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Des Lichtes Opfergang


Gedicht. Dorothea Letzsch

Ostergruß des Auferstandenen


Dr. Friedrich Rittelmeyer

Oster-Hymne
Gedicht. Elsbeth Palmer 4

Ernst Moritz Arndt's Geisteshaltung


Professor Dr. Richard Karutz

Der verstorbene Freund


Gedicht. Alfred Schütze

Gedanken über Tod und Leben


Aus nachgelassenen Aufzeichnungen von Michael Bauer f

Erinnerungskraft in Schicksalskrisen
Zu den Briefen des Paulus an die Thessalonicher
Karl Garms 10

Vor der Siztina


Gedicht. Erika Bargum-Gunkel 15

Die letzten Dinge


Azrzei Pauli 15

x Hermann Beckh 7
Von Hermann Beckhs
Lebensgang. Dr. Friedrich Rittelmeyer 19
V>« Hermana Beclis
Geistesart. Lic. Emil Bock 21
Ysa Hermann Beckhs
Persönlichkeit. Rudolf von Koschützki 21
Vsa Hermann Bechs
letzten Tagen. Dr. Erwin Schühle 22
Voa Hermann Becbs
literarischem Lebenswerk.
Dr. Rudolf Frieling 23
Andtee:worte für Hermann Beckh. Gottfried Husemann 26
AcomdrerzB für Hermann Beckh. Dr. Kurt Piper

Birke nach dem Fernen Osten


[kr Liam m Japan 27
Ks-belische Kirche und Kaiserkult in Japan 28
„Exsscestswile Kultur” in Japan 28
Iurszeszm der Zukuuft in Japan
Die Christengemeinschaft
Diese Zeitschrift dient der religiösen Erneuerung der Gegen-
wart aus dem Geist eines sakramentalen Christentums, das
durch die Christengemeinschaft vertreten wird. Sie erscheint am
Anfang jedes Monats in Stuttgart und wird herausgegeben von
Dr. Friedrich Rittelmeyer
14. Jahrgang 1 April 1937

Des Lichtes Opfergang


Dorothea Letzsch

Brecht hernieder, goldne Fluten! Tiefer neigt der Tag sich nieder — —
Ströme, reines Morgenlicht! Sterbend in des Abends Schoß
Tauch in Deines Feuers Gluten Betten sich die lichten Glieder...
Ein der Erde Angesicht! Opfer leuchtet übergroß! — — —

In der Tiefe Opfergrunde Ganz erloschen ist das Taglicht —


Himmelsgnadenlicht versinkt — Tief geheimnisvolle Naht — — —
Und in heil’ger Mittagsstunde Strahleud aus des Dunkels Schoß bricht
Erd und Himmel sich durchdringt. — — Mitternächt’ger Sonne Macht! —

Ostergruß des Auferstandenen


Friedrich Rittelmeyer
Die „Ich-bin“-Worte des Johannesevangeliums führen allmählich zu einer doppelten Erfahrung. Von
‚den einzelnen Worten — Ich bin das Brot, Ich bin das Licht, Ich bin die Auferstehung und das Leben —
"wird man immer mehr zurückgeführt zu dem, was allen einzelnen Worten zugrunde liegt, zu dem
„leh bin“. Dieses „Ich bin“ gebt über der Welt auf wie eine neue Sonne. Eine Geistessonne. Nicht
"bloß „Gott“ ist es, wie ihn die Menschen füblen als ein letztes Weltgeheimnis oder als einen letzten
"Weltenwalter. Christus, wirklich Christus ist es. So wie wir ihn gerade aus dem Menschenwesen heraus
wunderbar erleben als ein „Ich bin“. In ihm aber „die Fülle der Gottheit“, für uns, gerade für uns.
Von dem gewöhnlichen dunklen Gottgefühl unterscheidet sich dies „Christuserlebnis“ etwa so, wie
‚sich von der ersten, noch ganz unbestimmten Regung des Morgenlichtes in der finsteren Nacht unter-
‚scheidet das helle, klare Sonnenlicht des Tages.
Das ist keine Übertreibung. Mag sich auch dies leuchtende Tageslicht dann manchmal hinter Wolken
verbergen, mögen wir selbst manchmal nicht daran deuken: die Sonne ist da!
Dogmen ‘vergehen. Mit Recht regt sich heute ein neuer Geist gegen das romanische Wesen, das
‚sich in einer Dogmenreligiosität verkörpert. Wir treten in das strahlende Licht des Ich-bin. Das
ist die Sonne einer neuen Welt. Das ist der Geist eines neuen Welttempels, der sich frei und weit über
unsrer Erde aufbaut. Das ist die gewaltige drängende Gegenwart einer neuen Schöpfung.
*
Wenn dies das eine Erlebnis an den Ich-bin-Worten ist: daß wir immer mehr hingeführt werden
über alle Einzelheiten hinweg zu dem „Ich bin“ des Christus, so wird dies Erlebnis ergänzt durch das
polar entgegengesetzte Erlebnis: daß nun aus diesem „Ich bin“ die einzelnen Offenbarungen — Ich
bin das Licht, Ich bin das Brot, Ich bin die Auferstehung und das Leben — hervorkommen als eine
ewige Sprache, als lebendige Kundgebungen, die nicht nur bei einem gegebenen Anlaß, wie etwa
bei der Auferweckung des Lazarus, einmal geschichtlich gesprochen wurden, sondern die als ein immer
erklingendes Wort, als eine dauernde Wesenserstrahlung für uns alle immer da sind. So wie ich im Auge
eines Menschen immer wieder das Selbe sehen kann, wenn er in der Begeisterung spricht, und immer
wieder das Selbe, wenn er im Ernst spricht, und wie beides nur verschiedene Wesenskundgebungen
eines und desselben Ich sind, so ist es mit den Christusworten: Ich bin das Brot, Ich bin das Licht,
Ich bin die Auferstehung und das Leben. Je nachdem wie wir an ihn herantreten, tönen uns aus Chri-
stus die einzelnen Ich-bin-Worte als die Offenbarung seines wahren Wesens immerfort entgegen.
*

Ein Osterfest von ganz besonderer Art und von größter geistiger Fruchtbarkeit ist es, wenn man
sich eiumal eingehend in ein solches Wort versenkt, wie es damals aus Christus hervorgebrochen ist,
als er am Grab des Lazarus dem Todesverhängnis der Menschheit gegenüberstand: „Ich bin die Auf-
erstekung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet
und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben!“
Oft ist man darauf aufmerksam geworden, daß die Sprüche des Johannesevangeliums eine erstaun-
liche innere Gliederung aufweisen. Kann ein solcher Aufbau innerhalb eines längeren Spruchs über-
haupt auf Christus selbst zurückgehen? Haben wir ihn als ein Kunstgebilde des Berichterstatters zu
verstehen? Aber wie kann man überhaupt glauben, daß der Evangelist ein solches Christuswort mit
Absicht gefügt, geformt, gefeilt hat? Das heißt die Seele dieser Menschen völlig mißverstehen! Für
sie gab es nur eines: ehrfürchtige Treue. Höchstens mag man annehmen, daß gewisse Hauptsachen
stärker im Gedächtnis haften geblieben und in der Erinnerung hervorgetreten sind, gegenüber den
Einzelheiten, die dazwischen standen.
Aber es fehlt den Menschen von heute nur an den entsprechenden eigenen Erfahrungen. Sonst
würden sie wissen, daß auf den Höhepunkten des Geisteslebens, auf den Höhepunkten der göttlichen
Offenbarung die Wahrheiten selbst in ihrer innerlichen Gliederung hervortreten, daß mit Not-
wendigkeit und beinahe Unausweichlichkeit ein Organismus in einem Wort sich zur Geltung bringt,
der nichts anderes ist als der Organismus einer inneren Wirklichkeit.
Wir können uns dies gerade an dem Spruch von der Auferstehung und dem Leben beispielhaft
klar machen.
Da ist zuerst zu bemerken, daß der Satz „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ in sich selbst
seine verborgenen Beziehungen hat. Gewiß ist es einfach logisch, daß „Auferstehung“ kommt vor
„Leben“, und „ich“ kommt vor „bin“. Aber es ist eben nicht bloß logisch. Je mehr sich das Ich
stärkt durch die Christusberührung, je mehr es in einem neuen Siun „ich“ sagen lernt, je mehr das
leuchtende, aus Christus geborene Ich in uns da ist, um so mehr ist auch die Auferstehung schon da.
Dies Ich schafft sich in uns seinen Lichtleib. Alle Auferstehung hängt mit der Kraft dieses neuen Ich
zusammen.
Die Auferstehung ist eine göttliche Tat. Aber sie ist an Voraussetzungen gebunden. Es sind nicht
verwegene Spekulationen, sondern höchst lebendige Erfahrungen: je stärker uuser Ich in Christus
lebt, um so mehr Auferstehung kann uns gegeben werden. Es gibt nicht nur eine einzige, einheitliche
Auferstehung für alle Menschen, sondern es gibt Verschiedenheiten und Grade der Auferstehung.
Das sagt uns das Erlebnis der Auferstehung im eignen Ich — was immer für weitere Folgerungen
wir daraus ziehen mögen.
Und eine ähnliche Beziehung besteht zwischen dem „Leben“ und dem „bin“. Je stärker ein Mensch
„bin“ sagt, nicht mit Worten, sondern mit seinem ganzen Wesen — aber „bin‘‘ aus dem „Ich“ heraus,
das in Christus ist — um so stärker, um so reicher blüht in ihm das neue „Leben“ auf.

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Unser Spruch verrät uns durch seine Beziehungen noch viel mehr. „Wer an mich glanbt, der wird
leben, ob er gleich stürbe“ — übersetzt Luther. Um von dem ursprünglichen Voll-Sinn dieses Wortes,
das jetzt abgebraucht klingt, etwas mehr wiederherzustellen, könnte man übersetzen: „Wer sein Ich
mit meinem Ich verbindet, der wird, auch wenn er äußerlich durch den Tod geht, dennoch das
Leben haben.“
Den zweiten Satz übersetzt Luther: „Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr
sterben.“ Nach dem griechischen Wortlaut kann man auch übersetzen: „Und wer sein Leben so
lebt, daß ich in ihm walte, für den gibt es in alle Ewigkeit den Tod nicht mehr.“
‚Schwer ist es den Menschen gefallen, zwischen diesen beiden Sätzen den innerlichen Unterschied
zu finden. Sie können doch nicht einfach „tautologisch“ sein: mit andern Worten noch einmal das
Selbe sagen. Aber es wird alles klar, wenn man sieht: im ersten Satz liegt der Ton auf der aktiven
Überwindung des Todes, im zweiten Satz liegt der Ton auf der dauernden Überlegenheit über den
Tod. Es ist derselbe Unterschied wie zwischen „Auferstehung“ und „Leben“, wie zwischen „Ich“
und „bin“.
Ein solcher Spruch ist ein wundervoller Organismus. Er ist die lebensvolle Entfaltung einer ganzen
Welt, die aus dem „Ich bin“ hervorwächst. Wenn wir das „Ich bin‘ ernst nehmen, so blüht uns aus
ihm fortwährend die Tat der Auferstehung und das Geschenk des Lebens entgegen. Ein Ruf zur
Auferstehung ist dieses „Ich“. Eine Gabe des Lebens ist immer neu dieses „bin“.
Man kann in stiller Stunde den Versuch machen, ganz in dem „Ich“ des Christus zu leben, und es
dann in sich zu einem „bin“ werden zu lassen. In jeder solchen Stunde geht man in die Auferstehung.
Sicherlich soll dem Wort „Auferstehung“ nichts genommen werden von all den göttlichen Taten, die
sich in ihm verbergen. Aber dies ist gewiß: wer das Wort „Ich bin“ aus dem Mund des Christus ernst
. nimmt, der kann gar nicht anders als auferstehen, jetzt schon, es reißt ihn einfach in die Auferstehung
hinein. Und es versetzt ihn in das wahre Leben, hoch über allem, was wir Menschen sonst Leben nennen.
Immer klarer wird uns nun das Offenbarungsgeschehen eines solchen Wortes. Dem Tod gegenüber,
der am Grab des Lazarus ihm begegnet, erhebt sich gewaltig, aus der innersten Wesenstiefe heraus,
das „Ich bin‘ des Christus. Und da es der Tod ist, dem es gegenübersteht, offenbart sich dieses. „Ich
bin“ als Auferstehung und Leben. Auferstehung und Leben brechen in diesem Augenblick aus Christus
gleichsam hervor. In diesem Christuswort ist Ostern zuerst zu dehi Menschen gekommen!
: Und Christus kann gar nicht an sich allein denken. Er denkt alsbald an die Seinen. Er gibt ihnen
sofort weiter, was in ihm wird. Und so fügt er in gleichem Atem hinzu: „Wer sein Ich mit meinem
Ich verbindet...“
Wir sehen also nacheinander: In den Worten „Ich bin“ das göttliche Sein des Christus,
in den Worten „Auferstehung und Leben“ dieLebenstatdes Christus, in den nachfolgenden
Worten: „Wer sein-Leben mit meinem Ich verbindet ...“ das Weltgeschenk des Christus.
Jedes dieser drei Glieder besteht wieder in sich aus zwei Gliedern. Wenn man beiden gleichsam nach
unten nachgeht, so kommt man von dem „Ich“ zu einem neuen Leib und von dem „bin“ zu einem
neuen Blut. Wiederum, wenn man beiden gleichsam nach oben nachgeht, so findet man hinter dem
„Ich“ den Vater und hinter dem „bin“ den Geist.
Doch nicht die Gliederung eines solchen Spruches, so großartig sie uns anspricht, ist das Aller-
wichtigste, sondern der innere Osterweg, den hier Chritus ein für allemal zeigt allen kommenden
Menschengeschlechtern. Eine Region, ein Reich tut sich auf, wo wir mitten unter Tod und Vergänglich-
keit aufs lebendigste empfinden: Hier kann uns der Tod nichts mehr anhaben; wir sind in einer
Sphäre, wo er gar nicht mehr da ist; der Tod — ist tot! Das Leben — hat begonnen!
Das ist der Ostergruß, mit dem Christus unter die Menschheit tritt. Wie sehr wünschte man: jeder,
der sich Mensch nennt, möchte dies einzigartige Geschenk erkennen, das auch ihm hier gemacht ist!
Jeder, dessen Augen auf diesen Sätzen ruhen, möge das Christuswort als ganz persönlich zu sich
gesprochen erleben — durch den lebendig nahen Christus! \
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Oster-Hymne
Elsbeth Palmer

Christisterstanden! Ewig lebt der Erstandene ...


— Er ist wahrhaftig auferstanden! In Wahrheit und Herrlichkeit
Christisterstanden! durchdringt seines Lebens Offenbarung
— — — wahrhaftig auferstanden! aller Elemente Wesenheit
Christisterstanden! in den Tiefen der Erde
und in den Weiten des himmlischen Umkreises.
Er ruhte in dumpfen Grabes Dunkel,
auf ihm lag bang aller Schmerzen Nacht, Christisterstanden!
und sein Mund kostete die Bitterkeit des Todes... .
Ewig lebt der Erstandene,
Aber der Heilige Geist, offenbarend in Klarheit
der heilend die Erde beschenkt, seine Herrlichkeit ...
hat ihn enthoben dem Grabe
und gerufen zum ewigen Leben! Christisterstanden!
In Wahrheit auferstanden!
Christisterstanden! Christisterstanden...

Ernst Moritz Arndt’s Geisteshaltung


Richard Karutz

Die deutsche Gegenwart hat Ernst Moritz Arndt wiederentdeckt. Mit innerer Notwendigkeit. Denn
wer hätte mehr Anwartschaft auf die Liebe der-Jugend, als er, der Dichter stürmisch, mitreißender
Freiheits- und Kampflieder, der politische Mitarbeiter des Freiherrn vom Stein; der weitschauende
Geschichtsforscher, der den Gegner Deutschlands, den „schlauen Verderber“ bis in die Hintergründe
erkannte; der Kämpfer gegen politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, kirchliche, literarische Un-
freiheit; der Spötter über kleinstaatliche Eitelkeit; der Ringer um die freie sittliche Persönlichkeit
innerhalb einer freien Volksgemeinschaft.
Wie aber ist das Bild dieses Mannes, dies köstliche Vorbild für die deutsche Jugend, zustande-
gekommen und möglich geworden? -
Vor uns steht ein Leben, dessen Beginn mit 1769 in die rationalistische, vernunftanbetende Auf-
klärung des Westens, und dessen Ende 1860 in den Aufstieg der materialistischen--Wissenschaft und
Weltanschauung hineingriff. Es umspannte also mit seinen über 90 Jahren fast jenes ganze Jahr-
hundert, das die Auflösung geistiger, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher Bindungen, die Unterstellung
des Menschen unter mechanische Naturgesetzmäßigkeiten und die Vorbereitung marxistisch-bolsche-
wistischer Wirtschafts-, Partei- und Staatsideen in die Menschheitsentwicklung hineinstellte. Aber es
ließ sich von alledem nicht einfangen, wehrte sich, behauptete sich. Ja es schien sich mit Absicht
in diese Zeit hineinbegeben zu haben, um ihr ein Warner und seinem Volke ein Helfer zu sein, daß
es die Zeit überstehe und Kräfte behalte, um dereinst zu sich wieder zurückfinden zu können. Dabei
war Arndt ein durchaus erdenfester Mensch, mit allen seinen Sinnen für die gegenständliche Um-
welt offen, mit seinem ganzen Willen den Aufgaben des täglichen Lebens verpflichtet.
Wenn er „die glühende Liebe mit der Natur die höchste Blüte des Lebens“ nennt, so fügt er die
Frömmigkeit hinzu; ihm ist „das Gesetz, welches uns an die Erde bindet, und das, welches uns zum
Himmel zieht, ursprünglich gewiß Eines“. “
Er kämpfte gegen den Materialismus, wo er konnte. „Der arme Verstand kann keine Wahrheit und
Wirklichkeit bringen, kann die weite Begeisterung uicht fassen.“

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Er kämpfte dabei nicht blind und einseitig gegen die Naturwissenschaft und Technik überhaupt,
er lobte im Gegenteil den „frischen lebendigen Geist, der Deutschland jetzt belebt“, aber er sah die
gefeierte Naturgesetzlichkeit eingeschränkt durch die Tatsache des Menschen. Dem Reiche der ewigen
Notwendigkeit als der „Summe von Kräften außer dem Geist des Menschen“ sah er das Reich der
„geistigen Kraft des Menschen, die ihn von der Natur unabhängig macht“, gegenüberstehen, das Reich,
„wo wir in glücklicher Freiheit der Notwendigkeit gehorchen und unser selbst zweite Schöpfer sind“,
„eine zweite bildende Gottheit“. Er sah den „spöttelnden und unwissenden Aberwitz“ als die Folge-
erscheinung des Materialismus herrschen, während er selbst „allenthalben und in allen Dingen einem
tieferen Sinn begegnete, als welchen die flachen Maschinisten in ihrer Zufallswelt finden“, und den-
jenigen für das Irrenhaus reif erklärte, der „eine Mutter sehen kann mit dem über ihrem Kinde
leuchtenden Himmel ihres Liebesangesichtes und noch einen Tod oder eine kalte Maschinerie in der
Natur glauben“.
Arndt steht in der materialistischen Strömung wie von der Weltenlenkung hineingestellt, um ihren
zerstörenden Druck zu mindern und aufzuhalten. Man kann noch weiter gehen. Man kann sagen,
daß er ein Ahnen davon besaß, daß das ewige Wesen in ihm selbst sich diese Zeit ausgesucht hatte,
um gegen den Materialismus zu wirken, und mit der Zeit zugleich das Volk. Dazu bedurfte er einer
bestimmten Organisation seines leiblichen und seelischen Körpers. Er fand sie in einer schwedisch-
pommerschen Sippe und einer boden- und überlieferungstreuen Familie; durch sie konnte er sich
zwei wesenhafte Züge des nordischen Menschen einprägen: die Spätreife des Seelentums und jene
Mischung des Wiking von unrastiger Sehnsucht nach Welt und Ich zugleich und von Sehnsucht nach
ruhvoller Heimstatt für das Ich in der Welt.
Arndt war ein Spätreifer. „Träumend, so naht’ ich dem dreißigsten Lenz um wenige Jahre.“ Spät-
reife bedeutet längeres Erhaltenbleiben der Kindheitskräfte, und Kindheitskräfte bedeuten geistige
Kräfte, bedeuten,
.so weiß es Arndt, „unvergängliche‘ Bilder von Tugend, Schönheit und Gerechtig-
keit, die weil sie mit Flammenzügen in der Seele geschrieben stehen, gewiß irgendwo sind“, das heißt
also: in der Wirklichkeitswelt des Geistes. Sie bedeuten „einen Spiegel der ersten Kindergeschlechter
der Welt“, bedeuten „die alte, reinste und höchste Poesie“, „das Einssein von Bild, Fabel, Kindheit“.
Arndt lebte länger als andere in Zeiten, wo er „als Kind beim Steruenschein so oft die Engel
wandeln sah“, hinter allen Bäumen und Büschen Geister erlauschte und „mit Vögeln und Bäumen
zusammen leiser sprach, weil die Seligen und Heiligen auf sind“.
Das Bedeutsame aber ist, daß in ihm nicht nur die ewigen Kindheitskräfte länger und stärker sich
gegen die Bewußtseinskräfte. des Erwachsenen behaupten, sondern daß sie ihm ein schauendes
Wissen in das Bewußtsein hineintrugen. Im Traum wirkt für ihn „ein innerster, höherer Sinn, ein
Sinn-der Ahnung oder Weissagung, welcher in eine unendliche Ferne auf so wundersame Weise rück-
wärts blickt, daß man ihn zuweilen den Sinn der Wiedererinnerung nennen möchte“. Und er erzählte
von seinen eigenen Erlebnissen noch: „Ich selbst habe in meinen Jünglingsjahren vorzüglich diesen
Geist des Vorgriffs und Rückgriffs in die Zeit gehabt, wo das Vorgreifen doch noch seltsamer er-
scheint als das Rückgreifen; ich habe im Traume die bestimmtesten Gesichter von Männern und
Frauen gesehen, welche ich nach vielen Jahren erst wirklich erblicken sollte, die auf mein Herz und
mein Schicksal einen entscheidenden Einfluß haben sollten.“ „Was ist das? Sind es Wiedererinne-
rungen, welche Wiederfindungen werden sollen, oder sind es Vorbildungen, meinethalben Urbildungen,
nämlich Einbildungen Gottes, welche er nach seiner verborgenen Kunst in den Anfängen aller Dinge
den Keimen der Dinge eingebildet hat?“
„Ich habe allerlei in petto, was ich in guten Stunden schreiben und drucken lassen möchte,
eben zum Teil über wundersame Erfahrungen aus jenem Jenseits der größten Geheimnisse, wohin
unsere reinsten Gefühle und Gedanken doch immer trachten und schmachten müssen.“
„Der Gedanke, wenn er wahr und richtig ist, wird als Kind der Ewigkeit geboren“, und dieser
Gedanke war, daß er aus einer geistigen Welt komme und zu ihr zurückkehre, und wieder komme
und wieder zurückkehre, und immer wiederkomme:
„Dort (im Himmel) wird frisch aus frischem Holz
Neuer Stab geschnitten
Und mit neugeschliff’nem Stahl
Neuer Kampf gestritten“

„Zweimalgeborner und Dreimalgeborner — sprach ich was Tolles?


Könnt’ ich nicht endlich gar Neunzigmalneunziger sein?“

» .. .
Dann steige wieder bei Dir selber ein
Hinein in Deine tiefste Selbstversenkung

Da schaust Du rechte Lenkung, rechte Schwenkung,


Da klingt aus stillster innerster Bedenkung
Dein großes Ja, vernichtend alles Nein:
Du bist, Du bist gewesen, Du wirst sein !*

Arndt war durch Blut und Erziehung ein frommer protestantischer Christ. Aber hinter seinem
Kirchenchristentum erhebt sich immer wieder aus dem Erbe der Vorzeit die Gestaltenfülle der
geistigen Welt, und mitten in ihr sein Ich und dessen Schicksal in un d nach seinem Erdenleben mit
seiner Forderung der wiederholten Erdenleben. Er nannte selbst seinen Glauben „ein gewisses Heiden-
tum, das nie hätte zerstört werden sollen und die göttliche Gesamtheit des Menschen und der Welt
ist, wodurch das Altertum so mächtig und herrlich war“. Er „glaubte immer den Leib der Erde
lebendig, verehrte ihn als lebendig und fühlte, daß ihm daraus Lebensglut und Liebeskraft warm
und erquickend entgegenströmte“. Er lauschte immer im Walde auf die „Geister, die um die Bäume
wehen und weben und von ihnen auf die Menschenkinder herabspielen“. Er fühlte wohl „die fürchter-
liche Wahrheit“ des Dichterspruches: Leicht aufzuritzen ist das Reich der Geister, und unterschied
sehr wohl das echte Geist-Erleben von den „leiblichen Wundergeschichten“ d.h. von den krankhaft-
hellsichtigen, den halluzinatorischen, den materialistisch-spiritistischen Erscheinungen. „Es gibt wohl
manche Menschen, die nur so Instrumente sind eines unbekannten Gottes. Möge ich nur immer die
Kraft behalten, daß nichts Böses auf mir spielt.“ (N) .
Ein wirkliches lebendiges Wesen war ihm der Zeitgeist, kein menschlicher Kausalitätsbegriff oder
die Summe der Meinungen der Zeitgenossen: „Wenn in Gott die Zeiten reif sind, tritt der neue
Geist, der hinfort der waltende und bestimmende Geist des Lebens und der Geschichte sein soll, in
die Welt und durchhaucht und durchströmt mit seinem mächtigen Atem alles so, daß das ganze Ge-
schlecht dann anders anschaut, empfindet und begehrt, kurz, daß es durch einen höheren und unbe-
greiflichen Einfluß, durch eine Begeisterung Gottes, jenen Geist empfindet und glaubt, der es künftig
leiten und regieren soll.“
Ein Wesen war ihm nicht minder der Volksgeist, eine „Persönlichkeit“ von geistigem Fleisch und
Blut, die sich der geistigen Kräfte der Natur (Klima usw.) bedient, um das Volk zu bilden, und
sich in Sprache, Kunst, Sitte offenbart. Darum sah er die Unterschiedlichkeit der Völker als eine
urhaft, geistig bedingte. Er sah die Musik als „die zarteste Gestalt und den leisesten Klang der Ideen
oder Vorbilder aller Dinge“. Er sah die Sprache als „eine geistige Musik der Seele, ihr gleichsam schon
auf Noten gesetzt mitgegeben“. Er beschwor die Mütter, dieses „größte Heiligtum“, diese „größte
Ehre“ des Volkes, die Sprache wieder zu pflegen, nachdem fast zwei Drittel des reichen deutschen
Sprachvorrats versunken und vergessen seien.
Den Willen des Volksgeistes zu erfassen und „in das lebendige Leben einzuführen“, sah er als
die Aufgabe der Stunde. Er selbst hatte ihn z2.T. mit einer Weite des Blicks erfaßt, die über die
Sicht seiner Zeitgenossen hinausging, z. B. da, wo sich ihm eine Aufgabe Mitteleuropas zwischen Osten
und Westen ergibt: „Die Deutschen sind der Herzenskern des Weltteils, der Mittelpunkt, der von
Gott bestimmt scheint, die Streitenden, welche von Westen und Osten gegeneinander anlaufen wollen,

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auseinanderzuhalten.‘“ Er glaubte die Stunde gekommen, in der 'sein Volk, das Volk der Idee, aus
der Idee seines Volksgeistes heraus einen neuen Zeitraum begann.
Lebendig, wesenhaft stand das Schicksal vor ihm. Er nannte es eine zweite Geburt, fühlte es also
irgendwie willenshaft, jenseits äußerer Zufälligkeit entstehend. Der Tod seines Lieblingssohnes er-
schütterte ihn so tief, daß eine seelische Lockerung eintrat, und sich ihm „die Welt des Himmels
und der Geister mehrmals so licht und hell geöffnet und die irdische Hülle oft so durchgerissen, daß
er meinte, sicherer und froher in jene Heimat hineinblicken zu könnenz 'woher wir gekommen, und
wohin wir wieder zurückgehen werden“. -
Das Leben ging ihm nach dem Tode tätig weiter. Beim Ableben seines Bruders Friedrich nannte
er diesen einen Diamant, der in einer anderen Welt weiter wird ausgeschliffen werden. Man hat
Arndt mißverstanden, als man ihn für einen modernen Evolutionisten hielt, weil er den Menschen
eine kleine Welt, ein allumfassendes Abbild der ganzen irdischen Natur nannte, das in seinem
Wesen den weiten Umfang aller übrigen Geschöpfe umfasse. Ganz im Gegenteil hielt er ibn für
eine eigene göttliche Schöpfung: „Der Mensch ist ein Ideenwesen. Wir lassen ihn nicht mehr Tier
schelten oder wohl gar vernünftiges Tier, welches das gemeinste von allen ist... Er bedarf zu
seinem Sein einer himmlischen Nahrung, die in ihm selbst ewig wächst und vergeht“ ... „Er ist nicht
neben allerhand Gewürm zufällig aus dem zeugenden und gebärenden Schlamme emporgestiegen.“
Arndts praktischer Sion leitete aus seinem Wissen vom Menschen als einem geistigen Wesen, vom
Menschen als „der geistigen Kraft auf Erden“ die Folgerungen für die Erziehung ab. Er forderte
eine Erziehergesinnung, die „nicht nach der eigenen Krüppelhaftigkeit ein junges unschuldiges
Leben richtet und bestimmt und das Heilige und Göttliche, welches die Jugend wirklich noch ist, mit
frecher Hand faßt“.
Er forderte ein nicht-verstandesmäßiges, ein spät einsetzendes Unterrichten, das „der Fabelwelt
nicht widerspenstig ist“, ein „in der Hand und im Herzen haben, nicht im Kopf haben“, einen Unter-
richt, der „alles Tote zum Leben macht“.
An der Naturbeobachtung hatte Arndt seine Feinfühligkeit für das Organische so geschärft,
daß er, wenn auch nur im Umriß, eine Viergliedrigkeit im Menschen bemerkt: Er unterschied den
Leib,. der in den allgemeinen Naturgesetzen drinnensteht, als den „Schattenschein dieses .heiligsten
inneren Lebens, das man wohl das Göttliche, das Große im Menschen nennt“, als das „schöne Gerät,
worin Gott ihre Seelen eingehäust hat“, und das bewußt gepflegt werden will, wie die Alten es
taten, damit „eine schöne Seele mit Lust und Freiheit sich darin entfalten könne“; darum lehnte er
körperliche Züchtigungen des Schülers ab „gegen die sich nicht allein der Leib, sondern der Geist in
den toten Gliedern und Beinen empört“:
-Er unterschied neben dem Körper ein der äußeren Natur Ähnliches, d.h. ein Lebenselement von
Kräften, die den Körper bilden, erhalten, fortpflanzen. Er unterschied zum dritten ein Volkhaftes
und Zeithaftes, also ein Seelenelement, und viertens „die göttliche und geistige Kraft, sich von der
Natur und ihrem leiblichen Zwange unabhängig zu machen... das außerhalb der verwirrenden Grenze
des Gefühls, außerhalb des Chaos der Gedanken Lebende und Wirkende“.
„+ Alle Sonnenstrahlen und Blitzleuchtungen der Idee fallen bei jedem Sterblichen in dem
Punkt zusammen, wo das eigentliche Organ seiner individuellen Kraft ist.“ Es ist das Ich, das Arndt
als einen schöpferischen Geist erfaßt hatte, der „sich selbst und die Natur einzurichten und zu ge-
brauchen die Gewalt hat“, durch den allein diese und alle künftige Zeit gerettet werden könne.
So sehr erlebte er es als das eigentliche wirkliche Geistige, daß er blinden Glauben und blindes
Gesetz geradezu gleich Geistlosigkeit setzte und den Geist im Gegensatz dazu gleich dem Ich-
Wesen, das zur Freiheit drängt.
Hier haben wir in seinem Kerne den Freiheitsdrang, der das ganze Leben Arndts von frühester
Jugend bis ins späteste Alter erfüllt und bestimmt. Er liegt im nordischen Blut-Erbe des ahnenden
Wissens und des unrubvollen Suchens nach seinem ur-göttlichen Wesen. „Wie deu Germanen von
jeher die unsichtbaren Götter mehr gezogen haben, als die sichtbaren; wie er über alle Bilder und
Scheine hinaus immer zu dem Bilde der Bilder und zu dem Scheine der Scheine emporgeflogen ist; wie

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die Idee sein rechtes Gebiet war. von Anfang, „so hat er auf Erden immer nach der höchsten Freiheit
gestrebt und tut dies bis auf diesen Tag“.
Um die Freiheit geht seine Sorge in Jugenderziehung und Menschenbildung. Immer wieder klingt
uns bei Arndt eine „Majestät des eigenen Willens“, die Eigen-Geist-Natur des Menschen gegenüber
der Geist-Natur der gesetzmäßigen Umwelt entgegen, und mit dem Willen die denkerische ver-
antwortungssichere Bewußtheit: „Auch mir ist der Geist das Mächtigste, Höchste, Göttlichste von
allen Kräften, welche ich ahne, die einzige lichte Himmelsleiter, wodurch ich zu den Göttern aufsteige,
welche ich glaube.“
Arndt unterschied durchaus ein geistgemäßes und ein verstandesmäßiges Denken. Jenes erfaßt
ihm „die aufdämmernden Urbilder des alten Himmels und der verlorenen himmlischen Schönheit und
Glückseligkeit“ aus den Zeiten, da „viele himmlische Kräfte an die Erde gebunden werden mußten,
damit diese seine Heimat dem Menschen lieb und anmutig würde“. Er meint die Zeiten, da Sitte
und Lied entstanden, die Zeiten der Urweisheit und der Mysterien. Das andere Denken erfaßt ihm
dagegen nur das Tote, nicht das Lebendige, führt zu Faulheit und Schwäche, zu Krankheit und Un-
fruchtbarkeit. Beim Antritt seiner Vorlesungen im Jahr 1810 bekannte er „selbst, beim besten Ernst,
eine Zeitlang.ein halber Schelm gewesen zu sein, wie so viele es sind.“ Er bekannte sich zu einer
Wissenschaft aus dem Leben und für das Leben: „Die Gelehrten klagen, die Gründlichkeit sei unter-
gegangen, die Jugend werde durch Welttriebe und politisches Leben den Studien entrissen. Schon fühle
das die Literatur, endlich werde aller Ernst und alle Großartigkeit derselben versinken ... daß die
Gelehrten aus ihrem Studierzimmer einmal in das Leben, auf den Marktplatz und die Ratsstufen,
ja sogar auf das Schlachtfeld hinausgetrieben sind, wird der Sprache, den Lehranstalten, der ganzen
deutschen Wissenschaft und Literatur einen andren Schwung und andren Klang und andre Farbe
geben... Das kann man weissagen, daß die tote Gelehrsamkeit, die bloß auf das blinde Wissen ohne
Sinn, Mitgefühl und Vaterland pocht, einst mit Recht wenig bedeuten wird, denn die jetzige Zeit
will das Geschlecht wieder zum Leben zurückführen.“ So geschrieben im Jahre 1818.
Die Zeit war nicht reif, und Ernst Moritz Arndt kam noch nicht zu einer Wissenschaft, die
zum Geistigen, zu den Kräften hinter der Materie vorzudringen sucht, aber ein Grundlegendes sah
er wenigstens in Umrissen: die Entwicklung der menschlichen Seelenart von einer Geist-aufnehmenden
zu einer Verstandesbegriffe-bildenden Denkweise und andererseits von einem Bewußtsein, das aus
der Gruppe denkt, zu einem, das aus der Einzelpersönlichkeit denkt. „Weil die Periode jener Kind-
lichkeit [die des Mittelalters] zu Ende ging, darum kam die Reformation [nicht umgekehrt], und
mußte das Menscheugeschlecht durch drei schwere Jahrhunderte durch die Kämpfe des blitzenden und
leuchtenden Verstandes und durch das kühlere und ärmere Land der Begriffe führen ... .“
Man hat Ernst Moritz Arndt mißverstanden, wenn man seine Ansicht hier mit den materialistischen
Begriffen eines Lamprecht vergleicht, mit dessen „Steigerungen der Tätigkeit des Nervensystems
beim Eintritt von Zeitenwenden“. Arndt erlebt vielmehr „Lebenstriebe, die über die Welt sich wälzen,
ja hindampfen“. Aber „... dem großen Fatum sind alle seine Donnerkeile entwendet, der Mensch
hat sich ihm entrungen ... die in sich selbst geschlossene und immer aufgelöste Poesie des Mythos
und der Fabel der Alten ist durchbrochen ... .“ Arndt sah, daß für diese Entwicklung das 15.Jahr-
hundert wichtig gewesen ist: „Da brach der neue Tag an. Kunst und Begeisterung, hoher Sinn und
Mut des Geisteslebens fuhr in die Europäer.“ Er sah, daß die Entwicklung zum Intellekt einen Verlust
an wahrer Geistigkeit mit sich brachte, aber auch, daß sie naturnotwendig und daher weder zu preisen
noch zu tadeln sei. Und er sah, daß sie vor allem an Europa geknüpft ist, das „lange schon in Be-
wegungen fortstrudelt, die man fast eine Auflösung nennen könnte“. Er sah, daß es sich schließlich
nur um einen Umweg handelt, nach dem „wieder Rosen und Lilien einer anderen Art und einer
anderen Kindlichkeit blühen werden“. Er war sicher, daß „eine Kraft kommen werde und müsse,
wodurch die Menge sich wieder in Liebe verbindet“, und daß sie kommen werde durch eine „neue
berrlichere Zeit des Christentums .... ein vergeistigtes Christentum .... eine neue christliche Kirche,
in der das unvergängliche Christentum sich eine dünnere und ätherischere Gestalt umkleiden und so
die künftigen Geschlechter leiten und beglücken wird... Die Symbole und Priester müssen fort-
gehen mit der geistigen Bildung des Christentums“. Er sah, daß dieser Fortschritt und jene Kraft
gegeben sind in einer „schöneren Erkenntnis als der Erkenntnis durch Begriffe und in einem festeren
Himmel als dessen Gewölbe auf Schlüssen aufgeführt wird“, „einem höheren Schauen, zu dem die
Weisesten und Gewaltigsten der Zeitgenossen die Menschen führen, so daß sie geistig sehen, was
jene glaubten“, denn „die Natur wird dem Deutschen ein geistiger, dem Christen ein bildlicher
Traum zwischen Himmel und Erde“. Auch diese Vorausschau erfüllt sich heute.
Arndt hat also die Metamorphose der Seelenart von einem schauenden Wissen-Können zu einem
begrifflichen intellektuellen Wissen-Wollen erfaßt; er hat sie bis in ihre leibliche, physiognomische
Wirkung hinein beobachtet: „In den Klassen, die ein künstliches Leben führen, und in den Städten
zwischen den Mauern haben sich die Gestalten und Gesichter mehr bestimmt (gegenüber den
unbestimmten Gesichtern im Feld, Wald, Gebirge), ein gewisses eigenes bestimmtes Streben tritt
aus ihnen hervor.“
Wir sehen nach alledem Ernst Moritz Arndt wissenschaftlich und politisch, in seinem Denken,
seinem Fühlen, seinem Wollen unserer Gegenwart ganz nahe. Sein Bekenntnis zur geistigen Her-
kunft und Artung des Menschen; zur geistigen Giltigkeit der ewigen Wandlung des Lebendigen; zum.
Tode als der „heiligen dunklen Nacht der Verwandlung“; zum Leben als dem Gang des bewußten
Denkens hin zum Ich-Wesen der Persönlichkeit; zum Volke als der geformten, lebendigen und seeli-
schen Grundlage dieses Ich, als der besonderen geistigen Gemeinschaft, die vom Einzelnen gewollt
und benötigt, darum gehegt und gehütet wird; zum neuen Menschentum, das aus bewußtem Er-
kennen seiner Erdenaufgabe in Freiheit zu seinem Volke steht: dieses Bekenntnis zusammen mit
der lammenden Begeisterung, der glühenden Liebe, der sittlichen Stärke macht ihn zu einem Führer,
zu dem die Jugend wie die Mannheit auch unserer Gegenwart hinschauen darf.

Der verstorbene Freund


Alfred Schütze

Den du am Tage oft riefst, Bist nun vom Dufte umweht,


nachts hat dein Herz er gestreift; der aus dem Totenreich quilk:
als du in Kummer entschliefst, Nur wer die Toten versteht,
bat dich ein Toter gereift. ist auch zum Leben gewillt.

Gedanken über Tod und Leben


Aus nachgelassenen Aufzeichnungen von Michael Bauert

Wo der Tod seinen Ernst und die Geburt ihre Freude verloren hat, da ist etwas im Leben zutiefst
in Unordnung. Wie man über den Tod vom Standpunkt des Ewigen denken möge — er bleibt ein
Zeugnis für die Gegenwart hemmender materieller Mächte. Und umgekehrt ist jede Geburt eine Bot-
schaft aus einer ewigstrebenden unverzagten Welt.
Das ist auch zuletzt die Wirkung des Herbstes und des Frühlings auf das Herz. Du magst immer
die jungen Knospen neben den welkenden Blättern bemerken und immer das Ende des ersten zarten
Grüns in Gedanken voraus nehmen — Herbst ist Beweis für eine Absicht zur Erstarrung in der
Welt und der Frühling bleibt tausendfältiger Anlauf zu höherer Geburt.
*

Dem jenseits gerichteten Religiösen, der sein Verhältnis zur Sinneswelt nur ganz vorübergehend
und nur moralisch wichtig glaubt, muß eigentlich das Gewissen schlagen, so oft ihn Zier und Zauber
der Natur zur Freude verführen. Dagegen kann der rechte Christ, dem alle Blumen schlankweg im
Garten Gottes stehen, vor ihuen fromm sein und mit ihnen froh sein aus ganzem Herzen.
*
Wer die Schönheit nicht in den Bauplan der Welt miteinbezieht, hat nie einen Rosenstoc: oder
eine blühende Wiese in Wahrheit gesehen. x

Es klingt verwunderlich, ist aber wahr, daß sich einem Christen der Anruf des Vaterunsers durch
die Forschungsergebnisse spektroskopischer Astronomie vertieft hat. Noch anders als vorher durfte er
nun seine geliebte Erde im Sternenweltall heimisch wissen.

Der Mensch bleibt solange friedlos und ohne Einigkeit mit sich selber, bis er sich zum Streit mit
dem Bösen entschließt.
Und weil der Mensch im innersten eigenen Wesen gut ist und weil er Friedlosigkeit und Zwiespalt
nicht ertragen will — können wir Vertrauen in die Zukunft fassen. Der Wachen und Wissenden werden
immer mehr.
*

Der Mensch ist in solchem Grade auf die Freiheit gestellt, daß das Richterwort Christi und sein
Urteil nicht von oben her, sondern von innen durch die Scham erfahren wird.

Die Freude am Märchen vom erlösten Köni gskind ist nicht bloß die Freude am Fabulieren,
sondern die Hoffnung der eigenen Erlösung. Die Wahrheit des Märchens trägt den größten Anteil
an der Freude. %

Was kümmert mich die Sonne! sagte der Maulwurf. Ich nähre mich von Würmern unter der Erde
und brauche keine Sonne. — Er wußte nämlich nicht, daß seine geliebten Würmer, die an den Pflanzen-
wurzeln hingen, die Sonne brauchten, und war darin so klug wie viele Menschen, die so vieles nicht
kümmert, weil es ihnen nicht vor der Nase steht.

Ich begreife es nicht, sagte die Mistel auf dem Ast. Ich begreife es nicht und werde es niemals be-
greifen, wie ein so stolzer Baum sich mit der schmutzigen Erde abgeben mag!

Ersteige welche Höhe des Lebens auch immer: du wirst doch stets noch in ein gelobtes Land blicken,
dem deine Sehnsucht bleibt. Du sollst nirgends wohnen, sondern wandern. Das Ideal, das du heute
verstehst, wird nur Wirklichkeit, indem es ein neues, höheres aus sich gebiert.
Es gibt keine Frucht, die nicht, indem sie reift, zugleich neues Wachstum und neuen Frühling
bereitete.
*

Erinnerungskraft in Schicksalskrisen
Zu den Briefen des Paulus an die Thessalonicher

KarlGarms

Wie wenige gehen heute noch ihren Lebensweg mit Selbstverstäudlichkeit, vertrauensvoller 'Ge-
sinnung und Sicherheit, Eigenschaften, die früher allgemein im Leben herrschten? Ohne daß immer
zugleich ein äußerer Anlaß da ist, sieht man den Zweifel, das Mißtrauen und die Unsicherheit sich der
Seelen bemächtigen. Blickt man auf das äußere Leben hin, so haben hier allerdings die Stützen zu

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wanken begonnen, die ehedem Voraussetzung waren für Selbstverständlichkeit, Vertrauen und Sicher-
heit: Von dort, von außen her, sieht der Mensch sich in seinen Erwartungen getäuscht. So ist es nicht
zu verwundern, daß er auch mittelbar, durch das, was er im Schicksalsgange erfährt, Seeleninhalte
verliert, obne die das Leben allmählich sinnlos werden kann. In einen Wirbel von außen und innen
sieht er sich unrettbar einbezogen. Untragbar scheinende Lasten türmen sich auf. Und es kann dahin
kommen, daß der Zweifelnde verzweifelt, daß der Mißtrauende vertrauenslos und daß der Unsichere
haltlos wird.
Dies aber ist nicht der Sinn der Menuschheitsentwickelung. Als Einzelner wie als Angehöriger der
ganzen Menschheit wird der Mensch in äußere und innere Schicksalskrisen geworfen, deren Bestim-
mung nicht ist, ihn aus dem handelnden Subjekt seiner Lebensführung zum willenlosen Objekt
und Spielball äußeren Zwanges und innerer Not zu machen. Ganz das Gegenteil ist der Fall. Denn
Erprobungen im Sinne der Menschheitsziele sind es, durch die der Mensch, wenn er sich richtig
verhält, neue Fähigkeiten und Kräfte erobert, ohne die eine aufsteigende Entwickelung nicht
möglich ist.
Zu allen Zeiten brachen solche Krisen über einzelne oder alle herein. Aber man nahm sie, als von
den Schicksalsmächten verhängt, gelassener entgegen. Man wußte, daß sie im Weltganzen nötig sind,
und daß für den, der sie als Proben nimmt und besteht, aus dem Schicksalsdunkel das Licht der Be-
gnadung hervorbrechen will. So sagt Heraklit von Ephesus: „Größeres Unglück läßt größeren Schick-
salsausgleich: erlangen“*. Und Sokrates rät, als er sein Todesurteil erhalten hat, den Richtern, sie
möchten „.dies Eine für wahr halten, daß es für einen guten Mann kein Übel gibt, weder im Leben
noch im Tode, und daß niemals seine Angelegenheiten von den Göttern vernachlässigt werden“.
Daniel verheißt, als das hebräische Volk in Babylons Gefangenschaft lag, am Schluß seiner apokalyp-
tischen Schau, das Kommen michaelischer Kraft für den, der ausharrt.
Um die Menschen das Ausharren in Schicksalskrisen zu lehren und sie aus dem Dunkel ans Licht
zu führen, wurden in vorchristlichen Zeiten durch die Mysterien denen schwere Proben auferlegt, die
aus der Finsternis eines nur-irdischen Bewußtseins sich erheben wollten zum Licht des Urstandes
der Menschheit. Hier konnte dann der Mensch in sich selbst zur Enthüllung bringen die Leuchtkraft
göttlichen Ursprungs, die verlorengegangen war durch den Abstieg ins materielle Sinnessein. Der
niedere, nur im irdischen Bewußtsein lebende Mensch war überwunden. Das wahre, dem Menschen
eigene Wesen trat hervor. Erreicht worden war, was Goethe meint: „Dann kann man ihn mit Freuden
andern zeigen und sagen: Das ist er, das ist sein eigen.“ („Die Geheimnisse“)
Das Hereinstrahlen der wahren Eigenheit, des wirklichen Menschen-Ich, ermöglichte denen, die sich
dieser Tatsache bewußt waren, in allen Erdennöten fest in sich gegründet dazustehn. Sie erlebten
keine „Enttäuschungen“ von außen her. Denn nur das erwarteten sie von dort, was sie läutern, för-
dern und größeren Aufgaben gewachsen machen konnte. Nichts anderes sahen diese Menschen als ihre
Aufgabe an, als in dem harten Gang des äußeren Schicksals (Goethe: „im äußern Streite“) wie in
der inneren Not (Goethe: „im innern Sturm“) auszubarren und sich sieghaft zu behaupten vermittels
der hereinstrableuden Kräfte wahren, höheren Menschentums. So waren diese Menschen auch niemals
allein. Denn durch das Licht, das ihnen leuchtete, waren sie Göttergenossen. Sie blieben es in aller
Not, die in den Niederungen des Lebens sie bezwingen wollte.
Die Findung dessen, was Goethe ausdrückt mit dem Wort: „Das ist er, das ist sein eigen“, wurde
schon in vorchristlicher Zeit oftmals gekennzeichnet durch das griechische „autos“. Autos ist „er
selbst“, ist wirklicher Wesenskern im Gegensatz zu allem, was nur irdisch, oder was veränderlich
dasteht im Hoffen und Fürchten der Seele, was sie schwanken macht als Spielball des Innen und Außen.
In natürlicher Weiterentwicklung wird diese Kennzeichnung durch „autos“ auch durch den Christus
im Matthäusevangelium gebraucht. So sind die Seligpreisungen der Bergpredigt — hierauf hat erst-
malig Rudolf Steiner hingewiesen — in ihren Tiefen nicht zu .verstehn, wenn nicht das dort sich
findende „durck sich selbst“ im Sinne des durch Christus mit Göttlichkeit erfüllten Menschenwesens

* Die Übersetzung (Diels) „Größerer Tod empfängt größere Belehrung“ ist unzureichend.

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hervorgehoben wird. „Selig sind die Bettler um den Geist, denn durch sich selbst (durch die mit Chri-
stuskraft erfüllte Individualität) werden sie der Himmelreiche teilbaftig‘“‘ usw. — In ganz besonderer
Art hat Paulus dann das Unvergängliche des Menschenwesens, so wie es seit Golgatha nicht für
Einzelne, sondern für jeden, der da will, vermittelt wird, durch „autos“ gekennzeichnet. Überall,
wo dieses Wort im Neuen Testament unter Hervorhebung verwendet wird, ist nun allerdings nicht
nur, wie in vorchristlicher Zeit, die Aufnahme göttlichen Wesens in die Seele, sondern. die Durch-
dringung des ganzen Menschen bis in Leib und Blut gemeint. In diesem Sinne eines Teilbabens des
vollen Menschenwesens an der durch den Christus gebrachten göttlichen Welt spricht Paulus sein
„autos“ gerade dort, wo er den Menschen Sieger werden lassen will „im innern Sturm und äußern
Streite“. Das zeigen besonders die beiden Briefe an die Thessalonicher, wo er den Weg weist, wie
der einzelne, durch die Kräfte des Aufstiegs, in Schicksalskrisen sich fest in sich selber gründen kann.
Hiermit gibt er anderen, was er selbst an sich erfahren in tiefster Schicksalsnot. Damit gibt er aber
auch, was für alle Zeiten und für alle Menschen gilt. Denn nur dann versteht man die Briefe des
Paulus richtig, wenn man ihre zeitlose Bedeutung erkennt, wenn man sie nimmt als den Ausgangs-
ort für alles, was jemals der Durchdringung mit der Christustat, mit dem Christuswesen und mit
den Menschheitszielen wahrhaft dienen kann.
Seltsam berührt und einzigartig, wie Saulus zunächst anderen Menschen Bedrückung und Seelennot
verursacht, und wie er später alles, was er verübt, selbst als Leid am eigenen Leibe und in der
eigenen Seele wiedererfährt. Was er als Jude den Christen getan, bereiten ihm nun seine Stammes-
genossen. Er muß, was er als Schuld begangen, in persönlichem Schicksalsausgleich austragen. Erst
dann wird er reif, das Menschbeitsschicksal mit zu tragen. Im zweiten Briefe an die Korinther (Kap. 11)
hat er beschrieben, was er erleiden mußte. Dies wird durch die Apostelgeschichte und seine Btiefe
ergänzt. .
Der Übergang, wo er vom Ausgleich eigener Schuld zum Überpersönlichen weiterschreitet, liegt
im Bericht von der Entlarvung des Zauberers Elymas (Apostelgesch. 13). Von da an ist sein Name
Paulus. Was er später an äußerer Gewalt, an innerer Not erduldet, ist schon der Widerstand, den
Welt und Menschen als Werkzeuge dunkler Mächte dem Christus selbst bereiten. Kaum hatte Paulus
auf der zweiten Reise in Philippi und Thessalonich den Boden Europas betreten, mußte er am eigenen
Leibe erfahren, daß überall sich alle Kräfte menschheitlichen Niederganges gegen den Aufstieg
erheben. Juden erregten in Thessalonich die dortigen Griechen und die römischen Machthaber
und vertrieben Paulus nach dem nahen Beröa. Sie verfolgten ihn auch noch hierher, so daß er
nach Athen weiter reisen mußte. In steigendem Maße erlebt Paulus, wie die Menschheit verflacht,
wie’ aber zugleich die Gewalten des Finstern sich aufbäumen gegen das Licht, das. den Beginn
zu ihrem Untergang bedeutet. Jüdischer Fanatismus eint sich mit geistiger und moralischer. Ver-
derbnis der Priester, die durch Zynismus und Doppelleben den Verfall der Mysterien beschleunigen.
Von Rom aus wirkt der Cäsar durch Vergottung niederen Menschenselbstes mit an der Verwirrung
der Seelen.
‘ Paulus schreibt von Athen an die Thessalonicher, mit denen er gemeinsam die Zusammenballung
der Mächte des Bösen erlebte, und die er in Verfolgung und innerer Bedrängnis zurücklassen mußte.
Der erste Brief an sie ist zugleich der erste Brief, den er überhaupt geschrieben hat. Etwa 53 n. Chr.
ist dieser entstanden. War Paulus vor Damaskus wenig mehr als 30 Jahre alt gewesen, so lagen nun
gegen 20 weitere Jahre hinter ihm. Aus der Kraft, die er seitdem in dauerndem Erprobtwerden er-
worben, konnte er zu ihnen sprechen. Richtunggebend für die Menschheitskrisen aller Zeiten und wie
im innern Feuer lebend, spricht er auch zu uns.
Durch den von Paulus selbst gelebten und gelehrten Weg wird der Mensch zunächst gewiesen, statt
in Lebenskrisen zu erlahmen, sein eigenes wahres Ich erkennend zu ergreifen. Aber hierüber hinaus
führt Paulus dorthin, wo Geistesoffenbarung und besonders die Offenbarung durch den Christus ihn
erreichen kann. Der Weg, um den es geht, ist — vielfach verkannt — der Weg der Erinnerung. Paulus
lehrt die Thessalonicher, wie der Mensch durch rechte Pflege der Erinnerung geistiges Bewußtsein ent-
. wickeln und durch dieses im Schicksalsgange sich behaupten kann. — Auch Noyalis rührt an das Ge-

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heimnis der Erinnerungskraft, indem er sagt: „Die Menschen gehen viel zu nachlässig mit ihren Er-
innerungen um.“ Ein andermal nennt er die Erinnerung eine Seelenflamme.
Durch rechtes Sich-erinnern ergreift der Mensch sich unmittelbar in seinem unvergänglichen Wesen,
ergreift sich dort, wo „sein eigen“ hindurchgeht durch die Zeit. In der bis zur Kindheit zurück sich
schließenden Erinnerungsreihe erschaut der Meusch, wie sein wahres Eigenwesen ron Erlebnis zu
Erlebnis weitergeht. Erinnerung hält zwischen Geburt und Tod innerhalb unzähliger Erscheinungen des
Lebens das Ich zusammen. Es erwächst ein Bewußtsein von dem im Erdenleben sich offenbarenden
übersinnlichen Wesen dieses Ich. Hat der Mensch kein Bewußtsein hiervon, so hat er auch kein rechtes
Ich-Erleben. Seine wahre Eigenheit ist für ihn nicht vorhanden und kaun ihm keinen Halt in den
Lebenskrisen geben. Dies tritt deutlich hervor, wenn die Erinnerung an die Vergangenheit im Men-
schen ganz oder für längere Zeiten erlischt oder wenn er vergißt, wie er heißt, und wer er ist. Da ist
er dann sogar als krank in der Seele anzusehen.
Ob jemand im Leben viel oder wenig Erinnerungswertes wahrnimmt, hängt davon ab, ob er dem,
'was an ihn herantritt, genügend Interesse und Beobachtung entgegenbringt. Dann kommit es darauf
‚an, zu welchen Vorstellungen im Innern des einzelnen Menschen die Lebenserscheinungen sich bilden.
Von diesen mannigfachen Unterschieden des unmittelbaren Aufnehmens der Schicksalsereignisse ist
aber zu trennen der spätere Erinnerungsvorgang selbst. Da sind es immer wieder neue Vorstellungen,
die der Mensch im Rückwärtsgange durch sein Leben bildet. Da darf es nicht auf das ankommen, was
wie von selbst traumhaft heraufdämmert an Bildern der Vergangenheit, was vielleicht sich einstellt,
weil es einst gröber als anderes aufgetreten ist. Erinnerung ist Tätigsein, ist Tätigsein mit Unter-
scheidungskraft. Denn Wesentliches und Unwesentliches wollen unterschieden sein gerade im Gange
des’ Schicksals. Das Wesentliche aber liegt oft hinter oder zwischen dem, was breit heraustritt. Allein
dasjenige, auf das es ankommt, kann „heraufgeholt“ werden, wenn der Mensch allmählich sich darin
übt. Durch das Erkennen der Wahrzeichen des Lebensganges kann man zugleich das Schreiten des Ich
durch die Vielfalt des Lebens erkennen. Doch dazu ist nötig, daß vermittels des Denkens das Einzelne
zum Ganzen, daß die Fäden zum vollen Gewebe verbunden werden. So muß dem Anschaun des
Lebensganges noch das Begriffliche hinzugefügt werden. Dann lassen sich auch bald die vermeint-
lichen Widersprüche lösen. Denn durch das Erkennen und das Ergreifen seines ewigen Wesenskernes
durch Sich-erinnern erkennt der Mensch, daß dieser Kern selbst der Gestalter dessen ist, was zunächst
unerklärlich bleibt, was auch das Leben an Zwang und Not gebracht hat.
Auf diese Art schafft der Mensch sich Klarheit über sein Schicksal und schafft sich wahres „Selbst-
Bewußtsein“, Bewußtsein vom ewigen eigenen Wesenskern. — Warum fesselt uns die Selbstbiographie
eines Menschen, der viel und Wichtiges erlebte, und der dies durch rechte Erinnerung im Anschaun
und Denken miteinander verbinden kann? Gewiß liegt oft der Grund dazu auch im Interessanten eines
Lebensweges, aber viel mehr noch — wenn auch unbewußt. — ist es die Kunst des Ich-Erkennens
und -Ergreifens, ist es die Bildung wahren Selbstbewußtseins, woran erlebt wird, was es heißt: „Dann
kann man ihn mit Freuden andern zeigen und sagen: Das ist er, das ist sein eigen.“
Wer im Erinnern seines Lebensganges die Geistessprache des eigenen höheren Wesens vernimmt,
kann wieder als Genosse göttlich-geistiger Wesen leben. Dies wird sich-um so mehr verstärken, je
mehr der Mensch die offenen oder die verborgenen Berührungen mit dem Christus selbst in: sich er-
weckt. Dann kann er allmählich begreifen lernen, wie sein eigenes ewiges Wesen mit dem des Chri-
stus eines ist.
Paulus erreicht eine Vollkommenheit in der Führung der Seelen. Er ruft in den Thessalonichern
dasjenige wach, was eine Berührung mit ihrem höheren Wesen und mit dem Christus selbst war, was
sie im Grunde wissen und woraus sie im Erinnern sich ein Selbst-Bewußtsein erschaffen können. Er
weckt ihre Seelenflamme, entfacht und pflegt sie, damit sie dies selbst lernen.
„In euch selber (autoi) tragt ihr das Bewußtsein, daß unser Eingang bei euch kein leeres Ge-
schehen war“ (I. Thess. 2, 1). Ist nicht der „Eingang“ des Paulus zugleich derjenige des Christus selbst
gewesen?
„Ihr und die göttliche Welt seid Zeugen, wie wir auf göttlich reine Art und aus der Kraft des Guten

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— nicht aber in einer Weise, die durch Persönliches verfälscht gewesen ist — eurem Vertrauen be-
gegnet sind. Auch wisset ihr, daß wir uns um jeden helfend bemühn, wie ein Vater um seine
Kinder“ (2, 10).
Timotheus war bald von Athen nach Thessalonich gereist, um die Gemeinde zu stärken und ihr Ver-
trauen aufzurufen, „damit nicht einer erlahme in diesen Bedrängnissen. Ihr wisset ja selbst (autoi),
daß dies uns am Herzen liegt. Auch haben wir euch, als wir bei euch waren, vorhergesagt, daß wir
uns bereiten müssen, Nöte durchzutragen, was nun eingetreten ist. Auch dieses wisset ihr!“ (3, 2—4).
Immer stärker entfacht Paulus in ihnen das Selbst-Bewußtsein: „Durch euer eigenes Wesen (autoi)
seid ihr unmittelbar die Schüler Gottes in der Erweisung gegenseitiger Liebe“ (4, 19). Ja, er spricht
aus, daß sie, die Schüler, es seien, durch deren Vertrauen in das Christuswesen er selber den Trost
des Geistes empfange in allem äußern Zwang (griechisch: anagke) und innerer Bedrängnis (griechisch:
thlipsis) (I. Thess. 3, 7).
Aber hinter allem Erinnern an Lebenstatsachen und durch die Kraft, nun auch verborgene Tiefen
des Erlebens zu durchdringen, steht ja die Geisteswelt, steht die Erscheinung des geistig kommenden
Christuswesens selbst offen. Da kann der Mensch verborgenste Pforten seines Innern im Sich-
Erinnern sprengen. Darum geht Paulus zur — „parusia“, zur Geistes-Wiederkunft des Christus über:
‚In seines Wesens wahrer Kraft (autos) wird der Christus, wenn die Geistwelt ihr Bereitsein kündet,
wenn der Erzengel spricht und die göttlichen Welten posaunen, aus den himmlischen Sphären nieder-
steigen. Da werden zuerst die Toten im Wesen des Christus erstehen. Dann werden wir, die Lebenden,
zugleich mit jenen im Ätherreich des Wolkenseins zu der Sphäre des Luftkreises entrückt in die
Begegnung mit dem Christuswesen“ (1. Thess. 4, 16 und 17).
Nur die „Söhne des Lichtes und des Tages“ (5, 5) werden der Begegnung teilhaftig sein. Wer „zur
Nacht und zur Finsternis“ gehört, wird, anstatt zu empfangen, auch noch dasjenige hergeben müssen,
was der Inhalt seines nur auf die Erdenfinsternis gerichteten Bewußtseins ist. Denn der Christus
kommt „wie der Dieb in der Nacht“, ein Bringer „göttlichen Zornes“ für Nachtbefangene, ein Spender
der „Umkleidung mit dem Weltenheil“ für die Söhne des Lichtes.
Im zweiten Brief an die Thessalonicher, der etwa ein Jahr später voniKorinth aus geschrieben wurde,
steigert sich das Geschehen zu apokalyptischer Höhe und Wucht. Da werden Gesetze des Welt- und
Menschheitsganges aufgedeckt. Es wird gezeigt, wie vor der Enthüllung des Guten, dem Kommen des
Christus, der Abfall vom Göttlichen und dessen Verursacher in die Erscheinung treten müssen. Hinter
allen Schicksalskrisen, aber durch ihre Erprobungen vorbereitet, wird der Christus „im fammenden
Weltenfeuer“ (II. Thess. 1, 8) erscheinen. Die vorhergehende Zusammenballung der finstern Gewalten
zeigt die Welt, wie sie durch den Abfall vom Göttlichen (apostasia) geworden ist, zeigt, wie auch der
Mensch sich zum Werkzeug der Zerstörungsmächte machen kann. Bewußtes Weltzerstören (anomia)
ist Wesen und Absicht der Mächte des Abgrundes. Ehe der Mensch zur Begnadung mit der Wesens-
offenbarung des Christus sich erheben kann, muß er die Gegenkräfte zu erkennen versuchen. Dann
erst kaun er ja begreifen lernen, was das Christentum von ihm verlangt. Im Sinne der Menschheits-
ziele wirken ist erst möglich, wenn man weiß, was an Untergangskräften in der Welt verborgen liegt.
Darum deckt Paulus auch deren Rolle auf. „Das Mysterium bewußten Zerstörens ist schon am Werk“
(2, 6). Wie kann man das Wirken der Gegenmächte erkennen? „Der Zerstörungsmächte geistige An:
kunft wirkt in vielfältiger satanischer Machenschaft, in Zeichen und Wundern der äußeren Schein-
welt und in allem, was der Selbstsucht durch verlockende Betörung dient“ (2, 9). Und weiter: „Dann
offenbart sich auch der Urheber der Vernichtungskräfte. Aber der Christus wird ihn bei seinem gei-
stigen Kommen in seinen Geistesatem einbeziehen und durch seines Wesens Strahlenkraft unschädlich
machen“ (2, 7 und 8). -
Was vorchristliche Denker und Propheten über das Vertrauen zu göttlichen Mächten in Schicksals-
krisen ausgesprochen haben, gewinnt durch Christus einen unendlich vertieften Sinn. Jetzt sind es
nicht mehr einige wenige, die in der Zurückgezogenheit vom Treiben der äußeren Welt in ihre Seele
das höhere Wesen aufnehmen dürfen, jetzt ist jeder Mensch aufgerufen, in den Lebensproben, die jedes
Schicksal mit sich bringt, „sein eigen‘ zu suchen und durch die Erkraftung mit wahrem Selbst-Bewußt-

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sein den ruhenden Pol im eigenen Innern zu finden. Nur aus dem Geistigen herzum. zur dem
de Ver-
einigung mit dem, der göttliches Wesen den Menschen wiedergegeben hat. km der
Merssib — auf
neue Art — lernen; mit Selbstverständlichkeit, Vertrauen und Sicherheit „La ianern Sterm
und äußern
Streite“ den Lebensweg zu gehn.
Rechte Erinnerungspflege ist dazu ein Weg. Sie kann aber noch weiter und höher
führem- zum
Aufnehmen des göttlichen Friedens in die Menschenseele. Darum schließt
Panims beide
Briefe an die Thessalonicher durch die besondere Betonung dieses Friedens.
„Er selbst (autos) der Gott des. Friedens, durchdringe euch mit seinem heiligen
Wesen Geist.
Seele und Leib mögen geläutert sein von verfälschtem Wesen, wenn unser
Herr, der Christes- Jesus
im geistigen Kommen sich uns mitteilt. Er ruft euch und ist getreu. Er wird es auch vollbriagen“
(l. Thess. 5, 23 und 24).
„Er selbst (autos), der Herr (kyrios = Christus) des Friedens, gebe euch den Frieden
in euer ganzes
Sein, wie alles sich auch wenden mag.“ (2. Thess. 3, 16)

Vor der Sixtina


Erika Bargum-Gunkel

O Maria, selig trugest Du den Sohn zur Erde nieder,


O Maria, gabst ihn wissend hin zur Rettung für die Brüder.

Doch seitdem sein Leib gehangen


An dem Stamm mit heil’gen Wunden —
Noch verheilten nicht die Schmerzen —
Blut entströmet alle Stunden.

Trauernd geht die Himmelsmutter


durch der Menschen wilden Chor:
Hält denn niemand eine Schale
für des Sohnes Blut empor?

Die letzten Dinge


August Pauli

Der christliche Glaube hat es nicht nur mit dem Jetzt Dinge*“* ist im wohltuenden Gegensatz zu manchen
und Hier zu tun, sondern ist zugleich die innere Gewiß- anderen Erzeugnissen theologischer Literatur
durchaus
heit eines Kommenden, das im Gegenwärtigen keimhaft klar und auch für den theologischen Laien
verständlich
verborgen ist und dereinst sichtbar heraustreten wird. geschrieben, in einer stets nüchtern
gehaltenen Form,
Der Einzelne mag vielleicht darauf verzichten, sich vom nirgends überschwänglich, und enthält
im einzelnen viel
Kommenden, vom Ziel des Weltlaufs bestimmtere Vor- Gutes und Richtiges. Wenn man
trotzdem das im Fort-
stellungen zu bilden; die christliche Theologie aber wird gang der Lektüre sich verstärkende
Empfinden be-
sich immer gedrungen fühlen, auch in dieser Beziehung kommt, als entschwebe man, losgerissen
von dem Boden
zu möglichst geklärten Gedanken zu kommen. Sie ist erfaßbarer Wirklichkeit, immer
weiter in die Lüfte
immer zugleich Eschatologie, Lehre von den letzten wirklichkeitsfremder Spekulationen
, so rührt das davon
Dingen. Und nun kann es auch für uns von Interesse her, daß Althaus seine Gedanken
vom Ende nicht so
sein, zu sehen, welche Gestalt die letzten Dinge, Tod sehr durch ein Exspüren der
im Weltgeschehen verbor-
und Auferstehung, Gericht und ewiges Leben in der Vor- genen Tendenzen als vielmehr
durch Entfaltung der
stellungswelt eines protestantischen Theologen an- von ihm vorausgesetzten theologischen Begriffe ge-
nehmen.
*D. Paul Althaus, Die letzten Dinge. Verlag Bertelsmann, Güters-
Das Buch von Paul Althaus: „Die letzten loh. 4. Auflage. 1933. 353 Seiten. Preis RM 12.—.

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winnt. Zwar nimmt er auch immer wieder Bezug auf die dung in Selige und Verdammte eintreten lassen wollte,
Weltwirklichkeit, aber nur um darzutun, daß sich aus- eine Auffassung, die im neueren Protestantismus frei-
ihr kein Bild für die Zukunft und für das Ende ergeben lich vielfach zu der Annahme erweicht wurde, daß die
könne. Die neue Welt, die einmal kommen soll, springt Seelen doch auch drüben noch die Möglichkeit zu einer
für ihn nicht irgendwie aus einer ihr entgegenreifenden Weiterentwicklung finden würden. Durch diese An-
Entwicklung als deren schließliches Ergebnis heraus, nahme eines schon für die hingeschiedenen. Seelen ein-
sondern er läßt sie abrupt, gewaltsam, durch eine in tretenden seligen oder unseligen Zustandes wurde die
irgendeinem Zeitpunkt plötzlich hervorbrechende und urchristliche, auf die Wiederkunft Christi und die leib-
das gegenwärtige Weltensein abschneidende göttliche liche Erweckung der Toten gerichtete Hoffnung im Be-
Machttat eintreten, wie man sie nur vom Standpunkt wußtsein der Christen zurückgedrängt. Wenn schon für
eines Credo quia absurdum (Ich glaube es, weil es gegen alle einzelnen Seelen nach dem Tode die endgiltige Ent-
alle Vernunft ist) aus erwarten kann. scheidung fiel, würde das Weltgericht am Jüngsten Tage
Althaus ist kein Biblizist. Er stellt nicht wie manche im Grund gegenstandslos, und es klang nur wie eine
andere einfach die in der Bibel enthaltenen Aussagen Verlegenheitsauskunft, wenn man sagte, daß für den
über die letzten Dinge zusammen, um sich daraus sein Menschen der Leib so notwendig zum vollen Leben ge-
Zukunftsbild zu formen. Der Bibel gegenüber nimmt er höre, daß erst mit der einstigen Wiedererweckung der
die ursprünglich freiere Stellung Luthers ein, der den gestorbenen Leiber sowohl Seligkeit wie Unseligkeit
Wert der einzelnen biblischen Schriften darnach be- sich vollende.
messen wollte, ob und wie sie „Christum treiben“. Die Diese Schwierigkeit löst Althaus in einer Weise, die
Bedeutung Christi aber faßt sich für ihn wie für Luther bei einem Theologen überraschen muß, indem er näm-
zusammen in der Lehre von der Rechtfertigung aus lich die selbständige Existenz einer Seele und die Mög-
Gnade, und aus dieser heraus, wie er sie versteht, ent- lichkeit ihres Fortlebens nach dem leiblichen Tode über-
wickelt er auch seine Gedanken über die letzten Dinge. haupt verneint. Was wir Seele nennen, ist nur die
Indem sich Althaus das ihn beherrschende Gefühl einer- Innenseite des Leibesseins und besteht nicht ohne dieses.
seits der den Menschen vom Göttlichen ausschließenden An dieser Stelle hört Althaus plötzlich auf, nur mit der
Sündhaftigkeit, andrerseits einer göttlichen Liebe, die inneren Logik seiner theologischen Begriffe zu arbeiten,
sich gleichwohl des Menschen annimmt, im Sinne der und bezieht sich auf naturwissenschaftliche Anschauun-
Lutherschen Rechtfertigungslehre deutet, hält er nun gen, die die selbständige Existenz einer Seele bestreiten.
aber auch mit starrer Konsequenz gerade an der Das heißt also: wenn der Mensch stirbt, ist nicht nur
Schranke der Auffassung Luthers fest. Für Luther be- der Leib, sondern auch die Seele tot, das persönliche
stand nämlich das Heil nicht in einer wenn auch nur an- Sein löst sich auf, der Mensch existiert nach dem Tode
fangsweisen, doch tatsächlichen Überwindung des sün- nicht mehr, so wie er vor seiner Geburt noch nicht
digen Zustandes, in einer Wesensverwandlung des Men- existiert hat. Das ist das an jedem, auch dem gläubigen
schen, sondern nur in einem „forensischen Akt“, darin, und frommen Menschen sich vollziehende göttliche Ge-
daß Gott um Christi willen den Sünder freispricht und richt über die Sünde, das ihn zur Vernichtung verurteilt.
als gerecht behandelt, obwohl er nicht nur Sünder ist, Erst am Jüngsten Tage, bis zu dem den Toten ja die
sondern auch, wenn er sich zu guten Werken getrieben Zeit nicht lang wird, da sie nicht einmal schlafen, son-
fühlt, in seinem Wesen Sünder bleibt. Erst im Tode fällt dern überhaupt nicht sind, kommt der göttliche Gnaden-
das sündhafte Wesen wirklich vom Menschen ab; erst ratschluß an den Gläubigen zur Geltung, indem sie in
drüben werden wir verwandelte und geheiligte Wesen verwandeltem Zustand mit einem neuen verklärten
sein. Leibe auferweckt werden, während die anderen — man
Aber Althaus betont nicht nur mit Luther nachdrück- weiß nicht recht, in welchem Leibe aufstehen, um an
lichst, daß das Heil nur in Vergebung der Sünde be- Leib und Seele die Pein der ewigen Verstoßung vor
stehe, und der Mensch erst in der Ewigkeit durch gött- Gottes Angesicht zu erleiden. Wir sehen, daß Althaus
liche Macht- und Gnadentat in seinem Wesen verwan- sich in der Tat nicht scheut, nicht nur von der kirch-
delt wird, sondern er geht noch einen Schritt weiter in lichen Tradition, sondern auch von der biblischen Auf-
einer Richtung, die bei einem christlichen Theologen fassung abzuweichen, denn wenn es ein Reich der Toten
doch einigermaßen verwunderlich ist. gar nicht gibt, kann auch Christus nach seinem Tod nicht
Bisher war es die allgemeinere christliche Annahme, dahin abgestiegen sein, um den Toten Beistand zu
daß sich die Seelen der Verstorbenen bis zum Jüngsten leisten, wie auch sein Wort an den Schächer: „Heute
Tag und der allgemeinen Totenauferweckung in einem noch wirst du mit mir im Paradiese sein“, sich nicht er-
Zwischenzustand befinden, der nach katholischer Auf- füllt haben kann.
fassung für die meisten zunächst ein Hindurchgehen Wir stehen, wenn Althaus mit seiner Auffassung recht
durch die Läuterungspein des Fegefeuers bedeutete, hat, vor einer völlig unverständlichen Härte des mensch-
während die protestantische alsbald eine endgiltige Schei- lichen Schicksals. Der Mensch, der nicht nur seinen Leib,

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sondern auch seine Seele von den Eltern her überkom- haus auch mit der von Rudolf Steiner vertretenen und
men hat, ist damit ohne seine Schuld, denn er existierte unter anderem auch von Rittelmeyer aufgenommenen
ja nicht vorher, in ein Dasein hineingeboren, in dem er Idee der Wiederverkörperung, der wiederholten Erden-
Sünder sein muß, denn das Sichselbstwollen, das die leben auseinander, wobei er gelegentlich auch die son-
Sünde ausmacht, gehört zum Wesen des Menschen, ist stige professorale Gemessenheit seiner Diktion aufgibt
ein von allem Anfang an über dem Menschsein schwe- und beinahe ausfällig wird. Das christliche Denken habe
bendes, dunkles, rätselvolles Schicksal. Trotzdem soll er für diese Idee, so erklärt er, schon aus dem Grunde ein
sich, von seinem Gewissen überführt, um dieses seines rundes Nein, weil sie der von uns erkannten wesent-
angeborenen Wesens willen, das sich dann auch notwen- lichen Leiblichkeit des Menschen, der Unlöslichkeit von
digerweise in seinen Taten auswirkt, als todeswürdigen Leib und Seele widerspreche. Nun, bisher stand gerade
Sünder vor Gott bekennen und das Zu-nichte-werden im das christliche Denken auf dem dnalistischen Stand-
Tode als verdiente Strafe empfangen. Wieviele Men- punkt von Leib und Seele und ließ die unsterbliche
schen kommen nun dazu, dieses in sich selbst nicht ein- Menschenseele nach dem Tode des Leibes zu Gott gehen.
mal verständliche Verwerfungsurteil in einer solchen Es ist interessant, wie Althaus seine neu gewonnene
Weise anzunehmen, daß ihnen dann auch die andere Überzeugung von der Sterblichkeit der Seele ohne Um-
Seite, die Gnade zuteil werden kann? Die anderen aber, stände für das christliche Denken in Anspruch nimmt.
"die bei den äußeren und inneren Umständen ihres Lebens Des weiteren sieht er in der Wiederverkörperungslehre
aus der Dumpfheit ihres Bewußtseins niemals soweit einen starren Individualismus und engen Moralismus,
erwachen können, daß ihnen die entscheidungsvolle Be- der zugunsten des mythologischen Zusammenhanges der
deutung einer solchen inneren Haltung klar und die verschiedenen Erdenleben des einzelnen die wirklichen
„Rechtfertigung aus Gnaden“ zum beherrschenden Mit- geschichtlichen Zusammenhänge auflöse und die Würde
telpunkt ihres Denkens und Lebens werden könnte, die der Geschichte verkenne — ein Urteil, zu dem man
sind dann zur ewigen Verdammnis erschaffen. Althaus höstens dann kommen kann, wenn man die Idee der
willezwar auch sie der Gnade Gottes befehlen und Wiederverkörperung nicht gründlich und umfassend
rechnet mit der Möglichkeit, daß sie vielleicht noch im durchdacht hat. Denn das rein persönliche Schicksal ist
Moment der Auferweckung vor die Entscheidung gestellt ja immer nur die eine Seite der Sache, im übrigen ge-
werden könnten, womit freilich der Sinn des Auf- winnen wir durch die Idee der wiederholten Erdenleben
erweckungsgedankens alteriert würde. Wir unsrexseits etwas, was wir bei Anschauungen wie der von Alihaus
müssen gestehen, daß wir, weun diese Auffassung recht mit ihrem ziellosen Auf und Ab der Geschichte so gründ-
haben sollte, das Menschenschicksal ebenso grausam wie lich vermissen, nämlich ein sinnvolles Bild der Ge-
sionlos: finden und nicht verstehen können, wie Gott ein schichte als eines zusammenhängenden, in großen Ent-
solches über seine Geschöpfe verhängen kann. wicklungsstufen sich vollziehenden Werdens der Mensch-
Aber es wird ja im Grunde alles sinnlos. Was soll die heit als einer geschlossenen Schicksalsgemeinschaft, an
ganze menschliche Geschichte? Sie ist nach Althaus ein dem der Einzelne, indem er sich wiederverkörpert, jeweils
bloßes Auf und Ab, das weder im Guten noch im Bösen teilnimmt, und in dessen Verlauf sich das menschliche
einem Ziele entgegenreift. Sie wird einmal durch Gottes Wesen zunächst immer mehr von den tragenden gei-
Machttat einfach abgebrochen, kann ebensogut heute stigen Mächten seines Ursprungs emanzipiert und in der
wie morgen abgebrochen werden, und man begreift Erdverbundenbeit sich verselbständigt, um schließlich
nicht, warum Gottes Barmherzigkeit diesem grausamen das Geistige in sich selbst, im eigenen höhern Ich zu
Unsinn nicht ehestens ein Ziel setzt, der ja doch nur finden.
dazu führt, daß immer neue Menschen entstehen, von Der Wiederverkörperungsgedanke ist auch kein enger
denen etliche vielleicht selig werden, die meisten‘ doch Moralismus, wohl aber hilft er uns, die Tatsache der
nur’ewigem Verderben anheimfallen können. Allerdings menschlichen Sündhaftigkeit zu verstehen. Der Einwand,
kommen bei Althaus am Schlusse auch solche Gedanken, daß die Notwendigkeit einer Sühne für Taten, die, im
daß ebenso, wie unser Leib als verklärter Leib von Gott vorigen Leben begangen, dem Bewußtsein völlig ent-
wieder ins Dasein gerufen wird, so auch die Welt als schwunden sind, sinnlos wäre, trifft ja nicht zu. Denn
neue Welt, die Natur als verklärte Natur, sogar die Er- diese Taten haben sich im Übergang zur neuen Verkör-
trägnisse der Geschichte, obwohl es eigentlich keine gibt, perung umgesetzt in Wesens- und Charaktereigen-
nach dem alles zunächst vernichtenden Gericht wieder schaften, für die der Mensch, obwohl sie ihm nun ange-
irgendwie erweckt werden, so daß das Leben im künf- boren sind, nicht umhin kann, sich verantwortlich zu
tigen Äon doch wieder Beziehungen hat zum heutigen. fühlen. Das gilt aber nicht nur für solche rein persön-
Aber in dieser Form schweben alle diese Gedanken, so- liche Eigenschaften, sondern für alles, worin ja auch
viel Richtiges sie an und für sich enthalten, haltlos in der Althaus durchaus mit Recht das angeborene sündhafte
Luft und bleiben rein phantastische. Wesen des Menschen als solchen sieht. Der innere Wider-
Im Zusammenhang seiner Ausführungen setzt sich Alt- spruch, der darin liegt, daß der Mensch nicht umhin

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kann, sich für etwas verantwortlich zu fühlen, was ihm und erst recht nicht beherrschen. So betrachtet ist die
doch schon angeboren ist, nötigt nun bei folgerichtigem Leibhaftigkeit ‘des Menschen nicht eine gegebene Tat-
Denken zu dem Schlusse, daß wir an dem Ursündenfall, sache, sondern eine uns gestellte Aufgabe, und wir wer-
der nicht auf der Erde, sondern vor dem Erdensein im den noch manche Verkörperung durchlaufen müssen, es
Geistigen gedacht werden muß, alle schon beteiligt sind. wird sich erst noch vieles ändern müssen, bis unser Leib
Das seltsame und schwere Erdenschicksal des Menschen wirklich unser, bis er Ausdrucksmittel und Werkzeug des
findet somit seine Erklärung darin, daß die menschliche innersten, des geistigen Menschen ist. Vollendete Tat-
Sünde, die im Geistigen bereits Tatsache ist, im Irdischen sache wird das erst im Auferstehungsleibe sein. So ergibt
sichtbar herauskommen muß, um überwunden werden sich, daß Althaus bei seiner Betonung der Leibhaftig-
zu können. Die Menschheitsgeschichte ist darum in ihrer keit wohl etwas Richtiges vorschwebt, das er aber nicht
ersten Hälfte eine immer weitere Entfernung des Men- riehtig herausbringt. Denn es war freilich eine ver-
schen von seinem göttlichen Ursprung, ein zunehmendes hängnisvolle Abirrung vom urchristlichen Impuls und
Sichverlieren im Irdischen, ein von Stufe zu Stufe sich ein gewisses Zurücksinken in indische Seelenhaltung,
vollendender Sündenfall, bis dann in der Mitte der wenn der Christ nur seine Seele herausretten wollte
Zeiten die Wende eintritt und durch Christus die Ent- aus dieser argen Welt und nur selig sein wollte im Hin-
wicklung dahin umgebogen wird, daß der aus Luzifers mel, während die Erdenwelt des Teufels sein mochte.
Krone auf die Erde gefallene Stein, das menschliche Ich, Die Erde ist des Menschen Wohn- und Wirkensstätte.
zur Gralesschale wird, die das Blut des Exlösers auf- Auf und mit der Erde hat er als ein im Leibe lebendes
fängt, ohne Bild gesprochen: daß der zu sich. selbst ge- Geistwesen seine Zukunft, und nicht heimzukehren in
kommene Mensch nunmehr in Freiheit sich dem Gött- seinen himmlischen Ursprung ist des Menschen eigent-
lichen zuwendet, und sich sein Wesen dadurch von liche Bestimmung, —- das geschieht immer nur eine Zeit-
Stufe zu Stufe vergeistigt. lang, um einen neuen Ansatzpunkt zu gewinnen —, son-
Die Auffassung von der wesenhaften Leiblichkeit des dern die Erde zu durchgeistigen. Aber die Wahrheit, die
Menschen und der Sterblichkeit der menschlichen Seele, man meint, verkehrt sich in Irrtum, wenn man die
auf die sich Althaus als auf eine neue Erkenntnis etwas Selbständigkeit des Seelisch-Geistigen gegenüber dem
zu gute tut, bestätigt übrigens in interessanter Weise Leiblichen verkennt, die sich ja in einem gewissen Um-
einen Prozeß, auf dessen Fortgang schon Rudolf Steiner fang schon jede Nacht, wenn wir im Schlafe liegen,
aufmerksam gemacht hat. Die dualistische Anschauung dokumentiert. Im Leben ist der Mensch eine wunder-
des menschlichen Wesens als Leib und Seele ist näm- bare Einheit von Geist, Seele und Leib und soll es immer
lich gar nicht die ursprünglich &ristliche; Paulus unter- xaehr werden. Das hindert nicht, daß die verschiedenen
scheidet deutlich Leib, Seele und Geist. Nachdem aber Elemente seines Wesens verschiedenen Sphären des Da-
schon das kirchliche Dogma des Mittelalters sich auf die seins angehören und, wenn die Einheit im Tode für
Zweiteilung in Leib und Seele festgelegt und den Geist einige Zeit sich auflöst, jedes in seine Sphäre zurück-
gewissermaßen abgeschafft hat, ist die neue Zeit auf dem kehrt, Erde zur Erde, Staub zum Staube, aber auch Geist
Wege, auch die Seele zu verlieren. Daß nun der Natur- zum Geiste. Wer das verkennt und sich als Theologe dem
wissenschaftler nur diejenige Seite der Seele sieht, die naturalistischen Dogma verschreibt, der sägt den Ast ab,
in
der Tat Innenseite des leiblichen Lebens ist und nach auf dem er sitzt, denn mit den Glaubensphantasien von
dem Tode, wenn auch nicht sogleich, der Auflösung ver- den endlichen göttlichen Macht- und Wundertaten
fällt, ist leichter zu verstehen. Der Theologe sollte doch schwebt er dann haltlos in der Luft.
etwas wissen von der ernsten Gedankenarbeit, die schon
Der christliche Glaube kann keine Zukunft haben,
darauf verwendet worden ist, im Menschen ein der wenn er nicht den Boden einer erfaßbaren Wirklichkeit
Herrschaft des Leibes entzogenes, der Eigengesetzlich- unter die Füße bekommt. Die urchristliche Hoffnung
keit des Geistes folgendes Denken festzustellen und ab- webte noch weithin im Unwirklichen; zu groß war noch
zugrenzen, das schon da waltet, wo der Mensch sich den- der Gegensatz der äußeren wirklichen Welt zu dem, was
kend in die geistige Tatsachenwelt, etwa der Mathe- jene Christen im Herzen trugen, als daß sie hätten hoffen
matik, erhebt, vollends wo er die göttlichen Weltgedan- können, es in ihr zu verwirklichen. Aber auch der
ken nachdenkt. Desgleichen dürfte dem Christen das Glaube der Reformation begnügte sich noch mit dem
Ringen nicht unbekannt sein, das natürliche Leben vom Gefühl der sündenvergebenden Gnade und erwartete das
Geiste aus zu durchdringen und zu beherrschen. Daß wirkliche Heil, die neue Welt von göttlicher Macht- und
das
Wesen des Menschen in der Leibhaftigkeit bestehe, trifft
Wundertat am Jüngsten Tage. Inzwischen ist der Mensch
ja für heute noch gar nicht zu. Darin legt doch für uns so erdenwach und wirklichkeitszugewandt geworden, daß
gerade die Problematik des Lebens im Leibe, daß der er sich mit schwebenden Gefühlen und Hoffnungen nicht
Leib noch zum kleinsten Teile unser ist und weit über-
mehr abfinden läßt, .wenn der christliche Glaube nicht
wiegend noch ein Naturgeschehen in sich enthält, von etwas aufweisen kann, wo. die weltwandelnde Kraft des
dem wir wenig. wissen, das wir noch weniger. verstehen Christus schon zu einer wenigstens anfangsweisen Wirk-

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lichkeit gekommen ist. Das läßt sich aber auch aufweisen, . auf der Erde, wie etwa die Kulturoptimisten meinen.
denn der Lutherglaube von der Rechtfertigung des Sün- Gerade so, wie dasEnde der Embryonalentwicklung durch
ders, der dabei doch Sünder bleibt, ist nicht das letzte den Sprung der Geburt, das Ende der Lebensentwick-
Wort. Er bleibt bei der Verkündigung stehen und lung durch den Sprung des Todes erfolgt, so steht am
schreitet nicht zur Wandlung fort. Was der christliche Ende der ganzen gegenwärtigen Weltentwicklung der
Kultus im Urbilde zeigt, indem er von der Verkün- Sprung, der eine neue Nenschheit auf einer neuen Erde,
digung über die Opferung zur Wandlung schreitet, die auf einem neuen Stern zu einem neuen Äon führen
Wandlung der Welt aus dem Geiste des Christus, wird wird. Aber auch diese Geburt kann erst erfolgen, wenn
zur Wirklichkeit im neuen Ich des Menschen, das ihn alles dazu reif ist. Nicht von selbst und nicht ohne unser
durch die Einwohnung Christi zum Glied an seinem Zutun wird das eintreten, denn wenn wir nicht reif
Leibe macht, in der mit Christus ankebenden, der adami- werden für das zukünftige Leben, so werden wir reif
tischen Menschheit gegenübexstehenden neuen Mensch- zum. Gericht. Gott braucht uns freilich nicht, um seine
heit, in der geistgeborenen Tat, die nicht mehr selb- Ziele zu erreichen; er kann, wenn die Menschen ver-
stische Sonderung, auch nicht bloße technische Leistung, sagen, dem Abraham aus den Steinen Kinder erwecken.
sondern Schöpfung ist, in einer Kultur, die die Erde So bleibt es freilich immer in der Schwebe, ob die Men-
segnet und ihren Fluch löst nach dem Vorbilde Christi, schen, ob wir das vorgesetzte Erdenziel erreichen. Das
der nicht nur die verlorenen Seelen, sondern auch die Ende wird kommen, wenn der Weiterbestand dieser
kranken Leiber heilte, und der das Brot segnete, so daß unsrer Erde für die Ziele Gottes nichts mehr austrägt.
es nicht mehr nur materielle Erdenspeise, sondern Trä- Daß alle Menschen dann reif sein werden, in die neue
ger ewiger Lebenskräfte war, in einer Geschichte, die höhere Welt hinüberzugehen, wird nicht zu hoffen sein.
nicht etwa nur Kirchengeschichte, sondern Geschichte Zwischen denen, die aufsteigen, und denen, die zurück-
der Geistwirkungen Christi auf Erden ist. Das ist der bleiben, wird dann eine ebenso umübersteigliche Kluft
Grund der neuen Wirklichkeit, auf dem wir stehen, der befestigt sein, wie heute zwischen den Menschen und
Anfang einer neuen Welt, deren Wachstum und Voll- den Tieren. Wie immer sich das aber gestalten möge,
endung den kommenden Äon heraufführt, gewiß ein vor- das eine ist sicher, denn es ergibt sich aus dem Hinblick
läufg noch schmaler Grund, eine immer noch kühne auf das gesamte Wirken Gottes, daß diese letzten Dinge
Hoffnung; wem sie aber zu kühn erscheint, dem können nicht durch eine göttliche Gewaltsamkeit erfolgen wer-
wir nur sagen, daß seine Hoffnung auf einen deus ex den, sondern das reife Ergebnis einer ganz organisch
machina, der am Ende der Tage durch einen Zauber- fortschreitenden Entwicklung darstellen. Gedanken aber
schlag erst alles das heraufführen soll, an dessen Ver- über die letzten Dinge, die aus theologischen Begriffen
wirklicbung wir heute verzweifeln, eine verzweifelte herausgesponnen werden und das göttliche Gesetz des
Hoffnung ist. Werdens verkennen, das unsre Welt beherrscht, sind,
Und nun muß wohl verstanden werden: das letzte Ziel selbst wenn sie im einzelnen noch so viel Richtiges ent-
verwirklicht sich nicht mehr in geradliniger Entwicklung halten, aufs Ganze geseben ein phantastischer Glaube.

Hermann Beckh 7
Von Hermann Beckhs Lebensgang dieren. Dem juristischen Studium zugewandt, bestand er
die Examina und erwarb sich den juristischen Doktor-
Friedrich Rittelmeyer
grad. Aber der Juristenberuf bereitete ihm menschliche
Am 1. März ist der Priester Hermann Beckh im Schwierigkeiten. Er mußte verurteilen, wo er helfen
62. Lebensjahr von der Erdenwelt geschieden. Aus dem wollte. So entschloß er sich, noch einmal von vorn zu
Kreis der fünfundvierzig Urpriester, die im Jahr 1922, beginnen und Sanskritforscher zu werden. Die indische
in ernstester Zeit, die Christengemeinschaft begründeten, Weisheitswelt zog seinen Geist mächtig an. Philosopbi-
ist er der erste, der die Todesschwelle überschritt. scher Doktor, Privatdozent, dann außerordentlicher Pro-
Ein einzigartiger Gelehrter, ein seltener Geistesringer, fessor an der Universität Berlin, war er neben anderen
ein begeisterter Geist-Künder ist in ihm von uns ge- Forschungen vor allem mit der Herausgabe eines Lexi-
gangen. kons der tibetischen Sprache beschäftigt. — Damals
Im Sommer 1911 begegnete ich ihm zum erstenmal. suchte ich Beziehung zu ihm in seiner Vaterstadt Nürn-
Sein Lebensgang war eigenartig genug. Nach einem glän- berg, da ich die Vermutung hatte, er müsse in einer
zenden Abiturientenexamen hatte er Aufnahme in das Geistesgegend sein, wo die Entdeckung der Geistes-
Münchener Maximilianeum gefunden unter die Auslese wissenschaft Rudolf Steiners nur noch eine Frage der
der tüchtigsten Studenten, die dort auf Staatskosten stu- Zeit ist. So war es auch. In jener Zeit war er von einem

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starken Mißtrauen gegen alles herkömmliche Christen- ‚Neuen aus lebte und schuf und Anstöße nicht scheute.
tum erfüllt, aber voll interessanten Wissens auf den ver- Wie. er im Kreis der vielen hundert Gelehrten des
schiedensten Gebieten, eines Wissens, das weniger auf damaligen Berlin der Einzige, der Allereinzige war, der
dem gebahnten Weg zu einem ehrgeizigen Gelehrtenziel den Weg zur neuen Geistigkeit gefunden hatte, so war
erworben war, als vielmehr auf freien Pfaden eines un- er andrerseits im Kreis der Hörer Rudolf Steiners die
ermüdlichen, vielseitigen Suchens nach Wahrheit und einzige anerkannte Fachgröße — gerade auf-dem Gebiet
vor allem uach lebendigem Geist. Diese Verbin- der ältesten und reichsten Geistigkeit Indiens. Das war
dung von anerkannter wissenschaftlicher Tüchtigkeit und seine ganz besondere geschichtliche Stellung, die ihm für
ganz persönlichem Streben nach dem lebendigen Geist alle Zeiten bleiben wird.
war das Charakteristische. Und in dieser Beziehung war Es ist hier nicht meine Absicht, den ganzen Lebens-
in Deutschland weit und breit niemand zu finden, der gaug Hermann Beckhs in seiner Vielseitigkeit zu schil-
ihm ähnlich gewesen wäre. Um seiner Geistesziele willen dern, als vielmehr auf einige beispielhafte Lebensereig-
lernte er noch in vorgeschrittenen Jahren mit erstaunlicher nisse hinzuweisen, bei denen ich gerade in seiner Nähe
Geistesenergie Persisch, Ägyptisch, Syrisch, Hebräisch zu war. So sei noch von seinen letzten Wochen erzählt.
den ihm schon vertrauten Sprachen Lateinisch, Grie- Ein geistig ungemein beweglicher Mensch, immer rastlos
chisch, Französisch, Englisch, Italienisch, Sankrit und aktiv, ganz im eignen Suchen und Streben lebend, wenn
Tibetisch hinzu. Aber überall suchte er nach dem Höch- auch mit der größten Bereitschaft, audre daran teil-
sten: nach der Geistoffenbarung im irdischen Abglanz. nehmen zu lassen, hatte er nun die Aufgabe, unter
Den Spuren des Christuslichtes in allen Völkern ging Schmerzen still auszuhalten und langsam seiner eignen
er nach. Und man kann mit Sicherheit sagen, daß er Auflösung zuzusehen. Mit einer Lebenskraft und Gei-
ohne Rudolf Steiner Christus nicht gefunden hätte, stesstärke, die uns andern unfaßlich war, studierte er
daß er ihn aber dann fand in weltdurchleuchtender noch wochenlang, während er nachts kaum eine Viertel-
Größe. — stunde schlief, die wesentlichsten Bücher, die ihm in
Als man ihm Ende 1921 von der bevorstehenden Grün- seinem Leben begegnet waren. Entweder sterbe ich, sägte
dung der Christengemeinschaft sagte, war er beinah un- er: dann ist dies die beste Vorbereitung; oder ich bleibe
gehalten, daß er nicht vom allerersten Anfang an davon am Leben: dann ist es wieder das Beste, was ich tun
gewußt hatte, und entschloß sich sofort, sein Gelehrten- kann. Wenn man ihn schmerzlich stöhnend und unruhig
dasein aufzugeben und sich der neuen Bewegung mit sich bin und her werfend fand, so brauchte man ihn nur
allen seinen Gaben zur Verfügung zu stellen. Ich be- auf ein Thema zu bringen, das ihn interessierte, und
sprach damals mit ihm, ob er nicht vorher noch durch sofort begann er mit völlig ungeschwächter Stimme zu
einen Öffentlich angekündigten Vortrag in der Univer- reden und gleich einen kleinen Vortrag zu halten — um
sität — wo man ihn vor allem nach dem Erscheinen am Schluß zu erklären, daß jetzt seine Schmerzen gar
seiner beiden Buddka-Bändchen schätzte — gewisser- nicht mehr da seien. Nur in den allerletzten Tagen ist
maßen eine großzügige Herausforderung an die Ge- dies anders geworden. Da lag er ruhig in seinem Bett
lehrtenwelt der ersten deutschen Universität ergehen und ließ sich in stiller Feier Wahrspruchworte oder das
lassen wollte. Das tat er auch. An einem eisig kalten Ritual der Christengemeinschaft vorlesen. In der Tiefe
Wintertag gingen wir zum Universitätsgebäude, auf ent- aber beschäftigten ihn Gedanken über sich selbst, über
scheidende Aussprachen über die Bedeutung der Geistes- sein eignes Wesen und Leben, über seine Beziehung zu
wissenschaft Rudolf Steiners gefaßt. Aber kein Einziger Menschen, über seine Beziehung zu Christus, und man-
der durch das Thema Herausgeforderten.war gekommen. ches Wort der ernsten Selbstkritik, aber auch der inner-
Kein einziger „Wissenschaftler“ meldete sich zur Aus- sten Geistverbundenheit haben wir von ihm gehört. Wir
sprache. Vor einigen Studenten, einigen Zufallshörern, glaubten, vom Walten seines Engels etwas zu schauen,
einigen Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft wenn ihm nach einem rastlosen Arbeitsleben vor seinem
hielt Hermann Beckh seinen groß angelegten Vortrag. Übergang in eine höhere Welt noch diese Stunden inner-
Der ‚Vortrag verpuffte, wie wenn er in der Wüste ge-- ster Selbstbesinnung geschenkt waren.
halten worden wäre. Man wird ein solches, damals un- Nach monatelangem schwerem Leiden war dann der
beachtetes Ereignis später einmal wie eine Art große Lebensausgang ruhig und friedlich. Als wir an seinem:
geschichtliche Frage, wie. eine Art ernsteste Prüfung, Sterbelager und dann an seinem Sarg die letzten Feiern
wie eine Art entscheidendes Gexicht über das damalige bielten, war es, wie wenn friedevolle Geistigkeit den
deutsche Geistesleben empfinden. Das deutsche Geistes- Raum erfülle. Ein einzigartiger Gelehrter, ein seltener
leben hatte versagt und muß die Folgen tragen. Geistesringer, ein begeisterter Geist-Ründer hatte sein
Von da an wurde Hermann Beckh von der offiziellen reiches Leben abgeschlossen und seinen Namen für
Wissenschaft nicht mehr gehört. Er war für sie gestor- immer in die bewegte Geschichte unsrer Zeit einge-
ben. Um so mehr als er von da an, ohne auf seinen Ge- schrieben.
lehrtennamen mehr Rücksicht zu nehmen, ganz vom *

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Von Hermann Beckhs Geistesart kraft des Wortes hatte, führte ihn immer wieder un-
EmilBock widerstehlich in die Urwelt-Höhen der schneebedeckten
Berge und machte ihn in einem Maße, daß manche es
Es war gegen Ende des Weltkrieges. In den freien ihm als Schrullen auslegten, zum Liebhaber der Sterne,
Stunden, die mir mein militärischer Dienst ließ, trieb ich Blumen, Kristalle und Rinder. Er war es, der ihn leitete,
mich fleißig in den Hörsälen der Berliner Universität wenn er den Sternengesetzen in den Evangelien nach-
herum. Als ich mich einmal um eine Überschau dessen spürte; er ließ ihn schließlich bis in das Werk hinein, an
bemühte, was auf dem Gebiete der Religionsgeschichte dem er noch auf dem Sterbebett arbeitete, die Musik
geboten wurde, entdeckte ich, daß zwei Vorlesungen ura und umdrehen, um zu den Gesetzen ihrer Nlagie vor-
über den Islam und über den Buddhismus auf die gleiche zudringen. Im Bann und Dienst des Logos, des schöp-
Nachmittagsstunde fielen. Ich entschloß mich trotzdem, ferischen Wortes, stand sein Sein und Leben.
beide am gleichen Tage zu besuchen. So hörte ich die
*
erste Hälfte der Stunde einem Professor zu, der, ein
Muster von Korrektheit in Gestalt, Anzug und Sprechart, Von Hermann Beckhs Persönlichkeit
— später war er eine Zeitlang demokratischer preußi-
Rudolf von Koschützki
scher Kultusminister — aus einem intellektuell ' und
logisch überaus präzis formulierten Manuskript über In ihm verkörperte sich eine große Kraft, leiblich
Mohammed und seine Lehre vorlas. Als ich dann mitten sowohl wie geistig. Immer wieder unternahm er, auch in
in die Vorlesung über Buddhismus hineinkam, bot sich seinem vorgerückten Alter, Bergbesteigungen allein, die
mir ein völlig andres Bild: Einen Berg von beschriebenen selbst jüngere Menschen nur mit einem Führer machen.
Zetteln vor sich, an die er sich aber nicht hielt, schüttete Die Himmelsnähe der hohen Gipfel zog ihn hinauf, und
einer, dessen feurige und zugleich kindliche Augen er hatte das Bedürfnis, einsam dort oben zu sein — wie
wichtiger waren als eine korrekte Krawatte, mit be- er in seinem ganzen Leben ein Einsamer war.
geistert-dröhnender Stimme eine überquellende Stof- Es war nicht wenig, was er, unter den ersten die Chri-
fülle auf die wenigen Hörer aus. Einen logischen Faden stengemeinschaft mit begründend, dafür aufgab, näm-
durfte man nicht suchen. Ich fragte mich, ob es das lich eine Professur an der Hochschule. Hätte er sein
Zuviel des Darzubietenden sei, oder ob der plötzlich großes Wissen in den Dienst der ablaufenden Kultur
hereinplatzende Feldgraue den Herm Professor etwas stellen wollen, er hätte eine hohe und geachtete Stelle
aus dem Konzept gebracht habe, jedenfalls verstand ich im Universitätsleben erlangen können. Aber gerade die
so gut wie nichts von dem, was ich hörte. Tiefe seines Wissens zeigte ihm, daß die Menschheit auf
Das war meine erste Begegnung mit Professor Beckh dem bisherigen Wege nicht weiterkommen kann. Und
und dem, was ich dann in der Folgezeit als eine wirkliche nachdem er an sich und seiner Wissenschaft die uner-
spirituelle Überfülle an ihm kennen und lieben lernte. meßliche Fruchtbarkeit jenes Denkens erfahren hatte,
Professor Beckh war in unserer Mitte wie der Gast und das durch Rudolf Steiner in die Welt gekommen ist, er-
Bote aus einer völlig andersartigen Weltordnung. In griff er ohne Besinnen die Gelegenheit, praktisch ins
manchem schien er gar nicht recht in die Welt hineinzu- Leben hineinzuwirken, dort, wo die Fäden zwischen der
passen, wie sie heute um uns ber ist. Ein ganz elemen- Ewigkeit und der Endlichkeit hin- und herlaufen, und
tarer Lebenstrieb ließ ihn mit heftiger und unablässiger Antworten auf die wichtigsten und letzten Fragen des
Sehnsucht Ausschau halten nach einer Welt, in welcher Lebens gesucht werden. Denn hier, auf dem Gebiete der
das Geistige nicht spärlich und dünn, sondern in spru- Religion, hatte das abstrakte Denken ja die schlimmsten
delnder Fülle quillt und gewaltiger auf die Seelen und Verheerungen angerichtet.
auch auf den Stoff einwirkt. Heimweh nach einer einst So kam er in unsern Kreis. Aber auch in ihm war er
lebendigen Welt magischen Geistes, vor allem der magi- von Anfang an einsamer als die andern. Wir bewunder-
schen Kraft des geistkündenden Wortes, war der Antrieb ten seine tiefe Gelehrsamkeit, seinen Fleiß und seine
seines Suchens und seines Wirkens. Aufopferung. Und im Grunde liebten wir ihn auch von
Wie ein Schicksalsmagnet hatte deshalb der Orient, Anfang an; denn in dem glieder- und geistesstarken
insbesondere der Klang der alten Sprachen Asiens, den Manne lebte ein Kind, das zwar nach dem bekannten
früheren Juristen an sich gezogen. Die Suche nach dem Worte in jedem echten Manne lebt. Aber aus dem Ge-
realen und vollmächtigen Geiste war es, die ihn zu Rudolf sicht unseres lieben Professor Beckh blickte es mit so
Steiner führte und dieesauch bewirkte, daß er sich mit der großen und verwunderten Augen in die Welt, daß es
Selbstverständlichkeit und Unabwendbarkeit eines Natur- zuweilen ein Lächeln weckte, das gewiß nicht kränken
ereignisses dem Urpriesterkreise der Christengemeinschaft sollte, aber dennoch seine Einsamkeit nicht verminderte.
eingliederte. Das im Zelebrieren des Kultus wirkende Wenn er zuweilen in einem Privathause die Weihehand-
Geistwort war ihm in einem besonderen Maße heimatlich. lung hielt, so war der Raum für ihn ausschließlich mit
Der innere Anschluß, den er an die verborgene Zauber- göttlichen Wesen bevölkert, und es wäre ihm nicht ein-

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gefallen, aus Rücksicht auf die Gemüter der in andern dieses Staunen, das die echten Weisen mit den Kindern
Stockwerken Wohnenden seine gewaltige Stimme zu gemein haben — das war auch sein Erleben der Natur-
dämpfen. gewalten. — Die eigene Lebensgefabr war daneben nur
Warum sollten sie von einer so herrlichen Sache aus- eine kleine Angelegenheit. Jetzt haben ihn die Gewalten
geschlossen sein? Aber wie gesagt: an so nebensächliche der Tiefe grimmig angepackt. Schon den ganzen Som-
Dinge verschwendete er seine immer auf das Höchste ge- mer hörte man, daß er krank sei, nur ganz gebeugt
richteten Gedanken nicht. Und diese beständige Rich- unter heftigen Schmerzen sich bewegen könne. Wir dach-
tung auf das Höchste machte ihn oft wehrlos in den ten an -Ischias oder dergleichen. Aber nun zeigte sich der
Tiefen. Als in dem zweiten Jahre unseres Bestehens der Ernst seines Zustandes. Es war, als wenn die Erden-
ganze Priesterkreis vierter Klasse durch Deutschland tiefen sich dafür rächen wollten, daß er sie sein Leben
reiste, um eine Synode abzuhalten, wo es am billigsten lang so weit unter sich gelassen hat. Körperlich konnte
für uns war, vertrieb sich die Jugend (und wie jung war er sich ihrer nicht mehr erwehren, aber sie haben ihn
sie damals!) die lange Nacht damit, in dem Salon vierter dennoch nicht untergekriegt.
Klasse Theater zu spielen, indem sie die komischen Sei-
*
ten ihrer lieben Brüder unter allgemeiner Heiterkeit
karrikierte. Es konnte nicht ausbleiben, daß auch unser Von Hermann Beckhs letzten Tagen
lieber Professor an die Reihe kam. Er nahm es nicht
Erwin Schühle
übel, aber er konnte sich auch nicht dagegen wehren.
Das Menschenbild, diese ernsthafte Unternehmung der Im Umkreis Sterbender und im Angesicht des Todes
Götter, das er mit den Sternen verbunden wußte — wie gewinnen Dinge eine Bedeutung, die wir ihnen sonst im
konnte man Spott damit treiben! Leben nicht beilegen können. Die Feierlichkeit des Todes
Dann kamen wir nach Berka, wo unsere Lagerstätten gibt dem Irdischen ringsum ein doppeltes Gewicht. Es
in einem großen Saal auf der Erde ausgebreitet waren, scheint, als fange die Welt zu reden an, da der Tote selber
obne daß die Zivilisation irgendeine ihrer Bequemlich- schweigt.
keiten dazu gespendet hätte. Wir schliefen trotzdem Am Abend vor der Bestattung von Professor Hermann
gut; nur der arme Professor Beckh litt an einer so hart- Beckh versammelte sich ein kleiner Kreis von Ange-
näckigen Schlaflosigkeit, daß er kein Auge zutat, son- hörigen, Freunden und Mitpriestern in dem Zimmer, in
dern die ganzen Nächte seine Blicke über die seltsame dem er gelebt, gearbeitet und zuletzt schmerzvoll ge-
Schicksalsgemeinschaft schweifen ließ, in die er geraten ütten hatte. Der erste Teil des Bestattungsrituals wurde
war, und auf die auch der Mond und die Sterne durch vollzogen. Es war ein Abschiednehmen von der Stätte
die hohen Fenster herabblickten. Eng verbunden in einer seines Wirkens. Der Sarg war offen. Zu Häupten des
großen Menschheitsangelegenheit — und dennoch Wel- Toten wurden die Kerzen entzündet. Der Schein der
ten zwischen ihnen — jeder im Grunde ein Original und Lichter überleuchtete sein Antlitz und seine Gestalt. Die
Einzelgänger auf seinem Wege — aber doch keiner so feierlichen Worte des Rituals ertönten. Sie machten
einsam wie Professor Beckh. offenbar, wie das Leuchten der Lichter über dem Toten
Oben in der Bergeinsamkeit war seine eigentliche Hei- nur der irdische Abglanz der Glorie des Geistes war, die
mat. Dort kann ich mir ihn am besten vorstellen, selbst jetzt erstrahlte.
in einer so schlimmen Nacht, wie er sie einmal, im Die Nacht hindurch wachten Freunde an seinem Sarg.
Schneesturm verirrt, auf einem Gletscher zubringen Als wir in der Zeit der allerersten Morgenstunden, um zwei
mußte. Die Füße im Rucksack, eine ganze Nacht, am Priesterfreunde abzulösen, zu seinem Haus hinschritten,
Abgrund zusammengehockt, auf den neuen Tag wartend ging eben am Horizont der halbe Mond in wunderbarem
— falls man bis dahin nicht erstarrte — weit und breit Orange am Horizonte auf. Er schien über dem Haus zu
keine menschliche Seele. Aber Hermann Beckh war ein stehen, in dem der Tote lag. Zur Linken des Mondes war
Kind der Höhe. Wie der Witz so war ihm auch die ein heller Stern zu sehen. Es war Arctur. Die Gedanken
Furcht im Grunde unbekannt. So kleinmenschliche wanderten zu dem Toten hin, dem die Sterne eine ver-
Dinge gibt es da. oben nicht. Sein starker Leib wider- traute Welt geworden waren. Wie konnte er in Be-
stand dem Sturm und der Kälte, und seine Seele war ja geisterung erglühen, wenn er von den Sternen sprach.
in ihrem Element. Die Sturmriesen und Eisriesen, das Wie borchte er auf, wenn man ihm auf dem Kranken-
waren im Grunde seine Verwandten. Alles was groß war. lager von bestimmten Sternenkonstellationen am Abend-
Wer seine Sternenbücher liest, oder wer ihn über große himmel berichtete. Bestimmte Sterne waren ihm ver-
Musiker reden und ihre Weltenklänge vortragen hörte, traut wie Menschen: Sirius, Spica, Arctur, der Abend-
der kann sich vorstellen, welche Gedanken und Gefühle stern und andere. Nun traten wir nach diesem Sternen-
in jener Sturmnacht durch seine Seele gezogen sind. aufblick ins Innere des Hauses ein. Da lag et in dem
Er erzählte solche Erlebnisse nicht als besondere Lei- Sarg, ein Jüngling schien er geworden, mit heitrem
stungen. Das große Staunen über die Wunder des Lebens, Lächeln. Zwei Kerzen brannten. Oben am Sarg standen

22
Rosen, Links war. das Bett, auf dem er durch Wochen Von Hermann Beckhs literarischem Lebenswerk
und Monate in großen Schmerzen gelegen war. Jetzt war
Rudolf Frieling
es mit Blumen bedeckt.
Unsagbares bewegte in dieser nächtlichen Stunde das Als Hermann Beckh 1922 nach Aufgabe seiner Ber-
Herz. Erinnerungen an die letzten Wochen wachten jetzt liner Dozentur Priester der Christengemeinschaft wurde,
auf. Dort an dem Bettraud war er vor Wochen gesessen, hatte er sich bereits in der wissenschaftlichen Welt einen
weil das Liegen zu schmerzhaft war. Er hatte noch zu- Namen gemacht durch ein Werk über den Buddkis-
gehört, wie man von Ereignissen in unserer Bewegung mus. Zwei unscheinbare kleine Bändchen in der Samm-
erzählte. Der Schmerz schien vergessen. Immer wieder lung Göschen, die aber viel Aufmerksamkeit fanden.
äußerte er, sich mit dem Schicksal der Christengemein- Was hier auffiel, war eine von der üblichen Art ab-
schaft verbindend: solche Dinge müßt ihr mir sagen; weichende Betrachtungsweise. Die Lehre Buddhas sah
das muß ich wissen; das müßt ihr mir stets berichten. man hier konsequent unter den Gesichtspunkt des medi-
Unvergeßlich die Erinnerung an jenen Morgen in den tativen Lebens und der damit zusammenhängenden
Weihnachtstagen, als man schon an der Tür mit den eigentümlichen Erfahrungen gestellt. Das menschliche
Worten empfangen wurde, daß heute ein Festtag im Bewußtsein wurde dabei als wandelbar betraditet; die
Hause sei. Hermann Beckh lag im Bett. Er hatte eben Möglichkeit, durch innere Arbeit zu anderen Formen
die Korrektur seines Liedes „Die Rosen von Damaskus“ des Bewußtseins zu gelangen, war ernsthaft in Rech-
beendigt, mit dessen Drucklegung ihn ein Freund der nung gezogen. Einleuchtend zeigte Bech, wie es dem
Darmstädter Gemeinde beglückt hatte, und war in hei- Buddha gar nicht darum zu tun war, ein spekulatives
terer, ursprünglichster Stimmung. Er ließ sich ankleiden System metaphysischer Wahrheiten zu entwickeln, worin
und von einem ihm teuren Besuch im Fahrstuhl — das auf die „letzten Fragen“ Antworten gegeben werden, die
Gehen war nicht mehr möglich — zum Klavier hin- durch ein im „gewöhnlichen Bewußtsein“ verbleibendes
fabren. Dort spielte er noch einmal das Lied vor, das in Nachdenken gewonnen sind. Buddha wollte gar nicht
den Worten ausklingt: „Mit Rosen will ich drum zu Tisch, abstrakte Fragen abstrakt beantworten, er wollte viel-
mit Rosen schlummern gehn, mit Rosen steigen in die mehr auf den Weg gewisser innerer Erfahrungen führen,
Gruft, mit Rosen auferstehn.“ Die Rosen zu Häupten des aus denen heraus solche Fragen gar nicht mehr oder
Sargs schienen es wahrzumachen. Als er uns seine Him- aber dann erst in der richtigen Weise gestellt werden.
melfahrtsmusik vorspielte und ganz den: Klängen hin- Von diesen Gesichtspunkt aus erhielt vieles, was Baddha
gegeben herübersah, sagte er noch: Bei dieser Musik gesagt und— vor allem auch: nicht gesagt hat, eine neue
läßt es sich sterben; sie müßt ihr mir bei meinem Tode Beleuchtung, so auch der umstrittene Begriff des Nirvana.
spielen. Diesen Wunsch erfüllten wir ihm. Nicht nur gelehrte Kenntnis sprach aus diesem Werk,
Die Liebe zum Wort, die Liebe zu den Sternen und sondern auch ein sachkundiges Eingehen auf das dem
die Liebe zur Musik trug er in seiner Seele. Novalis, den Abendländer zunächst so fremdartige meditative Leben
Hermann Beckh von allen Dichtern wohl am meisten des Fernen Ostens. Daß er so über den Buddhismus
liebte, beginnt sein Märchen aus dem Heinrich von Ofter- schreiben konnte, 'verdankte Beckh seinem großen
dingen mit einer Szene im Palast eines Königs, der Lehrer Rudolf Steiner, als dessen Schüler er nicht nur in
den Namen des Sternes trägt, dessen Feuerzeichen wir den Gedankengänugen des höheren Wissens heimisch
in jener Nacht über dem Haus des Toten errichtet war, sondern auch selbst den Weg meditativer Praxis be-
sahen. Der König Arctur und seine Tochter Freia be- treten hatte.
giunen ein Spiel mit Blättern, auf denen heilige, tief- Es gibt so manchen Kenner und Schätzer der östlichen
sinnige Zeichen standen, die aus lauter Sternbildern zu- Weisheit, der von ihr so imponierende Eindrücke emp-
sammengesetzt waren. „Zugleich ließ sich eine sanfte, fangen hat, daß er dadurch unserer christlich-euro-
aber tiefbewegende Musik in der Luft hören, die von den päischen Kultur entfremdet wird und im Geiste „aus-
im Saal sich wunderlich durcheinander schlingenden Ster- wandert‘. Davor war Beckh dadurch geschützt, daß er
nen, und den übrigen sonderbaren Bewegungen zu ent- zwar diese Weisheit des Ostens voll würdigen und ver-
stehen schien. Die Sterne schwangen sich, bald langsam, ehren konnte, andererseits aber die Erkenntnis in sich.
bald schnell, in beständig veränderten Linien umher, trug von dem zentralen, unvergleichlich erhabenen Er-
und bildeten, nach dem Sange der Musik, die Figuren lösungs-Mysterium Christi und von der wichtigen, letzten
der Blätter auf das kunstreichste nach.“ Will Novalis Endes auf dieses Mysterium hingeordneten Ich-Aufgabe
nicht in seinem Märchen auf das Urgeheimnis der Sterne Europas. (Vor den Lesern unserer Zeitschrift darf das
und der Musik hindeuten? Sollte nicht — im Stile des wohl in dieser abgekürzten Form ausgesprochen werden.)
Novalismärchens gesprochen — der,.an dessen Sarg wir Beckh wurde, wie gesagt, 1922 christlicher Priester in
wachten, zu Zeiten ein Gast am Hofe des Arctur gewesen unserer religiösen Erneuerungs-Bewegung. Dabei ist
sein zusammen mit all denen, die das Wort, die Sterne wichtig, daß sein Priestertum und sein Professorentum
und die Musik lieben? * (er wurde ja charakteristischerweise nie anders als „Pro-

23
fessor Beckh“ genannt, die Professoren-Linie wissen- „Ausnahmen“, nach Innen schauender Mystik, so stand
schaftlichen Forschens und Lehrens brach bei ihm nicht hinter dem Persertum ein mehr nach außen, auf das
ab) nicht auf zwei Gleisen beziehungslos nebeneinander Erden-Werk gerichteter Wille, ein weniger „mystisch“ als
herliefen. Wie es ja zuweilen vorkommt, daß ein Prie- vielmehr „magisch“ zu nennender Impuls. Gerade durch
ster noch nebenher irgendein entlegenes Spezialgebiet dieses ihr Interesse für die Erde und ihre Umgestaltung
bearbeitet, zum Beispiel Pater Waßmann S. J. ein großer hat die Geistigkeit Zarathustras tiefe und geheimnisvolle
Ameisenforscher war. Bei Beckh vereinigten sich der Beziehungen zu dem in seiner kosmischen Größe ver-
christliche Priester und der orientalistische Professor auf standenen Christus-Ereignis. Beckh schrieb ein Büchlein
organische Weise. Man stand vor dem Phänomen, daß „Zarathustra“ (1927), in dem er diese zum Chri-
ein Kenner und Liebhaber der östlichen Weisheit sich stus-Mysterium hinführenden Linien behandelte, wobei
nicht, wie so mancher europäische „Indiengänger“ auf auch auf gewisse Stellen in Nietzsches „Zarathustra“ ein
den Weg verloren hatte, der „von Christus zu Buddha“ hochinteressantes Licht fiel. Als Sprachforscher führte
führt. Vielmehr: Beckh lebte in dem vollen Bewußtsein er zugleich in manche Eigentümlichkeiten des Avesta
dessen, was der weltgeschichtliche Schritt „von Buddha ein und ließ dem Leser eine Reihe von wichtigen Wor-
zu Christus“ zu bedeuten hat. Er hatte den Buddhismus ten der iranischen Sprache zum Erlebnis werden, dies
in all seiner Größe erkennend und erlebend in sich auf- vor allem auch in seinem Buh „Aus der Welt der
genommen und setzte ihn in seinem Innern, unter- Mysterien“ (ebenfalls 1927).
scheidend und verbindend, in die rechte Beziehung zu Seine Beschäftigung mit Ägypten fand ihren lite-
der noch größeren Erlösungs-Tat Christi. rarischen Niederschlag vor allem in der zart empfun-
So schrieb er 1925 das inhaltschwere Büchlein „Von denen Darstellung des Isis-Geheimnisses („Aus der Welt
Buddha zu Christus“. Daß es im Rahmen der der Mysterien“) — Isis in ihrer Beziehung zum Myste-
als „Sekte“ abgestempelten Christengemeinschaft er- rium des „Ewig-Weiblichen“, in ihrer Beziehung zur Ge-
schien, hat wohl mit verhindert, daß es — über unsere stalt der Maria.
Kreise hinaus — als Ereignis in der Geschichte der So trug er die großen vorchristlichen Kulturen des
europäischen Wissenschaft erkannt wurde; als solches alten Orients, Indien, Persien, Ägypten, in sich. Und
muß es aber doch wohl gelten. zwar eben nicht als „Spezialinteresse“ neben dem Christ-
Dasselbe Jahr 1925 brachte außerdem noch den lich-Priesterlichen her, sondern als die weite großzügige
„Hingang des Vollendeten“, ein neues Zeug- Geisteslandschaft, die den Rahmen abgibt, innerhalb
nis für Beckhs intime Kennerschaft des Buddhismus. dessen das Evangelium erst in seinem ganzen kosmischen
Es handelt sich um das sogenannte buddhistische Todes- Format und in seiner menschheitlichen Allgenugsamkeit
Evangelium (Maha para nibbana sutta), wo in wunder- zur Geltung kommt. .
barer, poetisch-erhabener Weise Buddhas Hiugang ins Dieser Blick auf Beckhs Orientalistik wäre unvollstän-
Nirvana geschildert wird. Das Feierliche und rhythmisch- dig, würde man nicht auch noch seiner Arbeit am Alten
Durchatmete des Urtextes hat Beckh als nach-dichtender Testament gedenken. Der Ausgangspunkt war für
Übersetzer in einer wahrhaft genialen Weise wieder- ihn zunächst wieder das Sprachliche, wie es sich in offen-
gegeben, abgesehen von seinen bedeutungsvollen Anmer- barender Monumentalität gerade im Alt-Hebräischen
kungen zum Inhaltlichen dieses Textes. darlebt. Schon 1921 hatte Beckh eine kleine, aber in-
Ebenfalls dem indischen Kulturbereich gehört der haltreiche Broschüre verfaßt, „Es werde Licht“,
vedische „Aymnus an die Erde“ an, dessen Über- wo er an Hand eines einzigen Genesis-Satzes gewisse Be-
setzung Beckh 1934 veröffentlichte. Das ist freilich eine ziehungen des Ursprachlichen darstellt, Philologie und
ganz andere Welt als der Buddhismus, übrigens auch als Esoterik miteinander verbindend. .
die meiste sonstige indische Literatur. Der Hymnus ist In dem ersten Bändchen, das von Beckh in der Schrif-
voller Freude am Erden-Dasein, scheinbar „naiv“, aber tenreibe „Christus aller Erde“ erschien, „Der Ur-
doch von tiefen spirituellen Untergründen getragen, sprung im Lichte“ (1924), behandelt er die mäch-
„naiv“ im Sinn des Ursprünglich-Echten und Unverdor- tige Hieroglyphik der biblischen Urgeschichte, von der
benen. Seine echte Naturverbundenheit kam dem Über- Schöpfung bis zum Regenbogen des Noah.
setzer hier zu Hilfe, in der Wiedergabe dieses großartig- Den Abschluß dieser alt-testamentlichen Linie bildet
urwüchsigen, „Erdgeruch“ atmenden Textes den rechten „Der 23. Psalm“ (1935), übersetzt und — kompo-
Ton zu finden. niert. Äußerlich betrachtet sehr wenig umfangreich, aber
Beckhs wissenschaftliches Interesse gehörte nicht ein- doch ein Kleinod, das sich ausnimmt wie eine voraus-
seitig dem Indischen. Es wandte sich auch der persi- nehmende Weissagung der einstigen Vereinigung von
schen Kultur zu, in deren Mitte die ragende Gestalt Wissenschaft, Kunst und Religion. Der 23. Psalm, über-
Zarathustras steht. Trägt das indische Geistesleben vor‘ setzt und komponiert, bildet den würdigen Abschluß von
allem den Charakter in-sich-versenkter Innerlichkeit Beckhs orientalistischer Lebensarbeit. =
(der genannte „Hymnus an. die Erde“ gehört zu den *

24
Indien — Persien — Ägypten — Altes Testament — : -
raschung, als iss 7
wie reich war die wissenschaftliche Welt dieses Gelehr- dichtes präsentieze = Zex:: hatte
ten! Und doch, sie ist damit noch nicht erschöpfend um- sich da einfah e!==-'r Tıın rinasr = konnte
schrieben. nicht anders als sein Der = Kirn es eswing-
Gelegentlich der Freiburger Tagung 1926 aufgefor- ter dichterischer For= r2:= i-= 23
dert, in positiver Kritik der Bestrebungen von Arthur
Drews den kosmischen Rhythmus im Markus-Evangelium
in seiner wahren Gestalt und in seiner wahren Bedeu-
tung darzutun, wurde Beckh in das Gebiet der Ster- satz in unserer Zeitschrift Z+=- =
aen-Weisheit geführt, das bald sein Interesse chen-Märchen, mit fenem Tıx: ! 3
immer mächtiger fesselte. Der Ertrag dieses neuen For- Intimität der Märchen-Sphäre #24: —ı
schens war zunächst 1928 das Buch „Der kosmi- bewußten Erkenntnis-Strehen re&= Eis: 1-+1.:=
scheRhythmusim Markus-Evangelium.“ mittelnd. (Auf seine sonstigen wert-I= A-':ıı=
Das so oft als das „schlichteste“, will sagen „simpelste‘ der Zeitschrift „Die Christengemeim:F1?-- re:
und „geistig anspruchloseste“ der Evangelien angesehene würde den Rahmen dieses Überbliäse: sr=r=. So

H
Markus-Evangelium offenbart sich da in seiner majestä- wenigstens dieser stimmungsvolle Stm=- st =-ä4-°-
tisch-hoheitsvollen Sternen-Anordnung, freilich anders, satz als einer für viele erwähnt!)
und vor allem: zu ganz anderen Schlußfolgerungen füh- Ebenso wie von der Alchymie ließe sih auch von dem
rend äls bei Arthur Drews. Letzterer folgert aus der „Sternen“-Motiv sagen, daß es schon früher angeklun-
Sternen-Anordnung, daß es sich um einen bloßen Mythos gen sei: nämlich in der originellen Broshüre „Vom
handle. Er rechnet von vornherein nicht mit einer wirk- geistigen Wesen der Tonarten“ (192), wo
lichen Geist-Welt, die sich auch in den Sternbildern die geistig-seelischen Bereiche der verschiedenen Ton-
offenbart, die als den Inbegriff ihrer selbst den Gottes- arten mit den zwölf Weltqualitäten der Tierkreiszeichen
Sohn und Sonnen-Geist Christus auf die Erde sendet. in Verbindung gebracht sind.
Eben weil Christus eine kosmische Wesenheit war, Damit stehen wir vor einer dritten Geistesprovinz, auf
konnte sein Erdenleben nicht anders als nach der Ster- deren Gebiet Beckh produktiv tätig war: zum „alten
nen-Ordnung verlaufen. Sein Leben ist mit Sternen- Orient“, zu „Sternen und Steinen“ kommt noch hinzu:
Schrift in die Erde eingeschrieben. die Musik.
1930 folgte dann „Der kosmische Rhyth- Gerade zweimal sieben Jahre sind seit dieser kleinen
mus, das Sternengeheimnis und Erden- Tonarten-Broschüre verflossen bis zu Beckhs großem
gebeimnis im Johannes-Evangelium“. In Buch „Die Sprache der Tonartin der Musik
diesem umfangreichen Werke kam, wie schon aus dem von Bach bis Bruckner. Mit besonderer Berücksichtigung
Titel hervorgeht, noch eine neue Note zur eigentlichen des Wagnerschen Musikdramas“, das, im vorigen Jahr
Sternenbetrachtung hinzu: das Alchymistische. geschrieben, jetzt zu Ostern 1937 als sein Vermächtnis-
Kein zufälliger Zusammenhang! Novalis, mit dessen werk herauskommt, Die Skizze von 1922 ist zum aus-
Welt Beckh innig vertraut war, hat nicht umsonst „die geführten farbenreichen Gemälde geworden. Was damals
Sterne“ und „die Steine“ in bedeutsame Beziehung mit- kurz angedeutet wurde, ist nun durch eine überwäl-
einander gebracht. So entstand als ein Nachklang des tigende Fülle von Beobachtungsmaterial — man darf
Buches über das Johannes-Evangelium, in dem ja die schon sagen: bewiesen. Die verschiedenen Tonarten
große Frage der Transsubstantiation gerade im Zusam- stehen als charakteristisch-individuelle geistig-seelische
menhang mit johanneischer Geistigkeit berührt worden Wesenheiten vor uns. Ehe ein solches Buch geschrieben
war, das Büchlein „Vom Geheimnis der Stof- werden konnte, mußte ein jahrzehntelanges Leben im
feswelt (Alchymie)“, (1931). Musikalischen vorangehen. Beckh überschaut die ganze
Genauer betrachtet, war das Alchymistische eigentlich tönende Welt unserer musikalischen Klassiker, ihre Her-
doch nicht eine „neue“ Nuance im Werke Hermann vorbringungen im Großen wie im Kleinen, von der Sym-
Bechs; denn angeklungen war es schon früher. „Von phonie bis zum Klavier-Präludium, und erweist sich
Buddha zu Christus“ endet mit einem Hinweis auf die immer wieder als feinfühliger Interpret. Ungeahnte
Apokalypse und die darin enthaltenen Mysterien Tiefen weiß er dem Werke Richard Wagners abzuge-
alchymistischer Transsubstantiation, wie sie sich krönend winnen, der Tonarten-Sprache sowohl wie auch den
in der Schau des „himmlischen Jerusalem“ zusammen- mythischen Bildern und mysterienhaften Gestaltungen
fassen. — Der Apokalypse war ein Sammelbändchen der der verschiedenen Musikdramen, vom „Plegenden Hol-
Schriftenreihe „Christus aller Erde“ gewidmet, das 1925 länder“ bis zum „Parsifal“. Schon 1930 hatte er in
erschien, unter dem Titel: „Gegenwartsrätsel im Offen- seiner weihevollen, meditative Stimmung atmenden Dar-
barungslicht“. Beckh hatte einen Aufsatz- zugesagt über stellung „Das Christus-Erlebnis im Drama-
das „himmlische Jerusalem“. Es gab eine Über- tisch-Musikalischen von Richard Wagners Parsifal“ eine

25
Ahnung davon erweckt, wieviel es bei Richard Wagner kindliches Erstaunen. Wir sahen alle diese offenbare
noch zu entdecken gibt. — Um auf sein letztes Buch Verwandlung. Und die Seele unseres Freundes, die in
„Die Sprache der Tonart‘“ noch einmal zurückzukom- den letzten Monaten der ganzen Bitternis des Todes
men: das letzte Wort hat hier nicht Wagner, sondern. begegnete, die oft von dunklen Mächten geängstet war,
Brucners Neunte Symphonie. Sie steht immer schon im löste sich in Frieden vom Leibe. Einer seiner Freunde
Hintergrund des Ganzen, am Schluß tritt sie dann end- hat es ausgesprochen: Beckh konnte in Frieden sterben,
giltig hervor. Sie ist Bruckners Todes-Symphonie, sein weil er den Tod durchlitt, noch als er lebte. Und die
Abschied vom Leben. Wie Beckh gerade die Mysterien hochbetagte verehrungswürdige Mutter, welche zuerst
dieser Todes- und Abschiedssymphonie deutet, selbst den Gatten, dann die Tochter verlor, hat angesichts des
schon nicht mehr fern von der geheimnisvollen Schwelle, im Tode verklärten Sohnes ausgesprochen: „Ich freue
gehört zu den eindrucksvollsten Erlebnissen beim Lesen mich über das, was ich sehe, deun es war ein Sieg.“
dieses uachgelassenen Werkes. — Oft haben ihn seine Freunde, während er krank lag,
Beckhs Beziehung zur Musik trat in seinen letzten besucht, und es war ergreifend zu sehen, wie eine geistige
Lebensjahren dadurch noch in ein besonderes Stadium, Anregung, ja schon die bloße Anwesenheit eines Men-
daß er zu komponieren begann, (Neben Unver- schen für ihn genügte, um sich der ganzen Qual der
öffentlichtem: „Der 23. Psalm“, „Die Rosen von Damas- Krankheit zu entreißen, sich aufzurichten und der ge-
kus“.) Es liegt etwas menschlich Ergreifendes darin, wie meinsamen Betrachtung eines Gegenstandes hinzugeben.
da eine Seele zu klingen und tönen begann, die in ihren Einmal wurde ihm an einem besonders schweren Tage
unbewußten Tiefen von der bevorstehenden Heimkehr ein plastisches Kunstwerk gebracht. Er freute sich von
in die Welt ihres Ursprungs wissen mochte. — Herzen des Fortschritts der ihm bekannten Künstlerin.
„Mich erquickt, wenn ich nur dieses Werden sehe — ja,
*
das Geistige war mein ganzes Leben.“ Und das war die
„Vielseitig* — das ist vielleicht der erste Ein- Wahrheit,
druck angesichts dieses Lebenswerkes. Aber auf die Der Mann, der über sein Leben so sprechen konnte,
Dauer wird dieser Eindruck durch einen anderen er- hat der Menschheit geistige Geschenke hinterlassen, zu
gänzt: vielseitig, ja; aber doch im Grunde ganz ein- denen sie erst wird heranreifen müssen. Sein Geist
heitlich. fühlte sich von jeher hingezogen zu den großen Indivi-
Die tönende Wortgewalt altheiliger Sakralsprachen, dualitäten, den Menschheitsführern. So sprach und
die Harmonie der Himmelssphären, der verzauberte schrieb er über Zarathustra, den Sonnenkünder, über
Sternenklang in Stoffestiefen, die farbige Mannigfaltig- Buddha, den Vollendeten. Seine Werke zeugen von
keit der Tonarten — es ist ein und dieselbe ganz be- ihnen. Er konnte uns die Geisteshelden der Vorzeit nahe-
stimmte Seite des Welten-Seins (die sich uns im Schaffen bringen wie kein anderer. Sie lebten auf in seinem Wort.
Hermann Beckhs zukehrt; eine Welten-Region, in der es Zugleich fühlte er sich auf das lebendigste verbunden
wortet, klingt und tönt, in der es feierlich-groß und mit allem Naturwirken, mit aller Naturschönheit. Wie
monumental-gewaltig zugeht. innig liebte er die Sterne, und wie begeistert hat er über
Und es ist stets ein und dieselbe Seelenhaltung, die sie gesprochen. Sein Geist weilte selbst in jenen Höhen.
sich in all diesen Schriften offenbart. Sie alle tragen den Und wie liebte er die Berge, — die Berge, die man das
Charakter des „erlebten Wissens“. Man spürt die Kraft Charakteristische dieser Erde nennen könnte, weil sie
der Andächtigkeit, der Meditation wie eine dichte Sub- das Physische erhöhen und in das Erleben des Geistigen
stanz. Man vernimmt den sonoren Klang eines blutvollen überführen; die Berge, die die Metalle und die Kristalle
Seelenlebens, das in all seiner urwüchsigen Kraft und bergen. Ihren Tiefen hatte er sich ganz verbunden.
Vitalität geistgeneigte Liebe ist. — Hermann Beckh suchte den Sinn der Erde. So trat er
an die Evangelien heran. Und das Licht der Höhen, den
*
ganzen Reichtum der Tiefe fand er in ihnen wieder. Er
Abschiedsworte für Hermann Beckh hat sie uns neu gezeigt, und wurde ein Verkünder des
gesprochen bei der Trauerfeier am Christus, aus unendlicher, verjüngender Begeisterung,
4. März 1937 aus tiefem Geisteswissen.
Das alles steigerte sich ihm zum Erleben des Musika-
Gottfried Husemann
lischen, dem er so ganz hingegeben war. Das letzte Werk,
Das Kranken- und Schmerzenslager unseres lieben das er vollendete, und das nun bald erscheinen wird,
Freundes Hermann Beckh hat sich in einen wunderbaren zeugt von seinem wunderbaren Verständnis der Ton-
Blütenflor, in eine Fülle von Blüten verwandelt. Der arten. Er hat noch in den allerletzten Tagen, als die
Mund, der so oft in den letzten Wochen Anlaß zur her- Blätter schon seinen Händen entfielen, die Bogen korri-
ben Klage hatte, der uns Mitteilung machte von den oft giert. Er freute sich, daß er „mit diesen wunderbaren
furchtbaren Schmerzen — er kündete nun Freude und Inhalten nun hinübergehen dürfe“.

26
In diesem Sinne wirkte unser Freund in unsern Ge- Als der heimztiose I:=merwang
meinden immer wieder anregend, befeuernd, bewahrend Ruhelos wie er =? su 22mzZ
und selber den Geistesschatz mehrend. In alledem folgte Zogst du einsam d=>> Iris ee
er dem großen Lehrer Rudolf Steiner, den gefunden zu Noch im alleristrte Flrzssor
haben er als das. Glück seines Lebens betrachtete.
Etwas Besonderes war in Hermanu Beckk, wenn er Wer am Geist em m mer
über die rechte Verehrung dem Lehrer gegenüber sprach. Sak ins Gipfel- = >= Ariveer
Von berrlicher Klarheit waren da seine Gedanken, und Aller Einsamkeit... D= mem.
unerbittlich der Ernst der Forderung. Ein Vorbild war Deiner Augen dunkel-="=: Du
er uns und eine Mahnung. War im Sterben no ei: == ir.
Wenn Hermann Beckh sprach, erlebte man oft, wie Da erschienst da mir se zrırım
die ganze Fülle seines geistigen Erlebens ihn unmittelbar Sendungsstark in ene= V-rr==mur...
inspirierte. Iu seinen Gedanken konnte man dem Dasein
der geistigen Welt begegnen. Und in der Wärme seines Aber aus dem Lebensgeist dar Zei
Wortes dem gütigen Lehrer, dem er folgen wollte. Wir, Rosen riefst du: „Laß us Ver ven
seine Freunde, haben heute zu den Füßen des Dahin- Meuschen, die im Leben md = I:
gegangenen niedergelegt ein Kreuz mit roten Rosen. Immer liebend Einsame gehlie"=m.
Und wir wollen unsere Gedanken vereinigen mit den Wo im Lichte dieses tiefen Lie»
seinen, und damit seiner Seele, indem wir im Abschieds- Sehusucht jeden Menschen-Sonderr’=T=:
augenblick die Worte sprechen: Sich dem Geiste als dem Hau: sam =ten!...”
Aus dem Göttlichen weset die Menschheit
In dem Christus wird Leben der Tod Kaum daß du dies Zeichenwort gez"
In des Geistes Weltgedanken erwachet die Seele. Quoll hervor aus allen Zimmerwänden
Fromm mit auf der Brust gekreuzien Hänzen
*
. Eine Totenschar ins neue Leben...
Abschiedsgruß für Hermann Beckh Und es drängte all der Seelen jede
Sich am Feuerherde deiner Rede
" Kurt Piper
Zu durchwärmen und ins Licht zu heben...
Da stand der Wandrer auf, es blühten Sterne
Schon aus dem Dunkel über’m stillen Land,
„Gesegn’ euch Gott! Mein Heimatland liegt ferne... * Aufwärts wiesest du mit Hand und Alunde,
, Und als er von den beiden sich gewandt,
‘ Kam himmlisch Klingen von der Waldeswiese .. . Schwangst dich koch den Brüdern an die Szizze,
So sternklar war noch keine Nacht wie diese.
Während rings die Schwert- und Sonnenhlitre
‚Aus der Eichendorffromanze „Der Unbekannte*
Deines Engelfürsten dich umsprangen....
Jene altgeliebte Dichterweise Meine liebsten Toten sah im Bunde
Trug ich dir voll Liebe dienend zu; Ich mit dir im fernen Gloriengrunde
Denn mir selber warst du nie ein andrer Wie vom Christ-Erlöser selbst empfangen...

Blicke nach dem Fernen Osten

Der Islam in Japan


Ergänzend schreibt in der ‚Indian Review‘ ein Mit-
Bei der Einweihung der muhammedanischen Moschee, arbeiter: ‚Was mich sehr überraschte, als ich zu Anfang
die jetzt in Tokio, wie vorher in Kobe, errichtet worden dieses Jahres in Japan war, das war das große Interesse,
ist, sagte Mian ’Abd el-Aziz: „Japan ist auf dem Wege das die Japaner am Mohammedanismus nehmen. Als ich
zur Verwirklichung des großen asiatischen Reiches; der vor dem Kriege dort war, traf ich kaum japanische
Islam bildet die Vorhut dieser Bewegung.“ Die „Zeit- Mohammedaner, diesmal aber begegnete ich einer recht
schrift für Missionskunde und Religionswissenschaft“ ansehnlichen Zahl. In Tokio ist unter der Leitung des
schreibt dazu: „Je mehr Japans großasiatische Pläne Imam Khurbangali ein gutes islamisches Seminar er-
sich nach dem Westen erstrecken, sich über Mandschurei richtet; von hier aus wird überallhin gute islamische Lite-
und Mongolei hinaus Innerasien nähern, um so mehr ratur verbreitet. Vor dem Kriege traf man kaum einen
kann der Islam eine wichtige Stütze bilden, sowohl als Japaner, der Arabisch, Persisch oder Türkisch konnte,
Bindeglied der Einheit, wie auch als Bewahrer der Ord- und es gab an den japanischen Universitäten keine Lehr-
nung gegenüber kommunistischen Bestrebungen. (‚En stühle für diese islamischen Sprachen. Heute aber sind
terre d’Islam‘ 1936, 119) zahlreiche Japaner wit diesen Sprachen vertraut.‘

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Katholische Kirche und Kaiserkult in Japan 1. wortloses Tathandeln statt Rede- und Empfindungs-
Die Katholische Kongregation für die Verbreitung des fülle; eine Neugestaltung aus Gesamtschau des Wissens
Glaubens hat an den apostolischen Delegaten von Japan, statt aus der Einzelschau von Wissenschaften;
Monsignore Marella, ein Schreiben gerichtet, das wieder 2. eine Synthese von Rückschauen und Produzieren,
einmal mehr die kluge Anpassungsfähigkeit der katho- eine Harmonie der Gegenpole, auch im Sexuellen, das -
lischen Kirche beweist. In dem Schreiben heißt es: ihm im Westen zu künstlich und sophistisch oder ganz
„Daher hat die Kongregation für die Verbreitung des verdrängt erscheint; zwar will er nicht Polygamie for-
Glaubens die ganze Frage reiflich erwogen und in der dern oder Ehescheidungen erleichtern, aber er sieht im
Generalversammlung vom 18. Mai beschlossen, folgende Sexuellen eben doch reine Natur- und Paarungsordnung;
praktische Richtlinien festzulegen. 3. Ehrfurcht in Bewußtsein und Haltung zum Gött-
1. Die Bischöfe des japanischen Kaiserreiches sollen lichen, zum Tenno und zu den Eltern, deun das Gött-
die Gläubigen darüber unterrichten, daß die Staatsbehör- liche lebt in allen und in allem; je schweigender der
den (wie es aus verschiedenen ausdrücklichen Erklärun- Mensch dabei ist, je empfänglicher wird er für das Reden
gen hervorgeht) und ebenso die meisten gebildeten Leute der Gottheit; der Mensch ist nichts, die Gottheit ist alles;
den üblichen Feierlichkeiten in den vom Staat verwal- jedenfalls müssen die vertikalen Beziehungen die herr-
teten Shintotempeln einzig die Bedeutung der Vater- schenden sein.“
landsliebe und kindlichen Ehrfurcht vor der Kaiserlichen
Christentum der Zukunft in Japan
Familie und den Wohltätern des Landes beimessen. Diese
Handlungen haben darum heute einen rein staatsbürger- Gefesselt und nachdenklich gemacht haben uns zwei
lichen: Wert, und es ist den Katholiken erlaubt, an ihnen Äußerungen aus dem Fernen Osten, die wir in einem
teilzunehmen und sich gleich den andern Bürgern zu be- Aufsatz von Devaranne finden. Die erstere ist von Ra-
nehmen. Sie müssen allerdings ganz offen ihre eigne Hal- gawa, dem bedeutendsten Gegenwartschristen in Japan.
tung erklären, sobald dies zur Vermeidung falscher Aus- Die zweite ist von Uchimura, dem nun schon Verstor-
legungen ihrer Handlungsweise notwendig erscheint. benen, dessen Bekehrungsschrift vor Jahrzehnten großes
2. Gleicherweise können die Bischöfe erlauben, daß die Aufsehen erregt hat.
Gläubigen gleich allen andern an den Beerdigungen und Kagawa schreibt: „Die ganze Schöpfung ist mein; mein
Heiraten, sowie an sonstigen bürgerlichen Feiern, die das Leben dringt durch zu dem Herzen jedes geschaffenen
japanische Gesellschaftsleben vorschreibt, teilnehmen Dinges; in der Küche ist es eins mit dem Geist des
dürfen, wenn diese Handlungen, mögen sie auch heid- Feuers, des Wassers und des fammenden Rostes. Alle
nisch-religiösen Ursprungs sein, durch die örtlichen Ge- Dinge sprechen mich an, ich bin mit allem verschmolzen.
wohnheiten und nach allgemeiner Ansicht der Leute Der heilige Fuji und die japanischen Alpen sind bloß
heute nur mehr Zeichen der Höflichkeit und gegen- Falten auf meinem Antlitz; der Atlantik und Pazifik
seitiger Zuneigung darstellen. Dabei müssen die Glän- sind meine Gewänder; die Erde bildet einen Teil meines
bigen, wenn es notwendig ist, ihre eigne Auffassung Fußschemels; ich halte das Sonnensystem in meiner
darlegen, wie es schon oben erwähnt wurde.“ Hand; ich streue Millionen von Sternen über den Him-
zael; die ganze Schöpfung ist mein, Gott warf sie mir zu,
„Existentielle Kultur“ in Japan als er mir Christus gab.“
Der „Zeitschrift für Missionskunde und Religionswis- Uchimura schreibt: „Mein Werk? — Es ist bereits ge-
senschaft“ entnehmen wir folgenden Bericht: tan worden! Wann und wo? — Einmal vor ungefähr
„In der im Dienst des japanischen Kulturbundes 1900 Jahren am Kreuz auf Golgatha außerhalb der
stehenden Zeitschrift ‚Cultural Nippon‘ befindet sich ein Stadt Jerusalem! Durch wen? — Nicht durch mich, son-
Aufsatz über die ‚Gyo‘-Kultur Japans, was in Klammern dern durch meinen Herrn und Erlöser, der an meiner
mit ‚existentieller‘ Kultur übersetzt wird, in dem der Statt für meine Sünden gelitten hat und gestorben ist!
Verfasser Michiji Ichikawa diese Kultur Japans zu — Was habe ich denn noch zu tun? — Ich blicke nur
einer Art Grundlage einer Weltkultur erheben will. Er noch mit meinen geistigen Augen nach ihm, und während
behandelt zunächst die beiden vorhandenen Typen der ich hinschaue, kommt eine neue Kraft in mich hinein
Weltkultur, die er als westlich-materialistisch-wissen- und macht mich zu seinem Instrument und tut in mir
schaftliche und östlich-spirituelle Logos-Kultur unter- und durch mich das, was in den Augen meines himm-
scheidet und knüpft daran die Frage, ob eine Amalgamie- lischen Vaters wohlgefällig ist.“
rung der beiden zu einer ‚totalen Weltexistenz‘ möglich Wir sehen mit Interesse, wie die asiatische Naturver-
sei. Er beantwortet das bejahend im Siune der japani- bundenheit sich in solchen Äußerungen verbindet mit
schen Gyo-Kultur, die im wesentlichen drei Stücke um- einem Hineinwachsen in das Weltall-Ich des Christus.
faßt: Friedrich Rittelmeyer
Bezugspreise und Postscheckkonten nebenstehend. — Für unverlangt eingesandte Manuskripte
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porto beiliegt) eine Gewähr nicht übernommen werden. Für die Schriftleitung verantwortlich: Dr. Friedrich
Rittelmeyer,
Stuttgart 13. Für die Anzeigen verantwortlich: Ernst Rath. geber, Stuttgart. D.A. I. Vj. 1937: 7366. Zur Zeit gilt An-
zeigenpreisliste Nr. 4. Druck: Hoffmannsche Buchäruckerei F elix Krais, Stuttgart. Verlag: Verlag Urachhaus, Stuttgart 13.

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