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n INHALT
"Michael (Dr. Friedrich Doldingn) — — _ 193
Geschöpf ‚nicht mehr . « » (Christian Morgenstern) oo. ...193
Metamorphosen Michaels (Lic, Emil Bock) 193
Die Erschließung "des "Willenslebens für die hristlichen
Menschheitsziele (Wilhelm Kelber) 196
Das 20. Jahrhundert, apokalyptisch betrachtet (Rudolf Meyer) 202
Vom Urstand des "Menschen (Dr. Johannes Hemleben)-. 208
- Atomphysik und Sakramentalismus (Alfred saii) 21
‘ Zorn und Liebe. ı_ a E Tr
Der sakramentalo Charakter des Christentums (tie. Emil Bo) -. 216
Michaelische Motive a
Michaels Herbstkampf (Dr. Alfred Heidenreich). 224,
Michaelisches Christentum’ (Dr. Friedrich Rittelmeyer) 225
Michael und Gabriel in der Baukunst (Prof. Dr. Ernst Fiechter }) ° 227
Weltverlorenheit — Weltgeborgenheit (Dr. Friedrich‘Doldinger)_ 228.
‚Zwischen Nihilismus und Christentum (Adolf Suso Mayer) 231
Familienbindung und Gemeinschaft freier Geister (Lie. Bobert Goebel) 233
Michaelisches Handeln (Arnold Goebel). .. 234
“ Der Kampf von Paris (M. J. Krück von Poturzyn) . 235
Aus Briefen von Eduard Lenz F Ban 238
Aus dem Leben der Christengemeinschaft. - u
o. :. Jugendtagung in Schleswig (Mariarine Piper), ZA
. Delegiertenzusammenkunft (Dr. Erwin Schühle) : 24A,
nt Die drei Jahre (Gottfried Husemann) 245 \
- Aus der Welt E Psalmen (Kurt von Wistingbausen) "246
Gegnerschaft (Brief von Dora Hasselblatt) 247
\ -Einige. theologische Klarstellungen (Dr. Rudolf” Frieling) „2 248
" s. Zur Übersetzung der Thessalonicher-Briefe (Lie. Emil Bock) - . 250
Der Apostel Paulus an die Thessalonicher 250
S
n =

"An die Mitglieder und Freunde der Christengemeinschaftl


Im letzten Heft unserer Zeitschrift hatten wir an dieser Stelle die Bitte ansgespreehen, durch
‘ eine Aufrundung des Bezugsgeldes oder durch freie Spenden zum Weiterbestehen der Priester-
. bildungsstätte in’ Stuttgart nach der Währungsreform beizutragen. Es ist für ms außerordentlich
ermutigend, erleben zu dürfen, mit wieviel Verständnis diese Bitte aufgegriffen werden ist und
welches:Maß an sozialer Tatbereitschaft aus unserem Leser- und Freundeskreis sich darin zeig
Man spürt es den Spenden an, daß sie ‚wirkliche Opfer sind, besonders auch, wo es sich um
‚kleine Beträge handelt. Das gute Ergebnis dieser Sammlung ermöglicht, -daß das Seminar ohne -
Anterbrechung weiterarbeiten und einer Anzahl’ mittelloser: ‘Siudenten zur Teilnahme verhelfen_
&

kann. Besonders sei bemerkt, daß die bis jetzt eingegangenen Spenden zu 90% aus kleinen...
“ und kleinsten Aufrundungsbeträgen bestehen. Wir danken von ganzem Herzen!
Wem es möglich ist, sich an dieser Hilfeleistung weiterhia ‘zu beteiligen, den weisen wir
darauf hin, daß der Verlag Überzahlungen des Bezugspreises (der für die Folge Heft 7—12:
DM 5.—— bzw. DM 4,80, 'siehe voriges Heft, beträgt) — falls nicht’ anders vermerkt wird.— als”
- Spende an das Seminar weiterleitet. Die von uns ‚erbetene 1-DM- Spende’ oder höhere Beträge
können auch an das Seminar direkt überwiesen werden (Postscheckkonto Stuttgart 19200 Gott-
fried Husemann - Seminarkonto), Wir hoffen, troız aller Erschwerungen. und. Widerstände mit
“dem Bau des endgültigen Soginars "bald wieder beginnen zu können.
Für das Seminar: an Fa Für, den Verlag:
» Gottfried Husemann . . Kurt v. Wistinghausen.
Die Christengemeinschaft
. . | . o

Monatsschrift zur religiösen Erneuerung. Begründetvon Friedrich Rittelmeyer


Im Auftrag der Christengemeinschaft herausgegeben von Lic. Emil Bock

20. Jahrgang Heft 9/10 \ September/Oktober 1948

Michael
Goldumglänzter im Feuer-Gefährt, . Mach zu Heilern im Lande des Hohns,
fälle die leuchtende Lanze , \ | Helden und Hütern des Lichthorts
in die zagenden Geister!. . : deiner heiligen Höhn sie!
Zünde der Sonuen-Entzückungen Mut Sieg-Erstrabler im Sonnen-Gewand,
an in den zaudernden Herzen! . Wendung-Wirker im Weltsturm,
Laß sie Sieger im Sumpf sein! in .dein Wachen erweck uns!
Friedrich Doldingei

Geschöpf nicht mehr, Gebieter der Gedanken,


des Willens Herr, nicht mehr in Willens Frone,
der futenden Empfindung Maß und Meister,

zu tief, um an Verneinung zu erkranken,


zu frei, als daß Verstocktheit in ihm wohne:
So bindet sich ein Mensch ans Reich der Geister:

So’findet er den Pfad zum Thron der Throne.


Christian Morgenstern
-.

>
! ’ - .

Metamorphosen Michaels
Aphoristische Leitgedanken

E mil Bock

Die Sonne — ist sie wirklich nichts als jene leuchtende Feuerkugel draußen im
Weltenraum, die einen wenn auch gigantischen, so doch meßbaren Radius und Umfang
besitzt und in einer gleichfalls gewaltigen, aber meßbaren Entfernung von unserer Erde
umkreist wird? Ist sie nicht vielmehr allgegenwärtig, also auch uns auf der Erde dicht um-
gebend, so daß das Gestirn, das über unseren Himmel seine Kreise zieht, nur wie ein
Zeichen ist, ein Hinweis auf ein allumfassendes, alldurchdringendes Wesen, vielleicht das
‚sichtbare Herz einer großen sphärischen Wesenheit, die als solche unserem Auge nicht
erscheint, aber in: ihren Kräftewirkungen von allen übrigen Organen unseres vollen
. Mensch-Seins wahrgenommen werden will?- Insbesondere als lebenspendendeernMacht kann

t
193
die Sonne gar nicht mit jenem Feuerball identisch sein; denn wäre nichts als dessen pbysi-
sche Licht- und Wärmeausstrahlungen, so könnte, wie wir es in den tropischen Klimaten
der Erde sehen, nur Ausdörrung und Tod von ihr ausgehen.
Das alte mythische Bewußtsein ‘der Menschheit sah noch durch das Sonnengestimn wie
.durch ein Fenster ‚in vielschichtige, hierarchisch-sphärisch abgestufte Wesenhaftigkeit
hinein. So haben die Griechen die kreisende Tagesleuchte als das Gefährt eines Gottes,
als den Wagen des Helios, geschaut, haben aber hinter und über Helios eine höhere, um-
fassendere Gottheit, Apollo, den sie Phöbus, den Glänzenden, nannten, verehrt. Auf die
. Sphäre des Helios weist uns noch, was unser Auge sieht; die jedoch des Apollo ist übersinn-
"licher Natur. Apollo ist der Herr des geistigen Sonnenlichtes und als Träger’ der Sonnen-
harfe auch der Gebieter der göttlichen Sphärenharmonien, die in i der Sonne ihren Quell
und Mittelpunkt haben: „Die-Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang.“
Den unermeßlichen, unser All mit Leben” durchpulsenden Ätherleib der Sonne empfanden
die Alten, wenn-sie sich dem Apoll zuwandten. Aber auch hinter der Sphäre des Apollo
und über sie hinaus haben die Mysterien der alten Welt noch höhere Götterwesenhaftig-
keiten, gewissermaßen höhere und höchste Wesensglieder des umfassenden Wesens „Sonne“
gekannt. In der Lehre des Philosophenkaisers Juliän:Apostata von der dreifachen Sonne
klingt das alte Wissen noch in christliche Zeiten herein. Die höchste Geistwesenheit der
Sonne, ihr eigentliches Ich, wußte man, nachdem dereinst Zarathustra von ihr als von
Abura Mazdao, der großen Sonnen-Aura, gelehrt hatte, in. dem Gott, der durch Sterben
und Auferstehen geht, und den die späteren vorchristlichen Religionen, sein Kommen er-
sehnend, als Osiris, Adonis und unter manchem anderen Namen verehrten. Nur kurze Zeit
“leuchtete im Urchristentum die Ahnung auf, daß in Christus dieser höchste Sonnengeist
als Mensch unter Menschen gelebt habe. Zur Zeit des Julian hatten die Christen dies Ge-'
“heimnis bereits vergessen. 0%

‘Das Wissen von den hierarchisch-abgestuften Engelreichen, das in den neutesta-


imentlichen Schriften überall noch als selbstverständlich bekannt vorausgesetzt ist und
das, zurückgehend auf Dionysius Areopagita, den großen athenischen Schüler des Paulus,
in einer grandios aufgebauten Hierarchieu-Lehre bis ins hohe Mittelalter weiter-
getragen wurde, ist ein Kapitel alter, ins Christentum hereinströmender Sonnen-Weis-
- . heit. Im Gefühl blieb’ erhalten, was die alte Welt in unmittelbarem Schauen erlebt hatte:
daß die Sonne das Tor oder Fenster ist, durch das uns aus hierarchisch geordneten Sphären
ein höchstes Gotteswesen anschaut und von jedem Stockwerk der Geisteswelten durch die
Wesen zu uns spricht, die dort seine Hüllen und Boten sind. So pflanzten sich bildhafte
Anschauungen fort, in denen die Hierarchien in solchen farbigen Kreisen angeordnet vor-
gestellt wurden, als ob sie miteinander die große, hinter dem physischen Sonnenlicht
verborgene geistige Sonnen-Aura bildeten. Zahlreiche Malereien, z.B.in der Kuppel des
Baptisteriums neben dem Dom zu Florenz, bekunden dies bis.in späte Jahrhunderte. Durch
das Auge der Sonne schauen nicht, nur die Götter-Reiche uns an: auch wir schauen hier,
wenn wir die unser Auge blendende Außenseite durchdringen, in‘die Sphären-Stufen der
himmlischen Heerscharen hinein.
Deshalb spielt immer da, wo von der Gesamtheit: der Engels-Hierarchien die Rede ist, -
der Erzengel Michael eine besondere Rolle. In den Heiligen-Legenden des hohen
und späten Mittelalters, die den Jahreslauf von Tag zu Tag begleiten, enthält die auf den
29. September fallende Legende des "Erzengels die Aufzählung und Schilderung aller neun
Engelsstufen; Michael wird geradezu als der.Fürst der Hierarchien bezeichnet. Der Erz-
engel Michael ist nämlich der Erzengel der Sonne. Er erscheint hinter dem Sinnenschein

m . | e
des Tag-Gestirnes als eine der Menschen-Ebene noch verhältnismäßig nahestehende Geist-
gestalt. Aber er ist nur das Antlitz höherer Daseinsreiche, zuletzt des Christus. selbst.
Hinter ihm erscheinen sie alle, insofern sie Hüllen, Glieder an Seinem Leibe,
Wesensglieder
Seiner Selbst, sind. Wie das Antlitz. eines Menschen nicht sein eigenstes Wesen,
sondern
nur ein Teil seiner beseelten Leibeshülle ist, wohl aber mehr als der übrige Leib
trans-
“ parent, so daß sich das Ich durch es offenbaren kann: so ist Michael das bereits der Geistes-
welt angehörige Antlitz der Hierarchien-Ganzheit und zuhöchst das Antlitz des Christus.
* :
Die Offenbarung des Johannes zeigt uns auf dem Höhepunkt ihrer dramatischen Schau.
Michael als Sieger über den Drachen. Die Szene des Kampfes mit dem Drachen kehrt auf
allen Stufen der menschheitlichen Geistesgeschichte als mythisches Grundbild wieder. In
vorchristlicher Zeit sind es große erhabene. Göttergestalten, die diesen Kampf mit dem
„tergestaltigen Feind vollführen: im babylonischen Bereich Mar duk, bei den Indern
Indra, bei den Griehen Apollo, der den Drachen Python in die kastalische Schlucht
stürzt. Zur Zeit des ersten Urchristentums breitet sich der persische Kultus des göttlichen
Sonnenhelden Mithras über das ganze Mittelmeergebiet aus. In christlicher Zeit sind;
es menschliche Heroen-Gestalten, die den Drachen besiegen: auf nordischem, vom Christen-
tum hoch nicht ergriffenen Boden Si egfried, unter den Heiligen des frühen Christen-
tums St. Georg. Ist der Bezwinger des Untieras i immer der gleiche, nur mit wechselnden
Namen, seien es göttliche oder mensdiliche, bezeichnet? Es ist ein bierarchisches Geheim-
nis, das die verschiedenen Überwinder-Gestalten miteinander verbindet. Auf allen Stufen
der geistigen Weseusreiche erscheint der über den Drachen Triumphierende. In vorchrist-
“Eichen Zeiten taucheni in Marduk, Indra, Apollo Wesenheiten, die über der Erzengel-Stufe
stehen, in diesem Bilde auf. Sie erscheinen sozusagen durch das Transparent der Michael-
Gestalt ‚hindurch, die eine antlitzhafte Mitte zwischen oben und unten ist. Als in der
Zeiten Mitte das Christusereignis eingetreten ist, werden Menschen, die sich durch ihre
Geisteskraft aus dem Allgemein-Menschlichen herausheben, ihrerseits transparent für die
Gestalt des Erzengels Michael, der durch sie wirkt: der letzte nordische Eingeweihte Sieg-
fried und der erste christliche Ritter St. Georg. Michael- Metamorphosen ° erscheinen auf
„ allen Sprossen der Himmelsleiter infolge der Weltendurchsichtigkeit, die im Bereich ‚der
geistigen. Sonne herrscht... \ . *
In dem Bilde des siegreichen Dradienkampfes haben wir ein. Mysterium der Sonne und
\ zugleich des geistigen Menschenwesens. Der Mensch verdankt seine aufrechte Gestalt, die
ihn über alles Niedere zu triumphieren, instandsetzt, den geistigen Sounenkräften, wie
auch die Pflanze ihre Aufrichtekraft, ihre Himmelszugewandtheit, von der Sonne hat. Weil
der Mensch innerlich sonnenverwandt ist, schwingt er sich über das Tier hinaus, das allein
schon durch den Mangel einer aufrechten Gestalt in die Kräfte der Erdentiefe gebannt
bleibt. Die Überwindung des Tieres durch den Menschen, äußerlich-leiblich als Inhalt der
entwicklungsgeschichtlichen "Vergangenheiten, innerlich-seelisch als fortwährendes morali-
sches Zukunftsziel, das ist, duf die einfachste Formel gebracht, der Sinn des mythischen
Bildes vom Drachenkampf. Zuerst sind höhere Götterwesen die Sieger über den Drachen:
"Wir sehen die Sonnen-Mächte am Werk, die durch große kosmische Stationen hiridurch den
Menschen schaffen. Es gibt Schilderungen Rudolf Steiners, die das Bild des Streites
Michaels mit dem Drachen-bereils auf die Entstehung eines irdischen Tierreiches beziehen:
die. geistigen Führermächte halten den Menschen selbst noch im Geistgebiet zurück, den
rechten Reife- Zeitpunkt erwartend, in welchem er in eine Ärdische Verkörperung eintreten
\ soll. Sie müssen diese ihre Absicht verteidigen gegen Widersacher, die nicht warten wollen

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und voreilig zur Verkörperung drängen. Diese Widersacher werden:auf die Erde gestürzt,
und es entstehen, ehe es noch den physisch verkörperten Menschen gibt, die drachenhaften
- Erstlinge des irdischen Tierreiches. Auf jeder Stufe des Werdens findet, immer näher an
die Ebene des Irdischen herankommend, der Drackenkampf statt, der damit endet, daß
der Drache gestürzt wird. Das geschieht immer zum Schutze’ des. werdenden Geistes-
menschen, der durch alle Niederungen und Entstellungen hindurch nach dem höchsten
sonnenhaft-göttlichen Urbilde gestaltet werden soll. Schließlich ist der höchste Herr der
Sonne, der das Urbild des Menschen in seinem Wesen trägt und deshalb als der wahre
Menschen-Gott bezeichnet werden kann, selbst in die irdische Verkörperung eingetreten, -
um den ihm entsunkenen Menschen den Drachenmächten der Tiefe zu entreißen.
Wenn dann in christlicher Zeit menschliche Metamorphosen Michaels als Drachen-
bezwinger hervorgetreten sind, so ist daran abzulesen, daß die von dämonischen Gewalten,
bedrohte Zukunft des Geistesmenschen nunmehr in die Hand des Menschen selbst gestellt
ist. Insbesondere in unserer apokalyptischen Gegenwart ist auf die menschlichen
Sonnenkämpfer gerechnet. Die den geistigen Forderungen der Zeit entsprechenden Diener
Christi sind diejenigen, die es im michaelischen Sinne, als Mitstreiter Michaels, sind.

Die Erschließung
des Willenslebens für die christlichen Menschheitsziele
Wilhelm Kelber,

Die drei menschlichen Seelenkräfte des Denkens, des Gefühls und des Willens haben
einen deutlichen Bezug auf die Zeiten, auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Das
Vergangene wird erkannt, das Gegenwärtige erlebt, das Zukünftige wird erstrebt. Was
im gegenwärtigen Augenblick an uns herankommt, bewegt am stärksten unser Gemüt.
Es wird Erlebnis. In dem Maße, wie die Wogen des erregten Gefühles verebben, be-
- mächtigt sich das besonnene Urteil, die Erkenntnis, das ordnende Denken des Erlebnis-
inhbaltes. Er wird zur Erfahrung. Wie oft, wie radikal verschiebt sich bei diesem Über-
gang manchmal die Bewertung! Insbesondere das heutige gewöhnliche Denken richtet sich.
auf das Gewordene, schon Bestehende, schon Eingetretene in Natur, Geschichte und Leben.
Es ist immer ein Nach-Denken. In jede Vorstellüng aber, die sich auf die Zukunft richtet,
dringt unwillkürlich der Wille ein. Und umgekehrt: jeder Willenshandlung, allem Tun
liegen Zukunftsvorstellüngen, liegen Zielsetzungen zugrunde.
Damit ist ein wesentlicher Unterschied des erkennenden und erlebenden Verhaltens
auf der einen Seite, des. Willenslebens dadererseits gegeben. Däs Erkennen ist auf das
hingebende Kennenlernen der Tatsachen auf den jeweiligen Gebieten des "Wissens oder
der Erfahrung aufgebaut. Die Kraft und Farbigkeit des Empfindungslebens hängt ab von
der Erhaltung und Übung der Eindrucksfähigkeit. Erkennen und Empfinden setzen also
Aufnahmefähigkeit voraus. Anders ist das beim Willensleben. Hier werden nicht Tat-
sachen, Gegebenheiten, Ereignisse zur Kenntnis genommen, studiert und als Eindrücke
empfangen, hier werden Tatsachen geschaffen und dem physischen, moralischen oder’
geistigen Bestande der Welt eingefügt. Im Gegensatz zu allen anderen Naturwesen hat '
„der Mensch durch die Kraft seines Willens die Möglichkeit, sich gegenüber der Zukunft
nicht mehr nur passiv zu verhalten, sondern diese Zukunft gemäß seinen Wünschen,
Zielen und Idealen mit zu bedingen. Die Menschwerdung Christi markiert den Zeitpunkt,
von dem ab, was da kommen soll, nicht mehr allein von den Götterh. erwartet werden

196 “
darf. Von da an wollen die göttlichen Weltenziele im freien Willen der Menschen walten.
Wenn wir unter diesem Gesichtspunkt die Frage stellen: Wie hat sich das Christentum
bisher den drei menschlichen Seelenregungen gegenüber verhalten, so werden wir zu dem
Ergebnis kommen: Am stärksten ausgeprägt ist das Verhältnis zur Vergangenheit. Die
verehrungsvolle Stimmung gegenüber den Ereignissen, die vor fast 2000 Jahren ein-
getreten sind, die Stimmung, treu in alle Zukunft zu bewahren, wag seit diesem Zeit-
punkt in der Menschheit wirkt. Alle theologische Bemühung ist darauf gerichtet, immer
besser mit den jeweiligen Erkenntnismöglichkeiten zu durchdringen, was die Wahrheit
des Christentums ist. Die christliche Lehre, die christliche Verkündigung, der christliche
Unterricht haben zum Ziele, von Kindesbeinen an dem Menschen die Lehren des Christen-
tums zu vermitteln und zu erhalten. Es ist wohl deutlich, daß dieses Verhältnis zur Ver-
gangenheit bisher der eigentliche Rückhalt im christlichen Leben gewesen ist.
Auch das gegenwärtige Erlebniselement ist ja durchaus in Pflege; deun wenn jemand
in die Messe geht ‘oder in die Predigt, sucht er eben das in diesem Augenblick statt-
findende christliche Erlebnis. Wo also das Christentum noch so weit lebendig ist, daß _
{
1
die Menschen auch wirklich in die Kirche gehen und nicht nur als Christen registriert sind,
4

ist das Verhältnis zur Gegenwart, zur Erlebnisregion lebendig. "


Welche Gedanken, welche Vorstellungen verbindet das kirchliche Christentum aber mit
der Zukunft? In welchem Sinne nimmt es also die Willenskräfte in Anspruch? Man stellt
sich entweder vor, daß bald nach dem Tode die Folgen der menschlichen -Taten an die.
Seele herantreten, im Guten wie.im Bösen, daß der Mensch im Fegefeuer die Folgen
dessen zu tragen hat, was er auf sein Lebenskonto eingetragen hat. Oder, in der anderen .
christlichen Strömung denkt man, daß nach einem langen, bewußtlosen Schlaf die Seelen -
zum Jüngsten Gerichte wieder auferstehen und daß sie dann zu erfahren haben, wozu sie
das moralische Ergebnis ihres Lebens nun verurteilt. Diese Gerichtsvorstellungen sind
eigentlich keine echten Zukunftselemente, die sich an den menschlichen Willen wenden.
Denn was da erwartet wird in der Zukunft, das sind ja die unabwendbaren Folgen der
Vergangenheit. Die Stimmungen des demütigen Unterwerfens, der Furcht vor dem Ge-
richt, werden dadurch hervorgerufen, und der Mensch ist wieder der Betroffene, der Ent-
gegennehmende, der die Folgen zu erwarten und zu tragen und sich ihnen zu fügen hat.
Diese Stimmungen’ laufen auf 'eine Willens-Entäußerung hinaus, wenn auch ein. Mensch,
der etwa erst in der Mitte des Lebens steht und von solchen Vorstellungen durchdrungen
ist, wenigstens den vor ihm liegenden Teil seines Lebens noch möglichst so einrichten
möchte, daß er sein: Lebenskonto nicht zu.sehr belastet oder daß er die Gnadenmittel
seiner Kirche in Anspruch. nimmt,. die ihm in dieser Richtung Erleichterungen, Be-
freiungen, Ablaß‘in Aussicht stellen. Insofern wirkt natürlich auch diese Art von Zu-
kunftsvorstellungen auf das Willensleben ein. Aber echte und eigentliche Zukunftsmotive
können auf diesem Wege nicht entstehen. Willensregungen, die aus Furcht entstehen, be-
deuten notwendigerweise eine höhere, feinere Form des Egoismus, und positive über das
Einzelinteresse hinausgehende Zielsetzungen entspringen aus diesem Boden nicht. Im.
kirchlichen Christentum ist vielmehr die Meinung verbreitet, daß es eine Vermessenheit
sei, den Willen Gottes erraten oder vorwegnehmen zu wollen und selbst in die Entwick-
lung der Zukunft einzugreifen. Wird doch sogar der Gedanke einer Entwickelung der
Menschheit bekämpft, insbesondere wenn sie als menschlicher Willensinhalt verstanden
Seegen nin

wird. \ \
So ist die Willenssphäre vom religiösen Leben. in einer’verhängnisvo llen Weise vernach-
lässigt worden. In dieses Vakuum stürzten sich nun Kräfte, die ganz gewiß nicht im Sinne
einer christlichen Zükunftsgestaltung wirksam sind. In erster Linie waren es die poli-

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tischen Bewegungen, die sich der brachliegenden Willenskräfte bemächtigten. Die Krebs-
krankheit der neueren Politik entstand auf dem Boden einer vom geistigen ünd- religiösen
Leben emanzipierten Willensbetätigung. Politik überwuchert, verfälscht und drosselt nun
das Leben auch auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiet, wo das Machtpriuzip nur Un-.
a

heil stiften kann. Die Auslieferung der Willenskräfte an dunkle undurchschaute Mächte
der Welt und die daraus entstandenen Katastrophen geben auf | ein Versäumnis des
Christentums zurück. N
Das schlichteste und allgemeinste Zukunftsmotiv der Menschen kleidet sich immer
drängender in die Frage: Was kann geschehen, damit es unsere Kinder besser. haben als
wir? Dazu gehört noch kein Idealismus, keine entwickelte Weltanschauung oder sittliche
"Orientierung. Diese Frage. entspringt noch aus einem halb natürlichen Trieb. In früheren
Jahrhunderten glaubte man, sie durch ‚eigene Tüchtigkeit und Vorsorge lösen zu können.
Das ist vorbei, seit Einzelschicksal und. Privatbesitz so unentrinnbar abhängig: wurden
von dem Gesamtschicksal. Heute treibt dieses Motiv die politisethen Mühlen. Kein Mensch
‚glaubt im Exrnste mehr daran, daß diese Frage auf dem Fälde des kirchlich-religiösen
Lebeus gelöst werden könne. Die Kirchen selbst begeben sich auf das politische Gebiet,
um ihr mit den Mitteln der Partei- und Machtpolitik Rechnung zu tragen. Das ‚Vertrauen
auf die reale. Wirksamkeit des Geistes ist erloschen, das geistige Leben zu einer ohn-
"mächtigen und wesenlosen Nebenerscheinung des Daseins geworden. Dagegen’werden nun
für politische Ideale. die ungeheuersten Opfer gebracht und gefordert bis zur Drangabe
des Lebens. Unsinnige. und yergebliche Opfer, weil über diesen Altären keine Götter sind,
sie anzunehmen und in Segen“ zu verwandeln. So verpuffen die edelsten Kräfte des’
Willens, der Hingabe, der Aufopferung ins Wesenlose, ja in.die Richtung des Unheils.
Die Willensnaturen, die etwas auf Erden bewirken wollen, was sie befriedigt, dessen
Sinn sie einsehen, werden vom Christentum in wachsendem Maße abgestoßen. Und nur
“ die passiven Naturen, die eindrucksfähigen, verehrungsfähigen, fraulichen Seelen werden
"noch gehalten. Als die typischen modernen Menschen des 20. Jahrhunderts kann man aber
nicht diese passiven führungsbedürftigen Naturen empfinden, sondern diejenigen, die
willenskräftig „mitten im Leben stehen“. Dafür ‚ein historisches Beispiel: ,
Vor etwa 55 Jahren wurde in einer Stadt im Kaukasus ein junger Mann von seinen
‚Eltern dazu bestimmt, Priester der griechisch-katholischen Kirche zu werden. Der junge
Priesterzögling war eine Willensnatur ‚sondergleichen und hielt das kontemplative Ele-
ment des östlichen Christentums nicht aus. Vielmehr fühlte er sich von einer radikalen
politischen. Bewegung angezogen und lief aus seinem Seminar davon. Sein Tatendrang
entlud sich bald durch einen unter Einsatz seines Lebens durchgeführten Überfall auf -
einen.staatlichen Geldtransport, mit dem er die junge kommunistische Bewegung finan-
zierte. Der Mann hieß später Stalin. Ein eigenartiges historisches Denkmal! Er war für
m
nn

die Wirksamkeit im Christentum vorgesehen; seine Kräfte hätten ebensogut für die Er-
neuerung des Christentums zur Verfügung stehen können. Aber ‘seine übersteigerte
te nn

Willensnatur konnte sich nicht in alte Seelenzustände zurückversetzen, und er ist dahin
gegangen, wo die größte Aktivität von der Menschen gefordert, wo: am meisten gewollt
wird. Das ist ein Beispiel für zahlreiche andere.
*
vn.
Wenn wir nun die Frage stellen: welche Möglichkeiten hat das Christentum, sich durch
a

positive Zielsetzungen auch an: das menschliche Willensleben zu wenden, so. wird uns
von vorneherein klar sein müssen, daß das nicht so geschehen kann wie im ‘politischen
oder im wirtschaftlichen Leben, wo man Programme entwirft, Doktrinen aufstellt und

198 .
!
eine Anhängerschaft sucht, um sich durghzusetzen. Es wird auf dem eigentlichen religiösen
Felde, d.h. in der menschlichen Seele selbst begonnen werden müssen. Es gibt in der Seele
einen genau zu bezeichneuden Ort, wo diese Frage zuerst gelöst werden muß. Er liegt
dort, wo das erkennende Verhalten des Menschen mit Willensimpulsen durchsetzt ist. Und
das ist z.B. der Fall, wo die Pioniere der Naturforschung sich aller Erscheinungen und.
Kräfte der sichtbaren Welt bis an die Pole, bis in die Stratosphäre, bis auf die Gipfel
des Himalaja, oft unter Einsatz des Lebens bemächtigen; aber auch, wo das erwachende
Bewußtsein jeder neuen Generation der Gegenwart z.B. die Reiche der Technik entdeckt.
Dieses Ergreifenwollen alles dessen, was die Welt an Erscheinungen bietet, ist ein Willens-
akt, eine Art geistige Welteroberung. Das Willensleben spielt, bevor es irgendwelche Ziele
in der Außenwelt verfolgt, schon eine Rolle in der menschlichen Bewußtseiästätigkeit, im
dieser geistigen Eroberergesinnung. .
Seit drei Jahren sind Zeitungen und Zeitschriften voll von der Klage: Warum ist das,
_Geistesleben in dieser Richtung des Ergreifens der Welt so einseitig auf die äußeren Ge-
biete abgeglitten! Die Menschen wollen heute alles wissen auf den Gebieten der Natur-
wissenschaft, Technik, Chemie usw., aber auf den Menschen selber, auf die inneren Wahr-
heiten und Gesetzmäßigkeiten richten sie ihr Erkenntnisleben nicht. Diese Einseitigkeit
macht man jetzt allenthalben für die eingetretenen Katastrophen verantwortlich. ”
Dieser Einsicht ist nur noch hinzuzufügen,.daß diese: einseitige Entwicklung nicht von
selber kam, daß sie nicht einmal einer Vorliebe der menschlichen Geister für die Außen-
welt entspringt. Der eigentliche Grund für diese Einseitigkeit liegt darin, daß dieses
geistige Ergreifeuwollen, dieses Verstehenwollen, von den Inhalten des religiösen Lebens
ausgeschlossen worden ist,.daß es geradezu verboten wurde. Man hat den Menschen ge-
sagt: Mit dieser Gesinnung: ich will erkenuen, will wissen, was die Wahrheit ist, darfst.
du dem Christentum, den Inhalten der Offenbarung nicht gegenübertreten, Die Methode
des kritischen Forscheus darf dort nicht angewendet werden. Was ist aber die Kritik
heute? Sie ist im wissenschaftlichen Leben eine Methode der Vergewisserung! Wenu ein
Naturwissenschaftler etwas entdeckt hat, dann hat er zunächst die Pflicht, es selber nach
allen Richtungen zu bezweifeln, alle möglichen Fehlerquellen in Erwägung zu ziehen und
‚es dann den Fachkollegen zur kritischen Prüfung vorzulegen. Das kritische Vermögen ist .
nicht destruktiv, ist nicht eine Erfindung des Teufels, sondern es ist zu einem Organ der
Vergewisserung ausgebildet. :
Auf dem religiösen Gebiet sind die Fähigkeiten der Verehrung, der F römmigkeit, der
Gläubigkeit allein zugelassen worden; das heißt aber auch: die älteren Fähigkeiten, über
die die Meuschheit schon länger verfügt. Wer hier eine kritische Frage stellte, wurde
‚ darauf aufmerksam gemacht, daß ihn der Teufel beim Schopf hat, daß er in Gefahr steht,
der ewigen Seligkeit verlustig zu gehen. Hier ist von der Christengemeinschaft schon ein
gründlicher Wandel geschaffen worden. Das Autoritätsprinzip ist aus dem gesamten Um-
fang des religiösen Lebens ausgeschaltet, die völlige Lehrfreiheit eingeführt. Die Be-
schäftigung mit der christlichen Offenbarung ist zum Gegenstand des freiesten Erkennt-
nislebens gemacht, an dem sich Priester und Laien in gleicher Weise beteiligen können.’
Unsere entstehende Theologie ist ein Appell an die unvoreingenommensten und kühnsten
unter den freien Geistern. Dank den Erkenntnistaten Rudolf Steiners kann das Christen-
tum nun so- vertreten werden, daß es ruhig jeder kritischen Frage. ausgesetzt und vor dem
intellektuellen Gewissen des 20. Jahrhunderts gerechtfertigt werden kann. Die Bahn für
den geistigen Eroberungswillen ist nun auch nach den inneren und innersten Bezirken der.
Wahrheit eröffnet und kräftig beschritten. Dafür mag das eben erschienene neueste Werk
von Emil Bock („Die drei Jahre“) als hervorragendes Beispiel gelten. ' \

199. }
‘Das willengetragene Erkenntnisleben nimmt nun, wenn es sich auf das innere Wesen
des Menschen und auf die geistige Welt richtet, bald einen veränderten Charakter an. Es
verläßt den Standpunkt der bloßen sachlichen unbeteiligten Beobachtung. Die gewonnenen
Einsichten verwandeln ihren Träger. Dann aber greifen sie auf die äußeren Verhältnisse
der Welt über. Sie erweisen sich wirksam für das soziale Leben. Ein direkter Appell an
"das Willensleben muß unter den heutigen Verhältnissen zum Unheil führen. Nur der von
den Geistesblitzen entzündete Wille kann noch im Sinne des Guten wirksam sein. Dies
sei an einem bedeutenden Beispiel erläutert.
Der von der Geistesforschung bestätigte frühchristliche Gedauke der Präexistenz des
Menschen ist zu einem wichtigsten Bestandteil, einer erneuerten christlichen Welt-
anschauung geworden. Er verwandelt die gesamte Lebensstimmung des einzelnen Men-
schen wie ‚aller menschlichen Beziehungen. Im kirchlichen Christentum wird zwar die
spätere Lehre von der Erschaffung jeder einzelnen Seele bei ihrer Geburt noch theo-
logisch beibehalten. Im praktischen Leben haben. sich aber die materialistischen Dogmen
über die Herkunft des Menschen auch bei vielen Christen als mächtiger erwiesen: Der
"Mensch sei ein Naturwesen, das durch materielle Prozesse entsteht und sein Seelenleben
auf diesem stofflichen Leibe, auf dem Gehirn und dem Nervensystem aufbaut. Das Seelen-
leben sei eine Funktion des Nervensystems, wie der Stoffwechsel eine Funktion des Ver-
dauungsapparates ist. Solche Anschauungen sind sogar in die neuere protestantische Theo-
_ logie so weit eingedrungen, daß man sagt, eine Fortsetzung des bewußten Seelenlebens
nach dem Tode sei undenkbar, weil das Bewußtsein an das Gehirn gebunden ist.
Eine Folge dieser naturwissenschaftlichen Anschauung ist auch, daß, was nun tatsäch-
_ lich am Menschen Naturwesen ist, eine übermächtige Rolle im menschlichen Verhalten
spielt. Es ist Tichtig, daß wir durch unsere Leiblichkeit mit den Tieren Gemeinsames
haben. Der Mensch kann sich so verhalten, daß entweder das Menschliche in ihm die
‘ Übermacht gewinnt oder das Tier. Gedankeninhalte, die man zunächst theoretisch auf-
stellt, prägen in der 2. oder 3. Generation das menschliche Verhalten um. Seit 100 Jahren
. denkt man, daß der Mensch vom Tiere abstammt. Der Egoismus, die Gewalttat, die
Brutalität ist das Gesetz der Tierwelt, der Naturwesen, in denen die Begierden und
Triebe das ganze Wesen durchdringen und das Verhalten bedingen. Die Menschheit, die
sich seit 100 Jahren als Naturwesen denkt, ist heute weitgehend den untermenschlichen
Motiven des Verhaltens verfallen. Diesem Wuchern der groben Instinkte, des Selbst-
erhaltungstriebes im Willen, war eben auch dadurch Vorschub geleistet, daß das Willens-
leben zu wenig durch geistige > Fielsetzüngen für das Christentum irn Anspruch ge-
nommen war.
Was ein Mensch denkt und was er fühlt und erlebt, das bleibt in seinem Innern. Aud
christliche Überzeugungen und Gefühle bleiben Innenwelt. Was man aber an jedem Men-
schen wahrnimmt, das ist das Willensleben, das seine Handlungen bedingt, sein Verhalten
prägt. Das Christentum ist vor der Welt am meisten dadurch diskreditiert worden,: daß
viele Christen zwar jeden Sonntag in die Kirche gehen, daß man sie aber an ihrem Ver-
halten nicht erkennt. Die Welt kann heute mit Recht den Vorwurf erheben, daß die Ge-
schehnisse der letzten 15 Jahre undenkbar gewesen wären, wenn auch das Hardeln der
Menschen, die ja fast alle noch zu den Kirchen gehören, vom Christentum durchdrangen
gewesen wäre. Man muß heute einsehen, daß die reine Verinnerlichung des Christentums,
d.h. seine Beschränkung auf die Gebiete der Überzeugung und des Gefühles. kein Fort-
schritt ist, sondern eine verhängnisvolle Fehlentwicklung. Statt dessen wird die Christen-
- gemeinschaft vielfach bekämpft, weil sie den Menschen wieder Ziele für ikren Willen, für.
ihre eigene Verantwortung und Bemühung gibt.

200
Die Erkenntnis, daß der Mensch auch seiner Herkunft nach ein Glied des Geister-
reiches ist, daß er aus einer vergangenen Hälfte der Ewigkeit als geistiges Wesen in
seinen Erdenleib herabsteigt, um seine Mission an sich selbst und an der Erde zu er-
füllen, lebt in der Christengemeinschaft nicht als abstrakter philosophischer Gedanke,
sondern sie durchzieht als Grundstimmung den ganzen Erlebnisbereich der Sakramente
“ und des Kultus von der Taufe bis zur Bestattung. -Diese lebendige Anschauung ver-
wändelt von Grund aus das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinem Erden-
dasein und zu den Mitmenschen. Sie nimmt auf das. Verhalten, auf das Willensleben einen
entgegengesetzten Einfluß wie die materialistischen Vorstellungen.
In uns selbst lernen wir dadurch immer deutlicher unterscheiden, was aus unsern
Leibern an Regungen, Trieben, Motiven des Handelns aufsteigt und was völlig un-
abhängig davon in unserem ewigen Wesenskerng lebt. Auch was an naturverwandien
"Kräften in unseren Leibern wirksam ist, hat seinen begrenzten Gültigkeitsbereich,_
der
nicht ohne Gefahren und Schäden überschritten werden darf.‘
Unabhängig davon aber ist das religiöse Leben die Form, in der der einzelne Mensch
die Herzens- und Gedankeninhalte in sich selber pflegt, die sein Selbstbewußtsein als
ewiger Geist ausmachen. So wird mit Notwendigkeit der Egoismus in seine Grenzen ge-
wiesen. Die Selbstachtung erfordert dann schon, daß in unser Verhalten, Handeln und
Streben in. möglichster Reinheit einfließt, was wir an Geisteszielen i in-der vorgeburtlichen
Substanz unseres Wesens tragen. va
So tritt z.B. in der Beziehung zu den materiellen Gütern des Lebens, zu Erwerb und
Besitz eine grundsätzliche Änderung ein. Diese Beziehung hat im Zeitalter des Materialis-
‘mus das gesamte Willensleben vergiftet. Die Selbstverwechslung der Menschen mit ihren
Leibern bedingte im Zusammenhang mit der Vernachlässigung der Willenskraft durch
das religiöse Leben, daß die Befriedigung der äußeren Bedürfnisse, die Sicherung der
materiellen Lebensgrundlage nahezu das ganze Willensleben ausfüllte. In dem Maße,
wie wir unseren inneren Schwerpunkt, unsere Sicherheit, den Sinn und die Aufgabe
unseres Daseins in dem eigentlich menschlichen Bezirke, d.h. aber im Christentum suchen,
gewinnen wir die Souyeränität gegenüber den äußeren Dingen zurück.
Im Urchristentum war es selbstverständlich, daß ein Christ nicht nur innerliche Über-
zeugungen und Gefühle gewinnt, sondern daß er erst verstanden hat, was Christentum
ist, wenn er bis in die Sphäre,.
wo der Mensch mit seinem Besitz zusammenhängt, von
einer neuen Gesinnung durchdrungen ist, daß er also seine soziale Potenz, seinen Besitz
.- selbstverständlich mit einbezieht in die Kräfte, mit denen er seinen Geisteszielen dient.
Die „reine Innerlichkeit“ ist kein urchristlichker Gedanke. Nicht nur die kindlichen,
"frommen, verehrenden Kräfte wurden damals angesprochen, sondern es hat zu den
Elementen des Urchristentums gehört, daß sich-auch auf dem sozialen Gebiete bewähren
und erweisen muß, wie weit der materielle Egoismus aus dem Willen gewichen ist. Die
Zukunft des Christentums wird davon abhängen, daß es diesen Härtegrad wieder erreicht.
“ Durch die Wiedergewinnung des Selbstbewußtseins des präexistenten Menschen werden
auch die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnungen verwandelt. Eine Kolonie von
Geistern im „Aus-Jand“ der Erde fühlt sich anders’ als eine Masse von höheren Tieren, .
‘die ihre Gedankenkraft als Mittel in einem immer raffinierteren „Kampf ums Dasein“
anwendet und ihre höhere Empfindungsfähigkeit als Quelle immer neuer äußerer Bedürf-
nisse. Das aus dem Tierreich stammende Prinzip des „Kampfes um das Dasein“ schafft
die Kampffronten zwischen Völkern, Rassen und Klassen, ja immer deutlicher auch zwi-
schen allen einzelnen Meuschen. Es zerstört die menschliche Gemeinschaft. Eine Geister-
kolonie in Erdenleibern wird die gemeinsame Front nach der Seite aufrichten, wo die

” . 201
Mächte der Täuschung und Verfinsterung die Ketten schmisden, um aus den ewigen
Seelen Erdensklaven zu machen. Untereinander aber ist die Liebe das Gesetz der Geister,
wie der Kampf ums Dasein das Gesetz der Naturwesen ist. Geister und auch Menschen-
Geister suchen ihr eigenes Wohl, ihre eigene Entwicklung und ihr Glück in der Förderung
Anderer, in den Taten, die sie im Interesse des Nächsten tun. .
“Bei: der Darstellung der bisher wirksamen christlichen Zukunftsvorstellungen konnte
vielleicht der Einwand gemacht werden,:.daß gerade jetzt nach diesem Kriege wieder die.
Strömungen eine Rolle spielen, die mit aus der Apokalypse genommenen Vorstellungen
über die Zukunft arbeiten, wo aus gewissen Zahlen geschlossen wird, daß eine Anzahl .
von Menschen. übrig bleiben wird über einen bald zu erwartenden Weltuntergang hin-
weg. Das religiöse Leben wird darauf gerichtet, daß man nicht unter den Verlorenen sei.
Es braucht nicht viel Gedankenkraft, eine solche Vorstellung richtig zu beurteilen: Von
“den ungezählten Millionen der Lebenden und der Verstorbenen würden, so glaubt man,
144000 gerettet'werden, und dazu muß man gehören. Und die übrigen Millionen? Die .
kann der Teufel holen? Welche Gesinnung! Man glaube nicht, daß solche Verirrungen
„nur bei groben Sektenströmungen auftreten. Jeder Gedanke, der sich auf die Zukunft .
richtet unter dem Gesichtspunkt, daß nur die eigene ewige Seligkeit. in Frage steht,
hat schon eine Verwandtschaft mit diesem groben Egoismus. Diese Verirrung des Willens
ist durch Christus selbst "widerlegt. Wir haben von ihm selber die genaue Richtschnur für
die Vorstellungen über das „Jüngste Gericht“. Er wird da sein und den Menschen sagen:
ich war hungrig, und dusstig und nackt und gefangen, und ihr habt mich gespeist und ge-
tränkt und bekleidet und besucht oder ihr habt das alles nicht getan. Und’ die Menschen
werden nicht verstehen und fragen: wann haben wir Dich gesehen? Und die Antwort
wird sein: das Interesse, das ihr aufgebracht habt, wenn andere gehungert und gedürstet
haben, das hat Christus an euch erlebt. Es ist ganz selbstverständlich, daß solche gleich-
nishaften Reden sich nicht nur auf äußere Zustände beziehen, sondern daß gleichzeitig
innere Situationen gemeint sind mit Hunger, Darst, Nacktheit und Gefangenschaft. „Was
ihr einem der Geringsten unter den Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.“ Christus °
.nimaftnt aus dem menschlichen Willensleben in. Empfang, was wir als der Liebesgesinnung
der Geister zum Heile unserer Nächsten getan haben. Nach diesem Maße werden wir ge-
wogen werden. Wie Ghristus auch nicht, um selber etwas zu gewinnen; Mensch geworden
ist, so besteht die christliche Gesinnung darin, die eigene Seligkeit nicht durch den
seelischen Egoismus erreichen zu‘ wollen, die christlichen Weltenziele in ihrer. Durch-
"führung nicht Gott allein, nicht Christus allein zu überlassen, sondern diese Ziele im
eigenen Willen wirksam zu machen.

Das 20. Jahrhundert, apokalyptisch betrachtet


“ Rudolf Meyer

Mit einem stolzen Bewußtsein ihrer Kulturleistungen ging die’ abendländische Mensch-
heit über die Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert. Berauscht von den großen Fort-
"‚schritten’ der Naturwissenschaft und: ihrer technischen Auswertung veranstaltete .man
„Centenarfeiern“ und. begrüßte das kommende Jahrhundert, das selb:tver:tändlich der
Menschheit eine noch größere Aufwärtsentwicklung bringen sollte. Man hatte zwar noch
keine Flugzeuge, aber immerhin die Eisenbahn, um die Klüfte von Rzam und Zeit su
überwinden. Man hatte zwar noch keine Hochexplosivbomben. uır = ein paar Augen-

202
blicken ganze Kulturstädte in Schutt und Asche zu legen, aber immerhin das Dynamit,
das der schwedische Chemiker Nobel 1867 erfunden hatte und«mit dem man jene
an Tunnelsprengungen durchführen konnte, die die Alpen als „Verkehrshinder-
“ besiegten. Die Wissenschaft hatte „bergeversetzende“ Kraft gewonnen. Was brauchte
man.noch den Glauben, von» dem das Evangeliim versicherte, daß er Berge versetzen
könne? — Die mächtigen Triumphe i im Reiche der Diesseitigkeit bedeuteten aber zugleich
eine Auslöschung der jenseitigen Werte, ein Verblassen der Offenbarungswelten, in-denen
die Menschenseele ihren wahren Ursprung hat, Mit der fortschreitenden Leistung der
Maschine, die die Arbeit der menschlichen Hand’ verdrängte, vollzog sich zugleich eine
umfassende 'Entseelung der Kultur, die Entwurzelung großer Volksmassen, die zum
Industrieproletariat herabgedrückt wurden. Der Triumph des menschlichen Geistes auf
dem materiellen Felde bedeutete andererseits die höchste Gefährdung des Menschen ,
und wie wir heute wissen: durch die entfesselte Technik und Chemie auch die Bedrohung
. des gesamten planetarischen Lebens. „
Im Mythos vom gefesselten Prometheus hat der griechische Genius den tragischen
Widerspruch der heraufsteigenden europäischen Kultur prophetisch gestaltet. Der Wohl-
täter der Menschheit, wie er gepriesen wird, hat das Feuer vom Himmel für seine Men-
“schen heräbgeholt, er hat den Funken titanischen Schaffensdrangs in ihrer Brust ent-
zündet, aber er selbst wird dafür von den Folterknechten des Zeus an den Felsen ge-
schmiedet. Der titanische Geist, der den Menschen aus der Erdenfron befreien wollte,
muß um so härter die Fesselung an die Stoffesnatur erfahren. Er kann das Menschen-
wesen nur noch tiefer in die Materie verstricken. Gerade der Mensch’ des naturwissen-
schaftlichen Zeitalters' muß seite Siege über den Stoff mit einem um so tieferen Verfall
an die Stoffesgesetze erkaufen. Er kennt nur noch ein sinnengebundenes Bewußisein. Sein
Geist ist völlig todverhaftet. !
Der Charakter des 20. Jahrhunderts hebt sich immer radikaler von der Grundhaltung
des vorigen ab. An die Stelle des optimistischen Fortschrittsgedankens, der heute durch
(die Tatsachensprache der Zeit selbst den schläfrigsten Seelen fragwürdig geworden ist,
tritt ein apokalyptisches Lebensgefühl. Im 19. Jahrhundert bedeutete es noch etwas
Sektiererisches, sich mit apokalyptischen Vorstellungen zu beschäftigen. Einer der
wenigen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den naiven Fortschrittsglauben
zu verhöhnen wagten, war Friedrich Nietzsche, der, wenn er durch die großen Städte
ging, die „das Geschlecht der Öffentlich-Meinenden“ gebaut hatte, dies alles schon wieder‘
"zusammenfallen sah. „Wehe dieser großen Stadt! — ruft sein Zarathustra aus — Und ich
wollte, ich sähe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird! Denn solche‘ Feuersäulen
müssen dem großen Mittage vorangehen. Doch dies hat seine Zeit und sein eigenes
Schicksal!“ Einen Augenblick ‘höchster Selbstbesinnung der Menschheit, er nennt ihn den
„großen Mittag“, sieht .Nietzsche für die Menschheit herannahen. Das ist der Sinn und
Grundzug des ganzen 20. Jahrhunderts, die Menschheit’ für diesen Augenblick reif zu
machen, sie gleichsam durch den Tatsachenunterricht der Weltgeschichte in diese Be-
wußtseinskrise zu führen, die für sie Untergang oder Aufraffüng zu neuer Zielsetzung
"bedeutet. *

Nach dem ersten Weltkrieg trat Oswald Spengler mit seiner Kultüurphilosophie auf den
Plan, die unerbittlich. den „Untergang des Abendlandes“ diagnostizierte. Sie sagte der
fortschrittsgläubigen | Geschichtsphilosophie, wie sie etwa Herder und Hegel aus dem
‚idealistischen Weltbild aufgebaut hatten, den Kampf an. Deun für Spengler vollzieht sich

> | | 0208
das Kulturleben der Menschheit in gewaltigen Kreisläufen von einer ehernen Gesetz-
mäßigkeit, wie die Vegetationsrhythmen der Pflanzenwelt von Jahr zu Jahr. Nach dieser
Anschauung sind wir in einen Kulturherbst eingetreten, der unaufhaltsam einem Winter
entgegeneilt. Da Spengler im Grunde doch. nur ein hlindes Spiel der Lebens- und Todes-
mächte kennt und keine Zielsetzung, die die Früchte der einen Kultur als Saatgut in
eine folgende hinüberzuretten vermag, so bleibt für ihn als letzte Weisheit des Er-
kennenden nur die Haltung des stoischen Mutes übrig, der soldatischen Pflichterfüllung
bis zum Untergang. Er weiß nichts von einer überlegenen geistigen Führung, die’ dem
naturhaften Ablauf der Kulturkreise einen ewigen Sinn und eine aufwärtsweisende '
« Richtung zu verleihen imstande wäre. Die uralte Lehre von den Äonen, ‘den einander
ablösenden Zeitenkreisen, durch die die Welt und die Menschheit ihren Götterzielen ent-
gegenreift, tritt hier in ihrer materialistischen Abdunkelung auf. Inzwischen hatte aber
mit dem Anbruch des neuen Jahrhunderts eine andere Persönlichkeit, die durch ihre _
„Philosophie der Freiheit“ das innerste Wesen des Menschen aus dem Zwang der ehernen
Naturgesetzlichkeit herauszuheben vermochte, eine ganz andere Lehre von den Kultur-
epochen, von den Kreisläufen, in denen die Menschheit ihre Bewußtseinsentwicklung von
Stufe zu Stufe steigert, vor die Welt hingestellt. Die echte Äonenlehre, wie sie immer
schon in den alten Weisheitstraditionen gelebt hatte, fand in der Geisteswissenschaft
. Rudolf Steiners ihre moderne Ausprägung. Ein Weltbild der Ho ffnung, des tiefsten
Vertrauens i in die göttliche Führung und Zielstrebigkeit alles Erdenwerdens und zugleich
in. die starke Kraft des gottgewollten Menschenwesens, war damit dem neuen Jahrhundert
gegeben. Eine Ermutigung aller derer, die noch aus der Freiheit heraus gegen die Mächte
der Kulturzerstörung und der Weltentseelung zu kämpfen bereit waren. Es ist oft in
dieser Zeitschrift, besonders in den Betrachtungen zur Michaelszeit, darauf hingewiesen
worden, wie eine solche. Lehre von der verborgen wirkenden Zeitenführung bereits im
‘Beginn des 16. Jahrhunderts vor die Öffentlichkeit hintrat. Trithem von Sponheim, der
universelle Gelehrte des Humanismus, hat in seinem Sendschreiben an den Kaiser
Maximilian die alte Geheimlehre von den Erzengelführungen, die sich in einer Siebenfalt
der Planetenwirkungen immer wieder nacheinander ablösen, bis in die genauen Jahres-
datierungen hinein enthüllt. Er war der Überzeugung, daß diejenigen, denen die Ver-
antwortung für die Führung der öffentlichen Angelegenheiten anvertraut ist, künftig
nicht mehr ohne ein solches Wissen auskommen könnten. Damals trat die abendländische'
Kultur in ein Gabrielzeitalter ein, das alles menschliche Sinnen und Streben in Monden-
wirkungen eintaucht. Es konnte jedoch aus dieser Geheimtradition heraus prophetisch
auf den großen Wendepunkt hingewiesen. werden, der mit.dem Herbst 1879 anbrechen
sollte: auf das neue Michael-Zeitalter, in welchem die Sonnenkräfte des großen Erzengels
wieder alles Menschenleben und Menschenwirken durchstrahlen würden.
Als Michael,zum letzten Male die Zeitenführung innehatte, wurde in Griechenland die
junge europäische Kultur aus Asiens Niedergang geboren. Bisher: ungekannte Persönlich-
‚keitskräfte, die sich in kühnen Gedankengebäuden und schönheitatmenden Kunst-
schöpfungen offenbarten, führten jenen Sonnenaufgang einer neuen Menschheitskultur
herauf, der sich aus dem Traumdunkel der orientalischen Tempelkulturen losrang. Der
sonnenhafte apollinische Geist des jungen Griechenlands war der edelste Ausdruck jener
letzten, vorchristlichen Michael-Inspiration, deren Ideale bis in unsere Zeit hinein noch
kräftig weitergeleuchtet haben. Nicht vergessen sei das gleichzeitige "Auftreten des alt-
hebräischen Prophetentums, dessen Stimme sich mutvoll für ein Reich der Gerechtigkeit
und Menschlichkeit, für das kommende „messianische Reich“, gegen die dumpf lastenden
Despotien der orientalischen Machtgebilde erhob. So bahnte der michaelische Genius im

204
Ringen mit den Lasten der Vergangenheit dem kommenden Christus die Wege zu seiner
Menschwerdung. -
Will man die neue Michaelswirksamkeit charakterisieren, so kann man vielleicht um-
gekehrt sagen: heute muß durch sie dem Menschen der Weg zur Christwerdung erkämpft
werden; und zwar in einem noch ganz anderen Maße, als Menschen bisher Christi Jünger
zu werden suchten. Es gilt heute, das Menschheitsbewußtsein über sich hinaus zu führen,
es in jene Sphäre hinein-erwachen zu lassen, in welcher die Menschenseelen Genossen des.
Auferstandenen werden dürfen, um mit Ihm im Bunde das Leben der Erde neu zu ge-
stalten und dem Abgrund zu entringen. Denn das ist das Kennzeichen einer jeweils an-
brechenden Michaelszeit, daß es in ihr jedesmal darum geht, die Existenz des Menschen‘
als solche .zu retten. Die Größe der Zivilisationsfortschritte, die, uns das letzte Gabriel-
zeitalter gebracht hat, braucht‘ deshalb nicht verkannt zu werden. Es hatte seine Stärke
darin, den Menschen alles dasjenige entwickeln und ‚pflegen zu lassen, was sich aus den
Kräften der Vererbung, aus einer tüchtigen Völkererbschaft nöch entwickeln ließ. Es
hängt damit auch die starke Ausgestaltung der Nationalkulturen und der sich gegen-
einander abschließenden, miteinander rivalisierenden Nationalstaaten zusammen; die die
Weltpolitik der letzten Jahrhunderte bestimmt haben. Wissenschaftlich Yührte das
gabrielische Denken und Empfinden dazu, den Menschen immer mehr aus Vererbungs-
zusammenhängen heraus begreifen zu wollen: den Einzelnen als Glied einer Generationen-
folge und schließlich des Volkstums oder sogar der Rasse, das Menschentum im all-
_ gemeinen jedoch als Entwicklungsprodukt der Tierheit, im Kampf ums Dasein und nach
den Gesetzen der Zuchtwahl sich aus der aufsteigenden Kette der Naturformen erhebend.
Die Lehren Darwins und Haeckels erscheinen als letzte Konsequenz dieser naturwissen-
schaftlichen ‘Erklärung des Menschenwesens. In ihrer Einseitigkeit jedoch bedeuten sie
die Auslöschung des Menschenbildes.
Es ist das Schicksal der Menschen, die das 20. Jahrhundert zu gestalten berufen sind,
gleichsam die Probe zu machen auf den Lebenswert der Ideen des 19. Jahrhunderts. Da
zeigt. sich nun, wie die Gedankenformen, die für das 19. Jahrhundert als ein kühner Vor-
stoß in geistiges Neuland empfunden 'wurden,-in dem Augenblick, wo sie in das soziale
Leben übergeführt werden, die Menschheit in Barbarei und dumpfeste Fesseln der Un-
freiheit zurückwerfen. Es erweist sich, wie die Menschheit mit diesen Ideen, wenn sie
nicht von einer anderen Seite her eine Ergänzung finden, nicht menschlich zu existie-
ren vermag; wie diese sogar, wenn wir an die Entfesselungen der modernen Technik und:
Chemie denken, die letzten Grundlagen unseres planetarischen Daseins bedrohen. Unter
dem Eindruck dieser Tatsachensprache, gleichsam von ihr zur Selbstbesinnung auf ihre
Daseinsgrundlagen gezwungen, tritt die Menschheit des 20. Jahrhunderts in die Lichtfülle
des „großen Mittags“ ein. Der Sonnenglanz dieser Erkenntnisstrahlen, die durch die Zeiten-
führung selber heute in die Seelen eindringen wollen, ist die offenbarende Gegenwart
des michaelischen Geistes. Er fordert den Menschen zur Blick-Ergänzung auf. Zum
Ergreifen dessen, was sich als unser innerstes Wesen jenseits des Zwangs der Verhältnisse
und der Last des Vererbten offenbaren will..Man kann es auch so ausdrücken: Michael
weckt in der Seele die Kraft auf, sich an ihren wahren Ursprung zu erinnern, ihren geisti-
gen Stammbaum wiederzufinden, der ihr zugleich ihre Menschenfreiheit und Menschen-
würde ‘verbürgt. Deshalb kündet sich der michaelische Impuls in den Seelen vielfach
zunächst auf rebellische Weise an. Er tritt im Jugenderlebnis als Protest gegen alles Über-
kommene und Ererbte hervor. Man kann ihn auch in dem Drängen der Frauenbewegung
nach Emanzipation aus den Fesseln ‘des bloßen Gattungsdaseins wiedererkennen. ‚Oder in
all den sozial-revolutionären. Kämpfen unserer Zeit, denen zuletzt doch die Sehnsucht

Z 205
zugrunde liegt, das Darinnenstehen in den Arbeitsverhältnissen so zu gestalten, daß die
menschliche Arbeitskraft, geschweige denn der Mensch, niemals. zur bloßen Ware herab-
. gewürdigt wird, sondern daß immer nur der Mensch dem Menschen im ‚Arbeitsprozeß
gegenüb ersteht.
*

Man wird den Ablauf der Menschheitsgeschichte nie verstehen, wenn man die jeweiligen
Ereignisse nur’kausal aus den vorangegangenen zu erklären versucht. Man muß sich z.B.
die Frage stellen können: was für Seelen sind es, die zu dieser oder jener Zeit auf. dic
Erde herabsteigen? was für Erlebnisse und Impulse tragen sie aus der Vorgeburt in das
Leben mit herein? Durch solche Fragestellungen bekommt man auch den Schlüssel zu dem
‚ Generationenproblem, das heute so viele Eltern und Erzieher bewegt. Denn es gibt
.Zeitenwenden, die eine junge Generation. auf den Plan der Geschichte rufen, in deren
Seelenuntergründen ganz neue Ideale kraften. Sie finden keine Anknüpfungsmöglichkeiten
in dem Überlieferten und Gewördenen für das, was ins Leben hereinzutragen ihnen wichtig
scheint. Das drängt sie in den Radikalismus hinein. Sie meinen das Recht zu haben, alles
: Ererbte und bisher Anerkannte ablehnen zu dürfen. Wenn- sie nicht eine Begegnung mit
älteren Menschen finden, die ein Verständnis für das aufbringen, was in ihren Seelengrün-
den arbeitet, so können sich diese Impulse, statt zu schöpferischen Idealen zu werden, nur
noch auf explosive Weise einen Ausweg schaffen. Sie entladen sich als‘ Zerstörungskräfte
- innerhalb der Zivilisation. Damit kommen wir.erst an die apokalyptische Betrachtungsweise
heran, die hinter den Schleier des Sinnengeschehens führt. Sie läßt den Blick zu jenen
Sphären durchdringen, wo sich aus einem wogenden Meer von Werdekräften Gestalten
gebären, die allem Erdendasein die Richtung geben. Es ist die Welt der Urbilder und der.
Urtriebe, die sich in einer gedrängten Folge machtvoller Imaginationen vor die Seele des
Sehers von Patmos stellte. Zunächst enthüllen sich da*jene Bilder des Schreckens, die einen
unaufhaltsam scheinenden Menschheitsniedergang für die Zukunft vorzeichnen. Sie steigern
sich zu den Prüfungen, die unter dem Klang der sieben Posaunen stufenweise über die
Erdenmenschheit. hereinbrechen. Aber sie deuten auf einen großen Wendepunkt hin, auf
‚die neue „Sonnenzeit“ der Menschheit, die-mit dem Ertönen der siebenten Posaune an-
bricht. Da erscheint in einer himmlischen Imagination. das mit Sonnenkräften umkleidete
Weib, mit der Sternenkrone auf dem Haupt und mit dem Mond unter den Füßen. Es ist
die Mensthenseele selber. Sie hat durch die Vereinigung mit Dem, der durch das Opfer von -
‘Golgatha die höchsten Lichtkräfte an die Erde hingegeben hat, ihre ‘sonnenhafte Natur
wiedergefunden und sich zur Siegerin über die Mondgewalten gemacht, über alles, was sie
- . verhärten und an die Vergangenheit fesseln wollte. Der Apokalyptiker: schildert, wie sich .
eine Geistgeburt in den Höhen der Welt vollzieht.‘ Die Menschenseele ist reif, das un-
sterbliche höhere Ich aus sich zu gebären: den Christus in uns. Diese Geistgeburt aber
ruft.die. stärksten Widersachermächte auf den Plan. Der flammendrote Drache steigt vor
dem Weibe auf, um das Kind zu verschlingen: Um dieses Kind, um das Ewige imMenschen-
wesen entbrennt ein Welteukampf. Ein Kampf, der in den Engelwelten zur Scheidung der
Geister führt. Denn an ihrer Stelluug zum Menschen scheiden sich in der Tat die Geister.
- Der Kampf Michaels mit dem Drachen reißt einen Abgrund auf zwischen denjenigen Engel-
wesen, die sich zum gottgewollten Bilde des Menschen bekennen, und: denen, die es ab- °
lehnen, die es mit einem vernichtenden Hasse von nun an verfolgen werden. In der pro-
phetischen ‘Schau wird uns gezeigt, wie Michael zwar in den Himmeln den Sieg erringt,
wie aber dadurch umso größere Bedrängnis zunächst auf der Erde entstehen muß.
Rudolf Steiner hat darauf aufmerksam gemacht, wie die Ausstoßung des großen Drachens
aus den Himmelswelten und der Sturz der ihm folgenden Engel auf die Erde nichts anderes

206°. | 2 .
. bedeutet, als daß solche abtrünnigen Geister von jetzt an in Menschenseelen Einzug 'zu
halten suchen. Menschen, ‚die durch diese oder jene Charakterschwäche der Versuchung
Einlaß gewähren, werden zeitweise von solchen Geistern der Finsternis besessen erschei-
nen. Damit beginnt aber das Böse, zu übermenschlicher Intelligenz gesteigert, als Welt-
macht in das Drama der Menschheitsgeschichte einzutreten: „Wehe denen, die auf Erden
wohnen —“ ruft der Apokalyptiker aus, „denn der Widersdcher kommt zu euch hinab,
&r hat einen großen Zorn, weil’er weiß, daß er wenig Zeit hat.“
Überall, wo die Drachenmacht auftritt, kann man sie daran erkennen, daß sie den
- „Wettlauf mit der Zeit“ aufnimmt. Dadurch gerade: kann ‘sie einerseits dem objektiven
Beobachter Bewunderung abnötigen, daß sie ihre Ziele in gigantischen Anstrengungen in
kürzesten Fristen zu verwirklichen sucht. Sie triumphiert durch Rekordleistungen, wäh-
rend alles, was aus dem michaelischen Geiste heraus zu wirken sucht, auf solche Zeit-
Rekorde grundsätzlich verzichten ‚muß. Denn es muß dem ruhevollen Gesetz des Reifen-
lassens gehorchen. Dazu gehört ein unermeßliches Vertrauen in ‘die tragenden Kräfte
der Weltenführung. Es gehört dazu jene göttliche Gelassenheit, die nur durch das Bewußtsein
der Ewigkeit, die allem Zeitengetriebe überlegen ist, in der Seele erzeugt werden kann.
Michaels. Verhältnis zum Menschen offenbart sich dadurch als ein solches, das dem
Menschen nichts abnehmen will; es achtet ihn in seiner Freiheit, es ermutigt ihn zu seiner
Freiheit. Deshalb ist Michaels Sieg. in den Himmeln noch kein Sieg für die Menschheit
auf Erden. Er ist eine vorbildliche Götterhandlung. Der Mensch, der sie anzuschauen ver-
mag, kann sich an ihr entflammen und sie nachzuvollziehen suchen. .
Wann aber schaut die Menschenseele diesen Sieg über den Drachen an? — Ehe sie in
die Erdenverkörperung untertaucht; in jenen Welten, in denen Menschheitsschicksal aüs
kosmischen’ Werdekräften gewoben wird. Dies ist es, was dem 20. Jahrhundert den völlig
neuen Grundzug gibt gegenüber den vorhergegangenen Zeiten: daß in ihm Menschen auf
den Plan treten, die unter dem Eindruck jener majestätischen Götterhandlung des Sieges
über die Drachengewalt sich auf ihr gegenwärtiges Erdenleben haben vorbereiten dürfen.
Sie haben das -Aufstrahlen des sonnenumglänzten Menschen-Urbilds, für. das Michae]
kämpft, witanschauen können. Sie tragen in ihren Seelenuntergründen das Wissen von
dern Sonnenaufgang des christ-erfüllten Menschentums, des wiederhergestellten Ebenbildes
der Gottheit. Sie wirken aus der Begeisterung für dieses Weltenziel. Deshalb entspricht
es ibuen nicht, immer nur auf die Schwäche der Menschennatur hingewiesen. zu werden, '
sei es. in Form der religiösen Tradition, die den. Menschen’nur in seiner Erbsünde kennt,
oder. sei es in Form der natursissenuschaftlichen Denkungsart, die ihn allzusehr an die
Vererbungsgesetze, an die erbliche Belastung gefesselt sieht. Diese beiden entsprechen noch
der, 'Geisteshaltung des gabrielischen Zeitalters. Im Sinne einer gabrielischen Frömmigkeit -
gilt es, den Menschen in seiner Schwäche zu sehen, zu stützen und zu trösten. Wo der
michaelische Geist das. religiös-sittliche Leben ergreift, da wird zum Mut und zur Stärke
‚des Menschen. gesprochen. Da findet man sich nicht damit ab, daß ‘die Sünde vergeben
wird, sondern 'man fragt,. wie sie von Grund auf überwunden werden kann, damit
das Menschenwesen aus ‚seinem tiefen Falle auferstehe.
Dieser neue Grundton religiösen Erlebens geht durch die heiligen Handlungen hindurch,
wie sie an den Altären der Christengemeinschaft vollzogen werden. In ihnen wird die
Wiederaufrichtung des gottgewollten Menschenbildes ‚gefeiert. Das Menschentum wird
aufs neue für seine heiligen Erdenziele geweiht. Die Menschenweihehandlung spricht zum
innersten. Mute des Menschen. Sie vermag daher zu einem Inspirationsquell zu werden,
aus dem alles irdische Leben erneuert, aber auch der Kampf gegen die Umklammerung der
Menschheit durch die materialistische Zivilisation impulsiert werden kann.

207.
Vom Urstand des Menschen
Johannes Hemlebenu

Das 19. Jahrhundert verlor den Glauben an die Wirklichkeit Gottes, die jüngste Ver-
gangenheit und die Gegenwart den Glauben an die Menschen, Noch vor hundert Jahren
erhoffte man den Menschen zu finden, indem man den Glauben an Gott zu opfern bereit
war. Er wurde auch gefunden — aber am Abgrund. Und nun?
Kaum kann heute noch der Eifer und der Fanatismus nachempfunden werden, mit dem
gegen die Jahrhundertwende um die Frage nach Herkunft und Abstammung 'des Menschen:
gerungen wurde. Damals fiel eine Entscheidung von unübersehbaren Folgen: der Darwinis-
mus siegte. Nicht von Gott, sondern vom Tiere her führt der Weg zum Menschen! Mit dem
Darwinismus erreichte jene Entwicklung ihr vorläufiges Eude, die mit Koperunikus begann,
. von Geistern wie Galilei und Newton wesentlich ergriffen und von Darwin und Haeckel
konsequent zum Ziele geführt wurde: die Welt und den Menschen ohne Gott zu begreifen.
Man, mag einwenden, daß doch ‚alle genannten Forscher, mit Ausnahme von Haeckel,
frommglänbige Männer waren. Das waren sie! Doch hinderte sie dies nicht, an einem
Werke mitzuwirken, das unabhängig von allem Glauben ein Wissensbild von Welt und
Mensch erschuf, welches das alte Weltbild völlig umkehrte. Denn solange die Offenbarung
“der Bibel über die Entstehung von Welt, Erde und Mensch maßgeblich war, wurde im gei-
stigen Sinne von oben nach unten gedacht, gefühlt, und so war man auch zu handeln
ä
bemüht. Im Ursprunge aller Entwicklung war Gott, der Logos, der Geist. Und im Laufe
! i
des Werdens — sei es im Sinne des Sechstagewerkes der Genesis, Sei es im Sinne des
Johannes-Prologs — entstand der Kosmos, die Erde mitsamt den Naturreichen, das Men-
schengeschlecht als Werk, als Schöpfung, als „Niederschlag“ des göttlichen Geistes. Das
Unten folgt dem Oben. Den Primat hat der Geist; von ihm ist die Körperwelt abgeleitet.
'Es liegt im Wesen des Denkens, das sich seit dem 15. Jahrhundertsentwickelt hat, daß
sich diese Blickrichtung umkehrte. Der Mensch lernte von unten nach oben zu denken.
Wohl durch nichts wird diese Vertauschung der Blickrichtung go anschaulich wie durch die
Tat Galileis. Ihn faszinieren die fallenden Dinge. Als das universale-Prinzip der Welt er-
kennt er die Schwere. Im Dom zu Pisa sieht er den Kronleuchter schwingen. Da ergreift ihn
nn

nicht eigentlich das Interesse für die Bewegung, sondern speziell für die Kraft, die,von
der Erde ausgeht und die Körper in die Tiefe zieht: So wird Galilei der Entdecker der
Erdanziehung, der Fallgesetze. Auch vorher wußten die Menschen, daß alles Schwere zu
nm a nn

Boden fällt, kannten die Bedeutung von Trägheit, Gewicht und Fall. Seit Galilei aber
wurde das Gesetz der Schwere zum Leitprinzip der klassischen Physik, und das Interesse
der gebildeten Menschheit erwachte für diese Art, die Welt anzuschauen. Fortab wurde die
sichtbare Welt der Körper nicht von dem „Oben“, sondern von der’ Schwere, dem „Unten“
her gedacht. Newton vollendete, was Galilei begann: er erklärte den Zusammenbalt des
Universums, von Sonne, Mond und Sternen, mit Hilfe der Gravitation, d.h. der Schwere.
Und Geister wie Kant und Laplace folgten seinen Spuren. -
Bei aller. Anerkennung der Folgerichtigkeit dieser Entwicklung der abendländischen Welt-
anschauung muß man doch in ihr eine grandiose Abirrung des menschlichen Geistes sehen.
Generationen von Forschern wirken zusammen, ohne daß ihnen selbst das Gefälle ihres
Weges bewußt wird. So wird am Ende die Welt tatsächlich mit den Augen des Mephisto-.
pheles betrachtet: von unten her. Von nun ab wird in Umkehrung aller mittelalterlichen
- Denkformen das Lebendige aus dem Toten, die Seele aus dem Leibe, das Feinere aus dem
Gröberen abgeleitet. — Es gibt kein Wissensgebiet, das sich dieser Tendenz entziehen
kann. Die Gehirnphysiologie gibt der Psychologie ihre Voraussetzung, Embryologie’und

. 208
Vererbungswissenschaft werden zu Grundlage-Wissenschaften der Menschenkunde. Die
Lehre von Karl Marx überträgt dieses gefundene Grundprinzip auf die ökonomischen
Verhältnisse der Menschheit, und die Psychoanalyse Freuds greift von unten her in die
.zartesten und bisher umhüteten Bezirke menschlichen Innienlebens. Selbst ein Friedrich
Nietzsche vermag sich dieser Umwertung aller Werte nicht zu entziehen und erliegt der
allgemeinen Suggestion. Auch er denkt vom Tier über den Menschen zum Übermenschen
hinauf. Einst sprach man vom Ursprung im Licht, vom Fall durch die Sünde — jetzt nur
noch von, Höher-Eutwicklung. .
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wendet sich zunächst das Interesse der Forscher den.
biologischen Problemen zu. In den Vordergrund tritt die Vererbungswissenschaft und
damit deren vornehmstes Objekt: der Mensch. Nicht zufällig werden die sogenannten
Mendelschen. Vererbungsgesetze im Jahre 1900 gleichzeitig von drei Seiten her unabhängig
voneinander neu entdeckt. Als Resultat aller Forschungen gilt seitdem die Formel: der
Mensch ist das Produkt von Vererbung und Milieu.
Niemand wird leugnen, daß für die Entwicklung eines jeden Menschen auf der Erde
der auf dem Wege der Vererbung empfangene Leib und das physisch-seelische Milieu, in
dem er aufwächst, von größter Bedeutung in seinem Schicksal sind. In gewisser Beziehung |
sind sie geradezu das Schicksal selbst. Wie tief greift in das Gefüge eines Menschenlebens
die Summe der Kräfte ein, die durch Elternhaus und Heimatlandschaft, durch Mutter-
sprache und Vaterland gegeben sind! Wer in Amerika, Europa oder ‚Asien geboren und
aufgewachsen ist, trägt bis in die Schädelbildung und Stimmfärbung jeweilig lebenslang _
die Zeichen seines irdischen Ursprungs. Die Gesetze, nach denen wir hier auf der Erde
antreten, bleiben während des ganzen Lebens wirksam. Man sollte darum nicht in
törichter Weise die Teilwahrheiten von Blut und Boden leugnen, aber erst recht darf nicht
verkannt werden, daß es sich um Teilwahrheiten handelt und: daß in der aufgestellten
Formel vom Menschen der wesentlichste Faktor fehlt: die ewige" geistige Individualität
‘ des Menschen selbst. Wie es durchaus möglich ist, mit dem „Blick von unten“ das Weltall °
und was die Welt zusammenhält-von der Schwere her zu erklären, so ist es natürlich auch
möglich, das Bild des Menschen „von unten“ zu geben oder — was dasselbe ist — von
außen; denn mit den Worten Vererbung und Milieu werden genau die Bereiche des Men-
schen gekennzeichnet, die im eigentlichen Sinne sein äußeres Leben ausmachen, in denen
er wohnt, die er aber selbst nicht ist. So wenig es berechtigt ist, bei aller Liebe, die ein
Künstler für sein Instrument entwickelt, ihn mit seinem Instrument zu identifizieren, so
wenig ist es möglich, den Menschen mit dem gleichzusetzen, was ihm durch Vererbung und
Milieu bzw. durch Blut und Boden von Geburt an vermittelt wird. Darum spricht man
auch mit Recht von erblicher Belastung. Es ist die Last, die es über die Erde zu tragen gilt.
Heute wird vielfach verkündet, der Materialismus sei überwunden. Solange aber von
“den Lehrstühlen in London und Moskau, in New York und Berlin die Formel von Ver-
erbung. und Milieu als Grundlage der Erforschung des Menschen dient, kann von einer
Überwindung des Materialismus keine Rede sein. Derselbe Geist, der durch Galilei und
Newton die Menschen lehrte, das Weltall „von unten“ zu sehen, ist durch die Ver-
. erbungswissenschaft wirksam geworden und zeigt den Menschen „von unten“.
Wit Recht wird man fragen dürfen: ist nicht der Wunderbau des meüschlichen Leibes
ein Beweis für die Wirksamkeit der göttlichen Welt, und hat nicht Novalis recht, wenn
er sagt, daß. es in der Welt nur einen Tempel gibt, den menschlichen Körper? Ist es da
berechtigt, von „Unten“ zu sprechen? Wer sich diese Frage nicht beaniwortet, wird immer
in Versuchung fallen, aus Blut und Boden Religion machen zu wollen; denn zum mensch-
lichen Leben gehört als eine der tiefsten Paradoxien: das niederste Glied des Menschen,

209.
chen, sein Geist, das
vol lko mme nst e, und das. höchste Glied des Mens
sein Leib, ist das sondern über den
, .die Ent wic klu ng führt nicht über den Leib,
invollkommenste . Aber absterbenden, der Geist '
der Leib gehö rt in aller Yollkommenheit einer
Geist weiter; denn selbst begreift, einer auf-
er geg enw ärt ige n "Dürftigkeit, wenn er sich e
aber trot z sein daß die körperliche Welt heut
den Welt an. Es wird dadurch auch verständlich, sein em Geis t
erstehen 50 daß er
e Sugg esti on auf den Menschen auszuüben vermag, letz ten vier
die gewa ltig der Menschheit in den
lligt. Die Verführungsszene
nur ein Schattendasein zubi zu gelingen, weil die Sinnen
welan t ‘
rte n ver moc hte nur dar um so vollständig. Aus sein er
Jahrhunde h überlegen ist.
nhe it und Kraf t dem menschlichen Geiste unendlic nsk lar hei t die
Vollko mme volle Bewußtsei
us erhöht der Mensch ohne
Ohnmacht und Schwäche hera em Gott . Dabe i bleibt es sich im wesent-
"
end Formen zu sein
Leibes- und Sinnenwelt in taus gend im Westen geb ore nen Über -
hieht im ‘Sinne der vorwie
lichen gleich, ob ‘dies gesc mate riel len Macht, oder des in Mitteleu
ropa
Reichtums und der
schätzung des materiellen oder schließl ich des dial ekti sche n
enstes von Blut und Boden,
zur Religion erhobenen Gesp g übernimmt . Es gibt heut e kein e
n die totale Lebensgestaltun
Materialismus, der im Oste engeschlecht es hine inge riss en ist
t in diesen Sturz. des Mensch
irdische Großmacht, die nich ternis „von unten“ her wirksam sein
Hilfe der Geister der Fins
“ und darum auch nur mit en Men sch en mit, und die Denkme
thode des
ank en riß den ganz
_ kann. Der Stur z der Ged von unten
des Handelns: die Welt wird
s wurde zum Prinzip
Von-Unten-nach-Oben-Blicken S u
Be \
her regiert. en Urs pru ng denk t? Genügt es -
wich tig, wie der Men sch über sich und sein
ist es denn so genau beobachtet, wird
jede r sich‘ bem üht , eim guter Mensch zu sein? Wer
nicht, wenn sich selbst verwirklichen.
Wer
ank en eine s Menschen auf die Dauer Den n
finden, daß die Ged es am Ende auch!
für ein Pro duk t von Ver erbung und Milteu hält, wird hei- .
sich selbst t von dieser Welt ist, in Ersc
rt dadu rch, daß sein Ewigkeitskern, der nich ihr em Leib e
er verh inde Jünger so; daß sie
ete Gautama Buddha seine
nung tritt. Nicht umsonst leit n pfle gten : „Das bin ich nicht.“ Nich
t
enü ber in for twä hre nde r Übung das Bewußtsei Mys ter ien wor t:
geg Ankömmling das
des Apoll zu Delphi den
umsonst grüßte vom Tempel ker n des griechischen Wahrheitsuchers.
-
bist “ und rühr te dami t an den ewigen Wesens „Ich bin“ —
“ „Du des Johanneischen:
aber liegt in der Erfassung
Die Erfüllung beider Worte betr at — ich bin, dieweil ich hier
im
der Selb ster fahr ung: Ich war, ehe ich .die Erde tt wied er ver-
-in und Wohnusta
wenn ich diese irdische’ Hülle
Leibe lebe — ich werde sein, in der inte llek tuel len Einsicht — liegt. der
ung — nicht nur
lassen habe. In dieser Erfahr Wiedergeburt des Menschen
im veligiösen Leben die geistige
Schlüssel zu dem, was von je führt, wenn sie bis zur voll
en Rein-
wesentliche Selbsterfahrung
genannt wurde, und diese von dem das 8. Kapi tel im
Verständiis jedes Vorganges,
heit durchgeklärt ist, zum räches mit den Schr iftg eleh rten
t; im Hin und Wider des Gesp
J ohannes-Evangelium berichte aus: „Ihr seid von ’un ten her, ich
Jesus Christus die Worte
und Pharisäern spricht dort bin nich t von. dieser Welt.”
\ |
von dieser Welt , ich
bin von 'oben her; ihr seid weise Blut und Bod en zum Inha lt =
ben hat, "las berechtigter
Wenn es je ein Volk gege äisc he Volk. Den Gott im Blute,
den
cht hat, so war 68 das alte hebr
seiner Reli gion gema hrte n
zugewiesen hatte. vere
äter , der selb st sein em Volke das Gelobte Land : ich
Gott der Erzv
ihnen entzerenzeschleudert
dieser heiligsten Stätte wird
sie im Tempel, und hier an eifen. wıkl zer da: Revolutio-
zunächst noch nicht voll begr
bin von oben her. Da sie es am ist unser Vater” — da aber müssen
betonen sie: „Abrah
näre des Inhaltes wittern, ich.” Da 4.302 se Steine auf ihr,
denn Abraham ward, bin
sie sich sagen lassen: „Ehe
um ihn zu töten. denn mut dem Ausspruch des
Wut der Pharisäer verstehen können.
Man muß diese

216
Christus, „von oben“ zu stammen, wurde. gerade das zunichte gemacht, worauf sie im
religiösen Leben bauten: das Leben aus dem Blut. Schon der Täufer Jobannes hatte
ihnen das’Ende ihrer Rassenreligion vorausgesagt: Kommt nur nicht und beruft euch
darauf, daß ihr Abraham zu eurem Väter habt! Der Baum, von dem er sprach, an. dessen
Wurzel schon die Axt gelegtsei, war der Stammbaum leiblicher Vererbung, war die auf
Rasseeigenschaften begründete Religion.
Es war die Sendung des Johannes, deren Ende zu verkünden. In Jesus Christus stand _
den Pharisäern ‘das neue Prinzip, durch welches das .alte Vererbungsdenken abgelöst
werden sollte, in Menschengestalt ‚gegenüber und sprach sich selber, aus. Das traf die
“ Pharisäer, ins Herz. In ihrer Schwäche griffen sie nach den Steinen.
Die Situation. des Menschen von heute ist in gewissem Sinne die der Pharisäer; nur ist
aus ihrem Vertrauen auf die Vererbungskräfte das spirituelle Wissen um den Leib als
Götterwerk geschwunden —, aber die Ichkraft des einzelnen hat zugenommen, und die,
Entscheidung ist umso unausweichlicher: wird der Mensch von unten oder von oben sich
begreifen und seine Sendung ergreifen? Nichts trifft tiefer i ins Herz unserer Zeit als der
‚Hinweis des Johannes: es kommt auf die an, die nicht aus dem Blute, nicht aus dem
‘Fleische, nicht aus der Sinnenwelt, sondern aus Gott, aus dem Geiste Geborene sind. ‘
Solange der Mensch den Inhalt seines Bewußtseins nur aus der Sinnenwelt entnimmt,
gehört er zu denen „von unten“; erst wenn er sich seines übersinnlichen Ursprungs bewußt
wurde und dieses Bewußtsein als betender und denkender Mensch so pflegt, daß wirklich
„höheres: Leben“ in ihm entsteht, gehört er zu denen „‚von oben“. Hat er auf mühvollen und
langen Wegen wieder in der Region Fuß gefaßt, in der er einst vor dem Fall träumend,
‚schlafend beheimatet war, so, findet er dort sein wahres eigenes höheres Wesen ihm gnade-
voll entgegenleuchten, In diesem „Urständen im Geiste“ findet er seine eigentliche Heimat.
Das alte Wort: „was oben, das ist unten“ erfährt eine neue Belebung; denn. das Wesen
des Christentums ist die Offenbarung des Oberen im Unteren. Das Reich, das nicht von
dieser Welt ist, beginnt in dieser Welt zu wirken. Buddha noch mußte seine Jünger von dem
„Unten“ — ihm war es die Maja, der trügerische Schein — zurückrufen. Er wußte, daß
alles Untere von der Macht des Todes durchzogen ist. Und von Wieser Macht sah er, daß
ihr seine Jünger nicht gewachsen sein würden; Jesus Christus konnte seine Jünger in alle
Reiche der Kreatur, in die Gebiete des „Unten“ aussenden, denn er wußte sie begleitet
und durchdrungen von der Kraft, die dem „Unten“ überlegen ist, die stärker als der
Tod ist. \
o So steht der Mensch heute am Abgrunde.. "Wird er die Nebelschleier der mephistophe-
lischen Weltansicht zerreißen und den Glauben an sich selber finden durch die Erfabrung
des Gottes, der selbst im „Unten“ erschien? Wird er begreifen und ergreifen was es heißt:
„Und das Licht schien in der Finsternis“?


»

Atomphysik und Sakramentalismus


nn . Alfred Schütze

Am 16. Juli 1945 wurde in Arizona zu Versuchszwecken die erste Atombombe zur Explo-
‚sion gebracht. Eine Reihe von Wissenschaftlern, hohen Militärs u.a. wohnten in einem mit
allen erdenklichen Sicherheiten ausgestatteten Beobachtungsbünker aus einer Entfernung
von mehreren Kilometern diesem Schauspiel bei, das von manchen als der Beginn eines
neuen Zeitalters, des „uranischen“, bezeichnet wird. Eine ungeheure Spannung erfüllte
e
die. beteiligten Persönlichkeiten in den Minuten vor der Auslösung des Kontaktes. Aller

211
von der Sorge
rtung gedämpfte Erregung, die z. T.
bemächtigte sich eine von banger Erwa n Erfol g zeiti gen oder ob
Arbeit den gewün schte
herrühren mochte, ob die langjährige örung ein-
weit hinausgehende katastrophale Zerst
womöglich eine über die Berechnungen "gesc hichtlichen
dunklen Gefühl für die möglichen
treten werde, und teilweise aus dem „Man kann mit
te. Der amtliche Bericht schildert:
Folgen dieses ersten Versuches stamm en, wie sie nie
der Augenzeugen betete: daß sie betet
Sicherheit sagen, daß die Mehrzahl n uns an Gott ver-
Wir fühlten daß wir nichtige Wese
Ih ihrem Leben gebetet hatten.:. Stund e der
die bis Gotth
zur eit
wir es wagien, auf Kräfte einzuwirken,
griffen, indem sion erhob, zer-
sich die Wolke der gigantischen Explo
vorbehalten wären.“ Dann aber, als Gener äle und Politiker
Beobachtungsturmes; Physiker,
viß ein einziger Schrei die Stille des
„sie schrieen, sie lachten, sie weinten.“
umarmten einander,
nde der neuen Atomkraft’ ist mehr als eine sensa-
Dieser Bericht von der Geburtsstu verdi ent, festgehalten zu werden
risches Symptom, das
tionelle Beschreibung: er ist’ein histo Seelenregungen, die
tischer Jubel waren die beiden
Angsterfüllte Erwartung und eksta an der Wiege der
Furcht und Triumph standen Pate
sich der. Beobachter bemächtigten. .— das ist der seelische Aspekt.
geboren worden war
neuen technischen Kraft, die dort weiß, wer diese Paten-
hlicher Seelenregungen kennt,
Wer den geistigen Hintergrund mensc Ekstase sind die mensch-
Angst und leidenschaftliche
schaft eigentlich übernommen hat. Seite n aus der
uchermächte, die den Menschen nach zwei
lichen Exponenten für jene Vers Furcht, und Luzif er, der
wollen: Ahriman, der Vater der
Gleichgewichtslage herausreißen mbe.*
die wahren Taufpaten der Atombo
_ Erreger blinden Rausches, sind das heut e in unzä hligen halbpopulären
des Prob lems ,
Dämit sind wir bereits im Zentrum nnten Bücher von B. Bavink
und in dem Titel eines der beka
Abwandlungen diskutiert wird. chaft auf dem Wege
gefunden hat: „Die Naturwissens
eine charakteristische Formulierung dieser Frag Stellung nehmen,
e so
der Christengemeinschaft zu
zur Religion“. Wenn wir in nen Urte ilsb ildu ng aus-
sondern zur Anregung der eige
ist das nicht dogmatisch gemeint, so aufgefaßt sein, als sollte
ungen "wollen auch keineswegs
gesprochen. Die obigen Betracht man, das schattenhaft
rsacher-Paares Luzifer und Ahri
-durch die Aufzeigung des Wide ucht, eine Art Kinderschreck
Atombombenversuches aufta
hinter der Szene des ersten die mode rne Physik ge-
ein religiöses Anathema gegen
beschworen werden oder damit fen wir als relig iös strebende
handelt es sich darum: wie schaf
schleudert werden. Vielmehr ren inne ren "Hal tung gegenüber
chen den Ausg angs punk t zur Gewinnung einer siche
Mens und Ansprüchen, die
stärker auftretenden Belastungen‘
“den’in der Zukunft gewiß immer Naturwissenschaft im all;
und sonstigen Anwendung der
sich aus der-weiteren technischen
im besonderen ergeben werden?
gemeinen und der Atomphysik n sich der Mensch

erschreitung“ gesprochen, dere


Man hat viel von einer „Grenzüb verborgenen entfesselt hat.
Kräfte
habe, indem er die in der Materie
schuldig gemacht n freiwillig‘ dargeboten;
sich der Menschheit gewissermaße
Alle anderen Naturkräfte hätten gleichsam natürlichen Gefälle
etismus usw. seien in einem
Chemismus, Elektrizität, Magn . Bei der Atom-
endung und Ausnützung gekommen
in den Bereich menschlicher Anw heit aus guten Gründen
den Eingriff in eine von der Gott
energie aber handele es sich um furchtbare Zerstörung
ehaltene Sphäre. Weshalb jene
bisher verschlossene und ihr vorb
ruf aufzufassen sei.
von Hiroshima wie ein letzter Warn Naturwissenschaft und
Bedeutung zu sein: gewiß hat die
Zweierlei scheint uns dabei von energie einen ge-
soll man sagen: Erfindung?) der Atom
Technik mit der Entdeckung (oder getan , das allerdings
cknehmbaren Schritt in ein Gebiet
wichtigen und wohl nicht mehr zurü
den Heften dieser Zeitschrift
chung wurde bereits öfters in
n und der ahrimanischen Versu 1948 (Jahrgang 20, Heft 1/2).
* Über das Wesen der luziferische dem Bösen“ Janua r/Feb ruar
z „Die Auseinandersetzung mit
gesprochen, z. B. in dem Aufsat

212
überaus gefährlich und zweideutig ist. Es ist das Gebiet, das R. Steiner die „Unter-Natur“
nennt. Man entfesselt dabei Gewalten, die bisher völlig undurchschaut sind und nicht mehr
als bloß materielle Kräfte anzusprechen sind. Bei ihrer Anwendung greift man bereits in ein
'übersinnliches bzw. „untersinnliches“ Gebiet ’ein, d.h. es handelt sich um Geistkräfte
widergöttlicher Natur, die hier im Hintergrund lauern. Dennoch wäre es verfehlt und
kurzsichtig, von religiöser Seite ein Halt rufen zu wollen mit der Begründung, daß‘ maa
sich dadurch an einem Gott 'vorbehaltenen Gebiet vergreife. Wenn man schon so spricht,
dann müßte man genau genommen sagen, daß dieser Eingriff schon längst vorher und
gewiß nicht ohne göttliche Duldung stattgefunden hat. Mit dem neuerlichen Schritt ist
diese ganze Situation nur akut geworden und verlangt gebieterisch nach einer geistigen
Durchdringung und Klärung. Es ist die dem Menschen von Gott gesetzte Freiheitssphäre
nur um ein bedeutendes Stück erweiteft worden. Und es wird sichtbar, daß diese Frei-
heitssphäre, in der der Mensch selbständig schalten darf, zugleich der Ort geistiger Ent-
scheidungen für ihn ist, wo er zwischen Gott und dem Widersacher 'zu wählen hat. Diese
'Entscheidungsnotwendigkeit wird nunmehr deutlich, besteht aber grundsätzlich schon seit
langem. Sie war bisher noch nicht in ihr kritisches Stadium eingetreten, weil der Freiheits-
raum bislang noch verhältnismäßig schmal bemessen und dem Mißbrauch der Freiheit,
d.h. ihrer Anwendung zugunsten widergöttlicher Entscheidungen ein relativ geringes Maß
gesetzt war. Freilich war er für den, der sehen wollte, schon groß genug und hat sich 'in
den Katastrophen der letzten 35 Jahre deutlich genug bekundet. Bisher hat mam diese.
Katastrophen allerdings nur als soziale, technische oder einzelmenschliche Versager ge-
deutet und sich damit um eine tiefergehende prinzipielle Erkenntnis herumgedrückt.
Jetzt, wo die Möglichkeit, den ganzen Erdplaneten in die Luft zu sprengen, zwar noch
längst nicht gegeben, aber immerhin in denkbare Nähe gerückt scheint, wo es sich also um
die Existenz der Menschheit schlechthin handelt, werden die alten Begriffsschablonen,
‚wönach z.B. die beiden letzten Kriege nur als eine Art peinlicher Störung in einer sonst
gesunden Welt zu bewerten seien, in ihrer Dürftigkeit auch den reaktionärsten Dogma-
tikern zum mindesten fragwürdig. Irgendwelche Reformprogramme, die da und dort ge.
brauchsfertig auf Lager liegen, mögen ihren relativ berechtigten Kern haben, seien es
politische („Demokratie“) oder soziale (z.B. „Verstaatlichung der großen Betriebe“) oder
seien es religiöse („der Mensch müsse wieder gläubig werden“) — sie alle müßten gegen-
standslos werden, wenn die Entwicklung der Atomenergie sich wie alle technischen Er-
findungen verselbständigt und Eigenleben gewinnt, ohne daß der Mensch .gleichrangige
Gegenkräfte gefunden hat. Die Zwangsläufigkeit maschinell-technischer Verselbständigung
mit ihrer außermenschlichen Eigengesetzlichkeit würde im Hinblick auf die Atomenergie
eine Art Ende des Menschengeschlechts heraufbeschwören. Die Dämonien sind bereits
entfesselt; die einzige Hilfe kaun darin bestehen, sie zu erkennen und.durch einen wesen-
haften Erkenntnisakt zu bannen. Denn der Mensch wird notwendigerweise zur Bewährung
seiner Freiheit vor das Angesicht widergöttlicher Mächte gestellt. Gelingt es ihm, ‚sie als
solche zu durchschauen, so wachsen ihm damit höhere Hilfen zu. Die ohnedies gefährdeten
möralischen Fähigkeiten würden allein niemals. einen Mißbrauch der Atomkraft verkindern
können, wie sie den Mißbrauch des "Dynamits usw. nicht zu verhindern wußten. Nur
‚gleichrangige geistige Kräfte, die von einer lebendigen Erkenntnis hereingerufen werden,
sind hierbei ausreichend. Denn es handelt sich um übermoralische und übersinnliche Fak-
toren, die mit der Handhabung gewisser menschlicher Fähigkeiten in zunächst rätselhaft
“ erscheinender Weise gekoppelt sind. Was heißt das?
Die rationalistische Arbeitsmethode der modernen Naturwissenschaft hat sich, soweit
sie nicht bloße Beschreibung bleibt, in immer steigendem Maße auf eine fast ausschließ-

f
213
mathematische Behandlung der Natur beschränkt. Dadurch hat sie sich von be
lich
ch erfaß-
stinumten geistigen Werten, die genau so zur Natur gehören wie die mathematis
eiten, entfernt und zugunsten einer zwar einheitlich en Analyse in eine
‚ baren Gesetzlichk
bleiben.
Einseitigkeit begeben, durch die andere Bezirke des Menschlichen brach liegen
und es entsteht
Das Ganzheitsverhältnis des Menschen zur Welt ist dadurch gestört,
die er zunächst
gleichsam ein geistiger Hohlraum, in den nun andere Mächte einschießen,
in den Grund-
nicht gewahr wird. Werner‘ Heisenberg sagt in seinem Buche „Wandlungen
„Ich habe versucht, Ihnen auseimanderzusetzen, wie Physik
lagen der Naturwisgenschaft“:
weiter ent-
und Chemie — wir wissen kaum, durch welche Macht getrieben — sich stets
Natur unter dem Gesichts-
wickelt haben in Richtung einer mathematischen Analyse der
unserer "Wissenschaft ‚auf Erkenntnis der Natur
punkt der Einheitlichkeit. Die Ansprüche
Gewiß will
im ursprünglichen Sinne des Wortes sind dabei. immer. geringer geworden.“
kaum, durch welche Macht getrieben“
Heisenberg mit seiner Einschaltung „wir wissen
Sinn: der geschichtli chen Entwicklun g inner-
nur der allgemeinen Ungewißheit über den
und doch darf man darin den wnbeab-.
halb der Naturwissenschaft Ausdruck geben,
Einsicht sehen. Es gibt geistige Mächte, die
sichtigten Ausdruck einer wesentlich tieferen
menheit als geheime Inspirator en und Begleiter der
man ohne jede mystische Verschwom
kindlich gesagt,
menschlichen Gedankentätigkeit ansprechen darf. Man hat früher etwas
von Gott oder vom Teufel eingegeben . Man braucht sich
die Gedanken seien entweder
kann ihn als eine rein
den Teufel nicht gleich als schwarzen Mann vorzustellen, sondern
zu stark von’dem
“geistige Intelligenz hoher Rangordnung denken. Abstrahiert der Mensch
Welt, indem er unter Absehung von allen Qualitäten sich auf
- geistigen Grundgehalt der
mathematis che Betrachtun g beschränkt , so fließt unbemerkt in das
‚ine bloß quantitative
dadurch entstehende Vakuum etwas von jener kalten, kosmischen Intelligenz-ein, die einen
solcher an sich
zerstörerischen Keim mit den menschlichen, technischen und sozialen Folgen
die ein Interesse
völlig neutraler Gedanken zusammenkoppelt. Es gibt also eine Macht,
Bahn zu “treiben — es,
daran hat, die menschliche Gedankenentwicklung auf eine solche
or
ist die ahrimanisch-Iuziferische Weltmacht.
„Weltbild .der
Ein anderer Physiker, C. Fr. Freiherr von Weizsäcker, kommt in seinem.
rte, sich nur an
Physik“ dieser. Wahrheit ziemlich nahe, wenn er sagt, daß der säkularisie
das christliche Streben zum
der Außenseite der Welt orientierende Mensch der Neuzeit
Ebene verlagert habe. „Es ist darum
Unendlichen zwar beibehalten, aber auf eine andere
en seines
das Wesen seines Verhältnisses zur Natur, daß er die Grenzen und Bedingung
et. Er dringt, antik gesprochen , in einen Be-
ursprünglich natürlichen Daseins überschreit
. reich‘ vor, in dem es keine Götter gibt, oder dessen Götter uns fremd sind.“

Weizsäcker sieht das Problem, das mit der Selbstbeschränkung des rationalistischen-
führt es au dem
Weltbildes auf einen schmalen Sektor verbunden ist, sehr deutlich und
durch: „Als ich den Kristall (von dem zuvor eine
Beispiel eines Kristalles anschaulich
gemacht wurden) aus seinem Schubfach holte, dachte ich
Fülle physikalischer Aussagen
Eigenschaften, sondern ‚an etwas ganz anderes, ihm
zuerst an keine der aufgezählten
ich gern
gleichwohl zukommendes: seine persönliche Beziehung zu mir. Ein Lehrer, den
durch diese
hatte, hat ihn mir von einer Islandreise mitgebracht. Der Kristall spricht
Erinnerung mein Gefühl an... Diese Gefühlswerte enthält das physikalische Weltbild.
ja keine
nicht. Der reine Physiker wird ‚sagen: selbstversjändlich nicht, denn sie sind
in mir... Das ist
objektiven Eigenschaften der Dinge, sondern subjektive Vorgänge
wichtig seien für einen
richtig, aber wer sagt, daß diese subjektiven Realitäten minder
Woher weiß ich über-
Menschen, der sich ein wahres Bild von der Welt machen will?...
seelische Beziehung zu diesem Kristall ihm wicht auch als „objektive,
haupt, daß meine

214
d.h. für andere Menschen spürbare Eigenschaft zukommt? Haben wir nicht vielleicht nur
ein zu unentwickeltes Sensorium für die objektiven, aber unbewußten Beziehungen zwi-
schen Physischem und Psychischem?“ Und an späterer Stelle: „Es ist also klay, daß das
physikalische Weltbild nicht alle wesentlichen Eigenschaften der Dinge umfaßt. Es ist
‚noch nicht ebenso klar, wieweit es sie mit Notwendigkeit ausschließt.“
x
+

Wir haben dieses ausführlicher erwähnt, weil es uns ohne. langwierige erkenntnistheo-
retische Betrachtungen in die- Lage. versetzt, daran anknüpfend der physikalischen Welt-.
betrachtung die religiös-kultische Haltung beispielhaft gegemüberzustellen. Der Sakra-
mentalismus könnte eine Befreiung aus der Selbstbeschränkung und den damit ver-
bundenen ‚Folgen einseitiger Weltauffassung bringen, indem er wieder zu der verloren-
gangenen Ganzheit führt.. Daß damit naturwissenschaftliche Forschung nicht ersetzt oder
‚überflüssig gemacht werden soll, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Aber es handelt sich
darum, daß eine neue Gesinnung herangebildet wird, durch .die der Mensch wieder An-
schluß ‘an eine göttlich-geistige Welt gewinnen lernt, auch im Umgang mit ‘der Materie!
Doch könnte man sich denken, daß sogar die Naturwissenschaft selber befruchtet werden
kann, wenn — sagen wir — eine Generation durch ‚die Übung und Schulung kultischer Ge-
sınnung gegangen ist. °
Wie ist nun diese kultisch- sakramentale Haltung gegenüber der Materie gemeint?
Zunächst: sei betont, daß sie nicht der bloßen, Befriedigung seelischer Privatbedürfnisse‘
dient,.wie man das hier und da antreffen mag. Kultus ist ursprünglich und grundsätzlich
etwas weitaus Umfassenderes. Der Mensch geht als kultisch Handelnder und Erlebender
zunächst genau so von den Dingen dieser Erde aus wie der Naturforscher. Er hat-Suh-
stanzen, Formen und Farben sinnlich wahrnehmbarer Art: vor sich. Aber er untersucht
sie nicht analysierend, sondern versucht, sie im ursprünglichsten Sinne des Wortes wahr-
zunehmen, ihren eigentlichen tieferen Wahrheitsgehalt zu erfassen und zu erlehen. Er be-
trachtet z.B. die Farben des Altars und der kultischen Gewänder. Während der heutige
Physiker etwa die Schwingungszahlen berechnen, der künstlerische Mensch sich an ihrer
Schönheit erfreuen würde, versucht der kultisch-religiös Erlebende, ihren sinnlich-sitt;
. lichen Wert, ihre göttlich-geistige Offenbarung zu verstehen und .sein eigenes Wesen
dadurch zu erweitern und umzuwandeln. Das Rot der Osterfarbe- bedeutet ibm nicht nur
einen ästhetischen Genuß (das wäre der künstlerische Aspekt, der sich mit dem religiösen
zwar berührt, aber nicht mit ihm zusammenfällt), sondern vermittelt ihm durch seine
sinnliche Qualität das Erlebnis höchster geistiger Aktivität, wie sie sich in der Auf-
erstehungstat Christi bezeugt hat, und erweckt in ihm zugleich eigene seelische Willens-
energien. Und so ist es ähnlich mit den anderen Qualitäten: Der Geruch des Weihrauchs
soll nicht ein angenehmes: Aroma verbreiten, er soll auch nicht irgend etwas „bedeuten“,
sondern ist. der naturhafte Repräsentant einer sich selbst verströmenden Hingabe, der
urbildlich und zugleich anregend die menschliche Opfergesinnung gleichsam verkörpert.
Entsprechend ist es bei den übrigen Eigenschaften wie Geschmack (des Brotes nnd Weines
bei der Kommunion), Tastgefühl (die leise Berührung an der Wange beim Friedensgruß)
u.a. Daß sich der religiöse Kultus nicht in solchen Wahrnehmungen erschöpft, sei nur
nebenbei bemerkt, um Mißverständnissen vorzubeugen; wir betrachten hier nur seine erd-
zugewandte Seite, seinen Formenleib, um daran den Unterschied zur physikalischen Welt-
betrachtung zu (charakterisieren. Eine unendlich. reichhaltige Welt eröffnet sich dem kulti-
schen Erleben: Der Geist-Hintergrund des Irdischen leuchtet in ‘vielfältig differenzierter
Weise auf. Davon hat die Mehrzahl der Zeitgenossen freilich kaum eine Abnung und mag
\

215
geneigt sein, dahinter nur verschwommene Gefühlsmomente zu sehen. Demgegenüber muß
gesagt werden, daß in der Christengemeinschaft nunmehr über fünfundzwanzigjährige
konkrete Erf ahrungen vorliegen. Gerade diese Erfahrungen lassen &s berechtigt er-
scheinen, den Kultus als eine wichtige Ergänzung der einseitig-mathematischen Weltauf-
fassung an die Seite zu stellen. Hier liegt eine Möglichkeit vor, auch der in eine gefähr-
liche Sackgasse geratenen Technik und’ihren dämonisierenden Folgeerscheinungen ein
‚wirksames Heilmittel gegenüberzustellen.
Der Kultus erteilt der toten Materie eine Würde, die ihr einst im Schöpfungssinne zu-
kam. Nüchterne Erdenstoffe fangen an, einen geistigen Offenbarungsglanz zu verbreiten,
und werden damit wieder zum Organ göttlichen Waltens. Der alte Traum vom paradiesi-
schen Urzustand der Erde ist ausgeträumt, seitdem der „Acker verflucht wurde“ um des
: Menschen willen. Die Erde ist nicht mehr der reine, ungetrübte-Spiegel des Göttlichen;
seit dem „Sündenfall“ ist ein verdunkelndes dämonisches Prinzip in alles Irdische ein-
gezogen. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: die eine ist. die, den toten Stoff dem „Fürsten.
dieser Welt“ zu überlassen. Dann würde er in immer stärkerem Maße zum Werkzeug
tyrannisierender Ungeistgewalten. Die andere Möglichkeit ist in Kultus und Sakrament
gegeben, wo das Sinnliche zum Träger guter göttlicher Kräfte erhoben wird. Diese Ent-
scheidung ist dem Menschen weitgehend in die Hand gegeben. Pointiert gesprochen: ein
Stück Erdenmaterie, das im Sinne des nur kaltrechnenden Verstandes aller seiner Quali-
täten beraubt und entsprechend behandelt wird, nimmt die Geistmächte der „Unter-Natur“
in sich auf, es wird zu einem Herd der Zerstörung und des Todes. Im äußersten Extrem:
die Atombombe. — Die Materie als „Leib Abrimans“,
Ein Stück Erdenmaterie, das mit den Augen des Geistes betrachtet und der Vielfalt
seiner Qualitäten und Offenbarungsmöglichkeiten nach im göttlichen Schöpfungssinne, d.h.
sakramental behandelt wird, wird zu einem Träger aufbauender, Leib-, Seelen- und Geist-
erbaltender Kräfte. Im höchsten, idealsten Falle: das Abendmahl. Brot und Wein als
„Leib und Blut Christi“. 3

Zorn und Liebe


Dersakramentale Charakter des Christentums
Eine apokalyptische Betrachtung”
EmilBock

- Den Schritt vom Alten zum Neuen Testament verschlossenen Vorhang gelebt. Je weiter wir im
. hat die Christenkeit keineswegs schon wirklich die Anfangsrunden der Geschichte zurücktauchen,
vollzogen. Das Christentum ist, recht verstanden, um so lebendiger umgibt uns die Welt eines alten
die Religion des offenen Himmels, d.b. die Reli- Schauens. Wir treffen auf eine Menschheit, die
gion einer Menschheit, vor der sich der Vor- den Sinn moch nicht so deutlich auf die irdische
hang, der die irdisch-sinnlihe Welt von der Wahrnehmungswelt gerichtet hielt, die dafür
Sphäre des Übersinnlichen abtrennt, aufgetan aber kindlich träumend noch in die Welt der
hat. Demgegenüber war die Gottesverehrung des Engelreiche und der anderen übersinnlichen
Alten Bundes die Religion des verschlossenen Wesenheiten in und über dem Erdendasein hinein-
Himmels. Der Vorhang vor dem Allerheiligsten schauen konnte. '
im Salomonischen Tempel war. das zentralste Einmal mußte die Menschheit, um in der Ent-
Symbol der alttestamentlichen Frömmigkeit. Als wicklung des ‘individuellen Freiheitserlebnisses
unantastbare Scheidewand verwies er dem Men- mündig zu werden, den Bereich der schauenden
schen jedes Streben nach einem wahrnehmenden Gottesnähe verlassen. Zugunsten der irdischen
Erleben des Übersinnlichen; er schärfte ihm ein, Wahrnehmungsdeutlichkeit und Wachsamkeit
daß das Göttliche in einer Welt wohnt, der er mußte das ahnende Schauen der Geisteswelt er-
sich nicht anmaßen dürfe erkennend näherzu- löschen: Zugunsten der äußeren Tüchtigkeiten
treten, mußte der Mensch sich immer, ausschließlicher
.
Nicht immer hatte die Menschheit vor dem. auf das Irdische konzentrieren und schließlich so

216
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leben, als ob es gar keinen Himmel gäbe. Diese angesichts, der gegenwärtigen Weltverhältnisse
Entwicklung einzuleiten, war eine der Aufgaben paradox vorkommen, wenn gesagt wird: heute
der alttestamentlichen Strömung, die durch das leben ‘wir ‚unter einem offenen Himmel. Eher
' Zeichen des Vorhanges das Erlebnis des. Abstan- könnte er- verstehen, ‚daß wir vor und in einer
des’von Gott und schließlich auch das der schauer- aufgetanen Hölle leben. Beides trifft zu. Der
vollen Gottferne begründete. Abgrund der Unterwelt hat den Deckel gesprengt,
In der Golgatha-Stunde. verliert das Prinzip der ihn verschlossen hielt. Aber auch der Vorbang
. des Stehens vor dem verschlossenen . Vorhang vor dem Allerheiligsten ist weggezogen. Es gibt
seine Gültigkeit und Kraft. Das Zerreißen des nur noch die Wahl, nur die Gewalten, die dem
Vorhängs im Tempel war wie. ein göttliches Abgrunde entsteigen, wirken zu lassen, oder
“ Symbolisieren. Die Zeit ist abgelaufen, in welcher durch den michaelischen Seelen-Mut, der das
der Mensch aus’ dem Bereich der ‚erkenntnisge- Christentum endgültig dem Banne des Alten
tragenen Gottesnähe herausverwiesen war. Von Bundes entreißt, auch die helfende Macht
jetzt an kann er, der einmal aus der Welt der sonnmenhaften Geistigkeit zu ergreifen, die
des alten Schauens in die schauenslosen ‚Zeiten das Wesen der neuen Christus-Nähe ist, und
hatte eintreten müssen, die Anfänge eines neuen sich zu den ihr angemessenen Steigerungen des
Schauens Änden. Die unermeßliche. Güte der Bewußtseins und des Seins aufzuschwingen.
Vorsehung lag darin, daß der Himmel der Mensch- a
heit vor dem Vorhang im entscheidungsvollsten
‘Augenblicke ihrer Entwicklung entgegenkam. Die Offenbarung des. Johannes ist das Lese-
Daß ein höchstes Gotteswesen sich mit irdischer buch des zu sich selbst kommenden Christentums:
Sichtbarkeit bekleidete und das volle Erden- Es lehrt, in der Welt, die hinter dem offenen’
Menschen-Schicksal auf sich nahm, war die größte Vorhang ist, zu lesen. Wie tasten wir uns an diese
- Offenbarung der Gottesliebe, die Anpassung der Welt heran? Plato, einer der letzten, die mit
Gottheit an die, Menschheit, die das Schauen in den Augen der alten Weisheit schauen konnten,
- die "Geistessphäre- verloren hatte. Von nun an sprach von der Welt der realen Ideen, der Ur-
aber mußte und konnte sich durch den Anschluß bilder aller irdischen Kreatur, von. denen es im
der Seele: an das Sterben und Auferstehen Sinnenbereich nur verzerrte Abbilder gibt. Die
Christi der’ Funke ‘und das Feuer des neuen Gedanken, die im Haupte des Menschen auf-
Schauens "entzünden. Das erste Christus-Ereignis, leuchten, sind nach Plato nur verblaßte Erinne-
das sich auf dem°Plan der physischen Sichtbar- rungen an die realen Ideen im Reich der Ur-
keit zugetragen hat, sät in die Herzen, die sich. bilder, in welchem die Seele vor der Geburt ge‘
dafür auftun,-den Samen der Kraft; durch "weiche weilt hat. Das menschliche Denken begibt sich
die Menschheit des zweiten Christus-Ereignisses, durch Selbststeigerung und Erkraftung auf den
des fortschreitenden Wiederkunfts-Mystefums, Weg des Schauens, wenn es sich von der bloßen
teilhaftig wird. Erste große Lichter der neuen Betrachtung der Abbilder zum wahrnehmenden
Offenbarung, der Christuszukunft, die ein neues Vertrautwerden’mit den Urbildern aufschwingt.
Bewußtsein voraussetzt und erzeugt, leuchten Lernen wir, in dem aufgeschlagenen Buch der'
bereits im urchristlichen Zeitalter auf. Damas- geistigen Welt, in den reinen Urphänomenen zu
kus und Patmos sind die Licht-Augenblicke, in lesen, so gewinnen wir die wunderbarsten An-
‚denen das Prinzip des zerrissenen Vorhangs auf leitungen für die Gestaltung des Lebens auf der
die Menschheit zukommt. Erde. Was ist schließlich der Sinn unseres Erden-
‚Zunächst ist in den 2000 Jahren christlicher Ent- seins, wenn nicht der: den himmlischen Ordnungen
wicklung das Prinzip des verschlossenen Vor- auf Erden reine Spiegelungen zu verschaffen!
hangs nur immer mächtiger geworden. Immer Auf der Erde herrscht Unordnung und Chaos,
restloser hat die Menschheit die Organe für das “weil der Anschluß an die geistige Welt, die unsere
Übersinnliche verloren und ist in die äußersten Sinneswelt überall durchdringt, verloren worden
Extreme des Materialismus gestürzt. Wann wird ist. In der Welt des-Geistes sihd die Urbilder. Sie
die Kraft des Christentums als der Religion des folgen dem ‘Prinzip des-heiligen Handelns. Wir,
offenen Vorbangs in die durch den Materialismus auf Erden handeln ungeistig und unheilig. Aus
chaotisierten Weltverhältnisse eingreifen? Bis unserem Tun und Treiben ist die Ordnung der
1910 oder 1914 war es noch nicht so verhängnis- geistigen Figuren, Symmetrien und Harmonien
voll, im Alten Testament stecken zu bleiben gewichen. Wie finden wir das Prinzip der „heili-
und immer noch weiter von der unüberbrückbaren gen Handlung“ wieder? —
Kluft zwischen Gott und dem Menschen zu spre- In der Apokalypse versteht man nicht das
chen. Dann aber trat der Ozean über die Ufer. Ganze aus’ dem Einzelnen, sondern das Ein-
Von der anderen Seite her drangen durch den zelne aus dem Ganzen. Das Ganze aber bietet sich
zerrissenen Vorhang die hochschlagenden Wogen uns in der Dynamik und in dem Gesetzen des
des Übersinnlichen herein, Manch einem mag es durch Spannung und Entspannung fortschreiten-

217
den Entwicklungsganges dar. Nur durch .beweg- eine wichtige Verwandlung geschieht: das Lamm
liche Begriffe, durch ein malerisch-musikalisch- "tritt auf den Plan, da wo im Viergetier der Löwe
plastisches Mitgehen sehen wir. die großen Figu- steht: „Löwen sollen Lämmer werden!“ Höchste
ren und Werdekreise auseinander hervorgehen. Kraft dämpft sich zur Opferfähigkeit und Liebe.
Den Anfang bildet die übermächtige Christus- Nun kann sich die kosmische Stockung lösen,
'. Begegnung des Apokalyptikers, die wir seine Da- ein Siegel nach dem anderen wird aufgetan, und
maskus-Stunde nennen können! Dies Zerreißen aus dem zusammenfassenden ersten Grund-Bilde,
‘ des Vorhangs löst eine große in Kreisen. aufstei- dem.Buche, entspringen die sieben Bilder
gende Höheubewegung aus. In der Seele des der ersten Adler-Runde. Die kimmlische "Lehre,
Sehers von Patmos erwacht der johanneische ‘der Inhalt des Welten-Buches, entfaltet sich. Die
Adler, der nun in wachsenden Kreisen empor- vier apokalyptischen . Reiter, das weiße, rote,
steigt. \ ‘schwarze und fahle Pferd, machen das Schicksal
Die erste Runde bleibt noch nahe bei der Ende. der Weltintelligenz‘ sichtbar, nachdem sich die
Sie spiegelt sich in den sieben $endschreiben. Götter entschlossen haben, .dem Menschen einen
Sieben vielleicht unscheinbare urchristliche Ge- tätigen Anteil daran einzuräumen. Zuerst sind
meinden in Kleinasien erscheinen wie eine im die Gedanken nöch geistesnah und licht: das weiße,
Kreise angeordnete Quintessenz der Menschheit, Pferd; dann werden sie von der Macht des Blu-
wie.eine zyklische Zusammenfassung der Phasen tes und der Leidenschaft ergriffen; der Krieg
der Geschichte. In sieben Stationen wird die kommt auf in der Menschheit: das rote Pferd;
‚Frucht der großen vorchristlichen Kulturepochen dann wird berechnende Krämerklugheit daraus;
sowie eine keimhafte Vorwegnahme der zukünfti- auf den Märkten der Welt werden die Gedanken
gen Werdekreise sichtbar. der Menschen ganz irdisch und verdunkelt: das
Auf die noch erden-nahe vorbereitende Runde schwarze Pferd; schließlich wird durch .die Ge-
folgen in anächtiger, weltumspannender Spirale danken der Menschen die Erde mit Gespenstern
die drei Siebenerkreise der übersinnlichen Wahr- bevölkert, Todesmächte und Dämonien lähmen
nehmung:: Die 7 Siegel, die 7 Posaunenklänge, Leben und Begeisterung ab: das fahle (giftig- '
‘das Ausgießen der 7 Zornesschalen. Die Siegel chlorfarbene) Pferd. .
blühen auf zu geisfigen Bildern, die sich einem Im fünften Siegel des himmlischen Buches
inneren Sehvermögen zeigen. Die Posaunen- taucht, die nächste große Runde vorankündigend,
klänge sind eine höhere Wortsprache, die das zweite Grund-Urbild auf: der Altar. Die
ein inneres Hören. voraussetzt. In der letzten, Welt der Toten, die- um des Geistes willen ge-
heiligsten: Runde folgt auf Bild und Wort das litten ‚haben und dem Ungeist zum Opfer ge-,
Wesenhafte. Reale Wesensberührung mit fallen sind, ist um den Altar versammelt. Die
überirdischen Kräften und Wesenheiten erschließt Ausstrahlungen des Opfers lassen, während ‘die
sich inneren Organen, die eine geistige Oktave Erdenmenschen der Verfinsterung anheimfallen,
des Tastsinns und Spürvermögens sind. diese Toten in hellem Licht erstrahlen: mit weißen
‚Jede der drei oberen Siebenheiten quillt aus Gewändern erscheinen sie angetan. Schließlich ist
einem Grund-Motiv, aus einem apokalyptischen der Inhalt des siebenten Siegels ganz und gar
Schlüssel-Urbilde hervor, die Siegel aus dem die Welt des Altärs. Und zugleich sehen wir die
-Buch, die Posaunen aus dem Altare und nächste steigende Runde, den Kreis der Posau-
die Zornesschalen aus dem Tempel im Him- nenklänge, des machtvollen Geistwortes, aus dem
mel. Altarbereich hervorgehen. „Da das Lamm das
Menschlicher . Erfindergeist hat auf der Erde 7. Siegel aüftat, entstand im Himmel eine große
gelernt, Papier herzustellen, darauf zu schreiben Stille, eine halbe Weltenzeit lang. Und ich sah
‚und zu drucken und Bücher daraus zy machen. die 7 Engel, die vor Gott stehen, und ihnen
Es gibt aber vor und über all diesem auch im wurden die 7 Posaunen gegeben. Und ein ande-
Himmel, im Reich der Urbilder und Ideen, ein rer Engel trat heran an den Altar und.hatte ein
Buch. Nur ist dieses verschlossen und gibt seine goldenes Rauchfaß. Und ihm wurde viel Räu-
Geheimnisse ausschließlich demjenigen kund, der cherwerk gegeben, daß er es spendete auf dem
seine Siegel zu,öffuen vermag. Das führt im Wel- goldenen Altar vor dem Thron. Und der Rauch
-tenwerden zu einem Augenblick kosmisch-dra- des Räucherwerkes stieg empor vor dem Gebete
matischer Hochspannung. Als das Urbild des Bu- der Heiligen... Und die 7 Engel mit den 7 Po-
ches vor dem Throne, dem Kräfte-Mittelpunkt saunen hatten sich gerüstet und fingen an zu po-
des Seins, inmitten des Viergetiers und aller saunen.“ (Rap: 8.) -
Kreise von hierarchischen Führermächten erscheint, Wie hinter der Runde der Bilder das Buch,
ist keiner da, der es .aufzuschlagen vermag. so steht binter der Runde der Klänge der Altar.
(Apok. 5.) Der fragende Ruf des großen Engels Der Ausblick auf einen im Himmel vollzogenen
verhallt ohne Antwort. Die Entwicklung der Wel- Kultüs tut sich auf. Engelwesenheiten zelebrieren
tenschöpfung droht ins Stocken zu geraten. Bis ihn; sie lassen den Weihrauch emporsteigen.

218
-

Wir kommen an Motive heran, die es uns sich zur Religion der Entküllung (= Apokalypse),
verständlich machen, daß die Apokalypse im Zeit- des offenen Aug-in-Auge-Stehens mit den Gei-
alter des Protestantismus auf keine ungetrübte steswelten, aufgeschwungen haben. Der Bann des
Hochschätzung rechnen konnte. Der konsequente Alten Testamentes muß endgültig gebrochen sein.
unkultische Protestant könnte ja fragen, ob denn Nach der 7. Posaune wird es um uns feierlich
mit einem Male die Bewohner des Himmels katho- still. Die Posaunenklänge, die so viel Erschütte-
lisch geworden oder ob sie es noch immer seien und rung und Umsturz im Gefolge hatten, verebben;
dann wohl den Anschluß an den Fortschritt des der vorher übertönte stillere Ton der Harfen
Werdens verpaßt haben. Weil er den Weihrauch erklingt, zuerst von den Wesen höherer Daseins-
nur vom Katholizismus her kennt, meint er so-' stufen, dann von den Menschen selber ange-
gleich, es rieche katholisch, wenn. er irgendwohin stimmt (14, 2 und 15, 2—3). Die Musik der leisen
kommt, wo Weihrauch angezündet worden ist. Untertöne, die aus der rubevoll harmonisierten
In der Zukunft wird kein Zweifel mehr darüber Seeleriwelt erklingt, wenn Seelen fromm und
möglich sein, daß der Altar die selbstverständliche, andächtig werden und die Sprache des Schwei-
den himmlischen Urbildern entsprechende Pflege- gens wieder verstehen, löst” den lauten Schall
stätte des gottesdienstlichken Lebens und daß der Posaunmen ab. Wir fühlen uns vorbereitet,
der Kultus als die „heilige Handlung“ das in den der sakramentalen Welt des aufgetanen Tempel-
geistigen Welten selbst abzulesende Mittel ist, Inneren zu- nahen: „Danach sah: ich, und siehe,
das heilige, urbildlichke Handeln der himmlischen aufgetan war der Tempel der: Hütte fles Zeug-
Diener Gottes zur Heiligung des irdischen Tuns nisses im Himmel (15, 5).‘“ Sieben erhabene Engel
“in. das Leben der Erdenmenschen.. hereinzuspie- schreiten in höchster Feierlichkeit aus dem
geln. Die Ära des unkultischen Protestantismus Tempel hervor, „angetan mit reiner weißer Lein-
hatte den Sinn, das Vorhangs-Prinzip als die wand, umgürtet. um die Brust mit goldenen
Mission des Alten Bundes noch einmal gründ- Gürteln“. Sieben goldene Schalen werden den
lich und damit endgültig sicherzustellen und der Engeln gereicht. „Und der Tempel erfüllte sich
Menschheit einzuverleiben. Durch ein religiöses mit Rauch von der Gloria Gottes und von seiner
Leben vor dem verschlossenen Vorbang, unter Kraft.“ Niemand konnte daran denken, in den
dem Prinzip des ÄAbstandes von Gott, sollte auch Tempel einzutreten. Zuvor mußten die Engel ihre
auf dem Felde der Religion die Freiheit der sieben goldenen Schalen ausgießen.
"Persönlichkeit gesichert und besiegelt werden. Im Anblick der sieben feierlich schrsitenden,
Das geschah unter zeitweiligem Verzicht auf die goldene Tempelgefäße hervortragenden. Engel
‘ kultische Sphäre. Von den drei apokalyptischen können wir nichts anderes erwarten, als daß
. Grundmotiven, Buch, Altar, Tempel, ergriff man Segen über Segen die Menschheit überfluten muß,
nur das erste. Die Sprache des Zeitenschicksals ‘wenn sich der Inhalt der sieben: Schalen ergießt.:
‚verlangt heute nachdrücklich die Vervollstän- Was anders kann so aus dem Alletheiligsten. zu
digung des religiösen Bereiches. Die Freiheit des den Menschen gebracht werden als die sich ver-
Christenmenschen muß heute so konsolidiert schenkende, verströmende Liebe Gottes? '
sein, daß durch den Reichtum der Welt, „die Aber was geschieht? Als eine der 7 Schalen
hinter dem Vorhang ist, keine Überwältigung des mach der. anderen ausgegossen wird, brechen nun
menschlichen Bewußtseins mehr einzutreten erst die unerhörtesten Katastrophen, die eigent-
braucht. . “lichsten Prüfungen über die Menschheit herein.
Die Posaunenklänge umwettern den himm- So kommt es, daß man die sieben Schalen, die
lischen Altar. In der 6. Posaune taucht das dritte aus dem Tempel im Himmel hervorgetragen
Ur-Motiv auf, die dritte höhere ‚Runde vorbe- werden, die sieben Zornesschalen genannt hat.
“ reitend: einem Engel wird die goldene Meßlatte Da, wo. wir in der letzten großen Runde nach
gegeben, mit der er den Temp el "ausmessen Bild und Wort an das Wesenhafte, an, das Ele-
soll. In der 7. Posaune bildet der aufgetane ment der sich ergießenden göttlichen Wesens-
Tempel im Himmel bereits den Hintergrund der substanz herankommen, stehen wir. vor dem
Kampfszene zwischen dem Erzengel Michael und allertiefsten erschütterndsten Daseinsrätsel.
dem Drachen. Der „Tempel“ ist das himmlische
*
Urbild auch des Allerheiligsten im Salomonischen
Tempel, das durch den Vorhang verschlossen ‘Den wichtigsten Schlüssel für deh dynamischen‘
war, während dem Altar im Himmel in Jerusalem Schritt, die dramatische Architektur der Johan-
der Räucheraltar im mittleren Teil des Tempels nes-Apokalypse bietet uns die Schilderung, "die
entsprach. Wir sehen also, daß die Johannes- Rudolf Steiner von den drei Stufen der übersinn-
Apokalypse auf’ dem Höhepunkt der Posaunen- lichen Erkenntnis, Imagination, Inspiration, In-
Entwicklung selber Bei dem Urbild des geöff- tuition gibt. Wächst der Mensch über die bloße
meten Vorhangs angelangt ist. Tritt das Chri- irdische Sinneswahrnehmung und Verstandes-
stentum in das Zeichen -Michaels ein, so muß es erkenntnis hinaus, so eröffnet sich ihm zuerst ein

219
x
.
So
eigenes Wesen aus.
in Bil der n: de feie rlichen Motiven ihr alle rers ten An-
Erkennen Hymnus am
geistiges Sehen, ein im bereits im Erzengel-
ion. Das Schauen wird im Himmel:
|
Stufe der Imagimat rsi nnl ich en Hören, fang des Pro log s
dem übe alter Weise
Weiterschreiten von - Die Sonne tönt nach
xleben der Insp ira
dem Ton- und Wort-E ion “ be- In Bru der spb äre n Wet tgesang Br
Wort „Inspirat
tion, abgelöst. Das . des zweiten Teiles
in den
hier eine n exa kte n, speziellen. geistigen Und wieder zu Beginn urg eister:
zeichnet hda cht e, Geb iet ers der Nat
nicht jener undurc Worten Ariels, des
Tatbestand, es bleibt
begriff älterer dog- Sturm ‘der Horen!
untersche idu ngs los e Sam mel
den über- Horchet, horcht dem .
uun gen , die dam it d für Gei ste sohren
matischer Anscha en Büc her Tönend wir
der bibl isch geb ore n.
natürlichen Ursprung die Schon der neue Tag
‚Die dritte Stufe ist Felsentore knarren
rasselnd,
kennzeichnen wollten. aft en Ber ühr ung en prasselnd, Be
der wes enh Phoebus’ Räd er roll
der Intuition, in ein em ziem lich das Licht! "
und Durchdringung. Oft
wird Welch Getöse bringt‘
Sinn e von ein em intuitiven Ele- mme tet , es’ pos aun et.!.
oberflächlichen ist Es dro
geistig-exakten Sinne die sich ‚sonst bin-
ment gesprochen. Im rve rmö gen höh e- Die Sph äre des Weltentones,
Spü hervor und stei-
x

Tas tsi nn und


Intuition ein hat für das, was ter dem Licht verbirgt,
bric ht
Org an zum apo-
rer Art. Wenn man
ein aufgang ihr Wort
seel isch e Atm osp här e umströmt oder gert- beim Sonnen .
einen als Sub- kalyptischen Posaunenschall.
en, als Wesenbaftes, ießlich auch das in-
was von einem Mensch das eine irdi sche Am Schluß kommt schl matische Wesenhaf-
trah lt, so ist dra
stantiel les auss ment, das als
auf dem geistigen Wege tuitive Ele hsendem Maße: durch-
Abschattuug dessen, was - tigkeit die Dic htu ng in wac
.die Stuf e der Intu itio n ergibt. Sel bst bez eichnung- Es spricht
el am Buc he, die Posaunenklänge am pulst, zur reifen iedenen Seelen-To
n-
Die Sieg aus dem Tem- sich in zwei polarisch ver
sch
die
ene n Sch ale n ver mag es,
Altar, die ausgegoss Pater Seraphicus
n, sie sind .die “apokalyptischen Aus- arten aus: der re der sub sta ntiellen
-pelinner on, erhaben-selige -Ruhesphä
Stufen der Imaginati in welcher die Liebe
Speise
drucksmittel für die ond ere wol len Gegenwart Gottes,
ati on und Intu itio n. Ins bes
ist, ver spü ren zu lassen:
Inspir pel und Trank der ‚Geister
aus dem offenen Tem
wir festhalten: wenn ale n her vor getra- Steigt hinan zu höherm
Kreise,
den en Sch
im Himmel die 7 gol wes enh aft e Geg en- hse t. imm er unvermerkt,
die Wac
gen werden, berührt uns’ um 50 Wie nach ewig reiner
Weise '
werden uns ihrer
wart Gottes, und ‘wir an art vers tärk t.
ickelter in uns das Org Gottes Gegenw
voller bewußt, je entw \ Den n das ist der Gei ster Nahrung,
realer Intuition ist. waltet: zu
htu ng ist auf ihren Gipfeln durc
h-- Die im freisten Äther \
Wah re Dic enb aru ng,
dnung des Geist-Erlebe
ns Ewigen Liebens Off
aus mit dies@r Rangor Fau st“ die drei zur Seligkeit entfaltet.
in „Go eth es - Die
vertraut. So tauchen auf, us läßt die Sphäre
der In-
. poetischer Prägung Der Pater -Bestatic
Stufen in so Ielassischer k auc sch äum end e men sch liche
ion durch das auf
chtigt ist, dieses Wer
‚daß es "nicht unbere ng tuft Wie der Licht-
als mit- der Offenbaru ch erscheine n.
als eine Apokalypse, Temperament hindur Ele men te farbig
Der Hau c em fre mde n
verwandt, zu bezeic
hne n. sich in ein
Johannis en- strahl. sich durch das Men
schliche
imas inativen Erk ht, so ‚offenbart
und Ges'hmack des vom Tür mer lie d bric
aft igk eit der kosmischen
Dichtu ng die Wes enh
nens durchweht die ze
hindurch
als reife, wohltuende
Wärme,
des Lynkeus: Liebe nicht einfach des , läu tern-
n, h als verzehren
- Zum Sehen gebore sondern. apokälyptisc .
\
, |
Zum Schauen bestellt des Feuer:
n,
Dem Turme geschwore f Ewiger Wonnebrand,
Gefällt mir die Welt... -Glühendes Liebesban
d,
.
Schmerz der Brust,
Satz. im Chorus mysticus: Siedender
bis bin zu dem t.
Schäumende Gotteslus
Alles Vergängliche le, dur chd rin get mich,
Pfei
’ Ist nur ein Gleichnis. Lanzen, bez win get mic h,
und Weisheit bewirkte sch met ter t mich,
Die durch Begeisterung Keu len , zer
ege lt das um uns berum aus- Blitze, durchwettert
mich:
Seslen-Erhöhung’entsi e,
ur; alles wird zum Bild Daß ja das Nichtige
gebreitete. Buch der Nat ild er aufleuchten.
ern die Urb - Alles verflüchtige,
weil in den Abbild g
unkten der Faustdichtun . Glänze ‚der Dauerster
n,
-An wichtigsten Quellp der wan d des zum
ist es, als ob Blitze
die Bil
und die
Ewiger Liebe Kern.
Sehens zerrissen,
Schauen weydenden großen
*

Inspiration spricht - in
Sphäre der

220
Menschen teilnehmen, weht nur
n Er- an denen .die
Es gibt Spiegelungen der drei höhere die
selt.en Klangwelt der Inspiration
in allen Lebensgebieten, 50 noch ganz
keantnis-Ebenen
An- nit. Das ist vielleicht weniger auf das Schuld-
den großen Sehnsü chten, die, den
auch in der Zu-
ankündigend, konto der Miusizierenden als vielmehr
euch eines neuen Bewußtseins n rapid
der Menschheit ziehen, bier hörenden zu setzen. Die Menschen werde
die Seelen verlern-
unmusikalisch. Trotz des Musikhungers
darch
ußt in
und da bewußt, zumeist aber tief unbew den Einwi rkung en der heutig en
ten sie unter
&aotischer Verwirrung. Poren
hef- Zivilisationsverhältnisse das Zuhören. Die
So macht sich seit einigen Jahrzehnten ein hinter
nach Anschaulichkeit und Bild- der Seele für die eigentliche Klangwelt
tiger Hunger Auch hier
Die Mensc hen haben, obne der Musik schließen sich immer. mehr.
seh-
ist der sich dunkel nach neuem Geist-Erleben
baftig keit bemer kbar.
ver-
es deutlich zu bemerken, das Bücherlesen: oben
und das nenden Menschheit ein Bastard üntergesch
lernt. Wie über Nacht ist die Fähigkeit Zwecke
ktuell- worden. So nützlich das Radio für viele
Bedürfnis zur Aufnahme abätrakt intelle hat es
Literatur, wie auch die Kraft des des modernen Lebens sein’ mag, so schr
formulierter und
Die Lust doch auch zum Verdorren der Musikalität
kopfmäßigen Gedächtnisses erloschen. Fähigk eit des Hörens in den Seelen beige-.
vielfa ch.dur ch die den Büchern der
am Lesen muß
lten wer- "tragen.
beigegebenen Dlustrationen aufrechterha vielgestaltigste und, , unwiderstehlichste
kam die Unzahl Die
den. Mit dem Bildhunger’ sich in unser em Zeitalter geltend
pun- Sehnsucht, die
von ilustrierten: Blättern auf, von denen ein chaoti sches Angez ogenwerden von
ist. Man macht, ist
mehr die Menschheit überschwemmt Intu itio n. Es ist nicht nötig,
an, die der Ebene der
gfwöhnt sich groteske Redewendungen auf alle die Formen hinzuweisen, die
st be- ausfüh rlich
nichts anderes 'als das Erlöschen der Leselu die Sehnsucht, aus inne-
fragt: der Liebeshunger,
"Jeuchten, indem z.B. einer den andern Einsam keiten erlöst zu werden, das Verlan-
ierte Zeitun g schon ren
Hast Du diese.oder jene illustr ung usw. annimmt.’
meint aber gen nach -menschlicher Berühr
gelesen? Man ‚sagt noch „lesen“, man r Ozean von menschlichen Sehn-
der Bilder, Ein unerme ßliche
- dur das durchblätternde Anschauen n und Wünsc hen ist durch die Verände-_
ndes ver- süchte
“ das ohne jede Anstrengung des Versta heit her”
hinein rungen, die das Schicksal in der Mensch
läuft: Bis in die akademischen Kreise ufen bat, aufgew ühlt. Irrungen und Wir-
lichen Stil vorger
_ hört das Bücherlesen im alten eigent Denn
rn in den Bü- rungen sonder Zahl sind das Ergebnis.
auf und wird von einer Art Blätte durch die Erfüllungen, die der
daß das Lesen nicht zuletzt
&hern abgelöst. Es 'sei- denn, durchweg nur
ist im Liebeshunger findet, die aber fast
schon wieder ‘ganz neu erlernt worden ungen sein können , wird das Chaos des
rn. Scheinerfüll
Zusammenhang mit den neu im Menscheninne dens vollstä ndig gemacht. Die aufgewirbel-
sich zunäch st Empfin
auftauchenden Seelenkräften, die dieses Ozeans wer-
nger des ten, aufschäumenden Wogen
‚nur verworren ankündigen. Der Bildhu , wenn die Menschheit
nung des den sich erst dann glätten
Zeitalters, verbunden mit der Ableh daß eben gerade diese Art von Sehn-
deutliches bemerk t,
.. Abstrakt-Verstandesmäligen, ist ein hinausführen
durch die slichten über das irdische Gebiet
Symptom dafür, daß die Mönschheit Hier wird die neue umfass ende Mission,
i- wollen.
Zeitschicksale an die Sphäre des imaginat Zeitlage
st die das religiöse Leben in veränderter
von Ekkennens herangedrängt wird. Zunäch r. Der Bildhu nger wird gestillt, wenn
en. Dazu hat, sichtba
_ aber wird diese Sphäre zicht ergriff it -
Feigheit aus xieuer, der Imagination mächtiger Weishe
würde auch eine erkraftete, die innere Tonhun ger verlan gt nach einem
sein. gelehrt wird..Der
überwindende Seelenaktivität erforderlich künstlexi-
hat sich die Mensch heit durch das von realer Inspiration durchwehten
Statt dessen Liebes hunger zielt letzten Endes
n lassen. schen Leben. Der
Kinowesen eine Art Bastard unterschiebe von Intuiti on durchp ulste Sphäre eines
ist ein- auf die
Eine Scheinbefriedigung des Bildhungers - \
des wah- erneuerten religiösen Lebens.
getreten, die aber zugleich ‘die Keime
in der Seele gefährdet, wenn nicht *
ren Bildsinnes
-
‘“ gar abtötet. Versuchen wir jetzt, uns dem abgrundtiefen |
n-
Man kann gleicherweise von einem. wachse das uns die Apokalypse da
in den Menschen der Rätsel zu. nahen,
den Musikhunger on
en. Viele Menschen sind ge- aufgibt, wo sie uns in die Sphäre der Intuiti
Gegenwart sprech sie die 7 erhabe nen Engel -
auf Musik. Darin ist noch eintreten läßt, indem
. „.radezu heißhungrig des
Verlangen zeigt, die aus dem offenen‘ Tempelinnern
etwas anderes wirksam als ein bloßes tragen.
Welt Himmels die 7 goldenen Schalen hervor
mach Zerstreuung. Aus der heranbrandenden es sein, daß sich die himmlischen Tem- -
auch die Ebene der In- Wie kann
des-Übersinn lichen übt auf "die,
auf die pelgefäße in dem Augenblik, dä sie
" spiration eine magnetische Wirkung
und Erde ausgegossen werden, als Schalen des gött-
Seelen aus. Die geistige Sphäre der Posaunen \
dunkel gesuch t. In den Konzer ten, lichen Zorns offenbaren?
"Harfen wird
/
\ 221
Es tut not, daß wir uns von Grund auf neue denen Schalen begegnen, daß von der Gottheit
Begriffe und Vorstellungen bilden über den Um- etwas überaus Intensives, Teimperamentvolles
gang des Menschen mit den Wesen einer höhe- ausgeht. Zumächst ist das, nicht „Zorn“. Es ge-
‚ren Welt. Wenn die Schriften des Neuen Testa- hört zu den tiefsten christlichen Wahrheiten, was
mentes eine übersinnliche Begegnung schildern, im 1. Johannesbrief steht: daß Gott Liebe ist.
dann lautet das Wort, das die Wesen der Geist- In den Begriffen ‚des Alten -Testamentes -bleibt
welt zuerst zum Menschen sprechen, immer: befangen, wer sich einen zornig strafenden Gott
Fürchte dich nicht! Gabriel spricht es zu Maria, vorstellt. Aber die Liebe Gottes hat nichts von
als er ihr in Nazareth erscheint. Die Engel spre- der sentimentalen Weichlichkeit, die damit in
chen es zu. den Hirten in der Nacht von Beth- christlichen Kreisen vielfach verbunden wird.
lehem, Christus ruft es den Jüngern zu, als er Im Sinne des apokalyptischen Wortes Thymos
ihnen des Nachts auf dem Meer wandelnd er- könnten wir sagen: die Liebe ist die Leidenschaft-
scheint. Auch der Auferstandene muß dies zuerst
Gottes. Wenn beim Ausgießen der 7 goldenen
sprechen, als er in den, Kreis. der Jünger tritt.
Schalen die unerhörtesten Strafgerichte über die
Und die Gestalt des Menschensohnes, vor der Menschheit hereinbrechen, so heißt das nicht,
auf Patmos der Seher Johannes tot zu Boden daß sich num bei der Gottheit Liebe in Zorn ver-
stürzt, .begleitet die Gebärde, mit der er Johannes wandelt habe. Die ausgegossene siebenfältige-
wieder aufrichtet, auch .mit diesen Worten. Was
Liebe Gottes ist ein brennendes Feuer. Sie kommt
spricht sich darin aus? Die geistigen Wesenheiten auf der. Erde entweder so an, wie sie gemeint
treten ja nicht äußerlich an den Menschen, der ist. Das setzt aber Menschen voraus, die dem,
ihnen begegnen darf, heran. Im Seeleninnern was der Himmel] schenkt, den angemessenen Emp-
allein können solche Begegnungen erlebt wer: fang zu bereiten vermögen, Oder aber sie kommt
den. Naht sich einem Menschen ein Wesen ans auf der Erde an, indem sie sich in ihr Gegenteil
den Geisteswelten, so wird er dessen wohl in verkehrt. Sie wird zum Zorn, obwohl es im
den meisten Fällen gar nicht gewahr. Spürt er Wesen Gottes den Zorn nicht gibt. Das tritt dann
aber etwas ‚davon, so muß däs zunächst eine ein, wenn die Menschheit auf der Erde in ihrem
Prüfung für ihn bedeuten, weil er gar nicht Wesen dem Wesen der Gottheit nicht gemäß
ne weiteres die Kraft hat, der wesenhaften ist und auch nicht in der Erkenntnis dieser Un-
Wirklichkeit des Geistes ins Äuge zu hlicken. gemäßheit darauf bedacht ist, der sich schen-
Jede Berührung mit der übersiunlichen Welt be- kenden Gottesliebe trotzdem den richtigen Emp-
‚deutet . zunächst, daß der Mensch von Furcht fang zu bereiten. Das alte Wort, wen Gott lieb
und Schrecken durchrieselt wird. Diese Prüfung
hat, den züchtigt er, enthält eine tiefe Weis-
muß zuerst bestanden werden. Exst durch das
heit. Man darf es aber nicht so‘ verstehen, als
Regemachen des inneren Mutes, der zugleich die
ob Gott ein patriarchalischer Hausvater wäre,
Kraft des Glaubens ist, kann die Begegnung be-
der, wenn seine Liebe angesichts der Unarten
ginnen. Diese Kraft wird durch die Worte
seiner Kinder in Zorn umschlägt, die Kinder züch-
„Pürchte dich nicht“ angesprochen. Was geschieht tigt. Die Liebe, die von der Gottheit ausgeht,
nun aber, wenn die übersinnliche Welt an den
kann bei den Menschen auch als Züchtigung
Menschen herankommt, ohne daß er es bemerkt?
ankommen. Das Feuer der göttlichen Liebe ver-
Es ist insbesondere für unsere Zeit, in welcher brennt alles, was ihr nicht wesensgemäß ist. Nur
das Verhältnis der übersinnlichen zur irdischen
was selber im gleichen Sinne Feuer ist, was
Welt ein völlig verändertes ist, von der größ-
also selbst auch die Substanz der selbstlosen Liebe
ten Wichtigkeit, zu erkennen, daß es unmöglich
in sich trägt, wird durch die sich ergießende
ist, den Wirkungen der herannahenden Geistes- Gottesliebe gestärkt und gesteigert. Alles Un-
welt zu entgehen oder auszuweichen. Das ist echte‘ wird dadurch vernichtet.
ebenso unmöglich, als trocken zu bleiben, wenn
man durch den Regen geht. Wenn wir das ver- Daß ja das Nichtige
"stehen, so fangen wir an, das Geheimnis Alles verflüchtige,
der so-
genannten Zornesschalen zu begreifen. Glänze der. Dauerstern,
Der neutestamentliche Text sagt an dieser Ewiger Liebe Kern.
Stelle zunächst nicht „Zorn“. Er bedient sich des Das Geheimnis, das wir hier berühren, bietet
Wortes Thymos, das eine. heftige Seelenerregung uns den wichtigsten Schlüssel für die Gegenwarts-
bedeutet. Wenn wir von einem Menschen sagen, schicksale, in denen wir stehen. Man kann mei-
er sei eine heftige Natur, so verstehen wir dar- nen, die Menschheit. sei in die. größten Straf-
unter zumeist, daß er ein Wütebold, ein Chole- gerichte der Weltgeschichte eingetreten, und doch
riker ist. Wir könnten ja aber. ebensogut von ist nichts anderes der Fall,.als daß die Trennung
einem temperamentvoll-liebenden Menschen sa- zwischen der göttlichen. und der irdischen Welt
gen, er sei eine heftige Natur. So besagt die aufgehoben ist und Intuition als ‚reale Welten-
apokalyptische Vokabel, der wir bei den 7 gol- substanz durch den Kosmos. strömt. Nur. sind

222
-

die menschlichen Verhältnisse auf der Erde nicht den. Die Menschen selber. treten in den Dienst
empfangsbereit, und so kommt, was als göttliche des kosmischen Zorns. Sie glauben zu bauen und
Liebe gemeint ist, als Zorngewitter auf der Erde reißen im Grunde nur neue Abgründe auf, In
an; die gegenwärtigen Feuersbrüuste des kos- der neugepflegten Frömmigkeit werden Gehör
mischen Zorns sind nichts anderes als das, was und Gehorsam wieder zusammenhängen. Gehorsam
die Menschen aus der Liebe Gottes machen. Wer nicht im Sinzie trivialer Befehlsbefolgungen, son-
die Zeichen ‚der Zeit apokalyptisch verstehen dern Gehorsam gegenüber dem gegenwärtigen
-will, muß erkennen, daß in allen Untergängen Sprechen der Gottheit, das im Menscheninnern‘
nür scheinbar der Zorn Gottes zutage tritt, In ‚vernommen werden kann. Nur aus diesen Quel-
Wirklichkeit hat sich, so unglaublich und paradox len kann eine Wiedergeburt der Moralität und
das auch klingen mag, die Liebe der Gottheit Sozialität erfolgen.
mit unerhörter Gewalt der Menschheit auf ganz, In diesem auf die Erde sich sbiegelnden Be-
neue Art zugewendet. Eigentlich ist es gar kein reich des offenen Tempels im Himmel gewinnen
Wunder, daß die Menschheit nicht sogleich im- die Sakramente wieder kulturschöpferische Kraft.
stande ist, das entgegenzunehmen, was ihr zu- Die 7 goldenen Schalen, die die Engel aus dem
- gedacht ist. himmlischen Tempel heraustragen, sind nichts
* n
anderes als die Urbilder der 7 Sakramente. Ihr
Im. Vorwärtsschreiten durch die 7 Siegel und Inhalt ‚kommt, wenn wer ausgegossen wird, in
die 7 Posaunen zu den 7 Zornesschalen, und damit Zornkatastrophen auf der Erde an, weil auf
zugleich vom Buch zum Altar und zum Tempel, der Erde nicht die Gefäße aufgestellt. sind, in
hat sich um uns her eine kultisch-sakramentale ‘denen er seinem Wesen gemäß aufgefangen wer-
Sphäre immer mehr verdichtet. Es ist nicht welt- “den kann. Die Sakramente des himmlischen Tem-
gemäß, nicht der Sphäre der realen Urbilder und pels werden verschüttet, und es werden Antisakra-
dem Willen des Schöpfers entsprechend, wenn mente daraus. Der Segen verkehrt sich in ‚Fluch.
in der irdischen Welt das Wesen des Altars und Die Johannes-Apokalypse beschreibt die anti-
das Prinzip des. Tempels nicht gekannt, begrün- sakramentalen Verheerungen, die durch Verschüt-
-
det und gepflegt wird. Das Christentum als die tung ‘der 7 himmlischen 'Sakramentsgefäße auf
Religion des offenen Himmels ist ein Leben mit Erden entstehen. Die Perversionen der 7 Sakra-
dem Altar und dem offenen Tempel im Himmel; mente sind deutlich in der Schilderung der 7 Zor-
es verwirklicht sich auf der Erde nur fragmenta- nesschalen zu erkennen. Die erste Zornesschale
risch, wenn es diesen himmlischen Urbildern nicht ergießt sich auf das’ feste Land, d.h. auf die,
die irdischen Entsprechungen und die damit ver- Ebene der irdischen Leiblichkeit, und wir sehen
bundene religiöse Kultur entgegenträgt. Im den Menschen daraus ein schreckliches Geschwür
Kreise derer, die sich um die neuen Altäre ver-, erwachsen (16,2). Gemeint ist, daß der Mensch
sammeln, kann sich eine kultisch-sakramentale ein richtiges Verhältnis zu seiner Leiblichkeit
Sphäre entwickeln, in der die tieferen, unser nur haben kann, wenn er das Geheimnis der
Zeitalter durchgeisternden Sehnsüchte Erfüllung Geburt versteht und danach lebt. Er muß wissen,
finden, weil darin das Überirdische in seiner ur- daß, wenn ein ‚Kind geboren wird, ein geistig-
‚eigensten Gestalt, der Liebesabsicht Gottes ent- seelisches Wesen, das. bis dahin seine Schicksale
sprechend, gegenwärtig sein kann. Hier kann die in den Sphären der geistigen Welt gehabt hat,
Andacht, die innere Ruhe und Sammlung, die für die kurze Spanne eines .Erdenlebens mit
der moderne Mensch ‘verloren hat, wieder erlerxit einem irdischen Leib bekleidet wird. Geht der
werden. Sie wird mit einem neuen Sinn für das ‘Mensch ganz in der Leiblichkeit unter, seines
Geheimnis des Klanges, des Wortes, des Logos himmlischen Ursprungs vergessend, so ist Krank-
und damit für die inspirative Welt der Posaunen heit die unabwendbare Folge davon: Heute tre-
und Harfen. verbunden sein. Es ist nicht zuviel ten in der Menschheit, Krankheiten auf, die nicht
“behauptet, wenn man sagt, daß durch die kul-- eigentlich individuell, sondern als Zeit- und
+ tische Erziehung die Menschen, indem 'sie wieder Menschheitskrankheiten zu verstehen sind, weil
zuhören lernen, auch. auf neue Weise musi- sie die Folgeerscheinungen des falschen Verhält-
_kalisch werden. Dann entstehen Klangfiguren, nisses sind, in welchem durch den Materialismus
‘die als Spiegelung himmlischer, Ordnungen neue der Weltauschauung das Geistig-Seelische des
soziale Ordnungen. auf Erden keimhaft veran- Menschen zum Leibe steht. Das Sakrament der
lagen. Taufe ist die Segnung und Behütung des Inkar-
Man 'sagt oft von unartigen Rindern: sie nationsgeheimnisses. In ihm nimmt. die erste der
können nicht hören. So ist das bei den Men- 7 Güteabsichten Gottes, die sich auf das Verhält-
- *schen im Ganzen, auch. Sie können und wollen nis des Meuschen zu seinem Leibe bezieht, als
in diesem strengen Sinne des Wortes nicht hören, heilige Handlung ‚sichtbare -Gestalt an. Das der
und so mußte ihr Handeln geistlos, geistfremd Taufe entsprechende. Antisakrament tritt in den
‚und schließlich geistfeindlich, d.h. zerstörend wer- Krankheiten zutage, auf die‘ die Offenbarung

223.

Johannes bei der Schilderung der ersten Zornes- störende und vernichtende Zorn als "Gegenbild
schale hindeutet. : dazu aus. Mag die Sphäre der Sakramente im
So entspricht jedem der 7 Sakramente das . Vergleich zu der der Antisakramente still und un-
Antisakrament in den apokalyptischen Schreck- scheinbar sein, weil die Chaoswellen uud
nissen und Prüfungen, die über die Menschheit Feuers-
brünste. des Zorngewitters bereits den ganzen
kommen. Die aus dem gegenwärtigen Geist
er- Erdball ergriffen haben; das im Altar- und Tem-
neuerten Sakramente sind die Gefäße,
‚durch pelbereich gepflegte Saatgut. der göttlichen Lie-
die sich die siebenfältige Liebe Gottes als
be- besabsichten wird dennoch alle Untergänge
fruchtende Zukunftskeime für alle Provinze über-
n dauern, alle Kämpfe bestehen und über alle noch
des menschlichen Lebens auswirken kann.
Drau- so gigantischen Anmaßungen der Veräußerlichung
Ben in der Welt breitet sich der siebenfältige
zer- und Pervertierung triumphieren, "

Michaelische Motive
c

Michaels Herbstkampf
. "\
‚den Drachen töten, .che sie einziehen kann
in die
Erde. Das Bild des Michael-Wesens
Große Feste, die vom Geiste geboren. und mit dem
ge- Sonnenspeere erschien dem Blick.
formt werden, sind die, wunderbarsten
Erzieher j Die Menschenseele steht
des Menschengeschlechtes. Sie ergreifen den in diesen Tagen auf
vollen einer wunderbaren Schwelle. Im
Menschen. Sie langweilen ihn weder Sommer hatte '
mit dürren sie mit den Gesängen
Gedanken noch belästigen sie ihn mit und Tänzen der Johannis- :
blinden nacht gleich den Singvögeln
Willenszumutungen. Sie fassen ihn ganz ihr Innerstes hinaus-
und gesendet, emportragen lassen auf den
. stellen ihn in den lebendigen Zusammenha Wellen. der
ng von Töne... Lichtempfangend,
Geist und Form, yon Erkenntnis und offenbarungatmend
. tätigem ‚schwebte sie mit in den Höhen.
‚Schaffen. Sie sind wahrhaftig inspirierend Sie fühlte sich
e Quellen aufgehen im Weben der Weltge
des Lebeüs, indem sie seine Knotenpunk danken. Nun
te ins sieht sie den Winter vor sich, Der
Bewußtsein rufen und deren Wesen offenb Erde wird sie
aren. zugewendet sein, Irdischer Hauch wird
Die wirklich großen Kuotenpunkte des sie er-
Lebens füllen, Erdenintellekt sie umwerben.
‚sind aber nicht die Ereignisse, Schlangen-
die sich allein im klugheit
wird sie durchsetzen, wo vordem der
Irdischen abspielen. Der Mensch, der
sich er- Adler sie trug. Nützlichkeitsgedan
kennt, ist Weltenbürger. Die kosmischen ken werden
Rhyth- die reine Schau vertreiben. Zwischen
xuen und ihre Pole bestimmen die Bahne himmlischer
n und Offenbarung und irdischem Verstande
Wendepunkte des wahren Menschendaseins steht der
. Wenn -Meusch an der Seite Michaels. Zwisch
die Sonne am tiefsten steht und sich wieder en dem,
nach strahlenden Himmel, von dem er sich
. aufwärts wendet, wenn sie auf dem wenden
höchsten und den dunklen Wolken, die ihn
Punkte den Atem. anhält, ehe sie wieder von unten
ab- umgarnen, leitet Michael ihn zur Mitte:
wärts rollt, wenn im Frühling und Herbs die
t Tag Geist-Erkenntnis wird geboren. Offenb
“und Nacht in gleichen Schalen auf arung -
der Waage wird berührt vom Erdendenken.
ruhen, dann tritt das Leben bedeutungsvo Am Michaels.
ll in Punkte muß sie nicht darin ersterben,
neue Phasen ein, Wenn diese. Wendepunkt sondern
e er- als Erkenntnis. auferstehen, Die Sommer
lebt werden, wenn sie uns im Spiegel echter erleuch-
Geistes- tung wird in Bewußtsein gefaßt.
feste anschauen, dann werden wir lernen
, im Sinne In dem kosmischen Bild, das Erde und Himmel
einer kosmischen Moralität glücklich zu
sein. in ihrem gegenseitigen Verhältnis an der Michael
Zwischen Sommer und Winter, zwisch s-
en der gleiche bieten,. spiegeln sich die gegenw
Johanni- und der Weihe-Nacht, liegt dem Oster- ärtigen
Beziehungen der _Menschenseele zum. Geiste.
feste gegenüber der Tag St. Michaels. In den
alten Darum ist die Michaelszeit so wichtig. Und
Mysterien hat man versucht, tief in den so,
Geist wie aus natürlichem Rhythmus der: Himmel
der. Jahreswenden einzudringen. In der Herbst in,
es- die Erde dringt, von Michaeli ab in: den
X

stimmung konnte man.-schauen, wie .der Winter


Atem hinein, und den hemmenden Erdgeist. zu über-
der Erde, der webend von elementarisc
her Gei- wiuden weiß, der ihm den Eintritt wehrt,
stigkeit und durchglüht von den Somme so
rhöhen muß die Menschenseele aus Freiheit
des Kosmos zurückkehrt, an der Erdobe in sich den
rfläche Drachen töten, damit die Geistesoffenbarung
sich staut. Er kann nicht hinein, denn im in
Erd- ihr auferstehe: Das ist die Michaelsforderung.
innern,. das den Sommer über ausgea Mut
tmet hatte und Ehrlichkeit gehören dazu. 0,
und sich überlassen war, haust der Erdgei der Mensch, er
st. Der trägt schon Himmelsweisheit in sich.
Finstere wehrt‘ dem rückkehrenden Licht- In den un-
und absehbaren Tiefen seiner Seele ist Gottes
Wärmewesen, das in die Erde will, die Schwel Weis-
le. heit gegenwärtig. Heraufrufen muß er sie über
Kampf gilt es. Erst muß die Licht-Geisti .
gkeit die.Schwelle des Bewußtseins, Wozu Ostern
den

224
Weg gebahnt, was an Johanni in unbewußte Tie- fällen; das freie Ich
und sein bewußter Wille:
fen geschenkt und versenkt wurde, das muß an sind heute das Tor, durch
das auch die Götter
Michael zum ehrfürchtig verwalteten Besitz .wer- zu mir den Eingang suchen
müssen! — der spürt
den. Ostern stellt uns ein Bild der Gewißheit vor ein weiteres vom Zeitgeist Michael. Was wir heute
die Anschauung: Das Erdengrab gesprengt und so aussprechen: die Zeit
ist da, 'wo .der Mensch
überstraklt vom Auferstehungsleib des Sonnen- nicht in unklaren Abhängigke
iten von Autoritä-
fürsten. Michael: richtet eine Forderung an den ten, nicht in undurchschauten, wenn auch noch so
Willen: Wozu dir der Weg aus Himmelsgnade schönen und tiefen Empfindungen, Religion haben
gebahnt, erwirb es, um es zu besitzen. Und darf, sondern nur als klarer, freier Mensh —
nicht nur, um es zu besitzen, sondern es hinaus- das hätte man früher ganz anders gesagt, „Michael
zuwirken in.deinen Umkreis. Ostern und Mithael steht heute vor Gottes Antlitz!“ Nur durch ihn
gehören zusammen: Und was in alter Mysterien- können wir Gott schauen, wenn wir den Geist der
weisheit wie geheimnisvolle Losungsworte über Zeit in ung fühlen. .
den beiden Jahresgleichen stand, die beiden Hal- Nicht ein Bild stellen wir da bin, sondern ‘eine
ben zum Ganzen schließend, hat Rudolf Steiner Wahrheit, die wahre, höhere Wirklichkeit. Wenn
neu ‚geformt. Ostern spricht yon der Erfüllung die.Menschen wüßten, was das für
eine Lebens-
des Christus: „Er ist ins Grab gelegt, er ist er-, wohltat ist, die Welt geistig
denken zu dürfen!
standen.‘ Michael eröffnet die Zukunftsziele des! Die Sterne über uns
— welcher unermeßliche
Menschen, auf daß man von ibm sagen könne, Lebenssegen ist es, sie nicht
mehr als tote Gas-
‚ wenn er in das Grab des Winters Hineinschreitet: massen über sich zu haben,
wie in-der Materialis-
‚„Er ist erstanden und kann beruhigt ins Grab muszeit unserer Jugend,
sondern sie zu wissen
gelegt werden.“ . als mächtige Geisteswelten, die da walten und
Ist der ‚Mensch: durch Geist-Erkenntnis auf- weben ‘und wirken ohne Aufhören, die gebildet
erweckt,kann er getrost in den Winter gehen, ohne ' haben am Menschen durch die Jahrtausen
de und
‚den Finsternis- und Kältemächten zu verfallen. ihn aufwärts führen können,
höher und höher.
Die Natur selbst hilft ihm zu Michaeli deh Geist Kann man nicht verstehen, daß
der Mensch sich
"finden. Da umgibt ihn Geistiges, ‘wie nie sonst erst als Mensch fühlt, wenn
er den Adel einer
im Jahr, rein und unvermengt. An Östern ist wahrhaft geist-erkennenden Weltanscha
uung in
Geist und Natur in enger Durchdringung, der sich trägt? So wird auch als unbegreifli
che Torheit
‚Geist verströmt sich überall hinein in das Spros- einmal erscheinen, daß der Mensch
glaubte, das
sende und Sprießende. An Michael läßt der Geist ganze Weltall hänge voll von
„Gesetzen“, die
das welke Blatt fallen und geht in Reinheit am selbständig für sich leben und in abstrakter
„Gil-
Menschen vorüber. 2 tigkeit“ im Universum schweben und. regieren.
. Werden wir .einst ein Fest haben, das die My- Das gibt es nicht und kann es
gar.nicht geben.
sterien der Michaelszeit in uns erweckt, dann Wer dergleichen Vorstellungen in sich
duldet, der
wird das einen gewaltigen Schritt vorwärts be-. mutet sich Ungeheuerlichkeiten
zu, so. phanta-
.deuten auf dem Weg zum Geiste. Wenn wir die stisch wie der Aberglaube irgendeines Negers.
kosmischen Rhythmen erleben und ihre Forde- Nietzsche, der nichts wissen wollte
von „Gesetzen“
rung verstehen; wenn wir lernen, uns mit ihnen und sie als „Schleichwege zum
alten Gott“ er-
zu einen, werden wir erst die Menschen werden, klärte,. hatte den tiefen
Geistesinstinkt. So wenig
die in lebendiger Reinheit denken, die echte wie „Staatsgesetze“ in gespenstisc
her Selbständig-
Gefühle haben, von aller Unwahrhaftigkeit be- keit leben und regieren, wenn
nicht Menschen da
freit, die glücklich sind im Wirksamwerden ihres sind, die sie gegeben und tragen, so
wenig können
Willens. Alfred Heidenreich „»Weltgesetze“, wenn sie nichts weiter als Ge-
\ .
setze sind, irgendein denkbares Dasein. führen.
Michaelisches Christentum Es gehört nichts dazu, als geistige Klarheit und
. Aus Jahrgang 1, Heft 7 (Oktober 1924) Waghheit, zu wissen, daß hinter allen „Gesetzen“
und ‚hinter allen andern Daseinswirklichkeiten
"Wer aus dem Weltanschauungswirrwarr der lebendiger Geist wohnen
muß, der sie trägt.
Gegenwart heraus dem Christentum naht und Wir haben in der Christengemeinschaft keine
dann innerlich fühlt: Ich darf wir keine Religion Dogmen mehr. Wir
sind fest verbunden in dem
gestatten heute, außer in völliger geistiger Sau- Kultus, in einem Gottes-Dien
st, in der darin
berkeit; ich muß mir die Religion erobern in lebenden Gesinnung
und der daraus wachsenden
Geisteshelle und Geistesklarheit, oder auf Reli- Gemeinschaft. Die
Geistesheimat, die da auch uns „
gion verzichten! — der spürt ein Erstes vom Zeit- gegeben ist, ist
eine freilassende. Die großen
geist Michael. Und wer fühlt: ich darf nicht durch Hauptwahrheiten, Haupttatsa
chen des Christen-
die Empfindungen, einem fremden Leben Ein- tums leben schaffend in
unserer Mitte und geben
laß bei mir gewähren; ich muß als freier und „das Denken frei. Eben dadurch haben wir die
'wacher Mensch bewußt letzte Entscheidungen Möglichkeit — immer im Reich der schaffenden

A 225
x
Christus-Wirklichkeit bleibend —, in ganz unge- gehen, ja selbst der oft so unreligiöse Trieb mo-
hemmter Weise zu erzählen von allem, was sich derner Theologen, Jesus aus der Heldenverehrung
uns aus dem Geist beraus offenbaren will. Keinen heraus neu zu schauen, deuten nach der Richtung.
Schatten der Stimmung, als ob ihm etwas zu Aber gewaltig‘ wird die Erfüllung sein. Christ-sein
„glauben“ zugemutet würde, darf der Leser uns- wird dann heißen: -Christus tragen als reiustes
rer Aufsätze und der Hörer unsrer Vorträge in Licht im Ggist und als stärkstes Feuer im Willen.
sich dulden. Nichts geschieht, als daß Menschen Michael-Zeit!
ihm in Wahrhaftigkeit erzählen, was ihnen wert- Die 'Weltführung hat uns in einen Kampf ge-
voll geworden ist. Auch das ist Michael-Zeit. Die stellt, viel ernster und weltentscheidender als
Menschen werden dies freie Verhältnis unterein- ‚aller Ungarn- oder Hunnenkampf, in den geisti-
ander gerade auf religiösem Gebiet erst lernen gen, und ebensosehr sittlichen Streit gegen den
müssen. Wacht auf, es ist Hohe Zeit! Geist fängt menschheitverwüstend hereingebrochenen Mate-
an hinter allem. zu leuchten. Eine andere: Welt, rialismus. Der törichte Ruf, daß der Materialis-
eine ganz andre Welt taucht auf als die, in der -mus schon überwunden sei, will uns nur einschlä-
wir groß geworden! Gewiß, wenn dem Gläubigen fern: im Augenblick ernstester Entscheidungen.
— und dem Ungläubigen alten Stils angst und Wem die Zukunft der Menschheit wirklich am
bange wird, wie geistlebendig eigentlich die Welt Herzen liegt, schare sich zu den Kämpfern Mi-
ist, wir haben alles ‚Verständnis dafür. Fürchtet chaels im Kampf wider den Drachen. Der niedere
doch geräde der. Gläubige, über all dem Geist und Erdensinn, aus dem die blinde Erdenleidenschaft
all den Geistern Christus und „Gott“ zu verlieren. emporfaucht, das ist der Drache. Es gab eine Zeit,
Aber wir wissen auch längst, daß dies falsche wo der Drache heilig war. Die chinesischen Tem-
Angst ist. Wenn wir entdecken, daß Gott nicht pel sind davon noch Zeugen. Es gab eine Zeit, wo
Augen, Ohren, Stimme hat wie ein Mensch, daß ‚der Mensch gottgeschenkte'Erdenweisheit empfan-
Gottes „Glieder“ sehr, sehr viel höherer Art gen sollte. Aber aus der Erden-Erkenntnis ist
sind, daß sie — Geistwesen sind, die in ihm leben Blindheit für die göttliche Welt, aus dem Erden-
und in denen er lebt — da sollten wir Gott ver- Reichtum ist inneres Sklaventum geworden.
lieren? Verliert der einen Menschen, der genau Schon Siegfried wußte, daß er den Drachen be-
in seine Augen schaut und diese Augen „spre- siegen muß, wenn er das Gold. gewinnen, wenn er
chend“ findet? Er sieht ja die Augen in der Seele die Weltefisprache verstehen soll. Heute aber ist
. und die Seele in den Augen. Wenn frühere Zei- es das Wahrzeichen aller echten Menschlichkeit,
ten vom Erzengel Michael sprachen als dem die nicht bloß in schönen Gefühlen erstirbt, daß
„Antlitz“ Gottes, so verraten sie uns, wie viel man Michaelskämpfer ist, daß man sich in sei-
lebensvoller ihr Vorstellen war. nem ganzen Dasein als Lichtstreiter fühlt im
Wer heute den Zeitgeist Michael lebendig in Kampf gegen eine unerhörte Drachenmacht.
sich spürt, der fühlt vor allem, wie anders unser Herbsteszeit aber will den Nlichaelskämpfer
„Christentum“ werden muß, Dies Christentum, weihen. Wenn die Natur um uns her dabinsinkt,
wie-er es innerlich fühlt, ist noch gar nicht da. dann richtet sich der Mensch auf in seiner wahren
Ein ganz anderes Christentum wird es sein als Würde. Wenn das Erdenwesen sein immer mäch-
das Christentum etwa der Matthäuspassion Bachs. tiger anschwellendes Sterbelied erbrausen läßt,
Ein Christentum voll’ Geistesfeuer, in Weisheits- dann erwacht im Menscheninnern der, Wille zu
stärke und Willensmacht doch nur den Christus- einem höheren Sein. Wie der Same in der Erde
Opfersinn auslebend. Geist und Wille des Men- eine Weile schweigt, aber zu seiner Zeit hervor-
schen werden dem Christus dargebracht, daß er kommt und seine Antwort gibt, so wird auch der
darin erstrahle, ein Geist, der nicht blutlos dünn Mensch, der seine volle Höhe gewinnen will, ach-
ist, sondern wie harrender Kraftwille; ein Wille, ten lernen müssen auf seine Zeiten. Wiewohl
der nicht dunkel wogend ist, sondern wie ruhende frei in allen seinen Gedanken und Gefühlen, wird _
Lichtfülle.. Das ist die Michael-Zeit! er dann mit einer tiefen Frömmigkeit sich an-
. „Erst, Ahnungen solchen Christentums gehen schließen an den heiligen Reigen und Rhythmus
durch "die Geschichte, Dort, wo Geistwille, Wil- des Jahres, an das große Leben seiner lebendigen
lensgeist sich regt, sind sie zu spüren. Im „Heli- Mutter Erde, wird, sich unendlich viel reicher und
and“ rührt es sich wie in einem Kindertraum. In stärker fühlen in der hingebenden Freiheit an
den Templern blitzt es ritterlich auf. In Luthers die großen Atemzüge seiner Erdenmutter,. Dann
Reformationsgesang wühlt es wie banger Mut. In wird er vor allem. zur Herbsteszeit antworten auf
Dürers „Ritter, Tod und Teufel“ zieht es suchend Ostern, wie er im Lichtüberschwang des Sommers, _
dahin. Ahnt man, welche Christen im Geist wir an Pfingsten, an Johanni antwortet auf Weih-
schauen? Sie werden kommen! Ihre vorausge- machten. Er selbst wird die Antwort sein: ein auf-
sandten Schatten fühlen wir. Die ganze Zeit erstandener Mensch. In tiefer Innerlichkeit wird
strömt ihnen zu. Selbst Schleiermachers Wunsch, er die Weihe suchen vom Geist Michaels, des lich-
das Christentum möge nicht mit der Barbarei ten Christushelden. Friedrich Rittelmeyer

226
Michael und Gabriel in der Baukunst hinein in die physische und wieder zurück in
die geistige. Doch mag dies hier nur als eine
Im: Mittelalter war es üblich, im Westen. der Andeutung, die noch weiter zu verfolgen wäre,
Kirchen dem Erzengel Michael einen Altar zu er- gesagt sein. \
richten. Dazu schuf man besondere Michaelskapel- An die Zeichnung des St. Galler Planes schlie-
len, die meist neben oder über dem Westportal Ben sich überraschende Ausblicke an: Die Beto-
in einem Obergeschoß oder auf einer Westempore nung eines wichtigen Durchganges durch Türme
‘ dem Bau eingefügt waren. Nicht nur in Württem- ist zu verschiedenen Zeiten und an unzähligen
berg, sondern im ganzen alten. Deutschland, in Bauten üblich gewesen, von den altägyptischen
Frankreich und in Italien, ist die Verehrung Mi- Tempeln an, vielleicht schon früher, bis zu unse-
chaels im Westen der Kirchen noch nachweisbar, ren Zweiturmfassaden an den Kirchen. Sicher
Woher mag sie entstanden sein? wird sich daran noch Vieles nachweisen lassen,
In St. Gallen wird ein Bauriß aus dem Anfang was in unseren Zusammenhang gehört. Deutlicher
des 9. Jahrhunderts aufbewahrt, der als Grund- erkennbar ist etwas von den spirituellen Hinter-
lage für eine. neue bauliche Gestaltung des Klo- gründen, die "uns der St. Galler Plan ahnen ließ,
sters dienen sollte, in Wirklichkeit aber kaum an jenen Turmfronten mit dazwischen liegendem
benützt worden ist. Sein Ursprungsort ‘ist mit Dreibogenportal, wie sie im Elsaß noch vorkom-
einiger Wahrscheinlichkeit das untere Elsaß. Auf men. In Basel tragen spätestens seit dem 12. Jahr- °
diesem Plan ist der Grundriß der Kirche gezeich- hundert die beiden Türme die Namen des St. Georg
'net mit einem westlich davorliegenden halbkreis- und St. Martin. Der-hl. Georg ist eine andere Er-
förmigen Hof, in dessen Mittelachse der Eingang scheinungsform des Erzengels Michael; und wahr-
von außen hereinführt. Rechts und links von die- scheinlich darf auch der hl. Martin, als der Ge-
sem Eingang sind im Plane freistekende runde bende, mit dem Erzengel Gabriel in geistigen Zu-
- Türme eingetragen und so gezeichnet, daß man sammenhang gebracht werden. Der Martinsturm
Wendeltreppen darin annehmen muß. Beide am Basler Münster steht rechts, der Georgsturm
Türme tragen Beischriften. Wenn rechts und lioks für den Eintretenden. Auch in Chartres
links neben einem Tore hohe Türme stehen, so ist zwischen den beiden Türmen ein Dreibogen-
bedeutet dies eine starke Betonung des Eingangs. portal. Namen für die Türme sind nicht über-
Das Hindurchgehen wird zu einer bewußten Hand- liefert, aber die figürlichen Darstellungen an den
lung, zum „Schwellenerlebnis“. Aber noch“mehr! drei Türmen sind so angeordnet, daß. rechts die
Innerhalb der eingezeichneten „Schnecken“ steht Geburt Christi. und die Tierkreiszeichen, in der
am nördlichen linken Turm: "Mitte die Verherrlichüung des -Christus im Kreis
von apokalyptischen Gestalten und Engeln, links
in fastigio altare Sancti Michaelis Archangelo
\ aber die Rückkehr des Christus in die geistige
und am südlichen rechten Turm: "Welt, also seine Himmelfahrt und dazu die Ge-
-stalten der sieben freien”Künste in der Bagen-
in fastigio Archangeli Sancti Gabrielis Altare.
leibung abgebildet sind. Es ist dasselbe, wie in
Das bedeutet, daß hinter, über diesen Türmen St. Gallen: rechts der Eintritt in die pbysische,
die beiden Erzengelgestalten Michael und Gabriel links der in die geistige Welt. — Auch an den
als „Hüter der Schwelle“ erscheinen. Gabriel, der alten Bildwänden (Ikonostasen) in der griechi-
“ Erzengel der Geburt, durch den kosmische Kräfte schen Kirche, wann immer Michael und Gabriel
einströmen auf die Erde, steht rechts für den dargestellt sind, wird das Bild Michaels stets
. Eintretenden; Michael, der die menschlichen links angebracht. Im Dom von Torcello auf den
"Kräfte zurückleitet in den Kosmos, das Irdische Inseln bei Venedig steht auf einem, Mosaik des
läutert und zum Himmel emporträgt, als der Exrz- 12. Jabrhunderts Michael links, d.h. zur Rechten »
engel des Todes, steht links. Dem ins physische des Christus, Gabriel rechts vom Beschauer, also
Leben einführenden steht der ins geistige L&ben auf der linken Seite des Christus.
zurückleitende Erzengel gegenüber; sie bilden Aber nicht nur mittelalterliche Zeugen, die
das geistige Tor. \ sicher überaus zahlreich sind, sondern auch ältere
Ein Seitenblick darf noch auf die Zeichnung Beweise für das gleiche spirituelle Erlebnis sind
der Schneckenspiralen geworfen sein. Die rechte vorhanden. Man denkt an die Säulen des Hera-
rollt sich auf im. Gegensinne des Uhrzeigers, die kles, die weit im Westen des Meeres als Eingang
linke im Sinne des Uhrzeigers. Denkt man dabei zur Unterwelt vorgestellt wurden.. Die Römer
nicht unwillkürlich an die Spiralen des jonischen haben nachahmend Säulenpaare am Endpunkt
_Kapitäls? Es bekommt unter solchem Aspekt eine großer Straßen aufgerichtet. Reste eines solchen
tiefe Bedeutung, die ihm alle materialistischen Er- Säulenpaares stehen heute noch im alten Brun-
kläruugen nicht geben können. Das im Altertum disium (Brindisi). Aber viel bedeutsamer sind die
-so häufige Spinalmotiv erscheint als eine Dar- beiden Säulen Jachim und Boas vor dem Tempel
stellung des. Lebensweges aüs der geistigen Welt Salomos (1. Könige 7,21): „Und die er zur Rech-

227
ten. setzte, hieß er Jachim, die er zur linken betrachtet, Michael als der Hüter rechts, Gabriel.
Hand setzte, hieß er Boas“. Die theologische Wis- aber links. Wir können in diesen zwei Gestalten,
senschaft hat sich vergebens bemüht, diese Na- deren Namen und Bild an der Westseite einer
men zu enträtseln, Lic. E.Bock hat im Anschluß alten Kirche erscheint, ein zur Sichtbarkeit ge- -
an Rudolf Steiner den Schlüssel gefunden (Bei- brachtes Abbild tiefster Wahrheit, ja des Christus
träge zum Verständnis des Evangeliums II, S. 12): selbst, "empfinden, der im Osten des Heiligtums
Jachim ist die helle Säule des Tages, der Ge- als geistiges Wesen verehrt wird. "
burt, und Boas die feierlich dunkle Säule der
Ernst Fiechter f
Nacht, des Todes. Also wieder die gleiche Vor-
stellung vom Schwellenerlebnis: Geburt und Tod.
Das christliche Bild entwickelt sich also aus älte- Weltverlorenheit — Weltgeborgenheit
‘ ren, vorchristlichen Vorbildern. Das Wort „Weltgeborgenheit“ kann recht Ver-
Vielleicht ist hier noch zu erwähnen das merk- schiedenes bedeuten. Für fromme oder in Geist-
‘ würdige Bild in der Kirche von Bad Teinach
Erkenntnis sichere Menschen hat es den Klang °
(Württemberg), das die 1679 verstorbene Prin-
des Ruhens und Geborgenseins von Ich und Welt
zessin Antonia von Württemberg hat malen las- und Zeitenlauf im Wesen der Ewigkeit. Es ist
sen; auf ihm sind’ebenfalls zwei Säulen als Tor
das alte: cor nöstrum inguietum est, donee re-
zur geistigen Welt dargestellt. Man erinnert sich quiescat ‘in te! (wörtlich übersetzt: unruhig ist,
schließlich auch noch des erkwürdigen. Säulen-
unser Herz, bis es ruht in Dir). Soll dies Erlebnis
paares vor der Karl-Borromäus-Rirche in Wien, vom Menschen gewonnen werden, so muß sich
die Bernhard Fischer von Erlach, alten Traditio- liebevolle Selbsthingabe mit feingegliedertem Er-
uen nachforschend, 1716 zu bauen begann. kennen und in Freiheit betätigtem Handeln an
Aus
_
allem geht hervor, daß die bedeutsamen der Welt aus dem Gottes-Sinn verbinden. Anders
Eigenschaften kultischer Bauten nicht etwa aus ausgedrückt, so daß in den Worten die entspre-
praktischen . Notwendigkeiten oder dekorativ- chenden weltgeschichtlichen Strömungen aufleuch-
repräsentativen Gründen entstanden sind, son- ten können: wenn das Mystische und Philosophische
dern aus tiefen geistigen Hintergründen geschaffen mitdem Alchymistisch-Sakramental-Künstlerischen
wurden. Geistesbilder sind in den alten Tempeln sich eint, so ist es möglich, noch mitten in der
dargestellt. "
‘Welt lebend und für ihre Verwandlung sich be-
‚Ist nun :das Vorkommen von Michaelskapellen tätigend, schon die
Geborgenheit der Welt und
ein verkümmerter Rest bei unseren mittelalter- ihrer Entwicklungen
in Gott zu erfahren. Da der
lichen Kirchen? Die starke Betonung des Ein- ganze: Meusch
aber auf Grund seiner und der
gaugs an der. Westseite läßt in, der ' spätmittel- Welt augenblicklichen
entwiclungsmäßigen Un-
alterlichen Zeit nach. Aber Michaelskapellen oder vollkommenheit
die Wirklichkeit dieser Geborgen-
-Aguren bleiben noch, und auch Taufkapellen heit nicht als
gottinhaltliche Vollendung seines
‘stehen in der Regel im Westen einer Kirche, je- eigenen Wesens, sondern
nur als Getragensein und
doch ohne Bindung an das Eingangstor. In Jeru-
Berührtsein vom Fernziel mit dem deutlichen
salem stand bis in das 6. Jahrhundert die große,
Gerufensein, ihm allmählich zuzuwachsen, erlebt,
.von Kaiser Konstantin erbaute Basilika bei dem so schließt diese Geborgenheit
in sich, daß man,
Heiligen Grabe. Die Rotunde über dem vermute- sich vom anbetenden Ruhen in ihr auch immer
ten Grabe Christi befand sich vor der‘ Westfront wieder in die Welt
der Trivialität, der Krisen
der großen Kirche. In dieser Rundkirche wurden
und leidvollen Dynamik des Werdens entlassen
die zum Christentum Übertretenden am. Grabe muß. Man darf
geradezu sagen, daß dies ein we-
selbst getauft. Daher hat man schon in früh- sentliches Stück des
Mythos unseres Lebens ist.
christlicher Zeit auch in Europa Taufkirchen im Im Gleichnis:
man weiß, daß:über allen Nebeln
Westen der, großen Bischofskirchen aufgestellt, und Abgründen ewig sich der klaue Himmel
und bis in die heutige Zeit hinein ist es besonders
wölbt; man weiß aber auch, daß man sich in dieser
in Italien noch üblich, die 'Taufhandlungen im Bläue nicht halten kann und ihrer unwürdig wäre,
‘Westen innerhalb der Kirche, in einem Seiten-
wenn man nicht ein Stück von ihr in die Tiefe
raum, vorzunehrıen. Aber, auch dieser Brauch .trüge, die behauptet,
es gäbe diesen blauen Him-
schwindet immer mehr dahin. An Stellexder Mi-
mel gar nicht, und wo man vielleicht selbst
chaelskapellen ‚haben sich vielfach noch die Kar- immer wieder so ewigkeitsmager
lebt, als gäbe es
ner (die Kapellen zur Aufbewahrung mensch-.
ihn nicht. Lebt man im Abgrund, so kann man
licher. Knochen) erhalten, in’ denen meist ein nicht warten, bis die ganze Welt vollkommen
Altar Michaels als des Geleites über die Todes-
'vergeistigt ist, sondern man muß eine Lampe
schwelle steht. _ . ° : entzünden könnez, die Himmelsbläue ausstrahlt,
Das Äußere eines Kultbaues ist die Wieder- oder man muß Licht in das Dunkel leuchten las-
spiegelung des Geheimnisses, das er birgt. In sen können, auf daß sich das Blaue bilde. Oder
der christlichen Rirche steht so, vom Altar ans man muß ein goldenes Leiterchen bei sich füh-

228
ren, das man von Zeit zu Zeit betrachtet, und echt duldsame Mensch ist seiner Wesenheit gemäß
- dann wächst es, und dann steigt man daran empor weltgeschwisterlich, fromm. Der echt fromme
ins Himmelsblau, zur Großen Mutter. Das ist Medi- Mensch allein kann duldsam sein, weil er auch
tation, ‚Weltwesenvergegenwärtigung. Da muß das Gottverleugnende und Sinnlose aus der end-
manches darin sein .an Offenbarung über der gültigen Geborgenheit aller Entwicklungsstadien
Welt Gewordensein; über die Wesen, die es be- in Gott begreifen kann.
“- wirkten; über deren Mittel und Wege; über die
x
Formen des Werdens; über die Entwicklung des
Bewußtseins; und so fort. — Und daun verehrt Als Nikolaus Lenau vor nun schon mehr als
man die Große Blaue Mutter: das’ist Gebet; oder 100 Jahren’sein Gedicht „Die drei Zigeuner“ der
man tut, was sie sagt: das ist Kultus. Vielleicht Öffentlichkeit ‘übergab, geschah dies zweifellos
hat sie gesagt, man soll wieder hinabgehen, den nicht im Sinne einer Predigt an das bürgerliche
Menschen weihen, er sei im jetzigen trivialen Europa, ‘um seinem Bedürfnis nach Sicherheit
Zustand nicht zulassungsfähig für‘ die Ewigkeit. einen Lobpreis bindungslöser Heimatlosigkeit ent-
gegenzustellen. Lenau wußte aus eigener Seelen-
*
erfahrung, — wie wir sie seinem „Faust“, seinem
Der Mensch braucht sich nicht zu entscheiden „Don Juan“, seinem „Savonarola“, seinen „Albi-
zwischen Verlorensein in der Welt oder an die gensern“ ablesen können —, daß im umfassenden
Welt und Geborgensein in Gott. Der Zustand der Sinne für Erkenntnis, Leben und Arbeit in der
Weltverlorenheit ist schon, als Stufe in der Dra- Welt die Tore der Ewigkeit sich erst erschließen
“matik und Bewußtseinsdynamik Gottes, von vorn müßten, um Beruf und Würde des Menschen zu
‚herein geborgen in der Ewigkeit. Der Mensch retten. Die Stimmung seiner „Drei Zigeuner“ ist
braucht sich deshalb auch nicht zu entscheiden keine Patentlösung, um das Schreckgespenst des
zwischen Bürger-sein oder Weltwanderer-sein. Um Bürokratismus zu bannen. Wahre Dichtung kann
denken zu lernen, Fähigkeiten des Ausgleichens immer nur individuelle Formung von Zuständen
.und der Harmonie zu erwerben, müssen Etappen oder Geschehen sein. Dabei wird allerdings ent-
stattfinden in der Weltwänderschaft, wo man sich scheidend mitwirken, welche Erkenninis- und
anbaut, wo man verweilt. Die Stadistaaten der Lebensstimmung einfließt. Und so wird denen, die
Antike, die Städtekultur des Mittelalters und der einen Ausdruck der Positivität im Arbeiten an
Neuzeit können so als notwendig verstanden wer- der Welt suchen, z.B. Goethes „tüchtiges“ „Ver-
den. Freilich, wenn der Bürger vergißt, daß mächtnis altpersischen Glaubens“ gewiß näher
letzten Endes alles nur Brücke zur Ewigkeit ist, liegen als die Parole der Weltverachtung aus
nur Teppich zum Begehen des Schicksals, nur Lenaus „Zigeunern“. Bedenkt man aber, daß
Schleier zum Hegen und Heranwachsen des Kin- groß-gesehenes und’ dargestelltes gelebtes Leben
des.der Menschlichkeit, — -dann wird er zum immer etwas wahrhaft Bildendes mit sich führt,-
Spießbürger, Dieses Vergessen und sich der Welt- so wird man von Zeit zu Zeit immer wieder gerne
verlorenheit Ausliefern, indem man in der Welt und rückhaltlos bewundernd in -Lenaus. Welt-
sein Zuhause errichten will, ist leicht als schwere ‘wanderer-Stimmung eintauchen; aber man wird,
Krankheit, als Substanz-Schwund zu erkennen auch die ‘Motive in sich weiter arbeiten lassen
“ für jeden, der in Entwicklungs-Stufen und Ver- und nicht verhindern wollen, wenn dieses Weiter-
wapdlungen denken, fühlen und wollen kann. axbeitenlassen in Gebiete ‚der Weltwanderschaft
Der in der Welt: Verlorene muß aber, um es mit und etwa auch zu deren dichterischem Ausdruck
sich auszuhalten,den Weltenwanderer mindestens. führt, wo dann an Stelle einer dreifachen Ver-
seinerseits als Schwerkranken behandeln, wenn “achtung: der Welt eine dreifache Verehrung des
er nicht, was häufiger‘ geschieht, ihn überhaupt Göttlichen in ihr sich ankündet. Man merkt es ja
für einen Anstoß erregenden, die öffentliche und auch Lenaus Gedicht an, daß er drei Dinge liebt
private Sicherheit gefährdenden Schädling er- und in seinen Zigeunern betrachtet: 1. Die vom
klärt, der ausgerottet werden muß. Die Duldsam-' Kummer befreiende Macht der Musik, 2. das
keit des Spießbürgers kann nur eine phrasenhafte friedliche Sinnen und Minnen, 3. die kosmische
und blasierte sein; ehrlich ist es nur, wo er das sanftfromme Macht des Windhauchs und, des
. seine Ruhe Störende verbrennt und vierteilt. Der Traumes. Friedrich Doldinger
\ . x

’ " Die drei Zigeuner


(ron Nikolaus Lenan)

Drei Zigeuner fand ich einmal Hielt der eine für sich allein
: liegen an einer Weide, in den Händen die Fiedel,
. als mein Fuhrwerk mit müder Qual spielte, umglüht vom -Abendschein,
schlich durch sandige Heide. sich ein feuriges .Liedel.

229
An den Kleidern troren die drei
Bielt der zweite die Pfeif’ im Mund,
Löcher und bunte Fliken.
blickte nach seinem Rauce,
aber sie boten tretziz frei
froh, als ob er vom Erdenrund
Spott den Erdenreschicken.
Nichts "zum Glücke mehr brauche,

Dreifach haben sie mir zezeist,


Und der Dritte behaglich schlief,
wenn das Leben ur: nachtet,
und sein Zimbal am Baum hing,
wie man’s verrankt verschläft, vergeigt,
über die Saiten’ der Windhauch lief,
-und es dreimal serzeiet.
über sein Herz ein Traum ging. ji

Nach den Zigeunern lang noch schaun


mußt’ ich im Weiterfahren,
nach den Gesichtern dunkelbraun,
den schwarzlockigen Haaren.

Nikolaus Lenau: „Die drei Zireuner”


Variatiomen zu
(von Frie dric h Dold inge r)

IR Die drei Fickter


1. Die drei Bilder

- Weltenwacht wohl kielien die Drei,


Drei Bilder in seinem Bettlerverschlag,
" die uns plötzlich umerzuten.
darin er soeben verschieden,
als wir starrend im Nebeibrei
zu Häupten ihm standen. Im Antlitz lag
uns schon nach dem IT>4 zmichauten.
Weisheit und tiefer Frieden.
“Malte der erste scharf und klar
* Im ersten stillfromm die Herrin — das Schloß
Zeichen in seine Fibel
von Banden gestürmt — wie Cäcilie als umrauscht !hn der Aar, .
»Blickte,
die Orgel spielte. Den Wind als Genoß Johann in der Bibel, .
Wie Sankt
trat Christus zur letzten Vigilie.
Sang der zweite innig und wırm
Im zweiten in Trümmern, daraus er gräbt,
Hymnen in eine Wolke
verteilte wer Stifte und Farben »in Arm
: von Weihrauch, die fromm
der Kinderschar? froh sie die Hände ‚erhebt vor dem beienden Volke.
. hinschwang
nun kann ja die Seele nicht darben.
Griff der dritte sein Sternenschwert,
Im dritten der Seher am Drachenspalt
ruhig, umlodert vom Feuer, rollte die Augen wie Flammen,
schreibt
Halt _ als wollt’ er von seinem Seraphs-Pferd
_ als hätte sein Aar-Blick den siehersten
das: Höllenschiff selber rzumen.
mitten im Erd-Äbenteuer.
Hatten um’s Haupt.sie ein Lichter-Meer
Glühten in Leidesreife all’ Drei:
all-Drei und bläuliche Kronen.
“so schwebet des Weltalls Schale
.. aber sie neigten sich zu uns ber,
in Opferbränden ‚kraftvoll und frei,
bereit, im Dunkel zu wohnen.
selig vom heiligen Grale.
Dreifach hallte zu uns ihr Ruf:
Dreifach begnadet uns Ewigkeit,
. „Tilge die Weltangst! Erkenne!” —
Wie die Farben uns liebend verjüngen!
„Weihe! sei dir der erste Beruf!* je—.
Wie die Töne uns tragen durch Tod und Zeit!
Geist-Schaw zu Zukunftsschwüngen! „Sieg, Phönix, im Opfer! Verbrenne!
Und die

den Tag, Von den Königen lang noch umwallt,


— Die Sonne nahm’s mit in den jubeln
n drinnen “die wachend am Abgrund wohnen,
was die Bilder frohlockteda
waren wir tief, von der Worte Gewalt,
vom seligsten Heut’ in des Bettlers Verschlag, den bläulichen Kronen.
dem Goldschein,
da die Gnade ihn holte von hiunen.
er. 6

230
Zwischen Nihilismus und Christentum Wesentliche Grundverfassung menschlicher. Exi-
"stenz ist nach Heidegger ihre „Weltlichkeit“, das
-Wie betäubt, auf sich selber zurückgeworfen, „in der Welt sein“ oder die ursprüngliche Ver-
innerlich einsam, und ungeborgen, so steht der wiesenheit auf die Welt in der besorgenden und
ron ewigen Bindungen losgerissene, nachdenk- Aufgaben meisternden Begegnung mit ihr. Der
Seren

liche Mensch im Strudel der Zeit und sucht nach Mensch findet sich ungefragt in sein „DA“ ge-
Boden und Grund. Dem ganzen Apparat bürger- worfen und sich selber überantwortet. Sein Da-
licher Daseinssicherung traut er nicht ‘mehr. sein trägt die Last des Seinmüssens, des Aus-
en nn

Von Philosophie und Wissenschaft, die ihm die harrenmüssens in Sorge und Aufgabe. Das ist der
nn

Religion ersetzen wollten, fühlt er sich genarrt Lastcharakter des Daseins. Das Woher, Wohin,
und wirft sie verächtlich. beiseite, Die Gehäuse Warum des Daseins bleibt verborgen. Die Grund-
ihrer Ideologien sind zerhbrochen, alles ist ihm‘ befindlichkeit menschlicher Existenz ist die Angst,
erschüttert und fragwürdig geworden. Nackt und in der die bedrohliche Möglichkeit des Absturzes
nn

bloß steht er mit der Unrast geheimer Lebens- ins Nichtsein jäh gespürt wird. Die Existenz-
angst vor dem Nichts. Nur dies ‚eine scheint angst stellt. den Menschen vor die Totalität des
ihm übrigzubleiben: die Tatsache, daß er selber, Seins am Rande des dunklen Nichts, aus dem er ’
allein mit seiner Not, ringend und leidend exi- gekommen ist und in das er jederzeit wieder ab-
stiert und in tiefer Bekümmernis nach dem Sinn stürzen kaun. Sie offenbart die völlige Endlich-
seines Daseins fragt. So muß er bei der alten’ keit, „Geworfenheit“ und Bedrücktheit der Exi-.
kartesischen Position des „Ego cogitans“, des stenz, ikr Hinausgehaltensein in das Nichts, ihre
‚um seine eigene. Existenz wissenden und be- ungesicherte Schwebe über bodenlosem Abgrunde. -
‚kümmerten Selbst, mühselig von neuem hegin- Angesichts des Nichts vor ihm und hinter ihm
nen, aber auch nach radikal anderer Antwort wendet sich der Mensch ab in die Alltäglichkeit
suchen, denn der Bankrott der von Descartes von Betrieb und Gschaftelhuberei, Zerstreuung
inspirierten nmeuzeitlichen Philosophie ist ihm und Sensation. Er steckt den Kopf in den Sand.
nunmehr offenbar geworden. vor seiner bedrohlichen Seinslage. Aus diesem
Die ungeschminkte Tatsache von heute ist, Verfall treibt die Angst ihn zurück vor sein eigent-
daß wir den Glauben an den Menschen verloren liches Sein, Aug in Aug mit dem Nichts. Hier
haben. Hat nun die Verzweiflung das letzte bleibt ihm nur die Entschlossenheit übrig, sein
Wort? Sind wir einer Tragödie verfallen? — Dasein selbst in die Hand zu nehmen, ihm trotz
Hier liegt ein erregendes Moment für die heutige’ aller Furchtbarkeit standzuhalten, seine Auf-
Existentialphilosophie. Sie verzweifelt an den bis- gabe zu meistern, seine Möglichkeiten auszuwir- .
herigen. Antworten auf die Frage nach Wesen ken. Die äußerste Möglichkeit, die des Men-
und Sinn des Menschen auf dieser Erde. Die schen wartet, und die unausweichlichste ist der
neuzeitliche Philosophie hat darüber nur einsei- Tod als Absturz in das Nichts. Das Tier ver-
tige und im Grunde fragmentarische Antworten endet, nur der Mensch stirbt, denn er allein weiß
"gegeben und 'niemals den Blick auf das reiche um seinen Tod als die ständig auf ihn zukom-
und volle Ganze des menschlichen Wesenshbildes mende äußerste Möglichkeit. Daher ist das Sein
gelenkt. Nun fegt man auch diese ihre Aus- ‚des Menschen wesenhaft „Sein zum Tode“, es hat,
künfte über. das Wesen des Menschen entschlos- den Tod als Wesenszug in sich selber aufgenom-
sen vom Tisch und: will nichts mehr von seiner men. Es ist ebenso wesentlich zeithaft. Ein zeit-
„essentia“ hören. Für diese Existentialphilosophie überlegenes und zeitüberdauerndes, überwelt-
und die ihr zugrunde liegende Zeitstimmung ist: liches Sein kommt hier nirgends mehr .in das
‘vom Menschen nur die „existentia“ übriggehlie- Blickfeld. Überall die radikale Endlichkeit. In
ben, die Frage nach der konkreten Grundsitua- dieser Sicht wäre dann auch der Tod nicht bloß
tion des in sein „Dasein“ geworfenen, um 'sich das Ende des physischen Lebens,: sondern die °
selbst wissenden und ringenden Menschen. Nicht übersinnliche, letzte Vernichtung ‚der Gesamt-
mehr das innerste „Sein“, sondern nur noch .das existenz..
"sich konstatierbar : darbietende „Dasein“ des ‚Mit rücksichtsloser Offenheit zieht Heidegger
us

Menschen ist Gegenstand des Nachdenkens. Die- das Fazit einer mehrhundertjährigen Zerstörungs-
ser. Philosophie geht es um Existenzerhaltung, arbeit. Hier hebt sich kein Blick mehr zur Höhe;
sie strebt zu diesem Zwecke ein totales Gespür ‘zu letzter Gründung in den himmlischen Welten.
der menschlichen Kräfte an. \ Alle Sterne im Weltenkosmos sind erloschen. Von
Treffende- Sprecher solcher Zeitstimmung schei- Gott ist keine Rede mehr. Zwar äußert Heid-
nen Martin Heidegger und Karl Jaspers zu sein. egger gelegentlich, daß mit seiner Daseinsinter-
Denn trotz aller Schwere und Dunkelheit ihrer Wer- pretation über ein „mögliches Sein zu ‚Gott‘
ke sind sie fast populär geworden. Weite Kreise weder positiv noch negativ. entschieden werde.
— vor allem die studentische Jugend — müssen in Aber 'tatsächlich bleibt bei dieser Daseinsanalyse
ihnen wohl die Interpreten ihrer Lage erkennen. der Blick in den Umkreis der Endlichkeit gebannt,

931
+

obschon doch die „Geworfenheit“ und das „Sich-


den Abgrund hinein, er operiert aus der Urver-
selber-Überantwortetsein“ des Daseins über die
zweiflung heraus. .
Endlichkeit hinausweist auf einen „Werfer“ und
' Wer dieses Bild vom Menschendasein auf sich
»Überantworter“ von überweltlicher Transzen- wirken läßt, wie es die Existentialisten zeichnen,
denz. Heidegger versucht den Menschen ohne Be-
den rührt ein Grauen an wie hei jener schauer-
ziehung auf Gott oder eine göttliche Welt
ver- lichen Vision Nietzsches von dem „tollen Men-
‚ständlich zu machen. Damit kommt er zuminde
st schen“, der in irrem Entsetzen die Schreckens-
zu einem methodischen Atheismus. Die Endlich-
kunde vom „Tode Gottes“ auf den Markt bringt.
keit muß hier mit sich selber fertig "werden,
in Die Zeitgenossen 'Nietzsches stehen auf dem
‘der Entschlossenheit zur bewußten, freien Über-
Markte und scheinen wie. harmlose Kinder noch
nahme und Meisterung ihrer Lage. Und gerade
nicht das heraufkommende Unheil zu ahnen. Für-
in diesem Punkte scheint Heidegger die Stimmung
sie ist das ungeheuere Ereignis nodi unterwegs
der Menschen, die nicht mehr über diese Welt und wandert.
hinaussehen, die bewußt, zäh, : verbissen sich Er selbst überschaut bereits mit
hellseherischer Gewalt die entsetzliche Lage. „Was
hier einrichten und hier ihr Werk leisten wollen,
ich erzähle“, schreibt er, „ist die Geschichte der
getroffen zu haben, so daß sie gespannt auf-
nächsten zwei Jahrhunderte die Herauf-
‚horchen. Einsam und allein bleibt der Mensch
kunft des Nihilismus Unsere ganze europä-
da auf sich selber gestellt in seiner unsicheren
ische Kultur -bewegt sich seit langem schon mit
Existenz über dem bodenlosen Abgrund, über
einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt‘
dem Nichts. Alle Fragen nach dem: Woher und
zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe
Wohin, nach dem Warum und Wozu
des Da- los“. Jenen Unglücksboten auf dem
seins sind hier vergebens und verhallen in gna- Markt, der.
sich selber als „Mörder Gottes“ weiß, hat ein
denlos nichtige Leere. Wie ein Meteor taucht der
übermenschliches Grauen vor dem ungeheueren
‘“ Mensch auf aus dem Abgrunde des Nichts, ge-
Ereignis in den Wahnsinn getrieben: Nietzsche
worfen in sein mühseliges DA, um nach Erfüllung
sieht, daß die Preisgabe des christlichen Glau-
seiner Möglichkeiten wieder abzustürzen in
die bens ‚auch die christliche Moral und schließlich
lautlos dunkle Nacht, aus der er gekommen.
die Moral überhaupt erschüttern muß und so
Hier werden alle Ilusionen, die bisher das Ant-
zur Zertrümmerung einer jahrtausendealten Kul-
litz des Atheismus verschleierten, erbarmungslos
tur führen wird, °
zerrissen, wird die Existenz ohne eine Welt
des Ja, wie soll der denkende und fühlende Mensch
Göttlichen in ihrer ganzen Furchibarkeit entlarvt.
es aushalten in dieser furchtbaren Situation?
Karl Jaspers sieht hier tiefer als "Heidegger.
In der endgültigen Eingrenzung auf das Diesseits,
Er ist vor allem dem Phänomen der „Geworfen-
in der radikalen Endlichkeit, um die nur das
heit“ besser gerecht geworden. Die menschliche
„nichtende Nichts“ in abgründigem Schweigen
'Existenz wird sich nach ihm bewußt, nicht durch
sich lastend ausbreitet? —
sich allein zu sein, sich nicht in sich selbst zu
Die Existentialphilosophen appellieren an die
schließen, sich nicht selber zu genügen, sondern
sittlichen Kräfte des. Heroismus mit dem Aufrufe‘
auf Trauszendenz gerichtet zu sein, auf ein wirk-
zur „Entschlossenheit“, die besagt: trotz der ver-
liches „‚über sich kinaus“ und schlechthin Anderes
. zweifelten Lage um so fester Fuß fassen in die-
Was nun dieses Transzendente ist, bleibt aller-:
ser Endlichkeit, den Sturmriemen enger schnallen,
dings nach Jaspers unshgbar verborgen. Es wird
einsatzbereif, wissend um Bedrohung und Tod,
im Weltsein wie mit geheimnisvoller Chiffre-
seine Aufgabe in dieser Zeit ‚meistern und mit
Schrift transparent in verschiedenen ‘Symbolen.
Größe ‚und Gefaßtheit untergehen. Dieser He-'
Aber die Chiffren können nie dechiffriert werden,
roismus ist umwittert von düsterem Glanz, aber
meint’ er. Das Transzendente bleibt das schlecht-
auch von 'grenzenloser Tragik, denn er verlangt
hin Andere und ‚Unbekannte, mag man es Weli-
eine Allmachtsleistung: das Fußfassen in leerer
grund, Gottheit ‘oder wie sonst nennen. Über
Luft über gähnenden Abgründen. Er ist zu-
‚diese Schranke kommt Jaspexs’ Philosophie. nicht
gleich unmenschlich, weil er vom Menschen Un-
kinaus, so daß letzten Endes doch wieder. die mögliches fordert. So wird die .heroische Ent-
Möglichkeit absoluter Inhaltsleere der Trans-
schlossenheit zur Trotzhaltung, zu dem krampf-
zendenz aufgähht. Immerhin bleibt hier wenig-
haften Verfestigungsversuch über einer tief-
stens der Raym ausgespart für den wirklichen!
inneren Unsicherheit der Existenz. Diese Ent-
lebendigen, persönlichen Gott der "christlichen
‚schlossenheit mag‘ vorhalten, solange noch nicht
Offenbarung, wenn auch Jaspexs selber diesen
die letzten Daseinsstützen dieser Welt gebröchen
letzten Schritt nicht tut. — sind, aber in äußersten Existenzzuständen, in
Der Existentialismus ist demnach nichts anderes
letzter Armut und bitterster Verlassenheit wird
als eine Bemühung, alle Folgerungen aus einer
sie den Menschen, der mit ungetrübtem Bewußt-
zusammenhängenden atheistischen Einstellung zu
sein und ohne romantischen Rausch auf seine
ziehen. Er stürzt den Menschen zwangsläufig in
Lage sieht, zersplittern müssen, — —
’ ” 8

232
.

Yiele Menschen unserer Zeit wären heute im- dem nämlich, was bisher in den Hüllen sich ge-
stande, Philosophien niederzuschreiben in der äußert hat, und der Persönlichkeit selber. Es
Art der Existentialisten. Einfacher ist es, Be- ist jener geheimnisvolle Augenblick des Sich-
trachter, Kritiker, Systematiker zu sein, als sich selbst-Ergreifens in dem; was nicht „von dieser
um ein neues Schöpferisches zu mühen. Nun ist Welt“ ist. Da kgun kein anderer Mensch inner-
aber durch das Lebenswerk Rudolf Steiners lich-geistig dabei sein. Da ist jeder Mensch allein
längst derjenige Weg erschlossen worden, auf im Sprechen der geistigen Welt in ihm und durch
dem der einzelne Mensch mit Bewußtsein zum. ihn,
objektiven Geiste gehen kann. Ebenso ist in Dieser Vorgang kann von den Eltern oder Ver-
dem Kultus der Christengemeinschaft ein realer wandten am allerwenigsten mitverfolgt werden,
Weg zum Geist-Erleben da. Diese Wege wollen selbst dort nicht, wo der allerbeste Wille und
nicht beschrieben und begutachtet, sondern be- die allergrößte Liebe auf seiten der älteren Ge-’
gangen werden. Die geistige Situation der Zeit neration vorliegen. Vielleicht haben die Ferner-
erfordert Menschen, die den Mut haben, den stehenden eher die Möglichkeit dazu als die
Geistesweg zu gehen, auch wenn nod so viele Allernächsten. Zu meinen, daß es für die- Näch-
andere ihn nur registrieren. Diejenigen aber, sten doch möglich sei, von diesem „Sprung“ ab-
die ihn wirklich gehen, dürfen von der großen zusehen, führt zu schweren Konflikten zwischen
inneren Hilfe wissen, daß wir in der Gegenwart älterer und jüngerer Generation. Erst sehr viel
in einem michaelischen. Zeitalter leben. Durch später — jenseits der von der jüngeren Gene-
“ diese Erkenntnis bleibt man davor bewahrt, in ration vollzogenen „Umstülpung“ — kann der
nihilistischen Gedanken hängenzubleiben, die im innere Entwicklungspfad der sog. „Rinder“, die —
besten Falle ehrliche Bilanzen über den Leer- nun inzwischen doch selber Erwachsene geworden
lauf des bisherigen Geisteslebens und insofern stand, wieder xerfolgt und dann neu vom Ver-
notwendige Durchgangsstationen sind. stäudnis der Älteren begleitet werden.
\ "AdolfSuso Mayer x*

"Zunächst herrscht in der Familie zwischen vor-


Familienbindung und Gemeinschaft angehender und folgender Generation die „bluts-
\ freier Geister gebundene“ Liebe. Sie verfügt gewißlich über
2004 . eine Erkenntnisfähigkeit; diese aber ist instink-
Schicksalswalten zwischen den Generationen
tiv schauend und dumpf geartet. Die natürliche
Im Leben der ‚Familie wird die Entwicklung Mutterliebe gegenüber den Kindern schöpft aus
. der Kinder bis zu einem gewissen Älter durch dem Born solcher Fähigkeiten; aus ihm entsteigt
die Eltern verstanden und überschaut. Häufig jene Lebenswärme, von der alle in der Umgebung
meinen die Eltern, auch die weitere Entwicklung der Mutter sich wohlig durchdringen lassen.
"in dem Alter, in dem die jüngere Generation Später muß sich dieser Lebenszusammenhang
nun selber allmählich erwachsen wird, verstehen, lösen, er bröckelt von selber ab. Die Seibständig-
zu können. Als ob das Verständnis, das sich auf keit der heranwachsenden Generation durchbricht
eigengeprägte Persönlichkeiten richtet, sich gerad- die bisher schützenden Hüllen. Indessen wollen
linig fortsetzen könnte. Vielleicht war das zur oft die Eltern krampfhaft festhalten, was nicht
Zeit früherer Generationen möglich. Heute dürfte zu halten ist. Dabei sind sie ‘oft des ‘Glaubens,
das in den seltensten Fällen gelingen. Dazu ist sie meinten es gut mit ihren Kindern. Subjektiv
jeder Mensch des heutigen Zeitalters eben zu ist es gewiß so. Und doch meinen sie in Wirk-.
„individuell“ geworden. Und das stellt unge- lichkeit häufig nicht die „Kinder“, sondern —
wohnte Forderungen an das Mitverstehen auch sich und das Lebensverhältnis, das zu den Kin-
— oder gerade — der nächststebenden Menschen. dern bestanden und ihnen so wohlgetan hat, daß
Zittert in der modernen Zeit in diesen Schwierig- sie es nicht gern aufgeben möchten.
keiten nicht etwas von, jener Erschütterung Eine Heilung des zweifellos eingetretenen Risses,
“nach, die in der Begegnung zwischen dem Chri- der doch zugestanden werden sollte statt über: .
stus Jesus und seinen - Blutsrerwandten einmal tüncht zu werdeng tritt dann ein, wenn jeder
durchbrach, die da fragen: Ist er nicht Josephs als Individualität den Mut zum Geiste entwickelt.
Sohn? Ist er nicht unser Sohn? Haben wir nicht Und
zwar jeder der älteren und jeder der jün-
den Vorzug, vielleicht das Anrecht, ihn am besten geren Generation. Einen anderen Ausweg gibt
zu verstehen, weil wir seine Blutsrerwandten sind? . es nicht. Mag es danlı von außen so scheinen, als
Dieses Werden der Individualität vollzieht sich ob die einzelnen Familienglieder alle noch in
nämlich in einem „Sprung“, in einer „Wendung“ der, Hülle der ursprünglichen Familie lebten,
des jungen Menschen zu sich selber. Da ist nicht durch die Hüllen hindurch wirken jetzt — Gei-
bloß geradlinige Fortsetzung, sondern manchmal ster. Ind aus den Geistern entbindet sich die
wie eine Auswechselung des Menschen zwischen Kraft der — frei erkennenden Liebe und er-
z
233
kennt den früheren Blutsverwandten in seiner jeder Unterrichtende sich bemühen,in den ersten
‚Geistgestalt“, Das führt dann zu einem. von Schuljahren seinen Stoff so auszuwählen, daß er
Grund auf völlig umgewandelten Zusammen- ihn zum Keim der späteren Stunden und J ahre
werden ‘läßt. In aller Stille wird das so
ieben der Familienglieder untereinander. Aus_
der dumpfen Familienbindung „entwickelt sich Gegebene’ immer weiter und tiefer in den Seelen
‚die Gemeinschaft freier Geister. Ein großes Wun- der Kinder gedeihen.
der, gerade wenn es auf dem Schauplatz der Fa- Das Geheimnis -der rhythmischen Kontinuität
zilienzusammenhänge gelingt! — an der wachsenden Pflanze abgelesen — ist
* , ‚ auch im Menschenwerden in ungezählten Formen
wirksam. Sei es im Gedanken, der, in der Exinne-
Das Wesen der Familie hat sich in den hinter rung bewahrt, im Reifwerden des Menschen immer
uns liegenden Kriegsjakren nicht bloß zrob .höber und höher dem Geiste entgegenwächst
äußerlich, sondern tief innerlich, aber dort. bei- ünd sich läutert, sei es in einem-Bilde oder Ur-
nahe unbemerkt verändert. Jetzt ist es an der. Symbol, ron dem das Kind erst einmal beein-
Zeit, diese Veränderung in das Bewußtsein auf- druckt wurde und das es nun begleitet für das
zunehmen. ganze -Leben, wobei immer neue Quellen ent-
Das feste und geschlossene Gefüge der Faxilie springen, die den Menschen erquicken. Solche
ist durch die im Krieg erlittenen Verluste auf- Gedanken und Symbole aber, in weiser Erkennt-
gelockert; Väter, Söhne, Brüder sind über die nis der werdenden Seele im rechten Augenblick
Schwelle berufen worden. Nun wirken sie von eingesät, in bestimmten Zeiten und Rhythmen. ge-
drüben mit an den Schicksalen der auf Erden pflegt, werden später in dem Herangereiften sich
‘ Verkörperten. Und das ist spürbar: es kann sich zu Taten entwickeln, die die ganze Kraft des
nämlich durch sie ein unermeßlicher Reichtum anfänglichen Keimes in die Welt hinaustragen.
an helfenden geistigen Anregungen den Lebenden’ Eine solche Sage wie die vom heiligen Gral,
‚ erschließen. So merkwürdig es klingt, die Leben- einmal deu kleinen Kindern- auschaulih und
den, welche durch .die Verluste ihrer Lieben hin- fromm erzählt, wird von ihnen später gerne in
durchgeführt worden sind, sind — „reih“ zu ihre Spiele aufgenommen. Nach Jahren erwecken
nennen im Vergleich zu solchen, denen diese hel- ihre geheimnisvollen Bilder Ideale in ihren See-
fenden. Änregungen vom Geiste her fehlen. Es len, bis sie endlich im gereiften Menschen zur
kehrt sich, wie so .vielfach im Leben, die Beur- inneren verborgenen Substanz werden. Ihre Taten
-teilung um: „Reich“ sind die, welche als schein- werden einen stillen Glanz in.sich tragen und
bar Verarmte auf Erden zurückgeblieben sind. Segen verbreiten.
„Arm“ erseheinen solche, die — ein seltener Fall Was hier noch ganz der Kunst des Lebrers
— im Verbande ihrer Familie. unangetastet ge- und des Erziehers” überlassen bleibt, tritt je-
blieben sind, sofern sie nicht auf andere Weise doch in seiner vollen Größe erst vor uns hin,
die Anregungen des Geistes ‚sich anzueiguen ver- wenn wir erkennen, daß sakramentale Handlun-
mögen! . gen, die an einem Neugeborenen vollzogen wur-
Und so ist es geradezu in Begegnungen mit den, in aller Verborgenheit weiterwirkend nach
Familien. spürbar: ob die Familie im Panzer der vielen Jahren in dem Geistesstreben des jungen
nicht erschütterten irdischeu Gemeinschaft fort- Menschen ans Tageslicht treten. Etwas von dem
lebt, so wie früher auch, oder ob die „Wolke“ einst unberührt Empfangenen wird nun in voller
‚der ihnen verbundenen „Entkörperten“ anwesend Bewußtheit von ihm selbst vollzogen. Im Sakra-
ist und das irdische Tun der zurückgebliebenen ment der Taufe empfängt das Kind drei Zeichen
Familienglieder überstrahl. Robert Goebel mit Wasser, Salz und Asche auf Stirn, Kinn und
Brust. Das geschieht unter Anrufung der gött-
lichen Drei-Einigkeit. Wie mit einem dreifachen
Michaelisches Handeln Siegel, das der neu in die Erde Eingegangene für -
Es ist für einen Lehrer ein besonderes Erleb- sein Leben empfängt, ist es nunmehr „gezeichnet“.
nis, wenn er — et\va in einer Religionsstunde — Ein‘ getauftes Kind ist einem Acker zu vergleichen,
eine Geschichte durchgesprochen hat, von der er der den Samen zu späteren Geistestaten in sich trägt.
weiß, daß sie immer wieder in den höheren Erst nach vierzehn Jahren ist die Frucht dieser
Klassen auftreten und ‚sich dabei immer neu ersten Weihe ausgereift: wenn der junge Mensch vor
und tiefer entfalten. wird. Ein Beispiel dafür dem Altar steht und ‚sich seinem Genius verbin-
ist die Parzival-Sage, die, im zarten Kindes- - det, indem er dieselben Stellen seines Leibes
alter in die Seelen gesät, nach mancherlei dreimal bekreuzigt, die einst in der Taufe geweiht
Steigerungen erst etwa dem Achtzehnjährigen ihre wurden. Es ist eine besondere Stunde des Vorbe-
tiefsten Geheimnisse verschenkt. reitungsunterrichtes auf die Jugendweihe oder’
Wie in einem Samen schon die ganze sich Konfirmation, wenn die Jugendlichen auf diesen
später entfaltende Pflanze veranlagt ist, so wird. Augenblick hingewiesen werden, in dem sie zum

234
ersten Male im Zusammenhang mit der Men- zum „Ritter des Geistes“, indem er sich mit
shenweihehandlung den Vater, den Sohn und seinem Genius durchdringt.
den heiligen Geist anrufen lernen, daß Er in ihnen Man hat in diesem Vorgang ein Urbild allen
michaelischen Handelns, .wenn man eine solche
sei und schaffe und sie erleuchte. Diese Anrufung
Tat vergleicht mit dem alltäglichen Tun des Men-
ist aber nicht nur die eines Gebetes, sondern sie
schen. Dieses ist meist ein Handeln, das ohne.
ist zu gleicher Zeit eine Gebärde des Segens und
Wurzel, ohne ‚Vergangenheit und ohne Geistes-
Weihens der eigenen Leiblichkeit, die der Tem- ziel irdischen Zwecken dient und den- Menschen
pel der menschlichen Seele ist und werden soll. belastet. Denn sie geschieht nicht aus Freiheit,
Wenn Rudolf Steiner auf den tiefen Zusammen- sondern irgendein Äußeres oder Inneres: ist
hang zwischen Gebet und Segen einmal hinwies schließlich die zur Tat drängende oder nöti-
und sagte, daß Menschen, die in ihrer Kindheit gende Ursache. Die Taten, die aus den mannig-
beten gelernt hätten, im späteren Alter’ die fachen Leidenschaften und Wünschen unserer
heilende Kraft des’ Segnens in sich trügen, so ist Seelen oder unter dem Zwang: irdischer Tat- x

beim Mit-Feiern der Weibehandlung im Rahmen: sachen und Notwendigkeiten geschehen, sind
selten menschenwürdig zu nennen. Als dem Ur-'
der Konfirmation in dem dreifachen Kreuzeszei-
bild entsprechendes michaelisches Handeln er-
chen an die Stirn, über. Mund und Kinn und-
scheint uns die menschliche Tat erst, wenn sie,
über die Brust gewissermaßen die erste Segens- aus der Segenswelt des Geistes einmal als Same
tat veranlagt,. die ihren Keim in dem Taufakt empfangen, in der Liebe zu Christus — Segen
liegen hatte. Der werdende Mensch vollzieht spendend in alle Welt — aus eigener Freiheit
hier die Geistestat und macht sich damit selbst vollzogen wird. Arnold Goebel

Der Kampf von Paris


An einem Dezembermittwoch des Jahres 1270 sam ist; aber er verbindet sich nur während der
versammelten sick die Professoren der Univer- Dauer des Lebens mit dem Einzeluen. Der Mensch
. sität Paris zu einem feierlichen Akt. Man sah die ist ein Tier. In seinem Schicksal .wie in allen
Soutanen der Weltpriester, weiß-schwarze Kutten irdischen Dingen waltet keine Vorsebung.. Im
der Dominikaner, farbige Mäntel weltlicher Dok- menschlichen Willen gibt es nur Notwendigkeit.
toren und ‘das braune Tuch der Jünger des Alles, was auf Erden geschieht, unterliegt der
Franziskus. Niemand durfte fehlen. Lichter Gesetzmäßigkeit von Gestirnskonstellationen. Die
d brannten,.denn der Tag war trübe. Seele des Menschen vergeht mit seinem Körper;
Etienne Tempier, der Bischöf von Paris, be- auch Gott kann sterblichen Dingen nicht Unsterb-
stieg das Pult und verlas in die atemlos ge- lichkeit und Dauer rerleihen.“
spannte Stille dreizehn Sätze. Diese Sätze soll- Sie alle, die bis heute so gelehrt hatten, waren
ten von nun an verbannt sein; verbannt und ex- treue Söhne der Kirche, ja sie trugen sämtlich
kommuniziert auch alle, die sie noch lehren, das priesterliche Kleid, von dem brabantischen
anerkennen oder stützen würden. Paris war das "Professor Siger angefangen. Aber was aus ihnen
Auge der Welt, der Sonnenaufgang im Norden, sprach, war der Geist des toten Averroes, der
seine Universität die erste des Abendlandes, Geist jener Araber, die seit einem Jahrhundert
sie rühmte sich, die zwölf gelehrtesten Männer als Könige im Reich des Denkens galten.
der Christenheit unter ihren Lehrern zu haben, Und die christliche Lehre von der Unsterblich-
Wenn in Paris etwas verworfen wurde, so galt keit jedes Einzelmenschen, die” der .Tod eines
das für Europa. Etienne Tempier ist den Beitel- Gottes besiegelt hat? „Was wahr ist in der Philo-
mönchen, die sich neuerdings in der Wissenschaft sophie, kann falsch sein in der Religion und um-
die ersten Namen erringen und die den Heiden gekehrt“, lehrte Siger von Brabant, lehrte die-
Aristoteles erläutern und zitieren, nicht beson- halbe Fakultät von Paris.
ders wohl gesinnt. Aber er hat sich doch von Nie noch hatte man Thomas von Aquino, den
einem von ihnen, Thomas von Aquino, die drei- ‚sanften, so erregt gesehen wie in den langen
zehn Sätze formulieren lassen, weil es in ganz Disputationen, die diesem Bannspruch voran-
Paris keinen scharfsinnigeren Geist gibt, keinen gingen. Seit einem Jahr ist er zum zweiten Mal
besseren Kenner der Theologie und Philosophie. im Kolleg der Pariser Dominikaner, das ein Teil
„Der Mensch ist sterblich, nur die menschliche der Sorbonne ist. \
Rasse ist unsterblich. Es gibt nur einen un- „Aber - Aristoteles lehrt, Aristoteles be-
sterblichen Intellekt, der allen Menschen gemein- weist..... “ frohlockten Siger und die Seinen;

235°
„so steht es in den Werken des Averroes! Kann Wahrheiten, sondern nur eine, auch wenn man
- jemand .besser Bescheid wissen über Aristoteles sich ihr auf verschiedenen Wegen nähern kann.
als er?“ Seit sechs Jahrhunderten haben die „Unsere Zurückweisung dieses Irrtums.ist nicht
Araber Aristoteles studiert, er gilt ihnen beinahe auf die Urkunden des Glaubens gegründet, son-
mehr als der Prophet des Islam; sie haben seine dern auf die Gründe und Beweise der Philosophie
Schriften gerettet, als die Christen die griechi- selbst! Wenn jemand - dies angreifen will, so
schen Philosophenschulen schlossen, die letzten möge er es nicht in irgendeinem heimlichen Win-
Wissenden vertrieben und die -unsterblichen kel’tun oder vor Kindern, die unfähig sind, so
Werke untergehen ließen. Das Gold der Araber schwere Fragen zu entscheiden. Er möge offen
erkaufte die Rollen und spürte sie auf in aller antworten, wenn er es wagt; er wird mich be-
Welt; in ihre Sprache übersetzt, haben sie den reit finden, ihm entgegenzutreten; aber nicht
' größten der Griechen dem Abendlande wieder- nur meine unwichtige Person, sondern viele an-
gegeben. Aus arabischen Werken nur kannten dere, welche die Wahrheit erforschen. Wir wer-
die Pariser Averroisten den Stagiriten. den seine Irrtümer bekämpfen oder seine Unwis-
, „Jene Averroisten lehren die Philosophie und senheit heilen.“
schließen die Augen vor dem Evangelium“, rief Wenn die Sonue aufging hinter den spitzen Tür-
Thomas; „Averroes hat den Aristoteles falsch men neu erbauter Kirchen, waren die Augen hell
verstanden, die Araber haben den Griechen un- und die Köpfe kampfbereit. „Der Mensch ist
genau übersetzt!“ Vor Thomas’ Augen lag ein sterblich?“ Konnte ein Christ noch der Ruhe
neu übersetzter Aristoteles, seine Schüler haben pflegen, solange Christen ein solches Wort ver-
das Werk vollendet. „Aristoteles ist von ihnen teidigten? Der Mensch soll ein Wesen sein ohne
getauft worden“, spotteten die Gegner. freien Willen, ohne’ gottgewolltes Schicksal? Von
Nach wie vor, trotz Bannstrahl und Exkom- Kathedern und Kanzeln herab wurde widerlegt;
munikation, nur geschickter bemäntelt, lehrten wenn Thomas von Aquino sprach: klar, verständlich
die Averroisten, diese Araber in christlichem Prie- und voll inneren Feuers, dann faßte der größte
sterkleid, ihre Philosophie. „Thomas oder Siger: Raum nicht die Menge der Scholaren. „Die ganze
wer hat’ recht?“ fragten sich die Scholaren in Philosophie‘ könnte verbrennen — er würde
hitzigen Diskussionen. „Christlicher Peripatetis- sie allein wiederherstellen“, sagten seine Freunde
mus oder ungläubiger Peripatetismus?“ klang in allen Ländern. Stille Kreuzgänge hörten
es wieder in bangen Herzen, in ernsten und feu- stürmische Schritte. Trug die Lehre nicht schon
rigen Köpfen, Bei spärlichen Lichtern saßen die böse Früchte? Ein guter Teil des Klerus, des
vornehmsten Geister über Pergamente gebeugt; averroistischen Klerus, lebte nicht mehr nach
durch lange Gänge, nur von Ölfunzeln erleuchtet, christlichen Grundsätzen, man genoß das Leben,
gingen ruhelose, unbeschuhte Füße; vor den Al- dieses eine, irdische Leben, nach dem alles zu
tären der Klosterkapellen rangen Seelen um Ende sein sollte; keiner verlangte nach Opfer.
Erleuchtung. Aber wenn Mitternacht vorüber Und im Volk war kürzlich einer wegen eines.
war, konnte es sein, daß in den Reichen von ‘Verbrechens angeklagt und bestraft worden.
Traum und verdämmernder Schau die gespen- Der Mann verteidigte sich: „Ich denke nicht
sfischen Gedanken abgeschiedener Mohammeda- daran, abzubüßen ‘oder zu bereuen! "Wenn
. ner Gestalt gewannen und .die Schläfer bedroh- der Sünder Pierre selig gesprochen worden
ter. Nach solchen Nächten hörten die älteren Brü- ist und wenn ich mit ihm dieselbe Intelligenz
der den jüngeren die Beichte und sahen in Ab- habe, muß ich auch das gleiche Schicksal haben
gründe der Not und Versuchung. „Ist es nicht wie. er.‘
wahr, daß die Gedanken der Toten ausgegossen Briefe gingen nach Rom, Briefe nach Köln zu
sind in’ den Reichen über der Erde? Stimmt Albertus Magnus. Der greise Lehrer des Thomas
es nicht doch, daß wir nach dem Leben eingehen schrieb zurück, die Theorien der Parisei Aver-
in eine allwaltende Welt-Intelligenz? Ist die Men- roisten ‚seien eines Philosophen unwürdig und
schenseele unsterblich? Oder ist unsterblich nur viele von ihnen verdienten nicht den Namen
Gott? Gott, der uns wieder einatmet im Augen- von Philosophen; sie seien Sophisten. John Peck-
blick des Todes?“ ham aber, der Bischof von Canterbury, erklärte
Es wurde Ostern. Unter der rastlosen Feder jenseits des Kanals, Thomas sei es, der den Ari-
des Thomas war ein neues Werk entstanden: stoteles falsch verstanden habe, und in den Reihen
„Von der Einheit des’ Intellekts — gegen die der Franziskaner gab es Brüder, die lange Listen
Averroisten“. Eine Herausforderung ist es, wie, yon Streitpunkten aufstellten, in denen der Dok-
man sie noch nie in solch lodernden Worten tor Thomas abweiche von der Lehre des Kirchen-
gehört hat. Es geht um die Unsterblichkeit des vaters Augustin. Der Franziskaner Roger Bacon
individuellen Menschenwesens. Es gilt Sein oder nannte Albert und Thomas gar unerfahrene Kna-
Nicht-Sein der christlichen Offenbarung vor der ben; denn was konnte die christliche Philosophie
menschlichen Erkenntnis! Es gibt nicht zwei mehr ‚bereichern als die Lehre der Araber? Die
\
236
Araber hatten die Kunst des Experiments er- gegenüber, was mir jetzt offenbart worden ist,
funden, und „sie ist die Königin aller Wissen- erscheint mir alles wie Spreu, was ich geschrie-
ben und gelehrt habe.“
schaften und das. alleinige Ziel der Spekulation“.
Es heißt, daß die Araber, die ihren Gott mit
Warum dieser Glaube an die Macht menschlicher
Vernunft? Nur die Erfahrung kann leiten! hundert Namen nennen, ein Wort für furchtbar
Roger Bacon grübelte über die Zusammensetzung und unaussprechlich halten, das, Wort: Ich Bin.
von Linsen, um die kleinsten und entferntesten Thomas von Aquino, dessen ganzes Leben eine
Dinge wahrnehmen zu können, über einen Me- einzige Bereitschaft war, dieses Ich Bin zu er-
chanismus, Wagen anzutreiben ohne tierische gründen, es zu retten für das Glauben und Den-
Kraft; über eine Maschine, die fliegen konnte. ken der Christen, war am Ende der Wunsch ge-
Von einer der zahlreichen ‚Kanzeln donnerte währt worden: er hatte däs Urbild des Ich Bin
Damit war sein Leben zu Ende, die
geschaut.
unermüdlich der Weltpriester und Philosophie- ,
professor ‚Guillaume de St. Amour, der alte Aufgabe: seines Lebens in damaliger Zeit.
aner: „Wo- -Der Kampf um die Frage: Wie faßt das
Feind des Thomas und aller Dominik
des Menschen den Christus? sollte noch
her drohen Gefahren? Von den Prinzen und Ba- Denken
Linie, obwohl genügen d Jahrhun derte dauerü:; bis heute ist er nicht ab-
ronen? Nicht in erster
Barone auf seiten .derer stehen, - geschloss en. Alles ist erfunden worden, was Roger
Prinzen und
h sind. Auch nicht von den gehar- Bacon erträumte: die Linsen, die das Kleinste
die gefährlic
Entfernteste schen können, die Kraft, Wagen
nischten Rittern oder schöngekleideten Bürgern. und
anzutreiben ohne tierische Hilfe, die fliegende
Nein! Sie drohen von seiten jener, die äußerlich
und innerlic h- voll Maschine . Das Experiment ist zur Königin der:
Heiligkeit zur Schau tragen
haften gemacht worden und zum allei-;
List und Bosheit sind!“ ‘Dominikaner: das sind Wissensc
Amour Häretike r und Anti- nigen Ziel der Spekulation. „Ich lasse meine
: für Guillaume de St.
eben Gedanke n nie höher als bis zum Himalaya fie-
christen, die sich der Philosophie verschri
anstatt als Bettelmönche Demut und gen“, erklärte Edison, der Bahnbrecher unserer
kaben, läßt sich
des Starkstromtechnik; die Wissenschaft
Frömmigkeit zu üben; sie sind der Schwanz
"son :der Erfahrung leiten, man traut nicht
Drachen!
em Eifer gegen die Bettel- mehr der Macht menschlicher Vernunft, und seit
Vor lauter gehässig
Darwin scheint das Experiment die arabische
mönche komme der Weltklerus der Pariser Uni-
produkt iven Arbeit mehr, Lehre bewiesen zu haben: „Der Mensch ist ein
versität zu keiner
ein Tier“.
spottete Roger Bacon, sig alle hätten weder
Aber auch das Erbe .des Thomas hat nicht
Werk der Philosophie noch der Theologie her- Aristoteles wieder auf
nützten nur das aus, was brach gelegen: „Wenn
vorgebracht, sondern
die Welt käme, würde er sicherlich nicht alles
von den Dominikanern und Franziskanern ge-
unterschreiben, was Thomas behauptet hat“, sagt
schrieben worden sei. Insgeheim nennt sogar
der Dominikaner Sertillanges; „aber... er emp-
Nikolaus von Lisieux, der Kampfgefährte Guil-
fände jene tiefste Freude des Geistes, die es gibt:
laumes, um seinen gefährlichen Einfluß zu be-
von Aquino den „großen verstanden worden zu sein und sich selbst über-
zeichnen, Thomas
Meister“. “ troffen zu sehen.“ Wie Aristoteles sich übertroffen
Der große Meister ist nicht mehr in Paris. gesehen hat in Thomas von Aquin, so hat sich,
Er hat gegen die Averroisten gesagt, was zu Thomas von Aquin übertroffen gesehen in Rudolf
sagen wär, es langt für dieses eine Leben. Es Steiner. Thomas mußte schweigen nach seinem Da-
wird für Jahrhunderte langen. Im Kloster San fnaskus-Erleben; Rudolf Steiner durfte zu spre-
Domenico, wo er, der Sohn der Grafen von chen beginnen, wo Thomas geendet hat. Im
Aquino, der Verwandte von Herrscherhäusern, Beginn seiner Wirksamkeit stehen zwei Werke:
die verachtete Kutte der Bettelmönche ange- „Die Philosophie der Freiheit“ und „Wie er-
zogen hat, lebt er jenes Leben der Schau und langt man Erkenntnisse der höheren Welten?“
Begnadung, das er seit je keusch vor Welt und — die Übungsbücher zur Verchristlichung des
Kloster verbirgt. . Denkens und der Erfahrung. Thomas im 13.
wird Jahrhundert konnte beweisen,. daß der’ Offen-
Dem Reisenden, der nach Neapel kommt,
noch heute in der Kirche San Domenico ein kunst- barungsinhalt nicht dem menschlichen Denken
loses Christusbild gezeigt. Die Gestalt dieses widerspricht; aber er mußte verneinen, daß die-
Bildes sprach in die Versenkung des Aquinaten: ses Denken selbst die Stufen emporsteigen könne,
„Du hat gut von mir geschrieben, Thomas. Was die zu dem Allerheiligsten der Offenbarung füh-
Yillst du, daß ich dir dafür gebe?“ — „Nichts ren. Noch stand der Engel mit dem Schwert, Ein-
als Dich Selbst, o Herr“, habe Thomas ‘erwidert. tritt verwehrend, davor. Seither ist erfüllt, was
Seither sprach er wenig und schrieb nicht mehr, dieser Engel dem verstoßenen Adam in einem
und als Bruder Reginald, der Freund, von ihm alien Weihnachtsspiel verheißt: „Ich will euch.
eine neue Schrift erbat, war die Antwort: „Dem langsam rufen wieder.“ Der Kampf von Paris
, \ i ,
ı 237
\ ‘

ist in ein neues Stadium getreten, und wie da- kunden des Glaubens gegründet, sondern- auf
mals Thomas von Aquino ‘als führender Streiter die Beweise der Wissenschaft selbst. Wenn je-
erschien, so heute Rudolf Steiner. Er löst ein, mand dies angreifen will: er wird mich bereit
was Thomas vor dem Pariser Kollegium erklärt finden.“
hat: „Unsere Zurückweisung ist nicht auf die Ur- or =“. J.Krückv. Poturzyn
. | . . v

Aus Briefen von’Eduard


v Lenz f
Am Leben ind Sterben bedeutender Persön- Mich haben die erschreckenden ' Nachrichten
lichkeiten kann man. oft im Gefälle der natür- zu einer geistigen Aktivität aufgeregt, das Leid
lichen, von außen bedingten Ereignisse eine davon der Welt muß im verstärkten Streben der Seele
unabhängige Sprache des Schicksals unterscheiden. ' ein Echo erhalten. „Die Götter sind bereit, zu
Wie ein bewußtes Schreiten, wie freie selbst- helfen, sie sind nur durch ihre eigenen Gesetze
gewählte Taten will uns erscheinen, was, banal darauf angewiesen, daß sie es mit Menschen und
gesehen, notwendige Folgen äußerer . Ursachen nicht mit Puppen zu tun haben“. on
.sind. Der Genius nimmt unbeirrt seine ureigene 15,244
Bahn, Stufe um Stufe; aus dem Rohstoff der äuße-
ren Ereignisse meißelt und bildet er das Kunst- - une heute nacht: träumte ‘mein Stubenkame-
‚werk eines großen Lebens. Die folgenden Stellen rad, der nüchterne Mann vom Sicherheitsdienst,
aus Briefen von Eduard Lenz-aus dem Felde daß er die balbe Stadt Dresden in Schutt und
können wie einen feierlichen Hingang erscheinen Asche gesehen habe. Ja, da war früher einmal
"lassen, was äußerlih nur wie millionenfaches der. Altmarkt, habe eine Stimme. gesagt., Da .er ‘
Soldatenlos aussieht. Die Briefe sind mit Aus- selbst früher in Dresden gelebt hat,. geht ihm
nahme der vier besonders bezeichneten an seine der Traum sehr nahe*. Er träumie übrigens
Frau gerichtet. Eduard Lenz siarb am 8. Nor. vor 14 Tagen vom Tode seines Neffen, und
1945 auf dem Heimtransport aus Sibirien, wo tatsächlich bekam er. vorgestern die Nachricht,
er in einem Bergwerk seine Kräfte zu Tode daß, er gefallen sei. So tut sich das Geistige kund.
erschöpft hatte. . \ WK bei einem Menschen, der es in seiner Tagesraison
leugnet. Nicht als ob man auf einen solchen
9.8.43 Traum etwas geben sollte, aber Du siehst, die
“ . bange Sorge um das künftige Geschick der Stadt
.... das Wichtigste bei dem was uns erwar- .ührt die Herzen sogar bis hierher.
tet, ist, daß wir die Ruhe behalten, man kann
mit dem Tode nicht wettlaufen; wenn er will, Palmsonntag, 2. 4. 44
ist er immer noch schneller als wir. Jetzt kom- ..... aber heute, wo der Feind so drohend
‚men die Tage der Bewährung, wo der Glaube anrückt, muß der Letzte, der ein Gewehr noch
an das Unsterbliche zu einem Leben im Ewig-un- halten kann, unter die Waffen. Wie soll denn
vergänglichen werden muß. Die Wehen des sonst die Flut gedämmt werden! Denk es immer
neuen Bewußtseins setzen mächtig ein, die mate- wieder durch, daß heute eine göttliche
rielle Seelenverfinsterung wird in furchtbaren Notwendigkeit alle Opfer und alles Leid
Stößen aus den Herzen herausgeschüttelt und ich und allen Tod herbejtuft. Die Menschheit muß
sehe hinter den Splittern der Bomben und dem das selbstgeschaffene Inferno auskosten, von drü-
Feuerschein der brennenden Städte die Blicke ben klingen auch schon die Fanfaren der Tod-
der geistigen Welt, die in die Seelen fährt. Noch überwindung. . Deinem vom Osterfest erhellten
hörbarer als das Bersten der Luftminen ist der und beschwingten Herzen mußt Du alle Opfer,
Donner der Gottes- Worte, die uns aus dem abringen, für mich ist es weniger ein Weggehen
Schlafe rufen. Ich glaube, es gilt jetzt besonders von Johannes, sondern er rückt mir näher als
wachsam zu sein und über der Lebenssorge nicht Kamerad**. Was wird das nächste halbe Jahr
das Wichtigste zu versäumen,
. *) Dieser Brief von E. Lenz kreuzte sich mit einem Brief sei-
ner Frau an ihn, in dem sie mitteilte, daß ihre Tochter Ruth einen
, 11.8. 43 Tag yorher, also in
i der Nacht yom 2 zum M, Februar 1 1944, 8
. . . R träumt , daß tadtD B stört
„eben bringt das Radio die Nachricht von und daß sie dabei ums Leben komme. Dresden war der Wohn-
enzl Nürn- ort der Familie bis 1944, Genau ein Jahr später, am 13. Februar
der Zerstörung der St. Lorenzkirche in 1945, gegen Mitternacht fand jener fürchterliche Angriff auf Dres-
berg. Die Wahrzeichen der Städte und der kul-- * den statt, der Hunderttausende von Todesopfern forderte. Lenz’
turellen Vergangenheit des Volkes sinken in den beide Töchter, Sophie und Ruth, befanden sich auf der Flucht
aus Bautzen für 2 Tage in der Stadt Und wurden unter den
Staub, das Herz ist schwer von*all dem Unter- Trümmern ihres früheten Wohnhauses begraben. Lenz’ jsasber
- träumte den Anblick der Stadt, den sie am 14. Februar } 45 bot.
: a Vorhänge 15 ur Fi ee das offenbar gört **) Lenz’ füngster Sohn Johannes ı war zum Militär eingezogen
i erhängte hinnehmen. worden. \

238 7
,

wech bringen? Vielleicht wird es das schwerste, wo es kein Abseits mehr gibt, sondern nur nock
aber es ist tröstlich, daß das Osterfest an seiner den unermüdlichen Schwung der Planeten und
Pforte steht: Feiert es nur mit den lichten Gedan- die bewegliche Rube der Fixsternex
kn; der Glanz und der Friede, der von Golgatha
kerweht, kann durch nichts mehr ausgelöscht wer- 1.5. 44
den; am Ende müssen wir noch durch viele unen Heute ist der 1.Mai, der Flieder duftet.
schmerzliche Erfahrungen hindurch, bis eine und die Luft ist voll von seiner Süßigkeit, die
solche Wahrheit uns ganz durchdringt, aber Kerzen der. Kastanienbäume leuchten weiß aus
sie leuchtet uns doch wie eine Fackel in dem Grün der Blätter. Bei den Alarmen liegen
der Finsternis, Ich lese gegenwärtig die Un- wir im. Gras und sonnen uns, nachts monden wir
terhaltungen Goethes mit dem. Kanzler von im fahlen Licht! Ich habe dann jeweils die Zeit,
Müller. In einer schweren Krankheit sagt Goethe meinen Gedanken nachzuhängen, es ist: für mich.
auf einmal in Fieberphantasien: der. Krankheits- der größte Reiz gegenwärtig die großen Entwick-
stoff von 3000 Jahren quält mich. — Bei uns lungsrunden zu fühlen und damit die Empfin-.
ist es nicht anders. Seit dem Verfall der alt- dung zu erreichen, daß alles unaufhaltsam über
ägyptischen Kultur hat sich das angehäuft, was den jeweils gegenwärtigen Zustand hinausstrebt,.
jetzt ausgelitten und durchgekänipft werden muß. Sternenzielen entgegen; darnach habe ich immer:
Die ägyptischen Finsternisse verdunkeln heute wenig Lust, mich mit andern Büchern zu be-'
die Sinne und Herzen. Die’ Mumien in den Grä- fassen. Ich verstehe von da aus, daß einmal die-
beru müssen heute den Weckruf .des Menschen- Menschen zur Bibel ein solches Verhältnis hatten,
sohnes hören. Diese und ähnliche Gedanken be- daß sie in ihr alles sahen. Sie nannten sie einfach
wegen mich z. Zt. viel. \ Das Buch. Die Bibel kann das ohne ‘weiteres für
In allem Bewegten aber bleibt mir die Ruhe uns heute nicht mehr sein, weil sie das Ichprinzip-
und Sicherheit Eurer Liebe und Deines mir immer der Wissenschaftlichkeit nicht in sich hat und
mehr verbundenen Wesens. ‘ darum nicht den Grad der Bewußtseins-Hellig-
keit, nach dem wir verlangen. Erst wenn wir. mit.
Ostermontag, 1944 modernen. Erkenntnisen wieder an sie heran-
gehen, füllt sie sich mit unvergänglichem Lehen..
.....nach der vorausgehenden ‚gedämpften
Zu neuen Betrachtungen* habe ich mich noch
Stimmung, die am Karfreitag ihren Höhepunkt
nicht aufschwingen können. Mich hindert der
erreichte, ergriff mich am 'Karsamstagabend die
Pudel, den ich aus den Spaziergängen mit nach
seit Jahren vertraute Festesstimmung, gleich‘. als
Hause bringe, das Testament aufzuschlagen und
ob die Seele unmittelbar den Eintritt eines höhe- außerdem, was sollen schon Menschenworte be-
ren Ereignisses fühlte. Es muß doch immer ein sagen gegenüber dem Geheimnis des Leidens.
unvorstellbar feierlicher Augenblick sein, wenn und Todes, das ich jetzt betrachten goll.
Christus und die Seinigen ihre Blicke in der Er-
innerung auf die Tat selbst zurückwenden und | 16. 5. 44
damit die neue Erde wie geheimnisvoll leuchtend '
ern es geht uns allen so, daß sich. uns die-
erstrahlt. Was wir als Osterfest empfinden, ist
Wege im Erdenleben verbauen und die Pfade
das. Erblühen der Neuen Erde, die wie unter von. Drüben sich immer mehr erhellen. Ich frage-
der wärmenden Blick des Erstandenen ihr Wachs- mich oft so; "das Schicksal wird die Antwort
tum spürt, Ich bekam die unmittelbare Anregung, geben; aber ob hier. oder dort, das Wesentliche-
. die Entwicklung der Erde in ihrem kosmischen ‘unseres Erdenlebens bleibt bestehen und findet
Werdegang wieder zu verfolgen und wenn die seine Fortsetzung. Wenn ich an den Evangelien
Lust daran anhält, bleibe ich diesem Osterfeste arbeite, dann ist mir immer, als würde der rote.
dankbar. (Du verstehst das nur, wenn Du be- Faden, der Erdenleben mit Erdenleben ver-
denkst, daß ich mir Stimmungen und Lust zu knüpft, immer deutlicher; das hat auch seine
geistiger Arbeit, die mir immer selbstverständlich Zukunft, allen Dunkelheiten der eigenen Natur
waren, aus dem tödlichen Einerlei des- Dienstes zum. Trotz, und vor allem, je inniger wir unser
immer neu erwecken muß.) Es ist mir Leben in diesem Geiste finden, desto weniger
interessant, zu beobachten, wie man vertrotteln können wir getrennt werden, ob wir.noch lange
kann oder könnte, wahrscheinlich. bis zu miteinander leben dürfen, ob miteinander ster--
dem Punkte, wo ‚der. Tod ein 'blitzartiges ben oder füreinander liebend helfend da sein im-
jähes Erwachen aus dem Sinnesschlaf bringt. Ich Leben und Tode,. wir überlassen es, den guten
stelle mir den Tod am liebsten immer als den Mächten. Lieben wir uns immer herzlicher.
großen Wachrufer vor, der die Seelen aus dem *) Er hatte damals schon eine lange Reihe von Betrachtungen.
müden Verdämmern auf ihren Lebenswegen plötz- über die einzelnen Kapitel des‘ Matthäusevangeliums niederge-
schrieben und nach Hause geschickt. Einiges daraus ist den Le--
lich in. die Bahnen des kosmischen Lebens reißt, sern: dieser Zeitschrift bekannt geworden.
a

23%
blühende Linde, Ahorne und Tannen,
. . 24, 5. 44 mir die
de-
me es war mir, als schriebe ich Dir einen das rotweiße Pförtnerhäuschen am schmie
weit-
an der Skizze für das 21. eisernen Tor des Eingangs. Darüber der
Liebesbrief, als ich lben
sie als solchen hin. Ich gespannte blaue. Himmel, in dem die Schwa
Kapitel arbeitete, nimm Lichtes erfreu en. Und aus
zu beenden, denn sich des scheidenden
eile jetzt, diese Evangelienarbeit hatte
der Ferne das Brummen der Motoren. Nie
die Ereignisse drängen zu ihrem Höbepunkt. en Ge-
mir das menschliche Treiben in einem größer
Die Betrachtung der Passion Christi fällt ärtig:
Pas- gensatz zur Natur gestanden als gegenw
“ zusammen mit dem Höhepunkt, zu dem die ent ging an einem, „Mißbr auch
Der alte Kontin
sion des Krieges hinsteuert. Während die Sire- ter
ver- der Wachstumskräfte zugrunde. Dieses Zeital
nen heulen und die Luftgeschwader ihre zu steuern, an einer, ins
Städte und scheint in die Gefahr
derblichen Lasten auf Menschen,
Ruhe Übermaß gesteigerten Technik zu- verderben.
Verkehrsmittel werfen, muß ich mir die klung
Wenn Die großen Perspektiven der Weltentwic
erzwingen, diesen Gedanken nachzugehen. Leben in dieser Zeit. Sonst
als sind mein Trost und
aus meinem Leben nichts mehr herauskäme, es
ist mein Geist leider sehr dumpf. Uns geht
die in den 1'/s Jahren der Betrachtung des Mat- Tische
- allen so, daß wir mitten am Tage am
«häusevangeliums gewonnene Ahnung des Christus
Mysteriums, wäre ich dankbar und würde mein sitzend einschlafen möchten. Macht der Kalk so
r müde?
Leben voll tiefer Befriedigung dem Schöpfe
sich gelohnt und lohnt sich,
zurückgeben. Es hat
reichste, 18. 6. 44
ein neues zu beginnen. Als das menschlich
Existenz
Gestern war ich wieder in der Stadt. des bei-
unmitte lbar die eigene geschich tliche
ansprechende Dokument erscheint mir heute ligen Martin. Ich stieg über Häusertrümmer
und
‚das Matthäusevangelium, man muß es nur nicht besah mir dieSch äden des Angriff s vom Tage zuvor.
Buchstaben nach nehmen, sondern die daheim, brauste ein neuer
seinem Kaum war ich wieder
‘Wort-
“lebendig erfühlte Geist-Erkenntnis an den Angriff auf die unglücklichen Menschen
nieder.
man gleichs am auf die-
laut heranbringen, dann hört Es sind immer wieder die armen Menschen,
ions-
einmal hinter dem Wortlaut die Inspirat auf Handka rren ihre armseli ge Habe zu retten
‚quelle rauschen. Sie fließt auch heute noch. versuchen. Von unserem Schloßhügel aus
sehen
wir oft die Geschw ader der Silberv ögel, die im
15.-6. 41
sblau scheinbar friedlich dahinfliegen. Es
keine Post mich er- Himmel
un auch wenn von Dir
wäre ein schönes Bild, wenn diese Ahrimans-
wie sich
reicht, so muß ich Dir doch erzählen, vögel nicht plötzlich Tod und Verderben auf die’
nissen anläßt.
das Leben in den neuen Verhält senden würden. Die Kameraden- haben mir
des Erde
Wäre nicht die märchenhafte Umgebung zum Geburtstag die Briefe der Romantiker ge-
gen
Schlosses upd des Parkes mit seinen lauschi schenkt, wir haben sie wohl zu Hause, aber
ich
wir täglich viel härter
Wandelgängen, würden lese sie gerne noch einmal. Diese Woche habe
das Antlitz des Krieges ertragen müssen. Heute ich zum ersten Mal Shakespeares Sturm in wich
nachmittag war ich in der eine halbe Stunde ent- aufgenommen. Kennst Du das Drama? Eine ganz
verwüstet ver-
* fernten Stadt, die von Angriffen schwer seltsame Geschichte. Die Hauptrolle spielt ein
daliegt. Diese Gegensätze zwischen unserer fried- triebener Herzog, der mit den Geistern im
land-
_ lichen Parkidylle und der grausamen Kriegs Bunde stebt. Ariel, der Elfenkönig
ist ihm zu
gen;'
schaft sind schwer in der Seele zu vereini Hat Goethe von daher die Anregu ng für
ge- Dienste.
.erst heute morgen. wurde die Stadt erneut die erste Szene des,2. Teils vom Faust? Es ist .
und
troffen, ich hatte bis %/4 Uhr Wache gehabt großartig, daß am Beginn des materialistisc
hen
, erquic kendem Schlafe
war gerade nach kurzem Zeitalt ers ein Geist von Rang die Zerbrechlich-
nie-
aufgewacht und wollte mich zum Frühstück keit der irdischen Dinge und ihre Scheinh
aftig-
ader heran.
so ausgesprochen hat. Shakespeare war noch
#lerse tzen, da braust en die Geschw
keit
“Da wir auf einer kleinen Anhöhe liegen, können von den seherischen Überlieferungen seines Lan-
seltsam
-wir alles gut beobachten. Freilich, etwas des gespeist, als er schrieb:
schon zumute, als wir sahen, wie ge’
wurde uns Hügeln, Bächen, Seen
linkt „Ihr Elfen von den
rade zu unsern Häupten die Bomben ausgek
in pfeife ndem Ton herans austen . Und Hainen, ihr auch, die spurlosen Fußes
wurden und
sie ziemlic h weit entfern t Am Strand den ebbenden Neptun jagt und
Gott sei Dank schlugen er sich wendet —. Dazu noch
so Ihn flieht, wenn
ein. Was viele’ Städte in Deutschland schon kleine Wichte,
ich jetzt hier in \
oft erlebt haben, das erfahre
\ Die ihr beim Mondschein dreht grünsaure
‘ Frankreich, . " Ringlein,
Es gäbe viel zu erzählen; wenn ich von meiner
Schaf frißt, die ihr mitter nächtl ich
Parterre des Schlosses zum Wovon kein
Schreibstube im
hinaussehe, sehe ich vor Zum Zeitvertreibe Pilze macht —“
Fenster in den Abend

240 '
Solche Dichtung: ist für mich wie Speise und 13. 8. 44
Trank, erquickt mich so wie heute nachmittag der
Mach Dir keine zu großen Sorgen um mich, es
blinde Sänger,. der uns Weisen‘ von Schubert, . geht mir gut; was mir bevorsteht ist das: Los
Schumann und Wolf vorsang. Eine junge Pia- für jeden Soldaten, es sind letzten Endes nur
nistin spielte dazu. Das alles zwischen die Alarme
Exerzitien für das höhere Dasein.
hinein. Wie wenn in den Lärm der Hölle noch
ab und zu die Stimmen des himmlischen ‚Geistes 16. 8. 44.
erklängen.
. Eben höre ich, daß heute -Feldpost abgehen
Das Land, in dem ich jetzt bin, war ursprüng- soll. Wie bin ich frob, Dir ein Lebenszeichen geben
lich von den Kelten besiedelt, ‘und ich meine zu können. Noch ist hei uns alles ruhig, aber
immer,.ich spüre es der Luft und den Bäumen alles bereit zum Empfang der Amerikaner. Sie
noch an, daß sie einst den Zauber der keltischen schieben sich langsam heran. Über {ins blaut der
Naturweisheit in sich eingesogen haben. Dolmen schönste Himmel. Man möchte es nicht glauben,
und Menbhirs sind da, wenn auch nicht in meiner daß er auf herzzerreißende Tragödien der Erde
. Umgebung gerade, und eine Grotte der Feen herabsehen muß. Ich habe nur die eine Sorge,
wird auch gezeigt. Mußte doch der Sänger heute daß Du zu viel bangst um mich. Glaube an unsere
nachmittag die Ballade vom Reiter singen, -der gute Führung. So viel möchte ich Dir noch sagen,
auf weißem Roß die Jungfrau sieht. Er meint, vor allem .alles Liebe und Schöne und: Beruhi-
es sei die Himmelskönigin, sie aber sagt ihm, gende, aber die Zeit ist nicht mehr dazu. Heute
daß sie die Elfenkönigin ist, und wenn er sie habe ich in alten Tagebüchern geblättert, bis ich
küsse, ihr -für 7 Jahre verfallen sei. Er küßt sie auch sie den Flammen übergebe: Wie war mein
und sie ihn und so reiten sie nebeneinander durch Leben reich und schön. Wenn ich einmal sterbe,
die Wälder, und immer wenn sie die Zügel an- möchte ich nach dem Tode .alle Landschaften
zieht, erklingen ‘die Silberglöckchen, mit denen wiedersehen, die mein Auge erblickt hat, aber
“ die Mähne des Zauberpferdes geziert ist: mit dem durchdringenden Blick der . Unsterb-
lichen. Und was unvollkommen, unfertig an: die-
Wie verzaubert bin ich, wenn ich so etwas
sem Leben war, soll sich in den Götterflammen
höre. Wann tut sich der Blick für die Baum- und
reinigen, bis es in verwandelter Gestalt wieder-
Quellnympben, die Waldseen und das ganze
kommen darf. Du mußt: mir alle Freunde herz-
heimliche Volk der Wichtel wieder auf? Diese lich grüßen, denen ich jetzt nicht schreiben kann.
Landschaft bier sagt es einem, daß die Zeit Komme ich heim, werde ich. euch alles erzählen,
wieder kommt und die Natur ihre Ätherwunder was jetzt dem Brief nicht anvertraut werden®
nicht länger verbirgt. Mir geht es-oft wie dem darf. Und schließlich soll ein Soldat viel schwei-
gescheiten. Professor Capesius, den der Verstand gen und viel kämpfen.....
austrocknet und der von Zeit zu Zeit immer Eines tut. mir leid, daß ich die Arbeiten am
wieder die Märchen braucht, um seine Phantasie Evangelium nicht abgeschlossen habe. So anfän-
am Leben zu ı erhalten. . gerhaft sie sind, man soll seine. Entschlüsse zu
Ende durchführen. Den Anfang einer neuen
2. 8.44 Skizze schicke ich Dir,noch mit, wann ich die
Fortsetzung schreiben (am, weiß ich noch nicht.
in .. Jeder Tag bestätigt mir hier neu, daß Es kann Wochen dauern, vielleicht auch noch län-
der Erwählte von der Kugel getroffen wird und ger. Es kämen jetzt die schweren -Kapitel um
der. andere vielleicht in viel gefährlicherer Lage, das Leiden und den Tod ‚von Golgatha. Aber
bewahrt bleibt. Es ist jetzt nur nötig, das Ver- ‚vielleicht muß man selbst erst durch die ent-
trauen in ungeahnter. Weise zu stärken und zu sprechenden Prüfungen heranreifen, um darüber
steigern, so daß es das Herz auch im größten etwas sagen zu können.
Grauen noch trägt. Frieling sagt: ich bin ge- 9. 9. Ad
spannt, wie sich die Morsehung aus der Affäre
zieht.....- Ich lese nicht nur lettres d’amour,
Zum 1. Mal sah ich viele Tote berumliegen; ihr
Anblick hatte für mich nichts Schreckliches.
die nur einmal nebenbei, um nicht ganz in unse-
dachte daran, daß Christus über die Sahlaahtel
rer mönchischen Klausur zu vergessen, daß es
der. wandert und die Gefallenen tröstet. Merk-
diesen Teil des Lebens auch gibt. Viel mehr in-
würdig, wie mich ihr Anblick beruhigte. Ich fühlte
teressiert mich z.B. das Gesetzbuch des Manu, mich durch sie sofort in die Nähe der geistigen
das tiefe Einblicke in indische Auffassungen ge- Welt versetzt. Auch der Blick auf ihre schweren
währt. Wenn ich nur mehr studieren könnte! Wunden hatte nichts Schreckliches. Anders ist
Aber das ist im Augenblick auch nicht das Wich- es, wenn Du einen Verwundeten vor Dir hast
tigste. Das’ Leben und der Tod sind jetzt das und kannst ihm nicht helfen._Der Arzt ist oft
interessanteste Lehrbuch. - stunden-, manchmal tageweit weg. Das muß alles .

241
ausgestanden werden. Dem ersten Kameraden, Briefe aus Mährisch-Ostrau
den wir begruben, haben wir ein schönes Grab
geschaufelt. Der Leutnant sprach einfache,. zu 2. 11. 44
Herzen gehende Worte, es regnete. Mit viel Sorg- ..... Mir ist so still zumute wie dem Toten,
falt wurden Blumen auf das Grab gesteckt und ich sinne über Hphesus, das 1. Sendschreiben nach
ein Kreuz gezimmert. Das alles sind nur Aus- und fühle den großen Zusammenhang gegenwär-
schnitte aus dem bunten -ereignisreichen Leben tiger Einsicht und alter Weisheit, das ist der
"der letzten Wochen, rote Faden in der Geschichte und das, was einen '
“, am Leben ‚erhält.
10. 9. 44, 5. 11. 44
Aus den Spannungen kommst du "überhaupt mir geht es wie Dir, Friedel, der No-
,
bei diesem Leben nie heraus. Das einzige was vember hat es mir ‘von jeher angetan, ich liebe.
mir immer die Ruhe des Ewigen gibt, sind Be- diesen stillsten aller Monate. Aber ich bin auch
trachtungen, die ich über den griechischen Text traurig, daß ich den Umgang mit den Toten nicht
‘ der Apokalypse anstelle. 'Dazu bin ich in fast so pflege wie ich möchte; das bewirkt in mir.
allen Lebenslagen imstande. Auch im Waggon, den eine ständige Unzufriedenheit. Allerseelen ist
wir seit 3 Wochen nicht mehr verlassen haben mir auch immer mit der Erinnerung an den Fried-
und in (dem wir angezogen schlafen, jetzt wegen hof verknüpft, wo abends die Lichtchen auf den
“der Kälte, vorher um bei Feuerüberfällen bereit Gräbern flammten und der Geruch des Kerzen-
zu sein. Zum Glück können wir uns hier sorglos rauches sich mit dem der Blumen seltsam mischte.
im Walde ausstrecken,.da wir keine Partisanen- ° Ich stand vor dem Kindergrab meines kleinen’
überfälle befürchten müssen. Bruders, an den mich keine Erinnerung mehr
Seelisch bin ich mit den Kameraden immer band; nur der fremdländische Name: Johannes
mehr zusammengewachsen, sie haben viel Ver- Baptista faszinierte mich. Daß die Erinnerung die
trauen zu mir, man lernt sich gut kennen, wenn kleinen Umstände so treu festhält!
man sich im’ Augenblick der Gefahr sieht. Manch- 16. 12. 44
- mal meine ich, all die Seelen, die um mich Inzwischen habe ich auch von dem Unglück
sind, würden für die Zukunft vorbereitet, Denn der Freunde in Stuttgart gehört*. Weihnachten
altes Schicksal verbindet mich sicher nicht zit „in der Armut Hütte“. Bei mir gings die Woche
ihnen. N auch gerade an einem Haar vorbei. Es fielen einige -
Bomben bei uns, eine ging direkt neben meiner
AnR.G.: Sept. 44 Baracke nieder, wo ich arbeitete. Es war. die
Eines kann ich Dir noch sagen: Mitten in den einzige, die nicht sofort, sondern erst zwei Stun-
Spannungen der Fahrt verschaffte mir der -grie- den später krepierte. Das rettete uns das Leben.
chische Text der Apc. eine wunderbare Ruhe. Denn bis sie hoch ging, stand ich schon lange
‘ Ich merkte, wie die Worte sofort, sobald sie am Geschütz und lud meine Granaten auf.
in den Sinn kräftig aufgenommen werden, eine Es bleibt einem .nichts anderes übrig, als den
Atmosphäre bilden. Ich werde diesen Zauber- Schwerpunkt seines Wesens freiwillig über die
mantel noch. öfters gebrauchen, um dahin zu Schwelle zu verlegen, so daß einen eines Tages
fliegen, wohin das Herz verlangt. Das erste Wort die Gefahr oder der Tod nur als Bestätigung
Apokalypsis gab mir jedes Mal schon viel zu eines bereits vollzogenen Aktes trifft. Anders
denken. Ist es nicht so, daß die 4 Evangelien die läßt sich immer weniger leben. Und der Fort-
V.e r hüllung Christi darstellen, wie das Gottes- ‘gang des Krieges wird uns immer mehr dazu
wesen im Fleisch verborgen wandelt. Die Gott- nötigen. Wie ‚sagt Sokrates vor 2000 Jahren:
heit kannst Du durch die Evangelien nicht er- Was ist philosophieren anders als freiwillig ster-
“ kennen. Sie nur als Frage durch die Rätsel der ben? Um diese exakte Philosophische Haltung
Evang.-Berichte erahnen. Die Offenbarung ist die geht das ganze Bemühen.
Lösung des Rätsels, die Antwort auf die Fragen, ‚Weihnachten wird heuer einen ganz anderen
die das Evangelium stellt, Der im Fleisch wan-
Charakter wie früher haben. 'Es wird diesmal
delnde Gott in seiner Verborgenheit — Inhalt die Weltfinsternis unterstrichen. Die alten
der Evangelien. Der im Geiste wandelnde Gott Lehrer sagten in der Winterzeit dem Schüler:
in seiner Enthüllung — das ist die Ape. Mit der Hüte dich vor dem Bösen. Licht, den herauf-
Apc. beginnt das verstehende Christentum. ‚geisternden Erdfinsternissen abgerungen. Der Sol
Die Entdeckung und das Heil unseres diesmaligen invietus der römischen Legionäre ins Christliche
‚ Lebens ist in den Worten enthalten: verwandelt. Aber freilich das Licht scheint nur,
‘ wenn wir leibbefreit wandeln.
„apokalypsis Jesu Christu“
und so fort. *) Die drei Häuser der Christengemeinschaft in Stuttgart
waren in einer Nacht durch einen Luftangriff zerstört worden.

242 | ee
Kann Dir heute nur dieses wenige schreiben. mat soll gerettet werden. Und wenn uns das
Aber meine Gedanken sind umso mehr bei Dir Äußerste beschieden ist, so ‚mögen Götteraugen
und den Freunden. Wir müssen allmählich ler- das Leben als Opfer entgegennehmen für vieles,
nen, uns auch im Schweigen zu finden. Für das was gesühnt werden muß, Du, mein Liebstes,
Fest trotz allem wirst die Gedanken finden, um alles richtig und
„Und das Licht scheint in die Finsternis,“ wahr einzuordnen und zu verstehen. Der Blick
in die Zukunft führt ins Helle, auch wenn die
23. 1. 45 Gegenwart uns mit Dunkel umhüllen will.
‚Und sei vor allem ohne Furcht. Ich weiß, daß Das Bild läßt mich nicht mehr los: oben siegt
man das. eigentlich gar. nicht sein kann, denn das Licht. Denkst Du manchmal an das alte, oft
die‘ Furcht steckt viel zu tief in uns, sie steckt gehörte ‚Wort „Der Geist, der durch das Myste-
genau so tief wie der Tod. Und doch ist die stete rium von Golgatha gegangen ist zu der Erde Heil
Aufforderung der geistigen Welt, wenn sie uns und der Menschheit Freiheit und Fortschritt,
entgegentritt: „Fürchte dich nicht“. Ihr Wesen er sei mit euch und euren schweren Pflichten.“ *
ist Mut. Erinnerst Du Dich an die Urschöpfung Meine Liebe soll der Boden sein, der Dich trägt,
der Throne?* Die ihnen entströmende Substanz der Mantel, der. Dich wärmend, schützend um-
- wird „mutartiger Wille“ genannt. Es ist ein hüllt, der Himmel, der Dir einen freien hellen
Gedanke, der mich tief ergreift, daß die. Welt Ausblick gewährt. Immer: und überall bleibe ich
auf dem Fundament von Mut. ruht. Ist es des- Dein Lenz.
halb, weil die Götter das leidvolle Drama der :
Welt voraussahen und doch bejahten? Muß nicht G.H. An 27. 1.45
der Mutige schon deshalb ein Liebling der Himm- Bitte grüße alle Freunde von mir. Unverlier-
lischen sein? Weil er an die Ursubstanz der bar ist die Freundschaft, die der Geist ‚selbst
Schöpfung heranrührt, weil er eine Empfindung
begründet. Wir wollten einst das Beste. der euro-
in seiner Seele: nährt, die ‘die Götter selber in
päischen Mitte ans Tageslicht heben. Warum kann.
“sich trugen, als sie zur Welt- und Menschen- es jetzt nicht
sprechen, wo der Osten und Westen
schöpfung sich entschlossen. auf deutschem Boden ihre Macht entfalten wollen?
241.45 _ Unser Verstummen und das beredte Leiden der
Bei uns ist noch alles ruhig, aber sehr weit Menschen — ich muß es immer zusammensehen.
sind sie natürlich nicht mehr weg. Das Erstaun- Mögen die Götter gnädig sein und dem Wüten \
lichste am Menschenleben ist immer, daß sich die der Dämonen ein Halt zurufen. Für mich habe
alltäglichen Kleinigkeiten am längsten erhalten, ich nur die eine Bitte, daß ich.tapfer das mir
selbst dann wenn die Gefahrenzone immer näher. Auferlegte zu Ende bringe.
und näher rückt. So geht hier auch alles seinen
ungestörten Gang weiter, gleich als ob nicht 60km AuR.G. Palims onntag 45
entfernt sich die Flutwelle heranwälzte. Das ist Meine gegenwärtige Lage ist so, daß ich kaum
aber auch das Gute, daß das Leben als Ganzes mehr zum Schreiben
komme. Ich stehe und ar-
genommen so wenig nervös ist. Wie sollte sonst beite den ganzen
Tag am Geschütz. Die vielen
all das Entsetzliche und Vernichtende ertragen’ Alarme lassen uns
zu nichts anderem Zeit. Die
werden. Freilich im leibfreien Zustand nach Frontnähe wirkt sich so aus, daß wir beinahe
dem Tode gibt es den Schutz der dumpfen Vi- jeden Tag der vergangenen Woche Angriffe
talität nicht mehr. Da muß das. Auge furchtlos* hatten. Auch Bombenangr
iffe auf unsere Stellun-
die Schrecknis der Zerstörungsimpulse anschauen. gen. Auf allen
Linien drängt das‘ militärische
Aber es sieht auch zugleich das Göttlich-heilsame.
Geschehen zu seinem Höhepunkt.
‚Der Tod meiner beiden lieben Mädchen zieht
27. 1.45 mich mächtig zu „jenem stillen, ernsten Geister-
Wir erwarten stündlich in Bereitschaft die Rus-' ‚reich“. In Stadtruinen wie Dresden
fühle ich mich
sen. Du weißt, was das heißt. Welche Lose die beinahe wohler wie in den anderen ünwahren
. Nornen für uns bereithalten, wer vermag es zu Verhältnissen. Ich hätte früher
nicht geglaubt,
sagen? Nur den einen heißen Wunsch habe ich, daß man in der Todeszone auch „heimisch“
wer-
daß sie „yon Euch abgehalten werden. Wir den kann. Aber doch nur soweit, daß man das Y
‚hier mögen bestehen oder fallen, aber die Hei-, todlose Leben unablässig sucht. \
*) Dies bezieht sich auf die Schilderung der Weltschöpfung *) Ein Teil der Worte, die Rudolf Steiner im Gedenken an
in Rudolf Steiners „Geheimwissenschaft“. die im Felde Stehenden während des ersten Weltkrieges regel-
a ‚mäßig seinen Vorträgen vorausschickte,

ur 243

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