiter. Einige
‚Aphorismen, die in ihrer knappen Formulierung und in ihrer aktuellen Bedeutung eine außerordent-
liche Steigerung seines schriftstellerischen Schaffens darstellen, sollen bier folgen:

Ein Mensch sein ist ärmlich,


Mensch sein ist gut,
Der Mensch sein, das allein lockt.

Es gibt eine Art, die Wahrheit mit Wahrheiten zu töten. Eine Statue pulverisieren, unter dem
Vorwand, sie mehr im Detail betrachten zu wollen, ist ein Wahnsiun, von dem unsere pedantische
Genauigkeit sich nicht sehr unterscheidet. Falsche Geister nenne ich die, die nur die Teile sehen,
sowie die, die selbst die Teile noch falsch sehen. Dinge und Menschen sehen, wie sie sind, wie sie
sein könnten, wie sie sein sollten, — das muß der wahre Kritiker auf einmal tun und diese Tätigkeit
in eine einzige verschmelzen.
*

Die Dinge verstehen, heißt in ihnen gesteckt und sich wieder von ihnen befreit zu haben. Es bedarf
‘also der Hingabe und der Befreiung, der Illusion und der Desillusionierung, der Anziehung und der
Abstoßung. Wer noch unter dem Bann des Eindrucks steht und wer keinen Eindruck empfangen hat,
.der ist nicht kompetent. Nur, was man erst geglaubt, daun beurteilt hat, kennt man wirklich... .
*

315
- +. Geduldig muß am Menschen gearbeitet
werden, auf
daß er ein Weiser werde. Und der
muß Prüfungen erfahren, um
ein Gerechter zu werden. Und Weise
individuellen Willens den Wille der Gerechte muß an Stelle seine
n Gottes einsetzen, um zum s
Mensch, dieser Wiedergeborene, Heiligen zu werden. Und diese
ist der von der Erdenschwere r neue
die Vedas sprechen wie befreite, vergeistigte Mensch, von
das Evangelium, Zoroaster wie die dem
Neuplatoniker.
»
*

Am 11. Mai 1881 erlosch die Lebeusflamme Amiels.


Endlich, nach einer sieben Jabre
Leidensperiode, die ihn ständig das währenden
Bild des Todes hatte erblicken lasse
Amiels aus dem zerstörten Körper, n, löste sich das Wesen
um in die geistige Heimat zurückzu
für den Geist der Wahrheit zu kämp kehren. — Seine Erdenmission:
fen und die Notwendigkeit der
hatte er erfüllt. Menschenliebe zu verkünden,
|

Gemeinschaftsleben
(Impulse der Gegenwart 4)
Friedrich Rittelmeyer
Wer
unsre Überschrift liest und die deuts
che Geschichte in Erinnerung hat,
Verdacht kommen: Hier könnte wohl auf den
sollen wieder einmal „Probleme“
behandelt und „Theorien“ zum
geben werden. Eine ganz andre Aufg besten ge-
abe stellen wir uns: zu lernen und
Keine Frage: Gemeinschaft ist heute zu helfen.
für viele ein neues überwältigendes
Erlebnis geworden. Massen-

Willensimpulse durchbrausen die Mens


chen wie Schöpfungsstürme und
sames Ich in ihnen auf, das mit vielfältig wecken ein höheres gemein-
er Kraft wirkt.
Wir betrachten hier das Erleben unsrer Zeitgenossen
von seiner besten Seite. Dies ist
Aufgabe. Haben frühere Zeiten ähnliche auch unsre
Erlebnisse gehabt? Gewiß — wir brau
zugsbegeisterung zu denken, um ein chen nur an die Kreuz-
hohes Beispiel zu nennen. Aber heute
scheint die Zeit wie eigens

Zubereitet ist die Menschheit auch durch


eine vorangehende Zeit, in der sich Indiv
Liberalismus ausgelebt haben. Man würde idualismus und
jedoch schwer irren, wenn man hier nur
Gesetz dächte, das Luthe an das geschichtliche
r in dem Wort vom betrunkenen
Bauern aussprach, der immer, wenn
von der einen Seite aufs Pferd setzt, man ihn
auf der andern Seite wieder herunterfä
in seiner Weise auf die beherzigenswert llt. Gewiß hat auch Goethe
e Wahrheit bingewiesen, daß immer
beschäftigt, das wieder zu lerne eine Generation sich damit
n, was die vorhergehende — vergessen
mehr an Hegel zu denken
hat. Aber in unsrem Fall wäre
und an sein Gesetz von These, Antithese,
aber in dem Synthese. Polarität ist wohl da,
Sinn, wie eine Spirale abwechselnd nach beiden Richtungen
steigen. ausschwingt,
um höher zu
Wir haben oft daran erinnert, wie das
berühmte „Hier stehe ich, ich kann —.
auf dem Wormser Reichstag gesprochen nicht anders“, das Luther
haben soll, eben darum so begeistert
ist, weil die Menschen tief im Unterbew aufgenommen worden
ußtsein fühlten: hier spricht der Zeitge
Menschen hinweg, der Geist einer mächt ist, über den einzelnen
ig heraufdrängenden Zeit, in der das
entscheidende selbs t-bewußte, selbst-
Ich das Wort zu ergreifen hat. Was in Luther religi
ös durchbrach, lebte sich in den £ol-
genden Jahrhunderten aus auf allen Gebieten des Lebens, nicht
nur in der Kirchengeschichte. Der neu-
zeitliche Liebesroman ebenso wie die Französische Revolution
, der Bekehrungseifer der Heilsarmee
ebenso wie die „große Konfession“ Goethes, der Kampf um Preßf
reiheit ebenso wie die Verherrlichung
316
Napoleons in Beethovens Heroica: alle tiefsten Geisteskämpfe dieser Zeit urständen in diesem Ringen
des Ich um sich selbst.
Niemand wird diese Entwicklung anders wünschen, dem einmal der Sinn aufgegangen ist nicht nur
für ihre reichen Ergebnisse, sondern auch für ihre innerste Notwendigkeit im Dienst der Menschen-
entwicklung. Aber heute melden sich neue Erlebnisse.
Auf der einen Seite ist das menschliche Ich zu sehr in die Vereinzelung getrieben worden. Dadurch
hat es sich erlebt in seiner Einsamkeit, Schwäche, Unsicherheit, Leere. Dies kann in der größten Groß-
stadt geschehen und gerade in ihr. Es braucht auch gar nicht ins klare Bewußtsein aufzusteigen. Doch
haben Dichter und Denker dieser Jahrzehnte gar manchmal erschüttert davon gesprochen, daß der
Mensch im Grund ganz allein ist im weiten Weltall, daß sein Glaube, sich mit andern verständigen zu
können, eine Selbsttäuschung bedeutet, daß jeder Verkehr unter Menschen, selbst wenn sie die gleichen
Worte gebrauchen, doch nur ein Winken ist über Abgründe. Jedes Wort hat ja für jeden Menschen
einen unergründlich verschiedenen Lebensinhalt.
Auf der andern Seite ist den Menschen die Wucht der Menge erdrückend vor Augen geführt worden.
Millionenheere, von einem Willen gelenkt, standen sich im Weltkrieg gegenüber. Vieltausendköpfige
Massen, in Parteien zusammengeballt, überschrien die Einzelstimme der Vernunft und setzten ihre
Ansprüche durch, mit Recht oder Unrecht. Wohlgegliederte Betriebsgemeinschaften, die Zahlengröße
von Städten erreichend, konnten sich im Wettbewerb am siegreichsten behaupten. Und man erlebte,
daß diese Massenzusammenballungen ihre eignen Seelen gewinnen, daß diese Gesamitseelen den ein-
zelnen Menschen in sich hineinsaugen, ihm aber innerhalb des großen Ganzen ein neues Lebensgefühl
und ein neues Dasein geben.
In dem allen stehen wir mitten drin. Keineswegs hat das Neue schon voll seinen wahren Sinn er-
füllt. Und keineswegs hat das Alte schon sein ganzes Recht verspielt.
Gerade an dieser Stelle aber setzt gegenüber der elementaren Gewalt der Tatsachen die freie Über-
legung des Menschen ein. Sie kann und will nicht aufhalten. Aber sie kann in die Entwicklung klare
Einsicht hineinbringen und einen guten Willen.
Wiederum darf die menschliche Überlegung nun nicht etwa an dieser Stelle doch noch anfangen,
Theorien zu spinnen, sondern muß auch hier erlauschen und vielleicht zum Rechten lenken helfen.
Es besteht doch die Möglichkeit, daß der Einzelne von der Gesamtheit erdrückt wird, daß er gar
nicht richtig zu sich selbst kommt, daß er sich — im äußersten Fall — überhaupt nicht als Mensch er-
lebt. Dadurch aber würde der Einzelne auch wertloser für die Gemeinschaft. Nicht als Zahl, wohl aber
als Glied. Und die Gemeinschaft verarmt. Sie hätte dann nicht mehr einen menschlichen Reichtum zur
Verfügung, durch den sie die Fülle ihres Lebens auswirkt. Sie wäre eine Einheit, aber nicht eine Einig-
keit. Eine Gemeinsamkeit, aber nicht eine Gemeinschaft. Das aber wäre ein großer Schaden.
Hier kann, nicht nur logisch, sondern auch erfahrungsgemäß, nur ein Doppeltes helfen. Einmal die
Erkenntnis, daß der Einzelne ein um so wertvolleres Glied der Gemeinschaft wird, je stärker und
reicher er auch in sich selbst ist. Dann aber die ergänzende Einsicht, daß der Einzelne in sich selbst
nur um so größer und wertvoller wird, je mehr er sich dazu verpflichtet fühlt, seinen ganzen Eigen-
wert und Eigenreichtum nicht für sich zu behalten, sondern in die Gemeinschaft hineinzugießen.
Was der Einzelne sich innerlich erobert, das ist er immer den andern schuldig. Mit Worten unmittel-
bar sagen wird er es nicht immer können, wenn es sich um innerliche Dinge handelt. Um so mehr muß
er nach andern Wegen suchen, um alles, aber auch wirklich alles, was in ihm ist, den andern Menschen
zugut kommen zu lassen. Hier taucht sogar ein Ideal von Gemeinschaft auf, das noch kaum erschaut
ist. Denken wir an die nächste Gemeinschaft, die Familie. Wie viele Väter bringen ihrer Familie nur
den traurigen Rest ihrer selbst, wenn sie müde zu Tisch kommen, statt sich verpflichtet zu fühlen, ge-
rade den nächsten Menschen ihr Bestes nicht schuldig zu bleiben. Oder sie drängen ihr Eigenes den
Familiengliedern auf, herrisch, statt es anzubieten und zu schenken. Gesundes Familienleben fordert
eigentlich gerade die allerstrengste Selbstzucht. Sie kann auch bei Müdigkeit und Erholungsbedürftig-
keit durchaus da sein: als Wachheit. Auch für jede „Gesellschaft“ gilt ein gleiches. Sie darf nicht nur
„ein behagliches Sich-aneinander-reiben‘ sein, sondern könnte ein großes gegenseitiges Schenken wer-

317
den. Welche Wunder kann es ins Leben bringen, wenn man auf
den andern Menschen erst einmal
wirklich hört. Auch ein gemeinsames Miteinander-Hineinschauen
in hohe Wahrheiten kann ein fest-
liches Gemeinschaftserlebnis sein, wie wir es an unseren Tagungen
oft erlebt haben.
Andrerseits ergibt sich für den Einzelnen ein ganz neues und wirksames
Motiv für das eigne Höher-
streben, wenn er sich klar macht: ich muß das Höchstmögliche für mich
erreichen, nicht um mich selbst
dabei zu befriedigen, sondern um dem Ganzen um so besser dienen
zu können. Dies erreichen zu
wollen, ist etwas anderes als das Erstreben führender Stellen. Aber auch das Suchen nach dem rechten
Platz in der Menschengemeinschaft ist bei solcher Gesinnung in seinem
Recht, wird aber ruhiger und
freier als beim Ehrgeiz.
Ebenso wird die Kritik am Ganzen und am Bestehenden in solcher Gesinnun
g ihr Amt richtig ver-
walten. Sie hat sich durch Zersetzung und Zerstörung in Verruf gebracht.
Aber ihr Dienst ist nicht
entbehrlich und ist auch nicht einmal gefährlich, wenn die Grundgesinnung
nicht Hochmut oder Eigen-
sinn oder gar bösartige Vernichtungsfreude ist, sondern der Dienst am
Ganzen. Die Menschen hätten
auf die Dauer doch wenig von einem Redner, der immer genau nur das
sagt, was die Menschen selbst
schon wissen und denken. —
Unseren Lesern wird nicht verborgen geblieben sein, wie nah wir
mit dem allen jetzt ans Christen-
tum herangekommen sind. Keine Religion und keine Weltanschauung
hat bisher eine größere Hingabe
verkündet und hervorgerufen als das recht verstandene Christentum.
Zugleich aber hat das recht ge-
lebte Christentum den Einzelnen so in sich selbst froh und reich und stark
gemacht, daß er nicht sein
Glück erst von der Gesamtheit erwartet und „begehrt“ und dadurch in der
Tiefe unzufrieden, ein-
seitig, ehrgeizig, egoistisch wird, sondern sein Heil der Gemeinschaft zubringt.
Aber auch das Christentum kann von dem gegenwärtigen Gemeinschaftserleb
nis lernen und ge-
winnen. Denn gerade diese beiden Lebensgrundsätze sind viel zu wenig im Christen
tum herausgekom-
men: Du bist alles, was du hast, der Gemeinschaft schuldig! Und: Du mußt selbst das Höchste für
dich erstreben, um am besten dienen zu können! Wie organisch diese beiden Lebensgr
undsätze doch
dem innersten Wesen des Christentums angehören, zeigt Christus selbst. Unter
dem ersten Lebens-
gesetz stand sein äußeres Leben. Unter dem zweiten Lebensgesetz sein inneres
Leben. .
An dieser Stelle der Zeitentwicklung sucht die Christengemeinschaft
ihren Platz. Immer ist es nach
einem strengen Weltgesetz so gewesen, daß Einzelne ausprobieren mußten,
was dann ins Ganze ein-
Aoß. Die Christengemeinschaft würde ihren Auftrag verleugnen, wenn sie sich abschlösse und in
Sektengeist bloß unter ihren Gliedern selbstgefällige Gemeinschaft pflegen wollte. Sie hat den Welt-
auftrag, in dieser vielfältig neuen Zeit das Wesen wahrer Gemeinschaft,
wie sie durch das Christentum
werden kann, zum Heil des Ganzen vorzuleben. \

Das kleine Kind


Nachahmung, das Präludium aller Erziehung
Herbert Hahn
Wir werden von einem Künstler, einem Maler, einem Musiker, einem Dichter, etwas wenig Vorteil-
haftes sagen, wenn wir behaupten: er hat dies oder das nachgeabmt. Wir können von einem Kinde,
unter sonst günstigen Umständen, gar nichts Vorteilhafteres aussprechen,
als wenn wir sagen: es
konnte seine Mutter, seinen Vater oder andere liebe Menschen seiner Umgebung
recht innig nach-
ahmen. Wie kommt es zu dieser so ganz verschiedenen Wertung? Was ist diese
Nachahmung, die ein-
mal so, einmal, wie es scheint, so ganz entgegengesetzt sich auswirken kann?
In erster Linie ist Nachahmung ein Kind der Grazien. Nur wo Anmut ganz zu Hause ist, kann sie
sich rein entfalten. Darum wohnt sie, wie in ihrer Heimat, im Zauberreiche der Kindheit. Darum sind
ihr alle Formen unseres schon gewordenen, schon erstarrten Menschentums fremd.
Und die Grazie der kindlichen Nachahmung ist es, die durch ihren keuschen, ja heiligen
Hauch darauf
deutet, daß es sich um nichts Oberflächliches handeln kann. Nein, da ist nirgends ein bloßes Nachäffen,

318
nirgends ein Nachmachen, wie der Pfuscher den Meister nachmacht. Wenn das Kind nachahmt, dann
schöpft es in der Tiefe aus allen lebendigen Quellen der Menschenkraft. Es macht etwas, das äußerlich
unvollkommen ist; das aber im Keime alle Möglichkeiten in sich trägt, seine Vorbilder weit zu über-
treffen. Und dieser Prozeß will sich nicht etwa nur zur Jahreswende, an Sonntagen oder in Feier-
Augenblicken des Lebeus vollziehen. Denn das Kind ahmt immer nach. Nachahmen ist für das
kleine Kind ebenso natürlich wie ein- und ausatmen.
Wenn das so ist, dann kann uns, den Erziehern, eines mit ebenso beglückender wie schreckhafter
Klarheit deutlich werden. Nämlich, daß wir Vorbilder sind in allem, was wir tun und lassen. Dies alles
wird nachgeahmt. Also — unsere Art zu stehen und zu gehen; unser Stolpern und Poltern; unser
Schlürfen und Schleichen. Der Klang unserer Stimme — ob sie mutvoll erklingt, ob sie Freude bringen
will, helfen, heilen, ja segnen; ob sie von Sorgen erstickt wird, Pfeile des Hasses und der Interesse-
losigkeit schleudert, schmälert, schilt oder gar schändet. Die Gebärde unserer Hand, die sich beim
Gruße warm in eine andere Menschenhand legt — oder diese kalt und frostig nur streifen will. Der
offene, klare Blick unserer Augen, durch den sich Geist dem Geist und Seele der Seele rückhaltlos mit-
teilen will; unser gezwungenes oder falsches Gucken, mit dem wir die liebenswürdigen Worte Lügen
strafen, die unser Mund hervorbringt.
Machen wir es uns nur deutlich: all dies wird vom kleinen Kinde nachgeahmt. Es liegt noch da in seiner
Wiege und schaut uns gar nicht an; es spielt hingegeben mit seinem kleinen Holzpferd, seinem
Schäufelchen oder seiner Eisenbahn und scheint sich gar nicht um uns zu kümmern. Aber während es
so tut, geben sich die größten Genien in seiner Seele Stelldichein. Da ist ein Maler mit seinem Skizzen-
buch, der die feinsten Nuancen aller Farben und Formen festhält. Da ist ein Musiker, dessen Ohr für
Jahre seines Schaffens, durch Töne und Worte inspiriert wird. Da ist ein Dichter, der hinter Mienen-
spiel und Gebärde ganze Schicksalsabläufe schaut. Und der Dichter ist zugleich Musiker und Maler, wie
der Maler Musiker und Dichter ist, jeder in allen anderen zugleich. Alles nur ein einziger, großer,
unsichtbarer Mensch in diesem kleinen sichtbaren Menschen. Alles: der Nachahmer im Kinde.
Und dieser Nachahmer mit dem wunderbaren Künstlerohr und Künstlerblick begleitet mit seiner
Andacht das Kleinste so gut wie das Größte. Nichts ist ihm gleichgiltig, nichts entgeht ihm. Welche
Kleider wir tragen und von welcher Farbe sie sind. Ob sie mit Sorgfalt getragen werden oder achtlos.
Ob wir die Kleider tragen, oder ‘die Kleider uns. Wehe, wo das letztere der Fall wäre! Mit dem, was
das Kind so sähe und so nachahmen müßte, ginge ein Zug pessimistischer Menschenverachtung wie ein
giftiger Keim in sein Wesen über. Denn es ist hart, die Hand nach einem Menschen auszuströcken und
nur einer wandelnden Robe zu begegnen. So wie andererseits ein innerlich starkes, sich mehr und mehr
veredelndes Seelenleben erblühen kann, wo guter Geschmack dem Reichtum Einfachheit vorschreibt.
der Armut Glanz verleiht.
Und so, im weiteren Sinne, wirkt auch alles andere auf das kleine Kind ein, was uns als Hülle,
als Ausdruck unserer Neigungen und unseres Geschmackes umgibt. Welche Möbel wir uns wählen
und wie wir sie behandeln. Mit welchen Blumen wir uns umgeben, im Zimmer oder im Garten, und
wie wir sie pflegen. Ob wir Haustiere haben und diese gut und natürlich behandeln; oder ob wir
grob zu diesen Tieren sind — oder, was nicht weniger arg ist, sie verzärteln und zu unseren Ab-
göttern machen. All das und noch viel mehr nimmt das Kind mit seinen noch in Sternenweiten hinans-
gerichteten Augen, aus allernächster Nähe auf. Und es formt sein Lebensprogramm, dem es hin-
gegeben sein muß für Jahrzehnte. Hingegeben nicht nur, was den Aufbau des Seelenlebens betrifft,
sondern bis in die Ausgestaltung der leiblichen Organe hinein. So ist Nachahmung denn auch das
Vorspiel einer schwachen oder guten Gesundheit; nicht das einzige, aber sein Wesentliches.
Den Erzieher, der all dies ernsthaft überdenkt, kann das Gefühl einer schier zermälmenden Ver-
antwortung überkommen. Und er könnte in einem Augenblick der Mutlosigkeit fragen: wer kann
dann noch Mutter oder Vater werden wollen? Auf ein biegsames Wesen in seiner süßen, kindlichen
Unschuld übt ja unser Wesen eine Art von Gewalt aus! —
Aber es ist nicht Gewalt, was da wirkt, sondern die Macht eines Vorbildes, welches das Kind in
der Tiefe seines Wesens selber ergreifen will. Und das Wunderbare wird wirksam: je mehr wir

319
uns selbst beherrschen, desto mehr Freiheit und Entfaltung geben wir
unserm Kinde. Je weniger wir uns selbst beherrschen, desto mehr unterdrücken wir, was aus
dem Kinde in schöner Weise erblühen will. Wir herrschen dann fälschlich, wo wir erwecken und
pflegen könnten.
So beginnt allerdings mit der Pflege des kleinen Kindes ein neuer ernster Kursus unserer
Selbst-
erziehung. So wird die Kinderstube für uns die Hochschule der Moral.
Verfallen wir darum aber nicht gleich in die Öde des Moralisierens und Selbstbemoralisierens.
Das
Kind beobachtet uns ja nicht mit den Augen des nörgelnden Philisters. Es ist etwas
da von göttlicher
Kraft in seinem Beobachten. Und das schließt gar viel ein. Denn die Gottheit schaut
nicht in erster
Linie auf das, was wir können, sondern auf das, was wir wo llen; sie schaut unser Streben
an. Und
dieses Schauen selbst ist nicht richtend, sondern stärkend. So liegt der Abglanz des göttlichen
Schauens, uns selber befreiend, über dem Wesen des kleinen Kindes. Auf daß wir verstehen
lernen
ein geheimnisvolles Wort: Anmut in der Moral. \
Vergessen wir auch das Eine nicht: das Kind ahmt nach; aber wir können den Ton auch anders
legen und sagen — es ahmt nach. Übersehen wir nur dieses scheinbar geringfügige „es“ nicht! In
ihm steckt eine ganze Welt. Und zwar die Welt, von der wir nichts abnehmen und zu der wir nichts
kinzutun können; die unabhängig ist von Vererbung und Umgebung. Die Welt, in der der göttliche
Schöpferfunke lebt, den das Kind sich selber mitgebracht hat. Der ist ja auch noch da und waltet
in seiner Weise. Er bewirkt, daß Nachahmung, wie sie ausgeht vom innig sich regenden Wesen des
Kindes, kein toter Gipsabguß wird. Er macht die Nachahmung künstlerisch und gibt ihr einen
Freiheitsbrief, gleichsam von der andern Seite der Welt her.
Über dieses Künstlerische und zugleich Göttliche in der Nachahmung sollten wir in ruhigen Stunden
immer wieder sinnen. Eben in den Stunden in denen wir uns stärken für unsere Arbeit am Kind.
Dann würden wir uns sehr ernsthaft ein anderes noch deutlich machen: Kunst hat mit abstraktem
Theoretisieren nichts zu tun. Kunst will bilden. Was Form, was Bild wird, ist ihre Angelegenheit.
Ist das so, dann fruchtet gegenüber dem kleinen Kinde gar nichts von dem, was wir an es heran-
tragen als Ermahnung, als Belehrung, als Appell an seine Einsicht. Es hat eben noch keine Einsicht.
Dafür aber eine wunderbare Ansicht, ein inniges Anschauen unserer selbst. Und so nimmt es nicht
wahr, was wir abstrakt moralisieren, sondern: wieviel von unseren sittlichen Idealen in uns selber
Fleisch und Blut geworden ist. Mit andern Worten: Was zum Vorbild geworden ist, das wir geben
können. Zu dem Stück unserer Weltanschauung, das sich ganz natürlich äußert in unserer Haltung,
in unseren Gebärden, im Timbre unserer Stimme; einfach — in allen Taten, die wir tun.
Nehmen wir an, daß Kind ist schon etwas größer geworden und sitzt mit uns zu Tisch. Wenn
wir da nur einmal in seiner Gegenwart auf einen Leckerbissen verzichten, den wir gern genommen
hätten, so tun wir zehnmal mehr, als wenn wir dem Kind predigen: sei nicht gierig. Das Kind will
eben im Bilde erleben, was es einmal selber denken und wollen kann. Das ist das Wesen des Vor-
bildes.
Wie eine Versuchung könnte sich hier leicht ein Irrtum einschleichen. Jemand könnte sich vielleicht
sagen: Aha, das Bild ist es, auf das es ankommt. Nun gut. Verschaffen wir dem Kinde, überall, wo
wir mit ihm in Berührung kommen, soviel gute Bilder und Vorbilder, wie nur angeht. Seien wir
recht bedachtsam und vorsichtig. Auf das, was wir später außerhalb der Umgebung des Kindes tun,
was wir dann denken, fühlen oder wollen — darauf kommt es ja nicht so sehr an. „Das Kind sieht
das ja nicht.“ Legen wir uns nur in seiner Gegenwart die nötigen Bindungen auf; es ist dann noch
genug Gelegenheit da, unsere Freiheit zu genießen.
Wer so spräche oder dächte, bewiese nur, daß er noch wenig mit kleinen Kindern, ja mit Kindern
überhaupt zu tun gehabt hat. Sonst wüßte er: jedes Kind ist ein tiefer Menschen-
keuner. Und einen echten Menschenkenner können wir nicht betrügen. Lächelnd tritt er auf uns
zu und klopft uns auf die Schulter: „Freund, nimm die schöne Maske nur ab!“ So auch das Kind:
es sieht die Maske, noch ehe seine zarten Lippen dieses Wort „Maske“ nur stammeln können. Kälte
überkommt es beim Anblick dieser Maske und seelischen Hunger verspürt es. Unser Kind kungerte

320
betrügen wir
nach einem Lebendigen, dem Vorbild — und wir gaben ihm einen toten Stein. Wen
dadurch eigentlich? Das Kind? — Nicht noch viel mehr uns selbst?
wenn in unserem Alleinsein die wahre Fortsetzung waltet dessen, was wir am Kinde
Wie anders,
an sichtbaren Taten verrichtet haben. Wenn wir unseren Beruf, er möge nun dienen an höchster
oder an niedrigster Stelle, mit aller Wärme unserer Menschenliebe erfüllen. Wenn wir in edlem
Genuß die Starrheit des Alltags abschütteln. Wenn wir in den Augenblicken, die uns die heiligsten
das
sind, Zwiesprache halten mit dem, was wir vom Göttlichen erleben können. Treten wir dann vor
unsere
Kind, dann ist keine Maske da. Ein feiner, uns selbst nicht wahrnehmbarer Glanz, durchwebt
e ist dann vor dem Kinde ein Bild, ein Vorbild,
Züge, unsere Gebärden. Am trübsten Novembertag
das in der Sonne steht. Und das Kind jauchzt innerlich, daß es nachahmen darf.
Daß dort,
Es spürt dann eine Realität, die wir selber uns nur langsam bewußt machen können.
unserem suchenden Ich eintauchen in das Gute, das Schöne, das Wahre, ja die Quellen
wo wir mit
liegen, aus denen der Geist des Kindes vor seiner Leibwerdung selber getrunken hat. Jene leben-
Quellen, deren geheimnisvoller Nachklang auf Erden die Gnade, ja die Grazie der kindlichen
digen
Nachahmung ist.

Meinem Sohn

Dorothea Letzsch

Aus Engelswelten bist Du einst herabgestiegen, Der ernst und fragend Dir ins Auge blickt. —
umspielte Deiner Kindheit Land — — O — nimm von ihm die goldne Wehr,
Ihr Glanz
Nun aber willst Du selbst Dir neue Welt ersiegen — Die er Dir reicht — und laß noch einmal
Und leise löst sich Deines Führers Hand — — Ihn die Hand aufs Haupt Dir legen
Und gibt Dich frei....
Und Dich segnen — — —
Du stehest an der Grenze, und Dein Fuß Danu leg’ die Rüstung an — und geh’! —
Ist schon bereit, den neuen Schritt zu tun — Vergiß ihn nicht! —
Geheimnisvoll im Nebel liegt vor Dir das Land — — Er steht am Ziel — —
Noch einmal schau zurück — Du siehst — — und wartet...
In Deines Engels Angesicht,

Aus der Bücherwelt

Alexandra David-Neel: „Vom Leiden zur “Ich bin“, erzählt sie, „Leuten begegnet, die behaup-
Erlösung. Sinn und Lehre des Buddhismus“. teten, die sie umgebenden Gegenstände als wirbelude
Brockbaus, Leipzig 1937. Teilchen zu sehen, die einander nicht berührten, son-

Die bekannte Tibet-Forscherin hat ihren vielgelese- dern von denen eines vor dem anderen her oder eines
herum tanzte. Wie es heißt, führt die
nen Büchern eine Darstellung buddhistischer Lehren um das andere
folgen lassen, der ihren Wert geben die außerordent- fleißige Ausübung der Betrachtung zu einer solchen
liche sprachliche und meditative, in tibetischen Klöstern Wahrnehmung.“ Wenn sie nun hierbei an Atome, an
gesammelte Erfahrung der Verfasserin, die große Zahl körperliche Elemente denkt, so spricht das Phänomen
der wiedergegebenen Aussagen buddhistischer Schrif- vielmehr für eine wenigstens ursprüngliche hellsichtige
ten und Gelehrter, auch zeitgenössischer, die „sich oft Schau der lebendigen Strömungen
in der Geistsubstanz
entfernen, die man in den bis der Welt. Zumal, wenn es da Aussprüche gibt wie
weit von den Theorien
heute geschriebenen Werken dargelegt findet“, die „Das Wesen der Wirklichkeit ist Bewegung“ oder „Die
Gegenüberstellungen des nördlichen und südlichen wahren Buddhisten sind in den Strom eingetreten“ u.ä.
Buddhismus. Die Zitate haben den Wert des Phäno- Altes und Neues scheint auch vermengt, wenn die
das sich selbst ausspricht. Das ist nicht unwichtig, Verfasserin mit Lebhaftigkeit das Tätig-Energische,
u

mens,
Heroische des Buddhismus vertritt gegen-
weil, wie alle Bücher der Verfasserin, auch dieses ein Willensbaft-
Ton europäisch-rationalistischer Skepsis durchzieht, der über seinem angeblichen Charakter einer schlaffen, ver-
in materialistische Begriffe verklingt. zichtenden Lebenseinstellung. Der Ausspruch „Krieger,

321
haben, wie dieses Durchgeistigen der empfangenen In diesem Sinne wird nun über die mannigfaltigsten
Sinneseindrücke, dieses Transparentmachen von Schick- Gebiete gesprochen. Am innigsten zunächst über die
salen und Lebenstatsachen in seiner Darstellungskunst Erlebnisse mit der Sprache; denn das Wort ist das
auf bewußte Weise geübt worden ist.. Wie er auf die- Material, in dem der Dichter gestaltet. „Der Baum des
sem Wege die Phantasie immer exakter zur echten Lebens wurzelt im Worte. Die Sprache ist die Natur
Imagination hinaufzuerheben vermochte und vom sinn- des Geistesreiches.“ Aber im Augenblick, wo dieses er-
lichen Eindruck zur Erfassung des „Sinnlich-Sittlichen“

kannt wird, tritt auch die Trauer um das Erdenschicksal


(im Sinne Goethes) in den Welterscheinungen hinzu- der Sprache ein: „Fast alle Worte sind von den Göttern
leiten verstand. „Man prüfe — so sagt der Dichter in fallen gelassen. Viele scheinen tot. Manche laufen Ge-
seinem vor kurzem erschienenen ‚Merkbuh‘ — nach fahr, untermenschlich zu werden. In einigen ist noch
Jahr und Tag seinen Vorrat an Exlebnissen wie Bau- Wille, worin die Gottheit schläft, oder Gefühl, worin
>

steine oder Farben, greife das Wesentliche heraus, ver- sie träumt, oder Selbstbewußtsein der Menschheit,
binde das Auseinanderliegende, suche nach Polaritäten worin sie eingesargt liegt. In die Ohnmacht des mensch-
und Steigerungen: — Bald entdeckt man dann in sich lichen Selbstbewußtseins kann immer das Lebenswort
ein Vermögen, das über lange Lebensstrecken ausgebrei- des Auferstandenen gesät werden. Dann wird die Ver-
tete Zeitgeschehen in einem räumlichen Bilde zu er- kündigung einer neuen Erde lautbar.“ Über das Chri-
fassen. Immer mehr treten dabei moralische Qualitäten stus-Erlebnis selber, aber auch über die mannigfaltigen
hervor. Manches, das bisher belanglos erschienen, be- Lebensgebiete, wie Pädagogik, Natur und Schicksals-
ginnt einen zu beschäftigen. Es will nicht verschwinden. fragen, spricht der Dichter richtungweisende Worte. Der
Es exfüllt einen mit Scham und Schmerz. Es tritt als Mensch, wie er sich in Freiheit aus Schicksal und Natur-
etwas Gutzumachendes in den Vordergrund — und man notwendigkeit erheben lernt, tritt überall iu den Mittel-
kann oftmals nichts anderes mehr zu Ende denken, be- punkt der Weltbetrachtung. „Das Herrlichste am Men-
vor man nicht damit fertig geworden ist. — Nan richtet schen ist, daß er eine Synthese aller Geister darzu-
sich so nach einem besseren Menschen, dem man viel- stellen vermag. Die Wesenheiten, die er in sich ver-
leicht im Leben begegnet ist, oder von dem man viel- einigt, dienen dem Werden oder Vergehen. Dem All
leicht nur gelesen hat, nach einem Vorbild, und ent- oder dem Nichts. Sie nahen oder entfernen sich...“
deckt zuletzt seinen eigenen Engel. Und der beschenkt Und diese Menschen-Entelechie, die die Weltgegensätze
uns schließlich mit einem neuen Geistvermögen...“ in sich umspannt und sich über den Zeitenstrom zu er-
Das Merkbuch enthält die Früchte von vieljährigen heben vermag, leuchtet in ihrer Ewigkeitsnatur vor dem
Tagebuch-Eintragungen. Sie sprechen von den Wand- geistigen Blicke auf. Der Dichter kann sagen: „Der
lungsgeheimnissen des Innenlebens; sie fördern keines- Mensch ist nicht nur ein Wesen, das geboren wird und
wegs ein Kleben an Erinnerungen "im Sinne eines stirbt, sondern ein solches, das dieses Geschehen über-
Nichtloskommens von der Vergangenheit. „Lebens- schauen und in Geistestaten nachzuschaffen vermag. Er
kilfen ergeben sich aus Erinnerungen erst, wenn man vermag einen Ritus darzustellen, der seinen Eintritt
diese betrachtet wie ein Toter, der auferstanden ist,“ in das Erdenleben und seinen Austritt schildert. Er ver-
heißt es in dem „Merkbuch“. Und dieses Ideal einer söhnt die Werde- und Vergehe-Geister im Kultus.“
innersten Freiheit und schöpferischen Souveränität Auf solchen Höhen des Erlebens wird auch die Kunst,
gegenüber dem Vergangenen und Erlebten steigert sich in der sich der vom Naturzwang befreite Mensch offen-
schließlich zu der Forderung: „Wir müssen unsere Er- baren kann, priesterlich. Die Reiche der Ungeborenen
lebnisse so behandelu, wie die Götter die Elemente der und der Toten werden in die Darstellung einbezogen.
Erde gebrauchen, um mittels der Himmelskräfte den Geburt und Tod vermögen nicht mehr den Blick einzu-
Menschen neu zu schaffen. Wir müssen durch die Er- schränken. Der Dichter wird zum Brückenbauer.
innerungen neu geboren werden.“ Rudolf Meyer

Aus meinem Leben


Hermann Beckh f
2. Das Kind und die Menschheit

Ganz anders wirkte auf mich schon in früher Kinder- schon ganz früh der Eindruck von München ein märchen-
zeit die Stadt München, die bei unseren alljährlichen hafter. Den Bahnhof mit der großen Einfahrtshalle
Reisen ins Hochgebirge wenigstens immer kurz berührt — so wenig architektonisch hervorragend er eigentlich
wurde. Für alles Großzügige, Weite, Umfassende hatte ist — empfand ich damals als etwas unglaublich Groß-
ich immer viel Sinn, während mir alles Enge, Provin- artiges, und beim Heraustreten auf den Bahnhofsplatz
zielle, Eingeschlossene zuwider war. Und so war mir fühlte ich mich wie von einer rauschenden Symphonie

323
des Lebens aufgenommen. Namentlich Tonerlehnisse der alpinen Höhenluft der bayrischen Hochebene. Ge-
spielten dabei eine 'eigenartige Rolle; ganz anders und wisse „Kehrseiten“ des Münchner Lebens und Wesens
vielsagender — so schien mir — klang der Hufschlag lernte ich im späteren Leben natürlich zur Gerüge
der Trambahnpferde auf dem Großstadtasphalt, als auf kennen. Hier erzähle ich einfach, wie das kindliche Be-
dem provinziellen Pflaster der Vaterstadt. wußtsein der ersten Lebensjahre die Eindrücke der baye-
Beim Eintritt in das Stadthotel, in dem wir wohnten, rischen Hauptstadt aufnahm und wie meine Seele durch
fühlte ich mich wie in eine fremde Märchenwelt ver- diese Eindrücke näher an das Menschheitserlebnis heran-
setzt. Eben weil der Aufenthalt in München immer nur gebracht wurde.
ein kurzer und vorübergehender war, verlor er nie den Ich will nicht behaupten, daß ich solche Erlebnisse und
Reiz des Fremdartigen und Märchenhaften. Straßen und Ahnungen etwa nur in München gehabt hätte. Sie waren
Plätze gewannen einen intimen Zauber für mich, sie überall da, wo Menschen um menschheitlicher Ziele
waren mir mit ihrer Weitschaft und ihrem großzügigen willen — auch wenn es nur solche des äußeren Kultur-
Leben viel reizvoller als die mittelalterliche Schönheit fortschritts waren — zusammenströmten. Ein solcher
meiner Heimatstadt. Hinter all dem war mehr als die Anlaß ergab sich z.B. bei einer industriellen Ausstellung,
bloße kindliche Phantasie: es war wie ein Ahnen des die im Jahre 1882 in meiner Vaterstadt veranstaltet
großen Menschheitserlebnisses, das noch nicht in meiner wurde. Sie gab meiner Seele starke Impulse in der Rich-
Seele war, aber in sie hereinwollte. Ich hatte die Emp- tung des Groß-Menschheitlichen. Die märchenhaften Ge-
findung, wie in dieser ganzen Umgebung — die doch bäude, die zusammenströmenden Menschen regten meine
gar keine unmittelbare Beziehung zu meinem persön- Phantasie mächtig an. Die ausgestellten Gegenstände
lichen Dasein hatte — etwas war, das ich liebgewinnen wirkten verschiedenartig. Erwähnen will ich hier nur
konnte, ich abnte und liebte das Menschheitliche da, wo den Eindruck der Maschinenhalle mit dem Gewirr all
es anfıng in einer gewissen großzügigen und umfassen- der surrenden, fauchenden, schwirrenden und pfeifenden
den Weise vor mich hinzutreten. Auf einzelne Örtlich- Maschinen und Räder. Ich hatte das dentliche Empfin-
keiten konzentrierte sich diese Liebe in besonderer den, etwas Wesenhaft-Furchtbarem und Furchterregen-
Weise. So sprach mich der Glaspalast (bei all seiner dem gegenüberzustehen. Es war der erste halbbewußte
architektonischen Unbedeutendheit) in tief gemütvoller Eindruck des „ahrimanischen“ Wesens in meinem kind-
Weise an, die Propyläen, der griechische Säulentempel lichen Bewußtsein. In mannigfacher Weise tritt dieses
der Glyptothek, die rauschende Isar, die den Hauch der Wesen ja an die heutigen Menschen heran. Nicht überall
Berge und das frische Ungestüm des Gebirgsstroms in weckte es die gleichen Empfindungen, nicht überall er-
die Großstadt trägt, das Maximilianeum (in dem sich faßte ich seine Identität. Wenig kam mir zum Bewußt-
dereinst ein wichtiger. Abschnitt meines Lebens ab- sein, daß ich dieselben Kräfte vor mir hatte in der
spielen sollte). Besonders intim vertraut war mir der elektrischen Bogenlampe, die ich bei jener Ausstellung
Hofgarten mit den märchenhaften italienischen Schreiber- im Jabre1882 zum erstenmal erlebte. Wie etwas Zauber-
schen Fresko-Gemälden und den halsbrecherischen Hexa- haft-Magisches, mein Bewußtsein in Märchenwelten Ent-
metern König Ludwigs L (die ich allerdings damals noch rückendes empfand ich dazumal das Licht der elektxi-
nicht lesen konnte). Alle möglichen kleinen Szenen und schen Bogenlampe. \
Begegnungen, die ich dort in verschiedenen Kinder- und Einfügen kann ich hier, daß ich auch dem Zauber des
Jugendjahren erlebte, haben sich meiner Erinnerung Mondenlichtes in meiner frühen Jugend immer stark
dauernd eingegraben. Noch heute durchschreite ich, wenn unterlag. Meine Mutter erzählte mir, wie ich mich ein-
wich der Weg nach München führt, den Hofgarten wie mal bei starkem Mondschein im Bette aufrichtete und
eine Stätte frühester und intimster Erinnerungen, er meine Hände grüßend dem Mond entgegenstreckte. Den
gehört zu denjenigen Stätten, die etwas Überzeitliches Sternenhimmel erlebte ich, soweit. ich mich zurück-
für mich haben. München hatte für mich auch in späte- erinnern kann, immer tief und mächtig, doch weiß ich
ren Jahren nicht das Kalte und Unmenschliche, wie an- nicht mehr genau, wann ich zuerst bewußt dieses Erleb-
dere große Städte, sondern etwas Warmes, Gemütvolles, nis hatte. Mein Verhältnis zum Mond war sicherlich ein
Herzliches; etwas von der Seele der Menschheit trat mir sehr frühes und ursprüngliches. Unter den Planeten er-
dort entgegen, so daß ich die Tage, die ich als Kind in lebte ich, wenn auch noch nicht in .den allerfrübesten
München zubringen durfte, immer als etwas Weihevolles Kinderjahren, so doch in den späteren Knabenjahren am
empfand. Ein Hauch von Freiheit und Glück, wie ich ihn stärksten den Abendstern, die Venus, die oft prachtvoll
in den Bergen erlebte, wehte auch in dieser Stadt, die leuchtend am Abendhimmel erschien und auf die meine
mir wie eine Eingangspforte zu den Bergen war, und Mutter mich frühzeitig hinwies. Etwas durchaus Wesen-
die herzliche Art der Oberbayern, die mir näherlag als haftes, etwas freundlich-liebevoll auf Erdenschicksale
das kältere nüchtern-fränkische Wesen meiner Heimat, und Erdengefühle Herunterblickendes leuchtete mir im
sowie das Künstlerische der geistigen Atmosphäre Mün- Abendstern auf. Am Fixsternhimmel erfüllte mich früh
chens verband sich mir innig mit dem belebenden Hauch zit unendlichen Ahnungen der schimmernde Strom der

324.
Milchstraße. Sehr stark erlebte ich auch das gegen Weih- lich ein solches Gewitter steht noch ganz deutlich vor
nachten hin am Abendhimmel aufleuchtende Gestirn meiner Seele, und der der Erde entströmende Duft ver-
Sirius und Orion, aber bewußt doch erst in späterer gegenwärtigt mir vor allem die Erinnerung. Ich erlebte
Jugendzeit. Das Interesse an der Sternenwelt gehört zu an ihm etwas Heiliges, das mit der Erde verbunden ist,
dem, was sich bei mir im Laufe der Jahre immer mehr etwas, das mir in einer viel späteren Zeit meines Lebens
gesteigert und belebt hat, wie es auch wohl einer natur- auch entgegentrat in den Worten des göttlichen Krischna
gemäßen Entwickelung entspricht. in der indischen Bhagavadgita: „Ich bin der reinen Erde
Im Zusammenhang mit dem Sternenhimmel sei auch Wohlgeruch.“ Mit jenem Gewitter- und Erdenerlebnis
ein Wort über das Meteorologische gesagt. Hier fesselte ist mir irgendwie in der Erinnerung auch verwoben das
mich besonders die Abendröte, die oft wunderbaren Bild meines Großvaters mütterlicherseits, wie ich ihn
Färbungen und Wolkenbildungen, die ich durch das fast immer in dem Garten, den er so sehr liebte, in
Fenster am Abendhimmel beobachten konnte. Fast mehr seinen freien Stunden tätig fand. Auch er empfand
als alles andere sprachen diese Farben zu mir von einer jenes Heilige der Erde; in ihr zu pflanzen und zu arbei-
übersinnlichen Welt, einer Welt lichter, überirdischer ten war ihm neben der Kunst die Erholung und der
Sehnsuchten, von einer Schwelle, einem Hinübergehen. geistige Ausgleich für seine berufliche Arbeit in der
In Wolkenbildungen konnte ich mich lange sinuend ver- städtischen Verwaltung. Als das eines ehrwürdigen,
lieren und dabei gegenüber verschiedenartigen Gebilden schönen alten Mannes mit weißem Haar lebt sein Bild
zu einem stark differenzierten Empfinden von Sympathie in meiner Seele. Ich liebte und verehrte ihn tief, und
und Antipatbhie kommen. Das Ewig-Bewegliche, die verdanke ikm in mannigfaltigen Gesprächen Belehrung
immerwährende und doch so unmerkliche Metamorphose über die allerverschiedensten Dinge. Er hatte wie ich,
fesselte mich. Etwas in diesen Bildungen verband sich die Freude an den Bergen und manches andere, das wie
mir mit der Impresion von Gebirgen — so wie ja auch. ein altes Erbgut auf mich übergegangen sein mochte.
die indische Mythologie von Bergen und Wolken Ob und inwieweit er „atavistische“ Kräfte hatte, weiß
spricht. — Den Regenbogen erlebte ich, wie gewiß die ich nicht, doch war etwas um ihn, was mein Bewußtsein
meisten Kinder, mit Freude, wie etwas Verheißungs- in vorzeitliche Fernen erhob. Fast allabendlich besuchte
volles. Diese Freude gab nicht nur der Regenbogen in ich in Winterszeit mit meiner Mutter noch die Groß-
den. Wolken, sondern schon der im Zimmer: das schöne eltern, die ein Stockwerk unter uns wohnten. Wie oft
Farbenspiel, das von der Kante eines am Fenster hän- fiel da, wenn ich an dem großen, hohen Treppenfenster
genden Thermometers in das Zimmer geworfen wurde — vorbeikam, mein Blick auf den Mond, der gerade am
ein kleiner Umstand, der für die Entwickelung meines Himmel stand. Und von solchen Augenblicken her er-
Farbenempfindens viel bedeutete, abgesehen von dem innere ich mich gut, wie dann in ganz eigenartiger, schwer
noch mehr die Schwelle des Geistigen Berührenden, was zu schildernder Weise ferne Vorwelten in meinem Be-
durch die Regenbogenfarben sich ausspricht. wußtsein auftauchten, Impressionen, die mir zu man-
Sehr empfänglich und empfindlich war ich stets für chem, was ich später bei Rudolf Steiner fand, den Zu-
Erlebnisse des Luftelementes. Besonders Höhenluft, gang erleichterten, wenn ich sie als Erinnerungen aus
Bergluft war mir immer ein Lebenselixier. Zum „wehen- der Kinderzeit hervorholte.
den Odem der Welt“ verspürte ich ein starkes inneres *
Verhältnis. Er war mir damals noch eine unbewußte,
später immer mehr eine bewußte Offenbarung des Gött- In der Richtung auf das Menschheitliche empfing
Eichen. Ich entsinne mich noch, wie ich bei einer meiner meine Seele einen aufweckenden Impuls vor allem
frühesten kindlichen Gebirgsreisen eines Morgens im durch ein frühes Geisterlebnis, das, später sich noch
Berchtesgadener Land früh aus dem Hause trat, und einige Male wiederholend, für mein Leben entscheidend
wie mich in der leichten fächelnden Luft der würzige geworden ist. In meinem vierten oder fünften Lebens-
Hauch anwehte, den man nur in den Bergen und — wie jabr war ich mit meinen Eltern und Großeltern auf
ich ihn hier meine — auch nur in seltenen Augen- der Gebirgsreise im bayerischen Allgäu, im Gebiet von
blicken..antrifft, und wie dann mein Vater zu mir sagte, Oberstdorf. Hinter Oberstdorf verzweigen sich drei
das wäre das „Berglüfter!“. „Das Berglüfterl!“ — Etwas Täler. In dem mittleren derselben, dem Tal der Stillach,
Unsagbar-Schönes, Unnahbares, Kosmisches, etwas wie führt der Weg weiter, sich verengend, nach Birgsau,
von jenseits der Erde lag für mich in dem Wort, das und oberhalb Birgsau, schon mehr als 1100 m über dem
u

heute noch, mit der Erinnerung meines Vaters sich ver- Meer, da wo sich plötzlich der Blick großartig auf die
webend, in meiner Seele weiterklingt. hohen Berge des Talschlusses eröffnet, liegt Einödsbach,
Tiefer noch als alle Eindrücke von Donner und Blitz der südlichste bewohnte Punkt Deutschlands: damals
hat sich mir aus früher Kindheit die Erinnerung ein- wie auch heute noch nur ein einsames Wirtshaus, un-
gegraben an den starken Wohlgeruch, der nach einem mittelbar vor ihm ein Brunnen und ein einsames Ka-
Gewitter der Erde unseres Gartens entströmte. Nament- pellchen, in der Nähe noch einige Heustadel. Von

325
Einödsbach wendet sich der Lauf der Stillach nach, Süd- befangen, zurückgewiesen hatte; und man nimmt mit
westen. Direkt nach Süden zieht sich aufwärts über Notwendigkeit aus der Wesenheit dieses himmlischen
Geröll die wilde Schlucht, die von den hohen Fels- Bruders etwas von dem an die Menschheit sich hin-
spitzen (Trettachspitze, Mädele Gabel, „Berg der guten gebenden Opferwillen in sich auf. So ging es auch mir
Hoffnung“ usw.) umrahmt ist, das „Bacherloch“. Bis in einer gewissen Weise schon bei jenem ersten kind-
dahin kannte ich nur die liebliche Vorgebirgslandschaft lichen Geist-Erlebnis in Einödsbach: ich sah aus kos-
des Tegernseer Gebiets und den malerischen Reiz des mischen Höhen auf einmal ganz anders auf die Mensch-
Berchtesgadener Landes. Inmitten einer solchen un- heit herunter, ich sah sie nicht als ununterschiedliche
mittelbaren Hochgebirgs-Szenerie und Felsenwildnis, Masse, ich sah — das war naturgemäß — zunächst
wie sie sich bier im Bacherloch auftat, war ich noch meine Angehörigen, Verwandte und Bekannte, Men-
nie gewesen. Der Eindruck der gewaltigen Natur und schen also, die ich kannte, sah, wie auch diese eigent-
‚ Einsamkeit auf die kindliche Seele war ein solcher, daß lich nichts wissen konnten von dem, was ich im Augen-
mein Bewußtsein entrückt wurde, daß es nicht mehr in blick erfuhr als eine höhere Realität, der gegenüber
dem weilte, was die Sinneshälfte unseres Tageslebens alles im Irdischen für Wirklichkeit Gehaltene nur
ist, sondern in der anderen Hälfte — es ist aber nicht Täuschung, Dlusion, Maya war. Hinter diesen aber sah
die Hälfte, sondern der viel größere und umfassendere ich auch alle andern, die ich im Leben nicht kannte, die
Teil, der unser enges Erdensein wieder zum Kosmi- Menschen überhaupt, und ein ungeheurer Schmerz über
schen ergänzt — in dem Teil, der unseren Tages- die Menschheit ergriff mich, ein warmes Nlitleid, das
sinnen verschlossen ist, in dem aber unser höherer ich, obwohl ich persönlich sehr mitleidsvoll war, in
Wesenskern, unser wahres Ich, urständet. Ich kann mir dieser umfassenden Größe im Alltagsleben doch nicht
vorstellen, daß höher entwickelte Menschen vielleicht kannte. Und die Empfindung dieses ungeheuren Mit-
immer, oder doch durch längere Zeitspannen hindurch, leids, dieses Schmerzes mit der Menschheit, dieser
zugleich auch in diesem Bewußtseinsteile leben können. Drang zu helfen und sein ganzes Leben auf eine tätige
Für mich war das Erlebnis jedenfalls etwas aus dem hilfsbereite Menschheitsarbeit einzustellen, war auch in
Alltagsleben und -bewußtsein völlig Herausfallendes der Folgezeit — ich hatte ja das Erlebnis in der späte-
und Hinausfükrendes. Ich bin sicher, daß von dem, was ren Zeit noch ein paarmal — immer mit dem Erlebnis
ich dort „am anderen Ufer des Seins“ erfuhr, viele verbunden. Diese Empfindungen sind es dann aber auch,
Menschen nie etwas erleben. Es war die Welt meines die uns aus dem weltallweiten Bewußtsein wieder in
vorgeburtlichen Daseins, aus der ich durch die Pforte das enge Tagesbewußtsein zurückverweisen; die Seele
der Geburt in dieses Erdendasein eingetreten war, und erkennt: du kannst und darfst noch nicht an jenem
die ich im Zeitenstrome vergessen hatte. Meine Angehö- Ufer verweilen, das dort Erlebte zeigt dir nur die Auf-
rigen, die gar nicht wußten und mit bestem Willen gabe, die du hier, im Diesseits der Sinnenwelt, unter
nicht begreifen konnten, was mit mir los war, waren deinen Mitmenschen eigentlich zu erfüllen hättest,
aufs höchste erschrocken und sehr um mich besorgt. zeigt dir, warum du Mensch geworden bist. Noch war
Ganz rätselhaft war ihnen, warum ich plötzlich in ich natürlich damals in meiner kindlichen Entwickelung
Tränen ausbrach. Die von mir hervorgestammelten nicht so weit, daß ich dies vollbewußt in mein Alltags-
Worte, ich bätte „heimgewollt“, waren so, wie sie im leben hätte tragen können. In seinem gleichmäßigen
tiefsten Grunde gemeint waren, zunächst unverständlich. Strome sind die Nachwirkungen jenes übersinnlichen
Hier aber liegt eben der Punkt, wo das Erlebnis über Erlebnisses bald verebbt; das Ich war noch nicht stark
alles Nur-Persönlicke hinaus das Menschheitliche be- genug, um wirklich bewußte, richtunggebende Impulse
rührt. Man kann im gewöhnlichen Bewußtsein ein vom in das Leben mit herüberzunehmen, und es bedurfte
Universal-Menschlichen sehr isolierter, ja vielleicht so- mehrmaliger Wiederholungen des Erlebnisses, aber erst
gar ein sehr egoistischer Mensch sein — an der Schwelle in späteren Jahren, um solche Impulse in meiner Seele
desjenigen Erlebens jedoch, an das ich hier rühre, beim auszulösen. Der entscheidendste Impuls kam auf solche
Hinübertritt in die „andere Hälfte des Bewußtseins“, Art im Jahre 1899 zustande.
die uns mit dem Kosmischen, aber dadurch eben, wenig- Zunächst verlief das Leben gerade nach jenem Geist-
stens seit der Christus sich mit der Erde verbunden erlebnis ungemein steril; es war, als ob in ihm jene
hat, auch wit dem Universalmenschlichen zusammen- frühe und so eigenartig spirituelle Epoche meines Le-
schließt, ist dieses anders. Man wird da bei diesem bens ihren Abschluß gefunden hätte. Es war etwas wie
Hinübergeben in dem Maße eine an allem Menschlichen ein letzter Abschied aus jener Welt, aus der heraus
teilnehmende Seele, als man es vorher vielleicht nichi ich in das Irdische eingetreten war, und von der etwas
gewesen ist. Aus dem, was heute an geisteswissenschaft- wie ein Nachglanz noch über dem Bewußtsein meiner
lichen Erkenntnissen in mir lebt, könnte ich sagen: frühen Kinderjahre lag. Die Hinordnung auf das Vor-
man steht da ganz anders zu seinem himmlischen Bru- geburtliche scheint überhaupt charakterisiisch für mein
der, dessen Hüter auf Erden zu sein, man, im Irdischen Leben zu sein, auch die geistige Beziehung, die ich im

326 h
späteren Leben zu Indien und zur indischen Geistes- lassen, und später in langweiligen Schulstunden habe
kultur, besonders zum indischen Yoga, aufnahm, könnte ich diese Fähigkeit dann noch ganz planmäßig geübt
darin eine teilweise Erklärung finden. . und weiter ausgebildet, und zwar so, daß es mir mög-
Zu einer wirklichen Erinnerung an frühere Leben lich war, auch den Inhalt der Schulstunde gleichzeitig
habe ich es nie gebracht, ich weiß nur genau, wie schon in mich aufzunehmen, die mich dann nur weniger ab-
in den geschilderten frühen Kinderjahren und wie auch spannte, als es sonst der Fall gewesen wäre. In dieser
noch dann und wann im späteren Leben Bilder an Weise Bilder zu schauen, war für mich nichts Beson-
deres. Aber das, was ich als vorüberhuschende Bilder
meiner Seele vorbeihuschten, die deutlich den Stempel
der Erinnerung trugen, aber nicht Erinnerungen an eines früheren Lebens ansehe, war etwas völlig an-
deres, etwas Seltenes und Außerordentliches, ein Er-
irgend etwas in dieser Inkarnation Erlebtes gewesen
sein können. Wiesen, Wälder, Häuser waren deutlich in lebris, das einem selbst immer ganz deutlich sagte, daß
dem Erlebnis und doch nicht wie heutige Wiesen und es aus einer gauz anderen Richtung herkam und eine
Wälder, sondern vom Schimmer einer rätselhaften ganz andere Realität in sich trug als die Bilder der
Fremdartigk eit umflossen. Es ist, wenn solche Bilder bloßen Phantasie. — Impressionen weiter zurückliegen-
als ob etwas in uns sehn- der Erdenleben führten mich nicht nach Deutschland,
vor unsere Seele treten, so,
süchtig die Arme nach ihnen ausstreckte, aber im selben sondern in das ferne Ägypten und nach Indien. Es ist
Augenblick sind sie auch schon vorübergehuscht. Dabei mir, als wären die ägyptischen Erlebnisse nicht restlos
blieb die Datierung solcher Eindrücke nicht ganz im glücklich gewesen, als wäre ich dort von irgendeiuer
Unbestimmten. Es gab für mich, noch bevor ich in der Einweihung zurückgewiesen worden, während ich in
Schule eigentlichen Geschichtsunterricht erhielt, etwas Indien oder irgendwelchen benachbarten Gebieten. Er-
wie ein konkretes Erleben der Weltgeschichte, ein sich lebnisse gehabt haben muß, die mich mit spirituellen
Hingezogenfühlen zu bestimmten Zeiten und Geschichts- Dingen und "Persönlichkeiten in eine nahe Berührung
abschnitten, von denen ich in irgendwelchen Kinder- brachten. Auch was ich im gegenwärtigen Leben als
Zusammenschlusses mit der
büchern oder Gesprächen erfuhr. Eine solche Epoche eine Schwierigkeit meines
vor allem die Hohenstaufenzeit, beson- Menschheit erlebte, mag mit dem in der indischen In-
war für mich
einem inneren Zusammenhang
ders die Regierungszeit Friedrichs II. (1212—1250), und karnation Erfahrenen in

es will mir durchaus glaubhaft erscheinen, daß ich da- stehen.


mals, vielleicht im Schwabenland irgendwo in der Alb- Mit der Hinordnung meines Lebens auf das Vor-
gegend, gelebt habe, nicht weit von da, wo mich dann, geburtliche in innerem Einklang empfinde ich auch die
lange nach der Lebensmitte, das spätere Leben, als ich Tatsache, daß mich die Lebensführung in jungen Jahren
nach unsäglichen Irrfahrten endlich den geistigen Beruf immer in die Welt des Hochgebirges führte, wo die Ur-
gefunden hatte, wieder hinführte. Aber wie gesagt, es sprungskräfte sich regen, während ich das in gewisser
sind das alles doch nur Vermutungen, nicht klare Weise mit Todeskräften, die aber auch wieder zu
auf denen sie beruhen, Lebenskräften werden können, verbundene Meer erst
Schauungen, weil die Bilder,
nicht deutlich genug im Bewußtsein festgehalten wer- viel später, in den zwanziger Jahren, kennenlernte.
den konnten. Aus dem, was ich in meinem Büchlein „Der Ursprung
Gestehen muß ich, daß meine innere Bilderschau im Lichte“ im Paradieseskapitel darüber geschrieben
immer leicht ins Unbegrenzte und oft sogar ins Chao- habe, wird das, was ich hier meine, noch deutlicher.
tische ging. Mit Leichtigkeit konnte ich ganze innere Etwas von den dort angedeuteten Paradieseserlebnissen
„Kinematographenvorstellungen“ vor mir vorbeiziehen hat tatsächlich über meinen frühen Kinderjahren gelegen.

Erwiderungen auf Briefe


Konfirmationsvorbereitung „Es ergeben sich bei solch einer Frage eine ganze
„Zu Ostern wird unsere Älteste konfirmiert, und ich Reihe von Problemen. Oft sind die Eltern erstaunt, daß
möchte sehr gern auch zu Hause in diesen letzten Wo- die Jugend unserer Zeit mit ihren 14—15 Jahren so
chen vor dem wichtigen Ereignis etwas tun, was dem wenig religiöse Fragen hat und scheinbar religiös so
Kind diese Zeit aus dem Alltag heraushebt — für die uninteressiert ist. Wenn die Eltern an ihre eigene Ju-
so wundern sie sich, wie es damals
Gegenwart und auch für sein künftiges Rückerinnern.“ gend zurückdenken,
Auf diese Frage sei einiges aus den „Beiträge zur religiö- anders war, wie sie oft vor der Konfirmation geradezu
sen Erziehung im Elternhaus“ (Heft 7) hier abgedruckt*: Qualen ausgestanden haben, wenn sie auf ihre Fragen
keine Antwort bekamen. Wie vielen war z.B. die Frage
* Aus der Schrift: Wie bereite ich im Elternhaus die Konfir- nach der Würdigkeit wirklich ein beunruhigendes Pro-
mation meines Kindes vor? Von Arnold Goebel. (Vergleiche
Anzeige in diesem Heft.) blem in ihren jungen Seelen.

327
schinen und Baumeistern ist es diesmal und nimmer- Weisheit muß mir sehr vertraut, ein Teil von mir sein.
mehr zu schaffen. Hier ist ein Ende... Ich vermag sie nicht zu erkennen, weil sie mir zu nahe
Und .das fühlst du mit und leidest. ist... Sehe ich so auf mein Kinder-, Jünglings- und
Dir aber kann ich hier nur raten: Stürz dich mit Mannesland, entdecke ich das wunderbar Gefügte darin,
Kopf und Hand in den Strom hinein!... Ob du unter- so erscheint mir dies ein ähnlich in der Sichtbarkeit
geben wirst?... Ich glaube nicht... Ruhendes zu sein, wie die Blüte der Hyazinthe. Und um
. Sicher sagst du jetzt, ich wäre immer ein unver- das Gleichnis zu bringen: Wie die duftende Blüte in das
besserlicher Optimist gewesen. Gewiß ist, wäre ich’s sichtbar-unsichtbare Reich ihrer eigenen ewigen Gestalt
nicht, wäre ich wahrscheinlich Bolschewist, also ein hineingeht, während ihre Füße gleichsam in der Wurzel
folgerichtiger Pessimist geworden... stehenbleiben, so, lieber Freund, scheint sich mir mit
Es bereitet mir immer viel Freude, das Leben einer Sicherheit das Schicksal unseres Lebenslandes zu er-
Blume, vielleicht einer Hyazinthe zu betrachten. Im füllen. Es wird vergeben, entschwinden und aus den
Winter seh ich sie wie ein uraltes Greisengesicht im Welten der Gestalten zurückkehren, wie die Blume .aus
Boden liegen, gerate in Entzücken, wenn das blasse Grün der Wurzel, und die Bestimmung wird wohl sein, daß
wie ein Flämmchen aus der Erde springt, erlebe das ich dann in den Jahrtausenden die Mächte zu erkennen
Wunder der Knospe, schließe mich mit der Blüte dem vermag, die mich bis zur Stunde führten... Das mag
Himmel auf und verfolge ihr Hinsterben und Wieder- Ich wohl selber sein... Das Menschenleben zwischen
unsichtbarwerden. Dann schwindet mir die Blume aus Geburt und Tod ist nur ein Jahreslauf des ganzen
den Augen, und sie kommt mir gleichsam in den Sinn. Menschen. Er selbst ist viel älter, wird viel älter...
Wenn ich an sie denke, ist’s mir, als sehe ich ihre ewige So weit mein Optimismus und mein Rat: Betrachte
Gestalt, und das ist ihre Knolle, ihre Knospe, ihre einmal ruhig dein Leben, schau in alle seine Winkel
Blüte und ihr stilles Hinscheiden aus dieser Welt der binein, und du erhältst jene tapfere Ruhe. Gewöhne
Sinne in die Heimat ihrer eigenen Gestalt... Ist nicht deine Augen daran, die unvergängliche Gestalt zu spüren,
der ganze Kreis erst die Blume?... die über jedem Dinge schwebt, und du bist die... Brücke..
Du wundertest dich früher oft darüber, wie ich im- Denn, um noch einmal zum Blumengleichnis zurück-
stande war, die kleinsten, unscheinbarsten Kindheits- zukehren:
erlebnisse vor uns hinzustellen. Dieses Vermögen ist Die Menschen sind so geworden, daß sie nur das zu
mir seltsamerweise so gründlich verlieben worden, daß glauben vermögen, was sie sehen und fühlen können,
ich mir fast alle Stimmungen und Bilder vergangenen sie sind noch fern von der Schau in die Welt der Ge-
Lebens deutlich vor Augen zu führen vermag, daß ich stalten. Und da sie im Sichtbaren zu Ende sind, empfin-
noch einmal mit dem Kinderschürzchen, auf das zwei den sie die Forderung des Zeitgeistes, ein Leben im
springende Pferdchen gestickt waren, stehen kann, und Geiste zu beginnen, gleichbedeutend wie das Ansinnen,
in wunderbarer Frische die Wellen meines kleinen Hei- sich in einen nächtlichen furchtbar breiten Strom hinein-
matflüßchens blitzen 'sehe, und so wirklich in Groß- zustürzen. Schwärze erscheint ihnen dort, wo in Wahr-
vaters Mühle umhergehe, daß ich den herben Lohstaub heit die Quellen allen Lichtes sind.
zieche. Ich streichle mit kleinen Patschhändchen die So darf es dich nicht wundern, lieber Freund, wenn
rauhhaarigen Ziegen und fühle noch einmal Holz und du bemerkst, daß die Steine sich in deinen Plänen zu
Geruch meiner Schulbank. Ja, ich sehe mein Leben wie Bauten formen, die eigentlich noch von altersher sind.
ein Land vor mir liegen, spüre den Weg, den ich ging Die Steine sind das letzte, das vom Neuen. bewegt wird.
so leibhaftig, daß mir heiße Dankbarkeit kommt, und Alles in allem stehen wir Menschen aber an einem An-
ich denke, daß dieses Land und dieser Weg eigentlich fang! Wir wollen dieser Anfang sein, so wie auch die
viel mächtiger waren, viel klüger, als ich, der Gehende ersten Christen unter den Straßen des Cäsaren-Roms
selbst. Ich will sagen, ich sehe all das, verstehe es aber einen, wenn auch unscheinbaren Beginn darstellten. Aus
nur zum geringsten Teil, diese mächtige führende Weis- dem ewigen Leben soll auch dir die Ruhe des Ausreifens
heit, Nur das eine spüre ich mit Vertrauen, diese kommen. Wir sind ja noch sehr jung. Rudolf Fuchte

Antworten auf Fragen


Warum hat die Christengemeinschaft nahe gekommen, als mir einfiel, daß Fichte, der größte
Deutsche, sich einen „Priester“ nannte. Man hat bishor
ein neues Priestertum gebracht? Lehnt
sichnichtdieGegenwartmitallemRecht römische Priester gehabt. Hat es im vollen Sinn deutsche
aufgegen jedeArt von Priestertum? Priester schon gegeben?
Über das wahre Priestertum gibt es ein Wort, in dem
- Zu dieser „Gegenwart“ haben wir selbst gehört. Mir wir Neuland aufleuchten sehen. „Nicht daß wir Herren
persönlich zum Beispiel ist das Wort „Priester“ erst seien über euren. Glauben, sondern wir sind Gehilfen

330
wenn: er die Sinnenwelt ergreift, durchdringt, verwan-
eurer Freude.“ Der Apostel Paulus, von dem dies Wort.
stammt, hat es nicht verhindern können, daß die ganze delt, sie zur Offenbarungsstätte seines Wirkens macht?
Kirchengeschichte voll ist von „Herren über den Glau- Der Mensch ist auf;die Erde gesandt. Die Erde stellt
ben“. Das Wort Priester würde einen neuen, frohen sich ihm als eine Sinnenwelt gegenüber. Der Mensch aber
Klang gewinnen, wenn Priester unter den Menschen ist ein geistiges Wesen. Was soll er auf der Erde? Die
stünden, die ihr ganzes Wirken unter dies Wort stellten: Güter der Erde gedankenlos genießen, um dann ermüdet
„Gehilfen der Freude“. Hat nicht Christus selbst ge- abzutreten? Die Kräfte der Erde eifrigst entdecken
rede ich in der Welt, damit sie in sich selbst und nicht wissen, was dabei herauskommt? Der Mensch
sagt: „Dies
haben meine Freude in ihrer göttlichen Fülle“ (Joh. 17)? hat den Beruf, den göttlichen Geist zu suchen und zu
Wirklich: man kann alles Priesterwirken als ein Freude- finden, sich frei mit ihm zu verbünden und die Erde zum
bringen auffassen, in Taufe und Beerdigung, in Predigt Ausdruck dieses Geistes zu machen. So gewiß dies die
und seelsorgerlicher Beratung, in Jugendweihe und täg- Erdenaufgabe des Menschen ist, so gewiß ist der Kultus
lichem Gottesdienst. zentral aus dem’ Erdendasein des Menschen hervor-
Der Priester soll nicht der herrschende Mensch sein, gewachsen, ist seine gesammelte Kraftstätte und wirkt
sondern der vorangehende Mensch. Der Mensch selber, fördernd auf alles Erdenleben zurück: belebend, er-

jeder Mensch, sofern er täglich in eine sichtbare Welt höhend, durchkraftend.


hinaustritt und in ihr einen Geistesdienst zu vollbringen Man kann den Kultus unter drei Gesichtspunkten be-
hat, ist ja zum Priester geboren. In einem ganz weiten, trachten. Einmal unter dem göttlichen Gesichts-
freien Sinn. Wie der Kultus dann richtig ist, wenn er punkt. Dann ist er die Fortsetzung des göttlichen Schöp-
die Erdenaufgabe des Menschen abbildet, den Menschen fungswerks auf der Erde. In einer gottentfremdeten
für sie läutert und stärkt, so ist das Priestertum. dann Welt muß aber die Schöpfung naturgemäß zur Wand-
richtig, wenn es die Erdenstellung des Menschen selbst lung werden. Der Mensch nimmt teil am göttlichen Wil-
vorbildet und den Menschen dadurch erleuchtet und ver- len gegenüber der Erde, heiligt den göttlichen Namen
edelt. Es ist nun einmal so: zwar soll jeder Mensch Er- auf der Erde, bringt das göttliche Reich auf die Erde.
zieher sein und jeder Mensch auch in gewissem Sinn Das ist der Kultus. Das ist das Vaterunser. Das ist das
Heiler, mindestens an sich selbst. Dennoch gibt es einen Menschenleben. . . \
Erzieherberuf’und einen Heilerberuf. Der Priester aber Man kann den Kultus auch unter dem irdischen
wird dann den Menschen einleuchtend sein, wenn er sie Gesichtspunkt betrachten. Dann lädt der Mensch im
durch sein Dasein immer erinnert an ihre eigne hohe ‚Kultus seine Erde ein, in den Geist einzukebren und sich
Priesterbestimmung: das Göttliche zum Ausdruck zu von ihm adeln zu lassen. Im rechten Kultus kommt alles
bringen in einer sinnlich-sichtbaren Welt. Dazu war der herbei und will seine Weihe haben: alle Reiche des
Mensch berufen, als er in diese Welt bereingeboren Sinnenlebens: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Füh-
wurde. Dazu wird er neu berufen an jedem Tag, wenn len; alle „Elemente“: Erde, Wasser, Luft, Feuer; alle
er aufwacht. \ . Farben und Formen: die Erde füllt sich mit heiligem
:
Als Christus die Erde verließ, war die letzte Tat vor Geist.
seinem Tod die „Einsetzung des heiligen Abendmahls“, Man kann den Kultus auch unter dem mensch-
die Einsetzung eines neuen Kultus. Als Christus auf- lichen Gesichtspunkt betrachten. Dann ist er die Weihe
erstand, war die erste Tat am Osterabend die Einsetzung des Menschen. Der Mensch nimmt den göttlichen Auf-
eines neuen Priestertums: „Wie mich der Vater gesandt trag auf und erhebt sich zur Würde eines
göttlichen Mit-
hat, so sende nun ich -euch auch!“ . arbeiters. Dadurch stellt er sich aber zugleich ganz in
Ist das Priestertum im Sinn Christi — von einzelnen Christus hinein, nicht nur indem er eine Predigt hört
verehrungswürdigen Ausnahmen abgesehen — schon je oder ein Gebet spricht, sondern indem er eine Tat tut,
zur Wirklichkeit geworden? Könnte nicht heute, wo uns die ihn mit seinem ganzen Wesen und Wollen anschließt
dies alles aufgegangen ist, die Stunde dazu gekommen an das Christusvermächtnis: Das ist mein Leib! Das ist
sein? RS: mein Blut! Gerade in seiner rhythmischen Regelmäßig-
keit und in der dadurch möglichen Vertiefung und
Warum ist äußerer Kultus notwendig? Durchkraftung erzieht der Kultus den Menschen viel
es
Hat Christusni cht gesagt: Gottist Geist, mehr zu Christus hin, vereint ihn mit Christus, als
die müssen ihn im irgendein andrer Gottesdienst vollbringen könnte.
und die ihn anbeten,
So kann der Kultus, oder sagen wir lieber: die Men-
Geist undin der Wahrheit anbeten!?
schenweihehandlung gerade die höchste und umfassendste
Geist und in
Gewiß, vor diesem bedeutsamsten Wort der Religions- Erfüllung sein für das Wort: Anbetung im
geschichte muß sich der Kultus rechtfertigen. Aber — der Wahrheit. Darum hat auch Christus, dem wir dies
offenbart sich der Geist stärker: wenn er sich heraus- hohe Wort verdanken, als seinen Gottesdienst ein-
wo
zieht aus der Sinnenwelt und in sich selbst lebt? oder gesetzt: das.Christusmahl.- nn R.

331
‚Blicke in die Zeit
Krisis in der anglikanischen Kirche
„Ihe Doctrinal Der Jungfrauengeburt und der Auferstehung
Commission“
gegenüber — letztere kommt besonders schlecht weg —
1922 hatte der Erzbischof von Canterbury eine Kom-
verzichtet man so weit auf ein. Verständnis oder
mission bestellt, die untersuchen sollte, wie sich die ver-
Glauben, daß sich der Erzbischof von York veranlaßt
schiedenen „Lager“ der englischen Staatskirche zum
sieht, „kraft seines Amtes ein persönliches Bekenntnis
Dogma der Kirche verhalten. Die 25 hohen Würden- abzulegen, in dem er ausspricht, daß er voll und ganz
träger hatten „die Grundlagen der christlichen Lehre zu
an die Jungfrauengeburt glaubt und an die Auferstehung
studieren, um herauszufinden, wie viel Übereinstimmung
des Fleisches“. Über die Sakramente herrscht mehr
dabei herrscht, und zu zeigen, wieweit es möglich ist, be-
Einigkeit. Da wagen sich dann auch bestimmtere An-
stehende Verschiedenheiten zu beseitigen oder doch zu sichten hervor.
verringern“. Das Ergebnis dieser 15jährigen Arbeit ist
Dem Buch zufolge hat „der Glaube an Engelund
eben im Druck erschienen in einem umfangreichen Buch. Dämonen mindestens einen symbolischen Wert“,
In dem Bericht sieht eine führende Zeitung „einen ent- wobei einige Kommissionäre so
weit gehen festzustellen,
schiedenen Schritt in der Entwicklung der Theologie“, „daß es unvernünftig
wäre, zu behaupten, daß .alle
Allerdings muß dieser Versuch, zu einer Einheitlichkeit geistigen Wesen außer Gott Menschen
sind“. In solcher
zu kommen, mit einem hohen Preis bezahlt werden: mit
Weise will die Kommission es dem modernen. Denken
dem der Verwässerung der Substanz der Kirche. Denn erleichtern, die Tradition der Kirche anzunehmen.
man hat diesem Dokument gegenüber das leidige Gefühl „Die Wunder durchbrechen nicht die göttliche Ord-
des grünen Tisches. Theologen haben ihn geschrieben, nung der Welt, sondern sind der Ausdruck göttlicher
obgleich mit Stolz gesagt werden kann, daß „er nichts an Absichten. Im Wunder drückt sich für den Gläubigen der
sich hat vom Odium theologicum“. „Aber dem Ziel der spirituelle Charakter und die Heiligkeit der Mächte
Verständigung und Versöhnung gibt er Wesentlichstes aus, die den Kosmos erhalten.“ \ .
preis.“ Der Bericht gibt wertvolle Einsichten in den Die Himmelfahrt wird ausführlich besprochen
ehrlich gemeinten, 'aber tragischen Versuch, mit unzu- als der Abschluß der irdischen Wirksamkeit des Christus
reichenden Mitteln Glaube und Wissen zu verbinden, und als Neubeginn in seinem Erlösungswerk. „Die
„um der Gleichgiltigkeit in der Kirche und den Aus- Himmelfahrt ist ein Symbol.“ „Die Natur des realen
tritten zu steuern“. Der „Observer“ betont „einen der Ereignisses wird nicht besprochen." —
größten Vorzüge dieses Berichtes, der eine erneute Be-
-.. *.
stätigung der Weitherzigkeit der englischen Kirche ist,
die wahrhaftig ein Haus ist mit vielen Wohnungen“. „Es Beim Lesen der Berichte. kam mir immer wieder das
gibt wohl keine andre Kirche, deren Leiter solche Ver- Bild des Mehlsacks, das Rudolf
Steiner öfter gebrauchte,
schiedenheit der Meinungen — so ungebrochen christlich Das Mehl soll im Sad verpackt ruhen.
Wir aber als
handhaben können.“ „In diesen Kommissionären lebt Menschen sollten über die Mehlsackstimmung
hinaus-
der Geist des englischen Volkes, das nicht zu viel von kommen, vor allem, wenn wir Christen
werden wollen.
Theologie wissen will, vielmehr nach der christlichen An diesem Bericht hat sicher nicht nur der Kopf, son-
Haltung beurteilt.“ „Wo immer man Glauben findet; der dern auch das Menschenherz mitberaten:
Aber das Feuer
sich in der rechten Art zu leben offenbart, in Selbstlosig- bat nicht Pate gestanden. Er ist nicht mit
dem Herzblut
keit und guten Werken, da kann nichts Schlechtes in verzweifelt Suchender geschrieben. Die Welt wird
der Theorie sein.“ „Deshalb sprechen die Mitglieder der darüber zur Tagesordnung gehen. Denn da
ist ein Aus-
Kommission die Überzeugung aus, daß zu starkes Fest- weichen, keine Überwinderkraft. Zu viel
Wasser, wo ist
halten an Dogmen wesentliche Kräfte der Kirche der Wein? Wenig ist darin von dem Geist: ein Feuer
schwächt.“ So ist z.B. „wie immer der kritische Ver- kam ich zu werfen über die Erde.
Dieser Geist aber
stand sich dazu stellt, das Gebet voll von schönster wirkte unter uns. Das war auch im
Jahre 1922.
Poesie, und was ist wichtiger, als die hohe Poesie in + Martha Heimeran
Brauch und Sitte eines Volkes zu erhalten!“
Ähnliche Bemerkungen zu den Studienergebnissen der Zu diesem Bericht stellen wir noch zwei Tatsachen.
Kommission bringen die führenden Zeitschriften und In der Kathedrale von Chichester und in einer Kirche
Zeitungen. . von Liverpool ‚wurde in diesen Wochen ein ganzes
Vorsichtig berührt der Bericht die Zweifelspunkte, bei Filmprogramm vorgeführt. Die einleitende Ansprache in
denen christliche Tradition mit modernem Denken zu- Chichester sagte, daß der Film an die Stelle der Predigt
sammenstößt, und läßt „Freiheiten“ in der Auffassung treten solle, denn „Menschen lernen so sehr viel mehr
zu, die nicht gerade die Stärke einer Kirche verraten. durch. ihre Augen als durch ihre Ohren“, Pastorale

332
Szenen aus dem englischen Landleben wurden gezeigt; bedeuten, durch Kombinationen von Tönen, Farben und
dazu wurde das Gleichnis vom Samenkorn verlesen. eventuell auch Geruchseindrücken zu heilen sind.
Darauf kam ein Tongroßfilm nach der Erzählung von Der Forscher geht hierbei von der Meinung aus, daß
Tolstoj .„Wo Liebe ist, da ist Gott.“ Naturaufnahmen gewisse Farben eine bestimmte Wirkung auf die Hor-
vom Kirchgang am Weihnachtsmorgen in Schweden be- mondrüsen unseres Körpers ausüben. Und daß die Hor-
schlossen die Feier. — mondrüsen unseren seelischen Zustand in weitgehendem
Die andre Tatsache. In England ist eine neue Bibel- Maße zu beeinflussen vermögen, ist eine Auffassung, die
übersetzung erschienen, die der Bibel literarischen Reiz heute von zahlreichen Gelehrten geteilt wird. Dr. Can-
zu geben sucht. Abschnitte aus dieser Übersetzung er- non hat auch eine Art psychologischer Farbenskala auf-
schienen fortlaufend in bedeutenden englischen Zeitun- gestellt. Nach seiner Behauptung sollen die einzelnen
gen, um die Menschen anzuregen, die Bibel als inter- Farben auf folgende Weise wirken:
essantestes Literaturdokument kennen und schätzen zu Rot ist aufpeitschend und erregend. Nervöse Men-
lernen. Manche Stellen, wie zum Beispiel die Geschlechts- schen sollen diese Farbe nach Tunlichkeit meiden. Sie er-
register, werden natürlich fortgelassen; — zeugt zwischen den häuslichen vier Wänden eine Atmo-
Man kann aus diesen Tatsachen, besonders aus dem sphäre der Spannung und Unverträglichkeit. Manches
zuerst mitgeteilten Bexicht, folgendes feststellen: streitsüchtige Ehepaar würde, wenn es jegliches Rot aus
1. Die anglikanische Staatskirche ist endgiltig eben- seiner Umgebung entfernte, damit auch eine Quelle der
falls in die Kirchenkrise dieses Jahrhunderts eingetreten. Reizbarkeit beseitigen. Orangerot wirkt belebend und
2. Sie erlebt den Einbruch der kritischen Theologie steigert die Arbeitslust. Es ist daher für die Ausstattung
um einige Jahrzehnte später als die deutsche evangelische von Arbeitszimmern sehr geeignet. Ein lebhaftes Gelb
Kirche, aber sie entgeht ihm auch nicht. übt die gleiche anregende Wirkung, es fördert die Vitali-
3. Sie versucht, sich dem letzten Ernst der geistigen tät und Arbeitslust. Die grüne Farbe wirkt aufheiternd
Auseinandersetzung vorläufig durch Kompromisse und und versöhnlich; jähzornige Menschen beruhigen sich am
Künsteleien zu entziehen. besten in einem grünen Zimmer. Die blaue Farbe übt
4. Sie läßt die Unzulänglichkeit und mangelnde Über- eine lindernde, beruhigende Wirkung aus; sie ist be-
zeugungskraft dieser Versuche gleich im Anfang deutlich sonders nach starken seelischen Erregungen vorzuziehen.
erkennen. Die lila Farbe wirkt heilend, und Dr. Cannon empfiehlt
In England hat man die glückliche Gabe, das Wider- sie besonders für Rekonvaleszenten. Hingegen warnt er
strebendste menschlich zu verbinden. Aber es hilft alles entschieden vor dem unheimlichen Grau, ‘das im Men-
nichts: nach innerster Notwendigkeit wird in wenigen schen ein Gefühl der Furcht und Unruhe erzeugt. Be-
Jahrzehnten das Widerstrebende — altes Christentum sonders empfindsame und leicht schreckbare Personen
und neuzeitliches Denken und Empfinden — beillos aus- sollten die graue Farbe meiden; sie ist die Farbe der
einanderklaffen. Eine ernsteste geistige Arbeit hat Selbstmörder und Weltflüchtlinge.
zu geschehen. Sie allein kann eine neue Phase des Dr. Cannon begnügt sich aber keineswegs mit bloß
Christentums heraufführen. In dieser Geistesarbeit theoretischen Erklärungen. Er weist auch praktische
stehen wir in Deutschland mitten drin. Und das wird Wege zur Verwertung seiner Theorie und ist überzeugt,
auch für England von entscheidender Bedeutung werden. daß sie einmal in der Innenarchitektur und Mode eine
Die englische Kommission begeht den Fehler, doch ebenso wichtige Rolle spielen wird wie in der Medizin.
irgendwie dogmatisch festsetzen zu wollen, was man Die Entwicklung des Radios und des Fernsehens eröffnet
glauben soll, und was man ohne Schaden preisgeben uns auf diesem Gebiet ungeahnte Perspektiven. Es wird
darf. Darum diese peinliche Kompromißlichkeit, selbst in Zukunft möglich sein, erklärt Dr. Cannon, durch eine
in bezug auf die Auferstehung, die keinen Sieg in sich Kombination von leiser Musik und wechselndem Farben-
trägt. Man muß aber heute die Menschen ganz frei spiel auf der Projektionsfläche des Televisors wahre
lassen und sie dann durch die Einsicht, die man Wunder zu vollbringen. Vor allem an jenen Menschen,
ihnen bringt, und durch die Lebenserfüllung, die unter der Geißel der Schlaflosigkeit leiden.
die man ihnen zeigt, für das Christentum neu gewinnen. Um die Richtigkeit seiner Auffassung zu beweisen, hat
Dazu helfen weder Film noch ästhetische Reize. Ganz Dr. Cannon gleich eine Probe aufs Exempel gemacht.
neu will das Christentum vom Geist der Gegenwart Er hat im Vortragssaal sein ganzes, nahezu viertausend
oder. vielmehr vom Geist der Zukunft innerlichst Personen zählendes Auditorium teils wirklich ein-
erobert werden. Friedrich Rittelmeyer geschläfert, teils in einen Zustand des Halbschlafes ver-
senkt, der von dem völligen Eiuschlafen nicht weit ent-
„Synthetischer“ Schlaf ferut war. Ein Experiment, wie es in diesem Umfang
„Dr. Cannon-London ist überzeugt, daß nicht nur noch keinem Forscher und keinem Hypnotiseur geglückt
die Schlaflosigkeit, sondern auch eine Reihe anderer ist. Der ganze Raum wurde zuerst für kurze Zeit in
Leiden, die für unser Geschlecht eine unerträgliche Plage rotes Licht getaucht. Dann begann hinter einem großen

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schwarzen Vorhang grünes Licht hervorzuströmen. Lebensgesetze erwachsen, wie eben — die Schlaflosig-
Gleichzeitig erklangen die leisen, einschläfernden Töne keit.“ (Gemeint ist die „psychogene“ Schlaflosigkeit,
des Liedes „My heart was sleeping“. Dr. Cannon be- nicht die aus Gründen organischer Krankheiten.) „Gegen-
diente mit eigener Hand die Beleuchtungsapparate. Un- über keinem solchen Kranken wird unterlassen — immer
gefähr 10 Minuten sanfter, ineinandergleitender Farb- in einer Form, die seinen vorsichtig ermittelten persön-
töne und Melodien vergingen, dann machte sich eine lichen Anschauungen etwa entspricht, nie aufdringlich
seltsame Schläfrigkeit unter den Anwesenden bemerk- fromm, in etwa.gar betonter Konfessionalität — eine
bar. Innerhalb einer Viertelstunde befand sich ein großer allgemeinste religiöse Haltung neu zu begründen,
Teil der Zuhörer in seligem Schlummer, während andere die ja für gewöhnlich nur verschüttet ist, ja, wenn mög-
in ein Stadium des Wachträumens verfallen waren, und lich und nötig, ganz wieder aufzubauen... Bei diesen
nur ganz wenige aus einer Art Selbstbehauptung gegen wie bei allen Übungen der Nachtklinik werden stereo-
jeden Suggestionseinluß mit Macht gegen die Ein- type Prägungen angewendet, die also zur Wahrung des
schläferung ankämpften. Dann begannen die Farben zu Übungscharakters jeweils... immer möglichst wörtlich
verschwimmen, die Musik wurde immer leiser, bis sie bleiben...“ — — .
völlig verstummte und das Publikum aus seinem Schlaf Wie die zuerst geschilderte Methode in die Region
zu erwachen begann. \ des Kultus führt, so die zweite in die Region der Medi-
Dr. Cannon war vom Ergebnis seines Versuchs sehr tation. Nicht nur zur Erzielung eines gesunden Schlafes
befriedigt. Er erklärte, es sei nur eine Frage der Zeit, — hier werden nur Lebensstörungen zuerst empfindlich
wann der „synthetische Schlaf“ zur Wirklichkeit ge- bemerkbar —, sondern zur Erringung voller seelischer
worden sei. In nicht allzu ferner Zukunft würde die täg- Gesundheit und. Lebensfähigkeit werden sich Meditation
liche „Schlummerstunde“ einen festen Programmpunkt und Kultus in Zukunft immer lebensnotwendiger er-
des sichtbaren und hörbaren Rundfunks bilden.“ — weisen. Selbstverständlich lebt zeitgemäßer Kultus und
Hierzu ist vor allem ein Doppeltes zu bemerken. Sind rechte Meditation ganz in der Sphäre der Wachheit und
es wirklich die „Hormondrüsen“, auf die die Farben Freiheit, kennt aber die Lebensgesetze wohl, an. die
wirken? Drüsen haben doch keine Augen? Hier wäre der hier gerührt wird. R
Ort, wo man sich der Goetheschen Ausführungen über
die sinnlich-seelische Wirkung der Farben erinnern Wissenschaftliches über das „Weiterleben“
müßte, statt nur englische Experimente anzustaunen. Vor einiger Zeit erschien im Verlag de Gruyter,
Und die andre Frage: wirken die Farben immer un- Berlin, von Dr. Mattiesen ein zweibändiges Werk von
mittelbar ansteckend oder wirken sie nicht auch mittel- 930 Seiten über „Das persönliche Überleben des Todes,
bar aufreizend, das Gegenteil hervortreibend, so daß eine Darstellung der Erfahrungsbeweise“. Wir führen
also ein rotes Zimmer gegebenenfalls beruhigend, ein aus einem Artikel von Dr. Gerda Walther, der im
blaues Zimmer anregend wirken könnte? Uusre Leser „Berliner Lokal-Anzeiger“ erschienen ist, einige Stel-
wissen, daß auf diesem Gebiet längst Erfahrungen vor- len an: |
liegen, und daß diese Tatsachen auch ihre kultische Be- „Um dem Leser ein Fortbestehen des Menschen nach
deutung ‚haben. — der Trennung vom Leibe weniger unsinnig erscheinen
Wir fügen hier noch eine ganz andre Methode an, zu lassen, als es sich vom Standpunkt des Materialis-
der Schlaflosigkeit zu steuern. mus her ausnimmt, bringt der Verfasser in aller Aus-
In Stuttgart gibt es eine „Nachtklinik für führlichkeit 60 Selbstschilderungen von Personen, die
Schlafgestörte“. In der medizinischen Zeitschrift in der Narkose oder etwa im Anschluß an einen plötz-
„Hippokrates“ gibt Dr. med. Manfred Breuninger- lichen Schock vorübergehend ein Verlassen ihres Leibes
Stuttgart einen Bericht über dreijährige Erfahrungen erlebten, den sie wie einen Fremdkörper liegen sahen
in seiner kleinen „Nachtklinik“, die die Patienten meist und von dem sie sich dann mehr oder weniger weit
nur zur Nacht beherbergt und grundsätzlich jedes entfernten, wobei sie oft allerhand Beobachtungen
chemische Schlafmittel vermeidet. Wir lesen da: machten: an räumlich entfernten Orten, die sich dann
.. „Bier ist die Brücke zur folgerichtig religiösen Stel- später bei entsprechenden Nachprüfungen als richtig
lungnahme, die in der Nachtklinik ernsthaft gepflegt erwiesen. Zahlreiche weitere gut beglaubigte Fälle be-
wird. Die meisten Schlaflosen’sind während dieser ihrer richten dann darüber, wie es solchen Menschen gelang,
Krankheit mißtrauisch, zweiflerisch, glaubenslos. Und sich anderen bemerkbar zu machen, vielleicht sogar von
viele darunter wissen nicht deutlich, daß sie dies nicht ihnen gesehen zu werden — genau wie es manchmal
nur dem Arzt, den Angehörigen, den Mitmenschen gegen- auch mit Erscheinungen Sterbender geschieht....
über sind, sondern weit wesentlicher der wie auch immer In derartigen Fällen ist das Erlebnis des Sterbens,
erlebten und gedachten irgend vorhandenen höheren der Trennung vom ärdischen Leibe, also schon von
und höchsten Instanz gegenüber: andernfalls könnte. ja Lebenden vorweggenommen, wobei fast alle ein wunder-
nicht ein so ernsthafter. Verstoß gegen die natürlichen bares Gefühl der Leichtigkeit und Befreiung schildern,

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das es ihnen oft schwer machte, in den wie tot vor „Wer Tatsachen wie die angedeutetem versacainmet.
ihnen liegenden Leib zurückzukehren. Sie schildern der läßt ein Loch in seiner Auffassung vom Wek mi
auch oft, wie sie dann versucht hätten, sich Angehörigen Leben, und dessen Weltanschauung ist me wirackeem
oder Bekannten bemerkbar zu machen, was sehr oft Punkten unzulänglich. Es bleibt also dabei: «= se
mißlang, da diese meist weder auf Berührungen noch „okkulten“ Tatsachen wirklich Tatsachen sind, se zrk
auf Ansprache im geringsten reagierten, wenn sie nicht eine jede Weltanschauung, also auch die zztiemma-
gerade besonders sensitiv waren.... Die Berechtigung sozialistische, sie einbeziehen und verarbeiten Asa
der verschiedensten Einwände und den Hinweis auf sie das tun? Oder müßte sie daran scheitern? Ice m
mannigfache Fehlerquellen: Selbsttäuschung, Halluzina- überzeugt, daß sie es tun kann, ja, daß sie erst dadarem
tion, Gedankenübertragung, gibt der Verfasser ohne ihre ganze Fruchtbarkeit und Tiefe gewinnen würde.
weiteres zu, ja, er bringt sogar selbst noch weitere Die sogenannten okkulten Tatsachen tun emes mit
Einwände. Trotzdem aber scheint ihm eine genaue Zer- Gewißheit: sie sprengen den noch weit verbreitetem
gliederung der verschiedensten Fälle unbedingt zu be- Materialismus; sie beweisen auf eine neue Ärt
weisen, daß die Verstorbenen auch nach der Trennung seinen Gegensatz, den Idealismus. Sie verbürgen
von ihrem irdischen Leibe als individuelle Per- ein Reich des Geistigen, das dem Reich des Stofflichen
sönlichkeiten ein sinnvolles Leben fortführen und übergeordnet ist. Sie begründen den „Primat“
dabei auch mitunter versuchen, mit Lebenden in Verbin- des Seelischen.
dung zu treten. Und das gelingt offenbar ja auch vielfach. ... Dagegen gibt es eine Weltanschauung, die dies nie
Der Verfasser hat hierbei durchaus nicht nur die so heiß anerkennen kann und wird, weil sie auf die materialisti-
umstrittenen und bestrittenen Äußerungen von angeblichen sche Auffassung des Menschen, seines Werdens und
Verstorbenen durch Medien im Auge, vielmehr befassen seiner Geschichte eingeschworen ist: die bolschewistische.
sich große Teile seines Werkes mit Kundgebungen, bei ... Diese Tatsachen begründen nicht nur einen Pri-
denen Medien im eigentlichen Sinne gar keine Rolle mat des Seelischen und Geistigen, sie leisten noch ein
spielen. Hierbei weist er auf zahlreiche einzelne Mo- weiteres, was gerade der Nationalsozialismus anerkennen
mente an diesen Kundgebungen hin, die darauf hin- muß: sie widerlegen einen überspitzten Individualismus.
deuten, daß sie nur als Äußerungen Verstorbener Sie tun dies, indem sie die überkörperliche Verbunden-
sinnvoll zu erklären sind, während alle anderen Er- heit der Einzelnen beweisen, eine Gemeinschaft der
klärungen an den Haaren herbeigezogen und teilweise Wesen, die auf mehr beruht, als auf Gleichartigkeit
“ äußerst kompliziert und umständlich seien. Solche finden des Blutes, des Fühlens, der Sprache, des Lebensraumes.
sich vor allem im spontanen Erscheinen Sterbender Sie beweisen ein Verschmelzen von Einzelseelen in ge-
oder Verstorbener, wie sie ja vor allem im Kriege, wissen Zuständen, ja vielleicht ihr gemeinsames Ver-
aber auch früher und später oft erlebt wurden.... wurzeltsein in „Gruppenseelen“, in Übersubjekten. Zu
Besonders überzeugend ist es auch, wenn Sterbende solchen Begriffen ist die Theorie der parapsychischen
bei vollem Wachbewußtsein Verstorbene sehen, die Tatsachen immer wieder gedrängt worden. Sie begrün-
kommen, sie abzuholen, obwohl ihnen deren Tod ab- det damit die Annahme einer tief in uns verborgenen
sichtlich verheimlicht wurde. Einheit der Wesen, vor allem der aufeinander „ab-
...Nach eingehender Darstellung solcher Fälle wendet gestimmten“. Damit wird es wahrscheinlich, daß der
sich der Verfasser dann auch den eigentlich mediumisti- Okkultismus einmal die umfassendste Grundlegung des
schen Pbänomenen zu, bei denen nach sorgfältiger Aus- Begriffs einer Volksgemeiuschaft liefern wird, als der
scheidung alles dessen, was durch Betrug, durch das Einheit vieler im seelischen Wurzelgebiet. In Zeiten
Unterbewußtsein der Medien oder durch Gedanken- starker nationaler Erhebung steigen die Säfte dieses
übertragung von seiten Lebender erklärt werden kann, Wurzelgebiets an die Oberfläche. Die „Menschen werden
doch noch eine größere Anzahl von Fällen bleibt, die Brüder“, weil sie im Kern ein Wesen, eine Bruder-
seiner Meinung nach sinnvoll nur durch sich kund- schaft sind. Wir haben es 1914 erlebt, in einer beinahe
gebende Verstorbene erklärt werden können.... „unystischen“ Weise; und wir erleben es heute in weiten
...Dr. Mattiesen hat recht, wenn er bemerkt, daß die Grenzen wieder.
Gesamtheit der von ihm beigebrachten Tatsachen, selbst -... Es ist allbekannt, daß unsere germanischen Vor-
wenn man den einen oder anderen Fall anzweifela will, fahren in gewissen Frauen „prophetische“ Gaben ver-
das weitaus übersteigt, was sowohl in manchen anderen ehrten, sagen wir: hellseherische Fähigkeiten und den
Wissensgebieten, zum Beispiel der Geschichtsforschung, Blick in die Zukunft. Es ist ebenso bekannt, daß sie an
als bei Gerichtsverhandlungen als völlig zureichende ein Fortleben nach dem Tode glaubten, wie ührigens
Beweisgrundlage an Tatsachen und Indizien be- alle höherstehenden Völker der Erde, ehe sie mit Ein-
trachtet wird.“ — tritt großstädtischer Spätkultur Systeme des Materialis-
Im „Reichswart‘‘ des Grafen Reventlow hat dann Dr. mus entwickelten....
Mattiesen selbst das Wort genommen. Fragt unsere Feldgrauen, was sie im Kriege an

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xätselhaften Todesahnungen, an übersinnlichen „War- len im Menschen mit tiefster Anteilnahme gegenüber.
nungen“ vor Gefahr, was ihre Angehörigen an Fern- «.. Gibt es ein Jenseits und ein Fortleben des einzel-
erscheinungen Verwundeter und Totenerscheinungen nen darin, so müssen auch die „höheren“ Fähigkeiten
Gefallener beobachtet haben. Ihr werdet staunen über jenseitigen Lebens im Erdenbürger schlummern und in
die Überfülle des Erlebten, die euch entgegenstürzen gewissen Zuständen zutagetreten. Die „okkulten“, die
wird. übernormalen Kräfte des Diesseits sind die normalen
... Ja, fast möchte man meinen, daß je „nordischer“ des Jenseits. Das ist gesunde Logik.“ —
der Volksschlag, desto reicher die Ausbeute.... Unsern Lesern ist ja wohl nicht unbekannt, was wir
Wir haben sogar schon früher einmal, vor etwa 100 zu solchen Auseinandersetzungen zu sagen haben. Die
Jahren, eine kerndeutsche Bewegung gehabt, die eben Zeit drängt geradezu unwiderstehlich auf ein besseres
dieses Ineinander veranschaulicht. Ich denke an die Zeit Verständnis für das Übersinnliche hin. Äußere Beweise
der deutschen Romantik, die ja auch die Zeit der können aber nur immer bis an die Grenze führen, wo
nationalen Erhebung und der Befreiungskriege war. die eigentlichen Fragen sich erheben. Und hier geht
... Die großen Denker der Zeit verarbeiteten diese For- es dann nur weiter durch innere Erziehung und durch
schung in ihre Systeme: Hegel, Schelling, Baader, Carus, geistige Forschung, die das Geist-Leib-Gefüge des Men-
Görres, Schopenhauer. Auch Goethe stand, wie zeitweilig schen besser durchschaut und damit auch seinen Zu-
der Romantik nahe, so auch zeitlebens dem Übernorma- saramenhang mit der Überwelt. R

Öffentlicher Seminarkurs in Stuttgart. vom 31. März bis 9. April

Religiöse Zeugnisse aus der Vergangenheit


Aus: steigern suchen. Dies ethischer Begriff und Wert des
„System der Ethik“, II, S. 430 £f. gemeinsamen Kultus.“
*
Von ImmanuelHermann Fichte
Aus:
Neuer Kultus
„Hyperion“, 1. Buch, 7. Brief
„Ian einer religiös erhobenen, von einem Gefühl der von Friedrich Hölderlin
Andacht verschmolzenen Gemeinde ist die Gegenwart des
göttlichen Geistes das eigentlich Gemeinschaftstiftende Neue Kirche
und Kirchegründende... Das Höchste im Menschen, seine „O Regen vom Himmel! O Begeisterung! Du wirst
Vollendung und innere Verewigung durch die Andacht, den Frühling der Völker uns wiederbringen. Dich kann
kann nur als eine unwillkürlich ihn ergreifende Macht, der Staat nicht hergebieten. Aber er störe dich nicht,
äls ein Kommendes und Gehbendes, von ihm empfunden so wirst du kommen, kommen wirst du mit deinen
werden. Wer aber nur einmal jene geheimnisvolle Weihe allmächtigen Wonnen, in goldue Wolken wirst du uns
genossen hat — und wohl keinen gibt es unter den hüllen und empor uns tragen über die Sterblichkeit,
Menschen, dem diese Erfahrung ganz fremd wäre —, der und wir werden staunen und fragen, ob wir es noch
muß sich bekennen, wenn er nur einen Augenblick die seien, wir, die Dürftigen, die wir die Sterne fragten,
psychologische Eigentümlichkeit dieser Erscheinung er- ob dort uns ein Frühling blühe — fragst du mich, wann
wägt, daß hier eine „Eingebung“ ihn übermannt, zu deren dies sein wird? Dann, wann die Liebliugin der Zeit,
Intensität er willkürlich nichts hinzufügen kann, aus die jüngste, schönste Tochter der Zeit, die neue Kirche,
deren Wirkung jedoch er eine nie geahnte und durch hervorgehn wird aus diesen befleckten veralteten For-
nichts anderes zu ersetzende Kraft und Erhebung men, wann das erwachte Gefühl des Göttlicken dem
schöpft. Deshalb muß die Andacht... auch eine Seite Menschen seine Gottheit und seiner Brust die schöne
der Übung erhalten, welche nach ebenso bhegreif- Jugend wiederbringen wird, wann — ich kann sie nicht
lichen psychologischen Gründen, durch das Beispiel der verkünden; denn ich ahne sie kaum, aber sie kömmt
Gemeinsamkeit und durch die Wirkungen der Teil- gewiß, gewiß. Der Tod ist ein Bote des Lebens, und
nahme unbestimmbar gesteigert wird. Das Gemüt soll daß wir jetzt schlafen in unsern Krankenhäusern, dies
sich bereithalten zum Empfang der höheren Gaben, zeugt vom nahen gesunden Erwachen. Dann, dann erst
diese Empfänglichkeit daher in sich ausbilden und zu sind wir, dann ist das Element der Geister gefunden.“

Bezugspreise und Postscheckkonten nebenstehend. — Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann (außer wenn Rück-
porto beiliegt) eine Gewähr nicht übernommen werden. Schriftleiter: Dr. Friedrich Rittelmeyer, Stuttgart 13. Für die
Anzeigen verantwortlich: Ernst Rathgeber, Stuttgart. D.A. IV. vj. 1937: 7366. Zur Zeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 4.
Druck: Hoffmannsche Buchäruckerei Felix Krais, Stuttgart. Verlag: Verlag Urachhaus, Stuttgart 13.

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