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Welche Gewalt hat der große König


auf Erden?
Eine Hymne von der Osterinsel
Aus dem Englischen übertragen in Anlehnung an den poly-
nesischen Urtext von Dr. Hans Schmidt 281

Sonne, Mond und Stern


im Matthäus-Evangelium
Auch ein Beitrag zur Frage: Christentum und Natur
Dr. Rudolf Frieling 282

Figuren im Erdenteppich
Lic. Robert Goebel 286

Das Kind in den ersten Lebensjahren


Vom Gehenlernen, vom ersten Sprechen und Denken
Dr. Herbert Hahn 288

Blick über das Grab hinaus


Dr. Friedrich Rittelmeyer 290

Das Paradies
Im Spiegel der keltischen Seele vor und nach Christus
Zwei keltische Lieder übertragen von
Marie Louise Freiin von Hodenberg 295

Weihnachtsnachklänge
Berliner Weihnächtsfesttage Rudolf von Koschützki 296
Mittwinterwoche der Christengemeinschaft in Freiburg
Eduard Thommel 297
Weihnachtstage im Seminar und in der Stuttgarter Gemeinde
Dr. Erwin Schühle 298
Antworten auf Fragen
Hat die Christengemeinschaft nicht auch ein Bekenntnis?
Glauben Sie an eine wirkliche Wandlung von Brot und Wein? 300

Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind...


Gedanken zu einer neuen Oper
Dr. Bernhard Martin 301

Mitteilungen
Seminar-Kurs an der Priesterbildungsstätte in Stuttgart 304
Sommertagung und Gemeinschaftszeit 304
Sc Erwiderungen auf Briefe 304
Religiöse Zeugnisse aus der Gegenwart
Aus: „Deutscher Geist‘ von Wilhelm Schäfer 306
Aus: „Europa, Gedanken eines Deutschen“ von August Winnig 307
Aus: „Der heilige Weg“ von Karl Röttger 307

Christliches aus dem Fernen Osten


Tschiangkaischek, ein chinesischer Christ 308
Toyohiko Kagawa, ein japanischer Heiliger
Irmgard Müller-Lexzau 308
' Die Christengemeinschaft
Diese Zeitschrift dient der religiösen Erneuerung der Gegen-
wart aus dem Geist eines sakramentalen Christentums, das
durch die Christengemeinschaft vertreten wird. Sie erscheint am
Anfang jedes Monats in Stuttgart und wird herausgegeben von
Dr. Friedrich Rittelmeyer
14. Jahrgang 11 un Februar 1938

Welche Gewalt hat der große König auf Erden?


Eine Hymne von der Osterinsel

Aus dem Englischen übertragen in Anlehnung an den polynesischen Urtext von

Hans Schmidt

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts weilte auf der Osterinsel eine
amerikanische Expedition. Diese erfuhr von zwei alten Insulanern letzte Reste alter Über-
lieferungen, wie sie einst aus den Hieroglyphentafeln bei den Festlichkeiten auf der Insel
vorgetragen wurden. Hier folgt eine Hymne, die auf der Osterinsel gesungen wurde,
bevor die Missionare auf dieses Eiland kamen.

Welche Gewalt hat der große König auf Erden? Welche Gewalt hat der große König auf Erden?
Der große König auf Erden hat Gewalt, Der große König auf Erden hat Gewalt,
Die Pflanzen zu erschäffen Die Farnkräuter, Schlingpflanzen, Gräser, Büsche
Und den Himmel in viele Farben zu kleiden. Und alle ergrünenden Wesen zu erschaffen.
Heil der Gewalt des großen Königs auf Erden! Heil der Gewalt des großen Königs auf Erden!
Die Gewalt des großen Königs auf Erden Die Gewalt des großen Königs auf Erden
Macht uns geneigt den sprießenden Pflanzen, Läßt uns lieben
Läßt uns die vielfarbigen Himmel bewundern, Die Farnkräuter, Schlingpflanzen, Gräser, Büsche
Läßt uns die aufsteigenden Wolken erschauen. Und alle.ergrünenden Wesen.

Welche Gewalt hat der große König auf Erden? Welche Gewalt hat der große König auf Erden?
Der große König auf Erden hat Gewalt, Der große König auf Erden hat Gewalt,
Die Krebse, Weißfische, Aale, Affenfische Die mächtigen Fische,
Und alle Tiere des Meeres zu erschaffen. Die durch die Tiefen der Meere gleiten,
. Heil der Gewalt des großen Königs auf Erden! Zu erschaffen.
Die Gewalt des großen Königs auf Erden Heil der Gewalt des großen Königs auf Erden!
Schenkt uns Kraft und Kenntnis, Die Gewalt des großen Königs auf Erden
Die Krebse, Weißfische, Aale, Affenfische Schenkt uns Kräfte und Geschick,
Und alle Tiere des Meeres zu fangen. Die mächtigen Fische,
Die durch die Tiefen der Meere gleiten,
Zu fangen.

281
Welche Gewalt hat der große König auf Erden? Der düsteren Wolken,
Der große König auf Erden hat Gewalt, Des edlen Taus,
Yamswurzeln, Bataten und Zuckerrohr Des strömenden Regens,
Zu erschaffen. . Des Lichtes der Sonne und des Mondes.
Heil der Gewalt des großen Königs auf Erden!
Die Gewalt des großen Königs auf Erden
Welche Gewalt hat der große König auf Erden?
Heißt uns,
Der große König auf Erden hat Gewalt,
Yamswurzeln, Bataten und Zuckerrohr
Die Erde zu bevölkern,
Als Nahrung zu gebrauchen.
Könige und Untertanen zu erschaffen.
Heil der Gewalt des großen Königs auf Erden!
Welche Gewalt hat der große König auf Erden?
Die Gewalt des großen Königs auf Erden
Der große König auf Erden hat Gewalt,
Erschafft die Menschenwesen,
Die Schildkröten in harte Schalen zu kleiden,
Gibt den Königen Gewalt
Die Fische mit Schuppen zu bedecken
Und beruft treue Untertanen.
Und alle lebenden Wesen zu schützen.
Heil der Gewalt des großen Königs auf Erden!
Die Gewalt des großen Königs auf Erden Welche Gewalt hat der große König auf Erden?
Erkraftet uns, . Der große König auf Erden hat Gewalt,
Die harten Schalen der Schildkröten, Die Maden, Fliegen, Würmer, Flöhe
Die Schuppen der Fische Und alle kriechenden und fliegenden Insekten
Und aller kriechenden Tiere Zu erschaffen.
Zu überwinden. Heil der Gewalt des großen Königs auf Erden!
Die Gewalt des großen Königs auf Erden
Welche Gewalt hat der große König auf Erden? Ermächtigt uns,
Der große König auf Erden hat Gewalt, Den Maden, Fliegen, Würmern, Flöhen
Die Sterne, die Wolken, den Tau, den Regen, Und allen kriechenden und fliegenden Insekten
Die Sonne und den Mond Zu widerstehen. '
Zu erschaffen.
Heil der Gewalt des großen Königs auf Erden! Welche Gewalt hat der große König auf Erden?
Die Gewalt des großen Königs auf Erden Der große König auf Erden
Lehrt uns schätzen Hat schrankenlose Gewalt.
Den Segen Heil der schrankenlosen Gewalt
Der strahlenden Sterne, Des großen Königs auf Erden!

Sonne, Mond und Stern


im Matthäus-Evangelium

Auch ein Beitrag zur Frage: Christentum


und Natur

Rudolf Frieling

„Richtet eure Augen nicht auf einen Berg, erhebet euer Antlitz nicht zu den Sternen oder zur
Sonne oder zum Monde“ — ein Wort des Augustinus, zitiert von Alfred Schütze in seinem kürzlich
erschienenen Mithras-Buch (S.110). Mancher, der heute nach einer neuen Natur-Frömmigkeit Sehn-
sucht hat, wird angesichts eines solchen Ausspruches sagen: „Da hat man es wieder einmal. So ist das
Christentum!“
Es besteht die große Gefahr, daß man sich vom Christentum abkehrt, ehe man es in seiner wahren
Gestalt auch nur von fern gesehn hat. Man ist oft geneigt, das Christentum mit abstrakter natur-
fremder Innerlichkeit gleichzusetzen und es jeder kosmisch gestimmten Natur-Frömmigkeit von vorn-

282
herein als Antithese gegenüberzustellen. Zugegeben, daß dem bisherigen offiziellen Christentum
solche Natur-Fremdheit oder sogar Natur-Feindschaft weitgehend angehaftet hat, im Sinne jenes
Augustinus-Wortes. Aber es muß damit gerechnet werden, daß die bisherigen konfessionellen Aus-
prägungen ein sehr einseitiges Bild des Christentums geben. Ihre Engigkeiten und Befangenheiten
dürfen dem wirklichen Christentum nicht zur Last gelegt werden.
Dr. Rittelmeyer hat in seinem Buch „Christus“ in dem Kapitel „Christus und die Sonne‘ gezeigt,
wie namentlich im Johannes-Evangelium ein wahrhaft „kosmisches“ Christentum vorgebildet ist.
Im folgenden soll nun einmal auf das Matthäus-Evangelium aufmerksam gemacht werden, das
wieder auf eine andere Weise als Johannes, sozusagen mehr „von außen her“, auf kosmische Zu-
sammenhänge hindeutet. *

Im Nachklang der Epiphanias-Zeit steht uns vor allem das Dreikönigs-Evangelium nahe: Matthäus,
Kapitel 2. Matthäus ist der Evangelist des Sternes.
„Magier“ (magoi) heißen bei ihm die „Heiligen Drei Könige“. Das weist in die Sphäre des Perser-
turas, womit nicht behauptet sein soll, daß die Könige, geographisch betrachtet, nur gerade aus Persien
gekommen sein müßten. Aber das Wort „Magier“ — so nannte man speziell die Feuerpriester der
alten Perser — schlägt das Motiv der persischen Geistigkeit an*. Die alte pexsische Religion war
besonders groß und erhaben im Aufschauen zum Himmel und seinen Licht-Erscheinungen. Im Awesta
gibt es zum Beispiel einen grandiosen Hymnus auf den Sirius-Stern. Von dieser iranischen Licht-
Freude lebt etwas in dem Evangelium vom Stern der Weisen. Man achte einmal darauf, welche Rolle
das Wort „sehen“ in den wenigen Versen spielt, die mit einer unverkennbaren Licht-Freudigkeit
geschrieben sind: „Wir haben seinen Stern gesehn im Aufgang und sind gekommen, ihn anzu-
beten... und siehe, der Stern, den sie im Aufgang gesehn hatten, ging vor ihnen her.. da sie
den Stern sahen, wurden sie hoch erfreut (wörtlich: „freuten sie sich mit großer Freude sehr“).
Und sie kamen in das Haus und sahen (nicht „fanden“, wie es ungenau bei Luther heißt) das
Kindlein....“ *
S

Wie vom Christus-Stern, so spricht Matthäus auch von der Christus-Sonne, bei der Ver-
klärung. Diese Geschichte erzählen auch Markus und Lukas, jeder auf seine Weise. Was aber bei
dem Matthäus-Bericht auf den Leser einen so einzigartigen Eindruck macht, ist das Wort: „Sein
Angesicht leuchtete wie die Sonne“. Deutlicher, „direkter“ ist nirgends in den Evangelien das Sonnen-
Mysterium Christi ausgesprochen (Matth. 17,2). Wieder fühlt man sich an persische Geistigkeit er-
innert, an die Weissagung des Awesta von der „Sonnen-Äther-Aura“ (übersetzt von H. Beckh; per-
sisch: hvaröna), die einmal „übergehen wird auf den sieghaftesten der Heilande“. Die drei aus-
erwählten Jünger durften auf dem Berge Tabor die Erfüllung dieser Weissagung sehn.
Daß es sich hier nicht um einen zufälligen „unverbindlichen“ Vergleich handelt, zeigen zwei andere
— ebenfalls nur dem Matthäus eignende — Sonnenworte, die vorausgehend das Bild des Verklärten
im ganzen Zusammenhang vorbereiten.
Da steht in der Bergpredigt: „Auf daß ihr Söhne werdet eures Vaters in den Himmeln; denn er
läßt seine Sonne aufgehn über Böse und Gute... .“ (5,45).
Das andere Wort hat seine Stelle im Rahmen der Gleichnis-Rede am See: „Dann werden die Ge-
rechten leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich“ (13, 43). Das mutet an wie eine Weiterbildung
des Daniel-Spruches: „Die Weisen werden leuchten wie des Himmels Glanz und wie die Sterne immer
und ewiglich“ (Daniel 12,3). Bekanntlich weist gerade das Daniel-Buch Spuren jener bedeutsamen
Beeinflussung auf, die das jüdische Volk während des babylonischen Exils von seiten der Zarathustra-
Religion erfuhr. Dieses altehrwürdige „persisch“ klingende Sternenwort ertönt hier neu im Munde
des auf Erden wandelnden Christus, nun als Sonnenwort.

* Luther machte zu Matth. 2 die Randbemerkung: „Die Weisen, die $. Mattheus Magos nennet, sind Natur-
kundige und Priester der Perser gewesen“.

283
Sonnenhaft erscheint in der Bergpredigt der göttliche Vater in. seiner schenkenden All-Güte,
sonnenhaft in der Gleichnisrede die künftige Gemeinde der Heiligen — sonnenhaft offenbart sich bei
der Verklärung der göttliche Sohn.
Stern—Sonne, in dieser kosmischen Bildersprache offenbart sich das Herankommen des Christus
an die Erdenwelt. Wenn man nicht im astronomischen Sinne nur. an äußere Himmelskörper denkt,
sondern im Äußeren die Äußerung innerer, geistig-seelischer Welten ahnt, kann man sagen: ehe der
Christus zur Erde kam, war er ein Sonnen-Wesen. Und ehe er ein Sonnenwesen war, weilte er in
noch entrückterer Erd-Ferne, in Sternen-Welten. Stern—Sonune-—Erde, das sind die Stationen seines
kosmischen Weges.
In diesem Sinn ist das Novalis-Wort ganz exakt richtig: „Er ist der Stern, Er ist die Sonn“. So
spricht auch die Weihehandlung zu Epiphanias vom „Christus-Stern“, zu Johannis von der „Chri-
stus-Sonne“. %

Daß das Sonnen-Wort der matthäischen Verklärungsgeschichte — um noch einmal darauf zurück-
zukommen — nicht zufällig ist, wird uns noch durch eine weitere Beobachtung nahegelegt.
Auf die Verklärung folgt (auch bei Markus und Lukas) die Heilung des besessenen Knaben, nach
dem Herabsteigen vom Berge. Auch auf Raffaels Verklärungsbild („Transfigurazione“) sind beide Er-
eignisse miteinander verbunden. Nun muß aber auffallen, daß allein Matthäus den Besessenen als
einen „Mondkranken“ (seleniazomenos) charakterisiert. Es ist das Phänomen festzustellen: der
gleiche Evangelist, der soeben von der Sonne (Helios) sprach, nennt im folgenden den Mond.
Die Sonne repräsentiert das taghelle Bewußtsein in seiner lichten Klarheit, sie ist zugleich in
ihrer Wärme das Urbild des Herzens und seiner Liebe-Strahlung. Der Mond beherrscht das Nächtlich-
Unbewußte. Der „Mondkranke“ (aus der näheren Beschreibung seiner Krankheit ergibt sich, daß
man gar nicht im engeren Sinne nur an das zu denken braucht, was wir heute „mondsüchtig“
nennen!) ist Spielball dunkler undurchschauter Mächte. Er besitzt sich nicht selbst. „Bald wird er
ins Feuer geworfen, bald ins Wasser‘ — wehrlos ist er den Kräften ausgeliefert, die von der Nacht-
seite des Seelenlebens her übergreifen in das Tagesbewußtsein. Der Christus bringt den Kranken
wieder zu sich selbst. Er öffnet dem Knaben den Weg wahren menschlichen Werdens, indem er jene
tagfernen Mächte in ihre Schranken weist und als der Sonnen-Geist des „Ich-Bin‘“ den Dämon der
Besessenheit austreibt.
Diese Heilung hat bei Matthäus zum Hintergrund die kosmischen Kräfte von Sonne und Mond*.
Der Sonnen-Heiland steigt vom Berg herab und heilt den Mond-Kranken.
*

$o deutlich wie kein anderer Evangelist spricht Matthäus von Sonne, Mond und Stern — sollte
nicht auch in denselben Zusammenhang gehören, daß er so auffällig oft das Wort „Himmel“
gebraucht?
Bei Matthäus heißt es statt „Reich Gottes“ immer „Reich der Himmel“**,. Die Himmel-Mehrzahl! —
das sind die Sphären der Hierarchien, die Engel-Welten’ göttlicher Offenbarung, deren innere Herr-
lichkeiten „mach außen gekehrt“ uns im Bilde der Sternen-Welten erscheinen. Der Menschen der
alten Zeit war der Sternenhimmel nicht nur „Außenwelt“, er war ein Hereinleuchten höherer Wesen.
Das Erlebnis des Aufblicks zum gestirnten Firmament klingt mit in all den Worten vom „Reich
der Himmel“.
Häufig ist bei Matthäus der „Eimmel“ mit dem göttlichen „Vater“ verbunden: „der Vater
in den Himmeln“, oder auch: „der himmlische Vater‘ (pater uranios). Das mag sich in der erbau-

* Eine Art Vorspiel dazu ist die Erwähnung der Mondkranken, Matth. 4, 24, nachdem vorher das Erscheinen
Christi als Sonnenaufgang hingestellt worden ist (4, 16).
** Man kann das nicht nur von da aus verstehen wollen, daß Matthäus das Wort „Himmel“ nur gebraucht
habe als scheue Umschreibung des Wortes „Gott“, im Sinne der damaligen jüdischen Religiosität; denn er ge-
braucht das Wort „Himmel“ auch in anderen Zusammenhängen häufig. \

284
lichen Sprache einigermaßen abgegriffen haben — man sollte sich bemühen, es so zu hören, als
wäre es einem nicht „geläufig“, um die Großartigkeit dieses herrlichen Wortes wieder zu spüren,
Der „himmlische Vater“ ist der Vater im Sternen-Mantel.
Auch sonst spielt das Wort „Himmel“ bei Matthäus eine wichtige Rolle. So sagt Christus von den
Kindern: „ihre Engel in den Himmeln sehn alle Zeit das Antlitz meines Vaters in den Himmeln“
(18,10). — In der großen Wiederkunftrede auf dem Ölberg hat Matthäus das Wort bewahrt von dem
„Zeichen des Menschensohnes, das am Himmel erscheinen wird“ (24,30). So wie am Anfang der
Stern der Magier, so kündet auch am Ende aller Dinge die Himmelsschrift von dem Christus.
x

„Richtet eure Augen nicht auf einen Berg“ — so begann der eingangs zitierte Satz des Augustinus,
der im Weiteren vor dem Aufschauen zu Sonne, Mond und Sternen warnt. Sonne, Mond und Stern,
„Himmel“, fanden wir bei Matthäus. Es ist wohl kein Zufall, daß er auch im besonderen der Evan-
gelist des „heiligen Berges“ ist.
Bei der Verklärungsgeschichte erzählen auch Markus und Lukas von dem „Berge“ als dem würdigen
Schauplatz dieses entrückten Geschehens. Aber innerhalb des Matthäus-Zusammenhanges (jedes Evan-
gelium ist ein organisches Ganzes!) hat diese Erwähnung noch eine ganz besondere „Resonanz“, von
anderen Berg-Erwähnungen her.
Die Berge sind die „Erhebungen“ des irdischen Daseins. Auf den Bergen empfand man eine größere
Himmels-Nähe. Wir erwähnten schon die Perser. Herodot schreibt von ihnen: „Dem Zeus opfern sie
auf den höchsten Berggipfeln. Zeus heißt nämlich bei ihnen der ganze Himmelskreis. Sie opfern aber
auch der Sonne und dem Mond, der Erde, dem Feuer, den Wassern und den Winden“ (1131). Dieses
griechische Zeugnis stimmt mit dem überein, was wir aus dem Awesta wissen, wo des öfteren
von der Heiligkeit und Erhabenheit der Bergeshöhen die Rede ist.
Matthäus allein überliefert die Berg-Predigt*, in ihrem Zusammenhang auch das Wort von der
„Stadt, die auf dem Berge liegt“ (5,14). Daß diese „Predigt“ auf dem Berge stattfand, war nicht
nur eine äußere Tatsache. Auf dem Berge haben solche Worte ihre Stätte wie das von der Feindes-
liebe. Was man gelegentlich als Sklaven-Moral verdächtigt hat, ist in Wahrheit vornehmste, hoheits-
vollste Erkenntnis von oben her, vom Berge her. Wer die Bergpredigt verstehn will, muß zunächst
ihren Ort innerlich aufsuchen: die Bergeshöhe. — Auf dem Berge wurde das Wort gesprochen vom
„Vollkommen-Werden wie der Vater in den Himmeln“.
Matthäus ist es, der des „sehr hohen Berges“ gedenkt, auf dem Christus die Versuchung abweist,
durch Anbetung des Satans anstatt durch das Selbst-Opfer die Weltherrschaft zu erringen**. Auf eben
diesem „sehr hohen Berg“ war es demnach, wo die Engel zu ihm traten und ihm dienten (4, 11).
Diesem Berg zu Begiun des Evangeliums entspricht ein anderer Berg am Schluß des Buches, von dem
nur Matthäus berichtet. Das ist der Berg in Galiläa, auf dem sich nach Ostern der Auferstandene den
Jüungern in der Majestät seines durch Golgatha bewährten Königtumes offenbart. „Mir ist gegeben alle
Gewalt im Himmel und auf Erden“ — Berges-Worte!
Im Anblick dieser heiligen Berge fühlt man sich an ein Wort aus Nietzsches „Zarathustra“ erinnert:
„Ich schließe Kreise um mich und heilige Grenzen. Immer Wenigere steigen mit mir auf immer höhere
Berge. Ich baue ein Gebirge aus immer heiligeren Bergen.“
Wollte man also die Warnung des Augustinus beherzigen: „richtet eure Augen nicht auf einen Berg,
erhebt euer Antlitz nicht zu den Sternen oder zur Sonne oder zum Monde“ — wie könnte man das
Matthäus-Evangelium verstehn? —
*

* Bei der Lukas-„Parallele“ fehlt der Berg (Luk. 6, 17).


** An der entsprechenden Lukas-Stelle heißt es im Urtext nach den besseren Lesarten nur: „er führte ihn
hinauf“ (anagagön). Der „hohe Berg“ ist dann in Angleichung an Matthäus in einigen Handschriften eingefügt
worden. .

"285
Figuren im Erdenteppich*
Robert Goebel

Wir müssen „in See stechen“, um fischen zu lernen, um fischen zu können. Es gehört Wagemut dazu,
um das fremde und feindliche Element zu befahren und die Netze auszuwerfen. Mit dem Kühnen ver-
binden indes sich die Götter. Dann aber müssen wir wieder ans Land. Sonst ist der Fischzug nichts
nütze. Der Fischer: in diesem Zeichen wird das Christentum der kommenden Jahrhunderte herauf-
steigen, „im Zeichen der Fische“.

Der Erdenmensch, nämlich der „Bürger“, das ist der, der in seiner „Burg“ bleibt, — manche haben
keine „Burg“, sondern nur ihren „Bau“ und lassen sich beileibe nicht aus ihrem Bau herauslocken —
vermeidet es, das Land zu verlassen und — Fischer zu werden. Er möchte nicht aufs feuchte Element,
möchte lieber „sein Schäfchen im Trocknen“ haben! Höchstens steht er barfüßig mit hochgekrempelten
Hosen am Fluß und — angelt.
Angeln ist aber kein Fischen! Oder auch: Angeln ist Fischen ohne — Adel. Er, der Mensch, steht auf
dem Festland und wirft den Köder aus. Ein wenig Arglist ist also auch noch dabei. Und dann trägt er
den gold- und silberglänzenden Schuppenfisch, den gefangenen, im grünen Fischkasten nach Hause.
Eine Lebensphilosophie vom Gesichtspunkt des Anglers könnte geschrieben werden. Nun, man schaue
sich um in der modernen Kultur: hat sie den Menschen nicht zum — Angler erzogen? Und wir sollten
doch Fischer werden! Wo bleibt der Adel der Seele und des Geistes?
*

Bei den am Weltkrieg beteiligten Völkern wird heute noch von „Fronikämpfern“ gesprochen. Es
gibt eine „Frontkämpfergeneration“. Das sind Ehrennamen und mit Recht.
In der Welt gibt es aber nichts, worauf wir uns als auf ein einmal Erworbenes berufen könnten. Wer
ist Frontkämpfer im Sinne der Gegenwart? Damals im Weltkrieg waren es gewiß die, welche im
vorderen Graben standen und die schicksalhafte Aufgabe vollzogen. Aber heute? Haben sich die
Fronten nicht geändert? War der Krieg nicht die grausigste Art des Schreies nach dem neuen Men-
schen? Kann doch der gewesene, aber noch lange nicht — weder äußerlich noch innerlich — aufgearbei-
tele Krieg nur durch die Heraufführung dieses neuen Menschen sinnvoll werden! Dann aber haben
die „Fronten“ gewechselt! Wer heute für den Geist kämpft, ist „Frontkämpfer“. Heute ist der vor-
derste Graben wo anders als im großen Krieg. An der Front des Geistes fallen die Entscheidungen.
*

Wie viele der damaligen „Frontkämpfer“ haben die Wandlung der Fronten im Lauf der Zeiten voll-
zogen und sind es also heute noch? Viele haben die Frontausrüstung nur abgelegt, um in die behagliche
Kleidung des guten Vorkriegsbürgers (vielleicht mit Filzpantoffeln) hineinzuschlüpfen. Es galt aber
etwas ganz anderes: die feldgraue Kriegsuniform gegen die strahlende Ausrüstung Michaels einzu-
tauschen, der den Kämpfer mit dem blitzenden Schwert der Geistentscheidung begaben will. Mit die-
sem Schwert wird für den führenden guten Zeitgeist der Sieg erfochten. Diese Ausrüstung wird
aber nicht ein für allemal erobert, sondern will es immer wieder sein. In diesem Sinne ist man nicht
Frontkämpfer, sondern man kann es nur immer mehr werden.
x

Von „ansteckender“ Krankheit wird gesprochen, aber auch die „Tugend“ ist „ansteckend“. Viel be-
deutet es für unser Leben, wenn in unserer Nähe ein strebender Mensch lebt oder eine Gemeinschaft
von strebenden Menschen — sei es auf dem Gebiete der Kunst oder des persönlichen Lebens oder der

* Vergleiche Juli 1935, Mai 1937.

286
Kultur überhaupt. Nicht bloß, daß wir in dieser Nähe angeregt werden, wir können in diesem Umkreis
auch mehr leisten als wenn wir für uns allein strebten. Ja, die Anwesenheit eines besonderen Men-
schen in unserer Umgebung bewirkt in uns selber „Wunder“: sie holt Möglichkeiten aus uns selber
heraus, von denen wir zuvor selber nichts ahnten.
x

Das Beste unserer Handlungen ist nicht das, was wir uns selber vornahmen, die Tat bleibt ja meistens
hinter dem zurück, was wir gewollt haben. Nein, das Beste ist das, was die Geistwelt zu dem hinzu-
fügt, was wir aus unseren Bemühungen heraus getan haben. Darin liegt das „Christliche“ unserer Hand-
lungen: daß sie nicht abgeschlossen sind und so als menschlich galten; sondern daß sie gleichsam noch
„offen“ sind und daß die Geistwelt segnend ergänzt, was wir begannen. „Was hier wir sind, kann dort
ein Gott ergänzen.“ Wir müssen nur den Mut des Anfangs haben: die Geistwelt wartet nur darauf, um
das ihrige hinzuzutun. An uns liegt es, das Vertrauen zu ihr aufzubringen; dann antwortet sie, indem
sie sich unseren Handlungen in „Gnade“ neigt.

Die Wahrheit im christlichen Sinne kann nicht gefunden, sie muß erfunden werden. Das erste
wäre vorchristliche Wahrheitsfindung: die Wahrheit war da — uoch— vorhanden und konnte gleichsam
abgelesen werden. Wo könnte heute Wahrheit gefunden werden in einer Zivilisation, in der solche
Kräfte der Vernichtung wirken? Heute muß die wesentliche Wahrheit er-funden werden durch die freie
Tat des sich selbst schaffenden Menschen. *

Der Prozeß zur Freiheit des Menschen hin hat einen Inhalt — das ist die Wahrheit.
Er hat auch einen Schauplatz — das ist die menschliche Gemeinschaft.
*

Je mehr der Mensch seinen Eigenwillen aufgibt, desto mehr findet er seinen eigenen Willen. Dieser
Weg führt vom Scheinwillen zum Willen des wahren Ich, zum Willen, der die Welt wahrhaft vorwärts
bringt. x

Die Natur ist gewordene Gnade, insofern sie sich, aus Götterwirksamkeit hervorgegaugen, vor uns
entfaltet.
Das Sakrament ist „werdende Natur“, ‚insofern es keimhaft die Zukunft des Menschen vorbildet,
nämlich neue „Natur“ frei schafft.
Der Mensch hat an beiden „Naturen“ teil. Er bildet den Übergang von der einen zur anderen Natur.
Und ist insofern immer ein „Elinüibergehender“.

Beten ist Wort gewordener Wille des wahren Ich des Menschen. Im wahren wirklichen Gebet spricht
das höhere Ich des Menschen. %* :

“ Was wir am Abend vor dem Einschlafen in der Rückschau auf den Tag oder auf unser Leben an Be-
urteilung unserer Taten selber vornehmen, indem wir sie nur ein wenig objektiver ansehen, als es
für gewöhnlich der Fall ist, und ein gewisser Schleier von den Ereignissen wegfällt, das ist gleichsam
den Engeln abgenommen, die sonst während der Nacht die Beurteilung vornehmen müßten — und es
ja auch für gewöhnlich tun. Am arideren Morgen finden wir unsere Taten und die Folgen unserer Taten
wieder vor, aber unser Blick ist gereinigter, und wir wissen aus errungener Klarheit und erfahrenem
Selbstgeticht, was es zu tun gilt. *

Christus wirkt nicht „moralisch“, sondern inspirativ


— und das’ist mehr.
« Christus ist eine „Sphäre“. Wer an ihr teilnimmt; nimmt an einer Sphäre der Inspiration teil, nimmt
teil an der „Gnade“ in:der Form der werdenden Freiheit des Menschen.

287
Das Kind in den ersten Lebensjahren
“Vom Gehenlernen, vom ersten Sprechen und Denken

Herbert Hahn

In unserer Zeit grübeln viele kluge Menschen darüber, ob es so etwas wie ein Wunder geben könne.
Und wenn es ein Wunder gäbe, wo es dann zu finden sei. Dabei gibt es etwas in der Welt, das diese
das
Fragen mit einem Schlage beantworten könnte — überall und allezeit: das kleine Kind. Denn
kleine Kind ist ein Wunder. Und viel Wunderbares könnte in der Welt geschehen, wenn diejenigen,
die das kleine Kind zu betreuen haben, seine Eltern, seine Erzieher, viel stärker mit dem Bewußtsein
dieses Wunders leben würden, als es bis heute noch geschieht.
Wir sollten lernen, die feinsten Züge der kindlichen Entwicklung liebevoll zu betrachten. Wir
würden dadurch nicht nur unsere Kinder besser kennenlernen. Wir würden zugleich auch unendlich
viel über das Wesen des Menschen überhaupt erfahren.
des kleinen
Welch eine Welt liegt zunächst nicht schon in den Bewegungen und in den Gebärden
des erwachsenen Menschen.
Kindes und wie unterscheiden sie sich von den Bewegungen und Gebärden
aus unserem Kopf heraus.
Wir, die Erwachsenen, bewegen uns doch mehr oder weniger
und greifen, was der Kopf uns eingibt; unsere Füße führen uns dorthin,
Unsere Hände tun
der Kopf, hat die
wo der Kopf uns haben will. Und nicht genug: auch der Art unserer Bewegung hat
erstarrte Richtung gegeben. Und so —
verstandesmäßige Überlegung eine bis zum Automatischen
das ganze Bewegungs- und
nach Zwecken gerichtet und durch Konvention abgestumpft — ist auch
zu reden. Man
Gebärdespiel unseres Gesichtes. Ja, es ist schon übertrieben, noch von einem Spiel
einen Mechanismus denken, der bald geräuschlos und tot, bald unangenehm
möchte weit eher an
klappernd abläuft.
Der ganze
Wie anders dies alles beim kleinen Kind. Bei ihm ist alles noch Plastik und Regsamkeit.
genialen Künstlers. Wenig oder noch
kleine Leib biegsam und ausdrucksfähig wie die Hand eines
sich nach äußeren Zielen richten.
gar nicht ist der Kopf beschäftigt, Bewegungen zu diktieren, die
Füßchen
Alle Bewegungen fließen wie mit geheimnisvoller Magie auf die wundervoll beweglichen
wie die kleinen Zeben in un-
des Kindes zu. Und wiederum — wie die Füße stoßen und zappeln,
Organismus zurück. Und man lasse den
erreichtem Liebreiz sich bewegen, das strahlt auf den ganzen
kleinen Füßen diese Bewegungsfreiheit! Man enge sie nicht ein wie die Torheit des letzten Jahr-
hunderts oft tat. Sie bereiten sich halb schlafend, halb träumend auf ein großes, revolutionäres Er-
eignis der Menschen-Entwicklung vor: den ersten Schritt.
muß alles zunächst dienen. Selbst die Bewegungen und Gebärden, die
Um ihn vorzubereiten,
Auf etwas,
Hunger und Durst und alle andere Bedürfnisse andeuten. Sie sind alle doch nur sekundär.
auf ihn gerichtet ist, gehen alle ersten Bewegungen des
was rein aus dem Menschen kommt und rein
Kindes.
Als Eltern, als Erzieher sollten wir diese Bewegungen, die aus dem geheimnisvollen, menschlichsten
uns an
Zentrum im werdenden Menschen kommen, in keiner Weise beeinflussen wollen. Wir dürfen
und wir sollten sie beobachten bis in die kleinsten Einzelheiten. Wie ein Kunstwerk
ihnen freuen,
uns inspirieren kann zu guten Gedanken, so können diese reinen kosmisch-künstlerischen Bewegungen
des Kindes uns für Vieles inspirieren, was später dienlich sein wird für die Erziehung des Kindes.
sollten wir die Prozesse des Sich-Aufrichtens, des ersten Rutschens und Kriechens be-
Aber niemals
schleunigen. Wir würden dadurch eingreifen in das zarteste Gefüge des kindlichen Organismus. Und
wir würden tun, was alle wahre Erziehung vermeiden muß, wir würden eingreifen in die Selbständig-
keit des werdenden Menschen. Auf diese Selbständigkeit ist der wachsende Organismus mit allen
ver-
Wundern seines Bauplanes gerichtet. Sie nicht respektieren, hieße körperliche Schädigungen
ursachen, die in späteren Lebensperioden unweigerlich hervortreten müßten.
unter-
Das einzige, was wir tun sollten, ist: die Bewegungen, die das Kind selber vollführen will,
stützen, ihnen Bahn und Entfaltungsmöglichkeiten geben. Auf das große Ereignis, das erste wirkliche

288
Gehen des Kindes, sollten wir warten. Nur in Fällen, wo es sich übermäßig lange hinauszieht, wäre
es angebracht, den Rat des Arztes einzuholen. Wenn Geduld und Aufmerksamkeit der Erzieher
solchergestalt geübt und von andachtsvoller Liebe getragen werden, dann wird das Anschauen des
ersten Schrittes ein festlicher Augenblick von unvergeßlicher Bedeutung sein. Es gibt wenige Augen-
blicke im ganzen Menschenleben, die sich mit diesem an Größe messen können. Etwas, das den
Charakter einer Geburt hat, kann hier erlebt werden. Und wie über jeder Geburt der Schimmer
des Geheimnisvollen und Wunderbaren liegen bleibt, so auch über dem ersten Schritt eines jeden in
diese Erdenwelt hineingekommenen Kindes. Das Kind selber wird sich nie an diesen ersten Schritt
erinnern. Daß es das nicht kann, gehört zu den großen Gesetzen des Menschenlebens. Aber wir, als
Eltern, als Verwandte und Freunde, als Helfer und Beschützer des Kindes, können uns daran er-
innern. Wenn wir es tun, und das könnte bewußt geübt werden, dann werden wir uns in schöner
Weise verbinden mit den bildenden und leitenden Mächten, die sich im Aufbau dieses kindlichen
Lebens offenbaren, das uns anvertraut wurde.
Wenn das Kind den ersten Schritt getan hat, dann kündet sich erst in vollem Umfang die zweite
geniale Schöpfung des menschlichen Lebens an: die Sprache. Wohl lallt auch das in der Wiege liegende
Kind allerlei keimhafte Worte und spielt in entzückender Musikalität mit seinen Sprachorganen. Und
doch kann in dieser Zeit die definitve Formung des Sprachzentrums im Gehirn nicht erfolgen. Erst
wenn durch das Gehen, durch die freie Bewegung im Raum, die Hände in schöpferischer Weise überall
hingreifen und herumtasten können, wird die Bildung der Sprachorganisation im Gehirn vollendet.
Und wie das kleine Kind nun sprechen lernt, ist ebenso erstaunlich wie ehrfurchtgebietend. Tausende
von Jahren in der uns überschaubaren Menschheits-Entwicklung gingen vorüber, ehe der Menschen-
geist jene Urbegriffe bewußt aufzeigen konnte, die wie die höchsten Bergesgipfel sind, über die man
nicht hinaussteigen kann:
Etwa das Warum, das Wie, das Wieviel. Kausalität, Qualität, Quantität. Es sind Begriffe, die wir
innerlich erfassen und betätigen. Aber wir können sie durch nichts anderes mehr erklären. Unser
Denken gelangt da an eine Grenze. Aristoteles nannte sie — die zehn Kategorien. Aber — Wunder
über Wunder: jedes Kind ist ein kleiner Aristoteles, ist im ersten Sprachstammeln ein großer Philo-
soph. Denn lange ehe es die gewöhnlichen Gegenstände der Umgehung, Tische, Blumen, Bilder — oder
was immer ergreift, spielt das Kind mit diesen Urbegriffen wie mit dem lebendigsten Spielzeug. Man
achte einmal darauf, wie glücklich ein kleines Menschenkind ist, wenn.es das Oben, das Unten, das
Hier und das Dort ausdrücken kann. Hunderte und später Tausende von andern Worten gruppieren
sich um diese lebendigen, geistigen „Urworte“. Sie sind der Teil .der Sprache, den das Kind aus
jener Welt des Geistes schon mitbringt, aus der es zu uns gekommen ist. Und wer gibt den andern
Teil? Alle Menschen, die das Kind lieben lernt. Und da sein ganzes Wesen noch in Liebe zur Umwelt
offen steht: alle Menschen der unmittelbaren Umgebung. In erster Linie die Eltern, ältere Ge-
schwister — alle Menschen, die zur Hausgemeinschaft gehören, in verschiedenen Abstufungen. Aber
es sollte uns viel zu denken geben, daß man von einer Muttersprache spricht. Das Kind will
seine Sprachein erster Linie von der Mutter lernen. Und es ist nicht gleichgiltig,
wenn etwa Kindermädchen oder andere Helfer so an die Stelle der Mutter treten, daß deren Platz
verdrängt wird. Weil.wir doch am besten dann sprechen lernen, wenn die Worte, die zu uns kommen,
dem Munde jener Menschen entstammen, die uns am ursprünglichsten liebhaben. Wüßte man dies nur
genügend! Man würde dann auch in den Verhältnissen, wo die Mittel reichlich zur Verfügung stehen—
sich viel Zeit lassen mit dem Herantragen fremder Sprachen durch fremde Menschen an das Kind.
Man würde statt dessen selber dem Kinde die Speise jener Sprache reichen, die uns nunmehr schier
zur Fremdsprache geworden ist: der Volksreime, der Volksspiele, der Volksmärchen. Man würde das
Radio und das Grammophon für ganze Stunden abstellen — um die lebendigen Weisen der Volks-
lieder ertönen zu lassen. So gut oder so schlecht es immer geschehen kann; wenn es nur aus Liebe ge-
schieht. Denn in der poetisch lebendigen Zeit unseres Volkes — da liegen auch die schöpferischen
Kräfte unserer Sprache. Wie ein gutes Bad dem Leibe wohltätig ist, so ist es der Seele des Kindes

289
wohltätig und auch seinem in unser Volk hineingeborenen Leibeswesen, wenn wir in jene Tiefen der
Muttersprache hineintauchen. Da wird nichts Feindliches zu andern Völkern, zu andern Menschen-
arten veranlaßt werden. Denn Krieg haben von jeher nur die Männer, die Väter geführt. Die Mütter
lehren verstehen. Je mehr wir unserem Kinde die volle Muttersprache in Liebe
darbieten, um so besser werden wir es zum wahren Menschentum erziehen.
Aus dieser Muttersprache entwickelt sich wie äus einer schützenden Hülle zuletzt auch das bewußte
Deukeu des Kindes. Wir haben zu sorgen, daß die Hülle gut und kräftig ist. Deun die Geburt des
bewußten Denkens ist mit Abbau verbunden. Sie kündet sich zunächst in der Negation an. Eltern
mögen nicht erstaunt sein, betrübt werden oder gar böse, wenn das Kind, das bisher so „lieb“ war,
auf einmal „unartig“ ist. Wenn es mit den Füßlein aufstampft und elfmal vom Dutzend „Nein“ sagt
und höchstens noch ein einzigesmal „Ja“. In alledem kündet sich eine weitere, eine dritte Geburt der
kindlichen Seelenvermögen an. Das Kind orientierte sich bisher an den erwachenden mitgebrachten
Urbegriffen — und es bildete seine Sprache an der Muttersprache in spielender Nachahmung. Aber
es bewegte sich in alledem wie in einer Sphäre, von der es sich selber noch nicht unterschied. Und so
intensiv es auch bildete, so ahnte es doch gar nicht, daß es etwas bildete, etwas lernte. Es konnte sich
selber noch keinen Namen geben, sondern nannte sich mit dem Namen, den man ihm gab. Wir denken
hier an jene lange Periode, in der die Kinder sagen „Hänschen will spazieren gehen“; „Lieschen
möchte gern ein Stückchen Kuchen“. Aber dann, nach der merkwürdigen Zeit des vielen Nein-sagens,
kommt eines Tages der Satz: „Ich will das“; oder „das will ich nicht“. Dann ist nach scheinbarer
Negativität die schönste Offenbarung der menschlichen Selbständigkeit zutage getreten: das Wissen
des Kindes um das Geheimnis, daß es ein in sich selbst ruhendes, unveräußerbares Wesen — ein Ich
ist. Ein Ereignis so groß wie jene andern, die wir besprachen. Der Geist hat seinen ersten Schritt ge-
tan. Das Kind tritt in eine neue Lebenszeit ein.

Blick über-das Grab hinaus*


Friedrich Rittelmeyer

Wer hat denn zuerst die Erzählung vom reichen Mann und armen Lazarus (Luk. 16, 19—31) als
„Gleichnis“ bezeichnet? Kein Wort steht davon in der Bibel! Diese Bezeichnung ist schuld daran, daß
man sagen konnte, das „Gleichnis“ stehe nicht auf der Höhe andrer Gleichnisse, betrachte die Armut
als Verdienst und den Reichtum als Verbrechen, lehre eine harte äußerliche Rache in der andern Welt,
und was dergleichen Entdeckungen mehr sind.
In Wahrheit wird hier das wirkliche Schicksal von zwei Verstorbenen erzählt. In Bildern, wie sie
‘sich dem Schauen darbieten. Diese Bilder deuten nicht auf äußere Tatsachen, sondern auf innere
Wirklichkeiten hin. Die sinnlich-sichtbare Welt ist ja in jedem Fall nur Bildmaterial, nur Zeichen-
sprache. Sie wird es aber besonders für das geistige Wahrnehmen. Die Orte sind Zustände. Die Ge-
schehnisse sind Erlebnisse. Die Gespräche sind Auseinandersetzungen. Hat man dies einmal begriffen,
dann ist es verblüffend, was diese eine Erzählung alles lehren kann. Sie beweist, daß es ein Wahr-
nehmen wirklich gibt, durch das man die Schicksale der Verstorbenen nach dem Tod verfolgen kann,
und daß dies Wahrnehmen von Christus gelegentlich ausgeübt wurde. Sie beweist, daß Christus mehr
vom „Jenseits“ gewußt und gesagt hat, als die erhaltenen Evangelienberichte verraten. Sie beweist
vor allem auch, daß seine Bekundungen völlig übereinstimmen mit dem, was man heute durch echte
Geistesforschung erfahren kann. Sie beweist auch, daß wir die Evangelien vielfach anders verstehen
müssen, als wir gewohnt waren.
*

* Zur Auseinandersetzung mit dem Gutachten der englischen Staatskirche. Siehe nächste Nummer.

290
Punkt für Punkt folgen wir nun der Geschichte*. „Es begab sich aber, daß der arme Mann starb
und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und ward be-
graben.“
Ganz genau werden die Gewichte verteilt. Beim Reichen war das Begräbnis das wichtige Ereignis.
Wir kennen sie alle, diese „Stadtereiguisse“, wo würdige Herren unter alten und neuen Zylindern in
bedächtigen Gesprächen vom Friedhof zurückkommen, nachdem sie den Verstorbenen mit Lorbeer-
kränzen und Lobreden zugedeckt haben. In den „Briefen aus der Hölle“, dem dänischen Buch aus
dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts, ist es ja so grimmig geschildert, wie sich’s von der andern
Welt aus ansieht, wenn der Teufel mit boshaftem Grinsen den Verstorbenen zwingt, zunächst einmal
seine „Leichenrede“ zu lesen und alle seine Nachrufe. —
Die Beerdigung des Lazarus war dagegen sicher eine „Armenleiche“. Schwerlich hat sich der Priester
besonders angestrengt. Kein Friedhofquartett sang schmetternd schön: „Es ist bestimmt in Gottes Rat,
daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden, ja scheiden!“
Aber anderes war um so realer. — In vielen Berichten hört man es auch heute, daß Sterbende in
ihren letzten Tagen und Stunden sich umgeben fühlen von ihren vorausgegangenen Lieben, daß sie
sich geradezu „abgeholt“ fühlen. Nicht nur, daß Vorausgegangene „kommen“: „sie bringen andre mit“.
In der unsichtbaren Welt rüstet man sich zu einem festlichen Empfang. So schildert es auch die
Geistesforschung. Und so erzählt es Christus: „Getragen von den Engeln in Abrahams Schoß.“
Aber „Abrahams Schoß“? — Es liegt uns noch der Schrecken in den Gliedern über die Bilder in
Bilderbibeln und illustrierten „Biblischen Geschichten“, wo „christlich gesinnte Maler“ zu diesem
Wort ein Bild malen wollten. Schon als Kinder kam uns der Zweifel, ob nicht doch auch im Judenvolk
immerhin mehr Fromme gewesen sind, als in „Abrahams Schoß“ Platz haben. Aber „Abrahams Schoß“
ist Abrahams Welt, sein schöpferisches Reich. Anders fassen wir es doch auch nicht auf, wenn wir im
Johannesevangelium hören von dem Sobn, „der in des Vaters Schoß ist“.
Nun stehen wir einer grundlegenden Wahrheit gegenüber, die jedem Denkenden sofort einleuchten
kann. Gibt es ein Leben nach dem Tod, muß dort ohne Körper im Geist gelebt werden, dann kann
es gar nicht anders sein, als daß geheime Anziehungskräfte den Menschen gerade in die Welt führen,
die seinem Geist gemäß ist, in die Welt, der seine wahre Liebe gehört, die seine wirkliche Heimat ist.
Wer Hohes und Edles in seiner Seele pflegt, der bereitet sich eine „Wohnstätte im Himmel“. Wer
an Höheres nicht denkt, der — kurbelt vielleicht die Wirtschaft an, aber „Schätze im Himmel“ sam-
melt er nicht. Er wird nicht einmal die Spracke verstehen, die dort gesprochen wird. „Ich lebe mit
allen Kräften hier auf der Erde, das ist auf jeden Fall das Beste auch für die andre Welt — wenn es
eine geben sollte“ — solche Rede ist genau so klug, wie wenn einer, der nach Amerika reisen will,
um es dort zu Wohlstand zu bringen, sagen wollte: das Beste ist, wenn ich die Sprache Amerikas gar
nicht lerne und um die Geographie Amerikas mich gar nicht kümmere, dann bin ich am unbefangensten.
Von hier aus sei ein Blick getan auf die letzte Feier, die in der Christengemeinschaft mit den
Sterbenden gehalten wird. Da wird das Abschiedsgebet Christi verlesen. Da tut sich die Welt vor uns
auf, in die hinein Christus verschwunden ist, in der wir ihm am ersten zu begegnen hoffen dürfen. Die
Christuswelt, nicht die Abrahamswelt. „Wo ich bin, da soll mein Diener auch sein.“ Und die einzelnen
Sätze dieses Abschiedsgebets können sich in Engel verwandeln, die uns aufwärts tragen...
*

Der reiche Mann ist — allein „Als er nun in der Hölle und in der Qual war...“ — Hölle? Höllen-
qual? „Die schlimmste Priestererfindung der Weltgeschichte! Ausgesonnen, um die Menschen einzu-
schüchtern und die Priestertyrannei aufzurichten!“ „Himmel und Hölle sind nur in der eigenen Brust
des Menschen!“ — Jawohl, da sind sie, „in der eigenen Brust“! Da kann man sie schön studieren!
Aber „nur“?

* Andeutend haben wir es schon einmal versucht in „Tatchristentum“ (November 1923). Hier wird es ganz
durchgeführt.

291
Es gibt mancherlei Feuer in der „Menschenbrust“. Das edle Feuer der Begeisterung kann uns leuch-
ten. Das reine Feuer der Menschenliebe kann uns wärmen. Aber wir kennen recht wohl auch das
quälende Feuer, oder, wenn wir die Worte nur umkehren: die Feuerqual. Es gibt eine „breunende
Scham“, eine „verzehrende Reue“. Wir reden auch ganz unbefangen von einem „brennenden Ver-
langen“, von einer „glühenden Leidenschaft“. Da sind wir schon ganz hübsch in der Nähe der „Hölle“.
Und sowohl im alten Griechenland, wenn man von Tantalus sprach, wie im alten Indien, wenn man
das Kamaloka beschrieb, wußte man mehr von diesen Wahrheiten als wir.
Wir brauchen uns ja nur klar zu nachen, daß man dann, wenn alles nur nach geistigen Gesetzen
geht, nicht immer so bequem ablenken kann wie jetzt, daß die geistigen Gesetze viel stärker und viel
reiner dort wirken werden, wo man ohne Körper im Land der Wahrheit lebt. Dann ist offenbar,
daß wir in der „eignen Brust“ unser persönliches Feuer in die andre Welt mitbringen und nicht erst
„des Teufels Großmutter“ brauchen, um es zu schüren.
Auch ein ungestilltes Vermissen kann „brennend“ sein.
Am ergreifendsten hat Mörike davon geredet, und wir können ihm gar nicht dankbar genug sein,
daß er es so ehrlich offen getan hat.

Dein Liebesfeuer, Hab’s nicht geheget


ach, Herr, wie teuer und nicht gepfleget,
wollt ich es hegen, bin tot im Herzen —
wollt ich es pflegen! o Höllenschmerzen!

Mancher kann heute schon ziemlich genau wissen, was einmal seine Hölle sein wird. Nur daß dort,
wo ungehemmter der Geist sich darlebt und unausweichlicher die Gesetzmäßigkeit waltet, auch die
Leiden größer sein müssen, als sie der Erdenmensc erlebt. So schildert es unsre Erzählung. So be-
schreibt es die Geistesforschung. So läßt es uns die eigne Erfahrung ahnen, wenn. wir an manche
Schlaf-Erlebnisse „im Geisterland“ denken. —
Als dem reichen Mann sein Seelenzustand zum Bewußtsein kommt, da „hebt er seine Augen auf“.
So drückt sich die Bibel aus, wenn äußeres Schauen in höheres Schauen übergeht. „Jesus hob seine
Augen auf zum Himmel“ (Job. 17,1). Der reiche Mann sucht. Er sucht nach dem, was außer ihm
da ist in der Geisteswelt. Da taucht vor seinem Geist Lazarus auf und Abraham. Merkwürdig: den
Lazarus hatte er im Leben nur immer im Vorübergehen mit einem Nebenblick gesehen. Die ER-Reste
hatte dem Lazarus sicher nicht der reiche Mann selbst gebracht, sondern eine mitleidige Dienerin. Jetzt
aber wird dem Leidenden plötzlich dieser Lazarus wichtig. Nicht die Zechkumpane, mit denen er so
manche Nacht verjubelt; nicht der Statthalter, dessen Einladung ihm so große Ehre war; nicht der
Hohepriester, der in der Pracht seiner Gewänder ihm solchen Eindruck gemacht hatte; sondern aus-
gerechnet dieser verlumpte Lazarus! Alle irdischen Wichtigkeiten sind auf einmal abgetan. Nun er-
scheint ihm dieser Lazarus fast wie ein Gottesbote, der an seine Tür geschickt worden war, um
zu erinnern, daß es auch Elend und Not gibt — und eine gottzugewandte Seele. —
Welche Begegnungen in unsrem Leben werden uns nach dem Tod wichtig erscheinen? Gab es
auch in unsrem Leben Gottesboten, die uns zur rechten Zeit an etwas erinnern sollten? —
Der Reiche sieht von der höheren Welt nur Lazarus und Abraham. Mehr kann er von der höheren
Welt vorläufig nicht wahrnehmen. Was Lazarus betrifft, so war es einer gutmütigen Ader seines
Wesens zu danken, daß er ihn nicht durch die Dienerschaft und die Polizei hatte wegjagen lassen.
Was Abraham angeht, so hatte er vielleicht durch seine fromme Mutter Eindrücke empfangen und
einige Jugendvorsätze gefaßt. Das waren die höheren Regungen seines Lebens gewesen. Aber das
alles ist ihm jetzt „ferne“. Dabei hat er sich vielleicht sein ganzes Leben lang eingebildet, sein Leben
sei doch leidlich tadellos und jedenfalls im guten Durchschnitt. Doch diese Einbildung ist jetzt völlig
verfiogen. Die Wahrheit ist aus dem Hintergrund hervorgetreten. „Ferne“!
Ist denn aber der arme Mann fromm gewesen? Erzählt wird von ihm ja nur, daß er nicht ge-
klagt und gejammert hat, oder vielmehr: es wird nicht erzählt, daß er geklagt und gejammert hat —

292
wie vom reichen Mann nicht erzählt wird, daß er Zeit für Religion gehabt hat. „Alle Tage herr-
lich und in Freuden“. Ein Tag der Besinnung war nicht ‘darunter. In der andern Welt wird gerade
das wichtig, was man auf der Erde nicht erzählt.
Ganz unwidersprechlich weiß der reiche Mann auf einmal, was wahr ist. Er erkennt Abraham
sofort als „Vater“ an. Er erkennt ohne weiteres den höheren Rang des Lazarus an. Er erkennt sogar
die Berechtigung seines jetzigen Lebenszustands an, beschwert sich nicht, daß er zu Unrecht leidet,
bittet nicht, daß er befreit wird. Das Land der Wahrheit ist da. Nur: „Sende Lazarus, daß er das
Äußerste seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge . . .““ — Jede Einzelheit kann uns
etwas sagen. Ein Gaumeumensch ist der Reiche gewesen und wohl auch ein Gesellschaftsmensch:
geschwatzt und geschmatzt, das war sein Leben. Die Zunge! „Wasser“ aber ist in der Bibel der
irdische Vertreter für das, was von oben kommt; „Feuer“ — wenn es nicht Lichtfeuer ist — für
das; was von unten kommt.
Was nun Abraham auf seine Bitte erwidert, ist die Antwort der Abrahamswelt, jedoch im Innern
des Reichen. Wenn es in der Geisteswelt weder einen irdischen Mund gibt noch irdische Ohren, so
kann der Verkehr nur bestehen in einem Erklingen von Seele zu Seele, von Welt zu Welt; der Form
nach innerlich, dem Inhalt nach tief wirklich. Ein solcher Verkehr trägt unendlich reiche und er-
habene Möglichkeiten in sich. Wir können ihn schon auf der Erde ahnen — und lernen. —
Streng gesetzlich kommt Abraham dem reichen Mann entgegen. Im Schema des Ausgleichs redet er.
„Gedenke, mein Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben; und Lazarus dagegen hat
Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, du aber wirst gepeinist.“ Es ist die israelitische Welt.
Aber sie ist nicht einfach unwahr. Durch sie hindurch können wir eine hohe Gesetzmäßigkeit der
Geisteswelt erkennen.
„Dein Gutes“. Nicht das Gute, was dir göttlich zugedacht war, sondern das Gute, was dir das
Gute schien. „Er hat es gut; er hat alles, was er wünscht“, sagten die Leute vom reichen Mann und
priesen ihn als einen „Glücklichen“. Und er selbst sagte oft zu seinen Freunden:. „Freut euch des
Lebens, weil noch das Lämpchen glüht; pflücket die Rose, eh’ sie verblüht!“ Jetzt ist das Lämpchen
verglüht. Und die Rose ist verblüht. Und nun ist nichts mehr da. Etwas anderes war ja weder gewünscht
noch vorbereitet. —
‘In dem Jenseitsmärchen, das Volkmann-Leander in seinen „Träumereien an französischen Kaminen“
erzählt hat, wird einem reichen Mann in der andern Welt alles gewährt, was er sich wünscht: seine
Villa, seine Lieblingsspeisen, seine Zeitungen. Aber eben dies wird ikm immer unerträglicher. Als
Petrus ihn einmal besucht, beschwert‘
er sich. „Das ist doch kein Himmel!“ „Himmel?“ sagt Petrus.
„Du weißt wohl gar nicht, daß du in der Hölle bist?“ „Um Gottes Willen, in der Hölle? ... Aber es
ist doch gar kein Feuer da!“ „Das machen wir schon lange nicht mehr so wie früher“, sagt Petrus.
„Wir geben jedem genau das, was er sich wünscht. Und da wünscht sich jeder schon von selbst seinen
Himmel oder seine Hölle.“ — .
„Lazarus dagegen hat ‚Böses* empfangen.“ So war es ihm wohl selbst vorgekommen auf der Erde.
Aber Armut, Not, Krankheit: das alles gibt es in der audern Welt ja auch nicht mehr. Auf einmal ist
es nicht mehr da. So wenig wie die Tafel des Reichen. Und wie hinter der Tafel des reichen Mannes
die Leere sich zeigt, so hinter der Armut des Lazarus die Fülle. Jetzt sieht Lazarus, was „‚dahinter“
war: die göttliche Erziehung, die göttliche Prüfung, die göttliche Vorbereitung. Und dies ist sein
„Irost“..
„Gedenke, mein Sohn!“ Erinnere dich! heißt es wörtlich. Das Einzige, was wir alle hinübernehmen
in die andere Welt, sind unsre Erinnerungen. Nur unsre Seele geht hinüber, aber diese Seele ist ja
selbst — grob gesprochen — ein Sack voll Erinnerungen. Und diese Erinnerungen fangen nun an
lebendig zu werden, viel lebendiger, als wir erwartet haben, viel lebendiger vielleicht, als uns lieb
ist. Beschienen von der Sonne der Wahrheit, wird nun das, was innen war, zum Außen, wird unsre
Seele unser Schicksal. Man sagt: „Kein Mensch kann aus.seiner. Haut heraus.“ Aber aus seiner Haut
kommt er bestimmt heraus. Aus seiner Seele dagegen kann er nicht heraus. ' . -
Und wie die unsichtbare Welt ihre strenge Gesetzmäßigkeit hat, so hat sie auch ihre ebernen

293
Kluft befestigt.“ Unweigerlich lebt
Grenzen. „Über dies alles ist zwischen uns und euch eine große
einfach von einer Geisteswelt in die
sich weiter, was in der Seele eben da. ist. Man kann nicht
andre gehen, wie es einem beliebt. — Gibt. es keine Aussicht?
*

ganz andern Menschen Mitleid


Der reiche Mann ist anders geworden. Er hat gesehen, daß er mit
hat er gegen sie auf sich geladen,
haben muß als mit Lazarus. Er bittet für seine Brüder. Schuld
möchte er wieder gut machen. Er sagt
dadurch daß er sie in sein Leben hineinzog. Diese Schuld
gehen als mir! Mitgefan gen, mitgehangen!“ Wie er das
nicht: „Ihnen braucht es auch nicht besser zu
anerkannt hat, so nun auch die Pflicht zum Wiedergutmachen.
Schicksalsgesetz
haben Moses und die Propheten!
Hart klingt ihm aus Abraham wieder die Antwort entgegen: „Sie
lehnt es hier ab, die Menschen mit der Hölle zu erschrecken.
Laß sie dieselben hören!“ Selbst Abraham
es später nicht immer abgelehnt . Und Abraham lehnt auch den
Christliche Kirchenmänner haben
je durch den Spiritism us Menschen wirklich fromm geworden? Sind
Spiritismus im voraus ab. Sind
Schrecken und egoistische Angst der Anfang echter Religiosität?
glauben, ob jemand von den
„Hören sie Moses und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht
dies Wort ganz wörtlich erfüllt hat:
Toten auferstünde.“ — Man hat darauf hingewiesen, daß sich
wurde nicht gehört. Lazarus, der andre Lazarus, ist
Christus ist von den Toten auferstanden und
Oder war der andre Lazarus vielleicht
von den Toten auferweckt worden und wurde nicht gehört.
hat zu mancherlei Vermutungen ge-
der gleiche Lazarus? Die Namensgleichheit der beiden Lazarus
was sich hernach bei einem andern Lazarus
führt. Sollte diese Erzählung vielleicht vorbereiten auf das,
g die Erlebnisse vor sich haben, die der
wirklich begab? Oder sollte man sogar in unsrer Erzählun
Todesschl af gehabt hat? Aber das ist ganz unwahrschein-
johanneische Lazarus in seinem dreitägigen
Tagen die Erlebnisse erzählt worden, die
lich. Dann wären von Christus längst vor den Jerusalemer
viel mehr von Lazarus selbst erzählen
erst später gemacht werden sollten. Dann hätte Christus auch
hätte Lazarus während seines dreitägigen
müssen und nicht ausschließlich vom reichen Mann. Oder
unglaublich, selbst wenn mit dem reichen
Todesschlafs nach unten gelebt, statt nach oben? Das ist ganz
-
Mann das ganze Volk Israel gemeint gewesen sein sollte.
Einen Funken von Liebe, von wirklich selbstloser Liebe
Gehen wir einen andern Gedankenweg.
auch ein Funke von Glaube in ihm
haben wir schon aufleuchten sehen im reichen Mann. Ist nicht
wahrnehmbar?
reiche Mann sei selbst in der Hölle
Einen protestantischen Prediger hörte ich einmal sagen, der
Abraham recht unhöflih: „Nein, Vater
noch „ungezogen“ gewesen; denn er widerspreche dem
an der tieferen Wahrheit. Der reiche
Abraham!“ Eine solche „originelle“ Bemerkung geht vorbei
göttliche n Willen an. Abraham, Moses, die
Mann erkennt jetzt die göttliche Welt an und erkennt den
Wird das nicht Folgen haben für seine eigene
Propheten sind jetzt seine Geisteslichter geworden.
Zukunft?
„Er wird den
Es gibt ein altes Wort, das im Neuen Testament selbst auf Christus bezogen wird:
im „reichen Mann“
glimmenden Docht nicht auslöschen (Jes. 42,3; Matth. 12, 20). Wird Christus
Glaubens auslöschen? Hier versagt
den glimmenden Docht der Liebe, den glimmenden Docht des
darum mußte Christus kommen. Wenn
die Abrahamwelt. Und hier beginnt. die Christuswelt. Gerade
Reden von einer Hoffnung auch noch
Christus auch weder in dieser Erzählung noch in seinen andern
schwebt doch über diesem Toten-
im „Jenseits“ gesprochen hat: ein leiser Schimmer von Hoffnung
„heißt uns hoffen“.
gespräch — wie über der Toteninsel von Böclin. Der Christusgeist
soll damit nichts genommen werden. „Die Verstorbenen wollen
Dem dunklen Ernst der Tatsachen
sie wissen ja viel mehr von
eigentlich immer uns mahnen, die geistige Welt ernst zu nehmen; denn
wieder völlig mit unsrer Geschichte
ihr als wir.“ Dieses Wort, das ich von Rudolf Steiner hörte, stimmt
der Liebe schicken, sie uns gewiß oft
überein. Wir möchten unseren Verstorbenen oft gern Grüße
hört in seinem Leben alles,
Mahnungen des Glaubens. Vor allem wissen sie eines: Der Mensch
muß nur wirklich „hören“.
was er braucht, um sich in der andern Welt zurechtzufinden. Er

294.
„Dies ist mein geliebter Sohn, den sollt ihr hören!“ — Doch Christus selbst muß urteilen: „Mit
hörenden Ohren hören sie nicht!“ Ganz merkwürdig und bedeutsam ist auch das Wort Christi im
Johanesevangelium: „Warum versteht ihr meine Rede nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören
könnt!“ (So heißt es Joh. 8,43 wörtlich.)
Es gibt keinen andern Beweis für das Christentum: wir müssen „hören“ lernen, mit ganzer Seele
und mit ganzem Geist, mit unsrem ganzen, gottgeborenen Wesen! Ein unmittelbares Wahrnehmungs-
organ für die Wahrheit ist in jedem Menschen da. An dies allein kann sich Christus wenden. „Wer
aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme!“
Dies mag auch gelten, so lange wir noch nicht „schauen“, für diese Erzählung Christi, die wir
bier in unsre Geistessprache zu übersetzen versucht haben. —

Das Paradies
Im Spiegel der keltischen Seele vor und nach Christus
Zweikeltische Lieder,übertragenvon

Marie Louise Freiin von Hodenberg

Tir nan Og*

Der Himmel der Kelten, „Tir nan Og“, das Land der ewigen Jugend, liegt irgendwo fern
im Westen der Hebriden, dort wo die Sonne untergeht. Und die keltische Seele wartet
immer am Ufer des großen Meeres auf das Kommen der Weißen Barke, welche jahrein,
jahraus die Erwählten über die Wogen trägt, hin zu der Insel ihrer Sehnsucht. Und diese
Barke braucht weder Wind, Segel noch Steuer, um wie ein Vogel über die See zu fliegen;
der Wunsch des Schicksals, welcher sie lenkt, ist ihr alles in allem.

Wogengebraus voller Sehnsucht mir singt deinen Ruhm,


Im Berges- und Quellengesang strömt zum Meer dein Lied,
Bei Tage dein Zauber mir ewiglich Wunden schlägt,
Bei Nacht bist du immer mein Traum,
O himmlisches Land.

Kummer und Tod in dir Lande der Schönheit nie lebt,


Aller Helden Lebensbrunn du, Freude überschwebt.
Hohe Sterne leuchten mild durch Nebel Tag und Nacht,
Sanfte Harfen. wachsen im Walde
Im himmlischen Land.

Durch die Wogen zieht daher mein Traumesschiff wie einst,


Schicksalswille lenkt das Steuer, lautlos, vogelgleich.
Weiße Barke laß mich nicht allein am Meeresstrand,
Leid und Liebesfluten mich zieh’n
Ins himmlische Land.

* Aus „The Road to the Isles“ von Kenneth Macleod.

295
Paradeis*

Du schönes Paradeis, Mein’ Seele schaut gebannt


Das Christus uns verheißt, Mein wahres Heimatland,
Wann werde ich dich seh’n Wohin sie einst enteilt
Dort in den Himmelsköh’n? Auf Vogelschwingen leicht.

Erlöst erheb’ ich mich Lebwohl du Land Arvor,


Wohl über’s Sonnenlicht, Zur Heimat einst erkor’n,
Wohl über’s Sternenzelt, Lebwohl du arme Erd’,
Verlaß’ die Erdenwelt. Von Gram und Sünd’ beschwert.

Erkennend ich dann preis’ Anbetend werd’ ich schau’n


Der Heil’gen hehren Kreis, Die reinste der Jungfrau’n,
Die meiner wartend steh’n Der hohen Sterne Glanz.
In jenen lichten Höh’n. Auf ihrer Stirne Kranz.

Es öffnet sich die Pfort’,


Ich köre Christi Wort:
„Gleich einer Lilie weiß,
Blüh’ du im Paradeis!“

Weihnachtsnachklänge

Berliner Weihnachtsfesttage folg. Es war wie ein Freudenruf: Ja und dreimal Ja.
Wir sind zu jedem Opfer bereit, wenn wir einen
Vierzehn Jahre hat die Berliner Gemeinde in einer würdigen Raum bekommen.
Schulaula gehaust, die seit Jahren eigentlich nicht mehr Drittens unser Lenker und Oberlenker Bock. Er sagte:
ausreichte, uns aber durch die immer bereite Hilfe von Nehmt den Saal, ich helfe euch. Als nun auch noc
Rektor Schumacher und seiner Frau so ans Herz ge- andere unserer bekanntesten Redner auf unsere Bitte
wachsen war, daß wir sie erst aufgaben, als sie uns ge- ihre Hilfe zusagten, wagten wir den Kopfsprung. Daß
kündigt wurde und fast gleichzeitig Herr Schumacher aber in den wenigen zur Verfügung stehenden Wochen
in die geistige Welt einging. die notwendige Umwandlung des Saales und der übrigen
Wir mieteten dann einen Konzertsaal, der ein wenig Räume bis zum Weihnachtstage wirklich fertig geworden
größer und ganz gut gelegen war. Aber die Gemeinde ist, wurde nur möglich durch die hingebungsvolle Arbeit
wollte nichts von ihm wissen. Sie war unzufrieden, hatte aller Beteiligten. Ja, das zunächst nur geschäftliche
so lange auf den neuen Raum gewartet, um den wir Interesse der Hausverwalter, Architekten und Bauhand-
uns seit Jahr und Tag bemüht hatten. Nun wollte sie werker verwandelte sich immer mehr in eine positive
einen wirklich ausreichenden und schönen Raum. Hilfeleistung.
Und ein solcher war da, lebte in unserer Sehnsucht, Es war, als wenn ein guter Geist hinter der ganzen
wie ein prachtvolles Schloß — aber ein Luftschloß. Der Unternehmung stände. Zuletzt wurde fast Tag und Nacht
Preis, der dafür gefordert wurde, schien uns für unsere gearbeitet, alle Beteiligten schafften bis an den Rand
Verhältnisse nicht zu verantworten, noch zu erschwingen. ihrer Kräfte, und unsere lieben Frauen — nach Ge-
Drei große Hilfen haben ihn uns jetzt dennoch beschert. wohnheit ihres Geschlechtes — noch ein wenig über den
Erstens die Not. Alle andern Objekte waren verhältnis- Rand hinaus, was nicht in allen Fällen ohne Folgen
mäßig nicht billiger und nicht annähernd so schön wie blieb, die Freude an dem Gelingen aber nicht ver-
unser herrliches Luftschloß. Zweitens die Gesinnung minderte, als am vierundzwanzigsten Dezember um neun
unserer Gemeinde und Freunde. Gleich die erste Anfrage, Uhr abends der letzte Besen in seinen Winkel wanderte
die wir an sie richteten, hatte einen vehementen Er- und drei Stunden später die Mitternachtshandlung im

* Nach der französischen Fassung von Fr. Coppee ia der Sammlung „Melodies Populaires de > Basse-Bretagne”.
L. A. Bourgault-Ducoudray.

296
sprachen von Arnold Goebel und Erwin Schühle, die fanden keinen Platz und kehrten um. Der Raum der
hinausführten in das Ergreifen der Pflichten des Lebens, lauschenden Gemeinde erschien vom Worte geistver-
waren der feierlich ruhige Ausklang der Tage. dichtet. Das Wort,.so fühlte man, wird Wirklichkeit.
Der Abend wurde gemeinsam erlebt im großen Kreis Und als am Schluß der Predigt das Wort ertönte,
der Stuttgarter Gemeinde bei der Silvesterpredigt von „Fürchtet euch nicht, ich bin...“, da schien es, über-
Dr. Rittelmeyer. Der Festsaal der Hochschule für Musik glänzt vom Logos, volle wesenhafte Wirklichkeit ent-
war zu klein, um alle zu erfassen, die herbeigeströmt stehen zu lassen. So — das empfand man — mag das
waren. Die Türen wurden geöffnet und bis hinaus auf alte Jahr zu Ende gehen, so das neue Jahr beginnen.
die Gänge standen und saßen die Freunde. Viele andere Die Sonne des Geistes war da. Erwin Schühle

Antworten auf Fragen


nicht das Erste. Es ist nicht der Grundstein, auf dem wir
Hat denn die Christengemeinschaft
stehen, sondern das Firmament, zu dem wir aufschauen:
nicht auch ein Bekenntnis?
anbetend, lernend, wachsend.
Sie hat kein Bekenntnis in dem Sinn, daß irgendein Ist so die neue Kirche auf der einen Seite freier, viel
Mensch darauf verpflichtet würde. Das geschieht weder freier als jede bisherige Kirche, so ist sie auf der
in der Taufe für die Kinder oder ihre Paten, noch in der anderen Seite strenger, viel strenger. Denn man kann
Konfirmation für die heranwachsenden jungen Menschen, die Menschenweihehandlung nicht ehrlich mitfeiern, ohne
noch in der Priesterweihe. Im Gottesdienst der Menschen- sich dem Leben und der Tat des Christus innerlichst
weihehandlung wird allerdings ein Bekenntnis gespro- und tätig zu verbinden. Freilassender und verpflichten-
chen. Aber auch hier ist mit aller Absicht jedes „Ich“ der als jedes Dogmenbekenntnis ist ein solches Kultus-
vermieden. Kein Mensch soll gedrängt werden, weder bekenntnis. :
innerlich noch äußerlich, zu sagen: „Ich glaube!“. Das Was da geschieht, wird auch an drei ganz wichtigen
ist gerade der Unterschied der Zukunftskirche von der Stellen mit den Worten „Bekennen“ und „Bekenntnis“
evangelischen Kirche. Die evangelische Kirche stellt den ausgesprochen. Aber es ist immer ein ganz persönliches
Ich-Charakter bewußt in den Vordergrund, mehr noch und zugleich sofort ganz ins Aktive gehendes Bekennt-
als die alte Kirche: So hat Luther in seiner Erklärung nis — nicht zum Dogma, nicht einmal zur Bibel, sondern
des ersten Glaubensartikels den Satz „Schöpfer Him- zu Christus selbst. Und dies entspricht genau der Art,
mels und der Erde“ untergebracht in den Worten: „Ich wie- das Wort „bekennen“ im Mund Christi selbst allein
glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Krea- vorkommt. „Wer mich bekennt vor den Menschen, den
turen.“ Das ganze Weltall ist zusammengeschrumpft zu will'ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater.“
einem Beiwort neben dem Ich. Und es ist vorgekommen, (Matth. 10, 32.) R
daß ein kleiner Knirps im Unterricht sogar seine eigne
Auslegung an die Stelle setzte: „samt allen Grenadieren“ Glauben Siean eine wirkliche Wandlung
— was zwar zeitgemäß, aber nicht gerade bibelgemäß ist. von Brot und Wein?
Den ersten Teil der Menschenweihehandlung — die
Evangelienlesung — erlebt man, als ob sich ein Grals- Gerade an diesem Punkt kann deutlich werden, wie die
dom über uns wölbt. Im Gralstempel blickte man ja Christengemeinschaft zu Dogmen steht. Kein „Glaube“
nicht auf zu einem mittelalterlichen Kreuzgewölbe, son- wird „gefordert“. Das göttliche Geschehen ist unab-
dern zu Sonne, Mond und Sternen. Die Sehnsucht Nietz- hängig davon, was der einzelne davon denkt. Ja die
sches war in diesem Gralstempel erfüllt: „Erst wenn der Worte, die gesprochen werden, können sogar auf mannig-
reine Himmel wieder durch zerborstene Decken blickt... fache Weise angeeignet werden, sozusagen in verschie-
will ich den Stätten dieses Gottes wieder mein Herz zu- denen Höhenlagen.
wenden.“ Im ersten Teil der Menschenweihehandlung Dennoc ist dies gerade der entscheidende Punkt im
blicken wir zum reinen Himmel empor. DieSonne: das Kampf gegen den Materialismus. — In einer Diskussion
ist das Evamgelium. Wechselnd geht es durch den bat einmal einer der führenden „Apologeten“ der evan-
Jahreslauf, wie die Sonne durch die Zeiten. An der gelischen Kirche mir entgegengehalten: „Das werfen wir
Stelle des Mondes steht die Predigt. Sie ist von euch vor, daß ihr Geist und Materie nicht klar unter-
der Sonne erborgtes Licht, an das kühlere Verstehen sich scheidet; Geist und Materie sind etwas völlig voneinan-
wendend. Und nicht immer kann Vollmond sein. Das der Verschiedenes und Getrenntes; der Geist wirkt nur
Bekenntnis aber ist dr Sternenhimmel. Tat- auf die Materie!“ Ich konnte ihm nur erwidern: „Wenn
sächlich hat es auch zwölf Sätze, die den Welten des man von Geist und Materie nur zu sagen weiß, daß sie
Sternenhimmels entsprechen. völlig voneinander geschieden sind: wie kann man dann
Aber das Bekenntnis ist für uns immer das Letzte, im nächsten Satz sagen, daß der Geist auf die Materie

300
wirkt? Das ist doch ein vollendeter Widerspruch! Da des einen Menschen besser gedeihen als in der Nähe des
geht für uns die Frage eben erst an!“ andern? Daß sogar auf Perlen menschliche Wirkungen
Daß die Materie auf den Geist wirkt, gesteht ausgehen? Daß die Hand des Säenden nicht ohne Bedeu-
heute jeder zu. Man braucht ja nur einen Betrunkenen. tung ist für das Samenkorn? Allen diesen Erfahrungen
zu sehen. Ja die weitverbreitete Meinung ist sogar, der sind wir heute nur fremder geworden als frühere Zeiten.
Geist gehe aus der Materie hervor, so wie etwa der Duft Der Mensch, der stark meditieren kann, kann es bald
aus der Pflanze. Daß damit die Weltschöpfung geleugnet erfahren, daß ihm das Geistige immer stärker und wesen-
und die Weltentstehung überhaupt undenkbar wird, hafter wird, und das Materielle — keineswegs nur das
kommt den meisten gar nicht zum Bewußtsein. Um- Materielle des eigenen Leibes — immer wesenloser und
gekehrt: daß der Geist auf die Materie wirkt, willman nichtiger, geradezu schattenhafter. Eine Grenze nach
meist nicht gelten lassen. Man brauchte nur in das Auge oben gibt es für dies Erleben schwerlich.
eines begeisterten Menschen zu sehen, um das Gegenteil Beim Abendmahl nun haben wir außerdem vor allem
vor sich zu sehen. Oder ist das äußere Auge mit seiner das klare Wort Christi, daß er in Brot und Wein da
Umgebung — nicht „Materie“? Und ist ein geistig leben- sein will. Die gesammelte Andachtskraft einer ganzen
diges Menschenauge nicht ein alltäglicher, wunder- Gemeinde kommt ihm entgegen, und die Erlebnisse
schöner Beweis für die Wirksamkeit des Geistes auf die vieler Menschen in Vergangenheit und Gegenwart be-
Materie? Soll Begeisterung nicht von oben her das Selbe zeugen, daß Christus wirklich leuchtend lebendig da ist
vermögen, was Trunkenheit von unten her kann? in Brot und Wein. Wer das nicht kennt, mag es für
Es ist also nicht ein unverständliches Dogma des Glau- Suggestion halten. Wer es kennt, wird über diese Mei-
bens, sondern eine klare Tatsache der Erfahrung, daß nung lächeln. Einige nehmen es wahr. Andere fühlen es.
Geist auf den Körper, auf die Materie wirken kann. Am Viele glauben es— auch schon aus einem dunklen Fühlen
leichtesten kann es der Mensch „am eignen Leib“ er- der Wahrheit heraus.
fahren. Oder haben wir uns noch nie — in gewissen Wir können hier nicht ein Buch über die Wandlung
Grenzen — gesund gedacht? gesund gewollt? Logisch schreiben. Wir können nur einige erste Hilfsgedanken
kann man von da aus nur folgern, daß es an der Kraft vorbringen. Aber ein Verhängnis wäre es, wenn ein
des Geistes liegen muß, wie weit er auf den Körper Diskutieren darüber anhöbe, in welchem Sinn die Wand-
wirken kann. lung zu verstehen oder nicht zu verstehen ist. Wir
Von da ist freilich noch ein großer Schritt zu der An- sind alle frei und können uns die heilige Handlung auf
nahme, daß der Geist nicht nur auf den Körper unsre Weise aneignen. Und wir sindalle Werdende
wirkt, in dem er wohnt, sondern auch auf den Stoff, und wissen, daß es über uns noch vieles gibt, zu dem
in dem er nicht wohnt. Doch auch dafür fehlt es nicht an wir erst heranreifen müssen. Wer in dieser Haltung teil-
Erfahrungen, die sogar sichtbar werden können. Oder nimmt, der hat den besonderen religiösen Charakter der
ist das alles Aberglaube, daß die Blumen in der Nähe Christengemeinschaft erfaßt. R

Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind


Gedanken zu einer neuen Oper

Ende November 1937 ist im Staatsiheater in Kassel größeren Menschenkreis von ihm zu berichten. Zunächst
bei ihrer Uraufführung eine Oper mit einem ganz un- sei in Kürze der Inhalt angegeben:
gewöhnlich starken Beifall aufgenommen worden. Au In einem Dorfe „irgendwo in den deutschen Alpen-
die dreißigmal wurden die Darsteller, dann auch der ländern“ steht ein wertvoller Altar, von unbekanntem
Dirigent und der Komponist am Schlusse vor den Vor- Meister um 1490 geschnitzt, mit einem herrlichen
hang gerufen. Das Werk, das diese Zustimmung ge- Standbild der heiligen Barbara. Dieser Altar soll,
funden hat, ist die Oper „Tobias Wunderlich“, mit laut Gemeindebeschluß, öffentlich versteigert werden:
einem Text von L.H. Ortner und L. Andersen und mit Das Geld ist wichtiger als das alte, gerühmte Werk.
Musik von Joseph Haas. Gegen die Konkurrenz eines Deutschen erwirbt Mister
Tobias Wunderlich ist eine musikalische Legende, Brown („aus Philadelphia“, wie ausdrücklich und immer
nicht zur bloßen Unterhaltung geschaffen, sondern zur wieder erwähnt wird!) für eine ganze halbe Million
religiösen Erbauung, ein frommes Bühnenwerk, ein Auf- den Altar.
ruf an die Zeit im Gewande der Kunst. Es ist aus der Doch am Schluß der Versteigerung erscheint in der
Tiefe der Zeitsehusucht hervorgegangen. Wie anders ist Kirche im Kreis der Käufer und Verkäufer Tobias
sein beinahe unglaublicher Erfolg zu erklären als Wunderlich, der Holzschuh-Schnitzer, und bittet alle Be-
dadurch, daß es eine Zeitsehnsucht ausspricht und an- teiligten dringlich, sie möchten das ehrwürdige Bild.
spricht? Darin legt auch die Berechtigung dafür, einem nicht aus der Kirche fortgehen lassen!

| 30L
sonen innerhalb des Stückes glauben und unter deren „Tobias Wunderlich“ und „Mister Brown“, issel-
Voraussetzung sie leben oder wenigstens sich entwickeln? alterliche Frömmigkeit und moderne Weltbeherreckuung
Die Oper ist durchsetzt von einem Geist, den man so kämpfen heute allgemein und überall miteinander, im
umschreiben könnte: „Ach, wenn uns doch Wunder be- der großen Welt und im Herzen des einzelnen. Ver
schieden wären! Ach, wenn doch Dinge geschehen woll- führend, verheißend kann das lautere Innen-Reich wer-
ten, durch die alle Menschen in Anbetung auf die Knie den, aber es birgt die Gefahr der Verflüchtigung, der
gezwungen würden! Ach, wenn der Amerikanismus und Selbstsucht, der Weltflucht. Dagegen ist die Weltbemei-
aller Geschäftsgeist durch göttlichen Eingriff beseitigt sterung zunächst im Recht, aber sie macht kalt, seelenlos.
werden könnte! Ach, wenn wir doch alle Tobiasse Wun- unpersönlich. Alle, die an der Härte und Nüchternheit
derlich würden!“ Zwar ist das Wunder des Glaubens des Geschäftsgeistes und alles ihm Verwandten leiden,
liebstes Kind. Aber wer nur und erst durch „Wunder“, sind geneigt, dem „Tobias“ zuzujubeln, dem Innerlichen,
durch Mirakel, durch solche Ereignisse, die das Natur- Frommen, Liebevollen. Aber Tobias, der höchst spre-
gesetz durchbrechen, zum Glauben kommen will, kommt chenderweise seine Begeisterungsquelle um 1490 hat,
zum Aberglauben, und gerade nicht zum Glauben. Tobias führt ein insulares Leben. Er erweist sich nicht als
Wunderlich, dieses reiche und aufrüttelnde Werk, führt Sieger.
im letzten Grund nicht zum Glauben, sondern zum Aber- Christus ist Sieger. Er ist gewiß auch da. Und in dem
glauben hin, reichen Wogen auf der Bühne und im Zuschauerraum
Es ist nicht mehr die Zeit, in der religiöser Fanatis- tönt vielleicht seine leise Stimme: Suchet mich nicht im
mus, Ekstase und Entrückung gestaltende Kräfte wären. Mirakel, belebet euren Glauben nicht an überlieferten
Wenn Heiligenbilder stürzen ...: es ist möglich, daß der Bildern, weichet aus aller und jeder bloßen Stimmung.
Mensch im Innern das Heilige findet. Wenn äußerlich Aus der Zukunft komme ich euch entgegen, und der
streng und unerbittlich das Naturgesetz herrscht ...: es Mutige kann neue Offenbarung gewinnen. Suchet, so
ist möglich, daß der Mensch im Innern Wunder über werdet ihr sie finden.
Wunder erfährt. Wenn alle religiösen Traditionen „»Lobias Wunderlich“ war einmal ..., „Mister Brown“
brechen und aussetzen ...: es ist möglich, daß Christus ist heute ..., und Christ wird sein, wer die Kraft
sich im Innern eines jeden neu offenbart. Ja, das ist erwirbt, die dem „Mister Brown“ in Nüchternheit und
möglich. Wachheit überlegen ist. Bernhard Martin

Mitteilungen
Seminar-Kurs
mann u. a. Die Teilnehmerkarte kostet 12 RM. Sie kann
an der Priesterbildungsstätte in Stuttgart
in besonderen Fällen ermäßigt werden. Verpflegung im
Der nächste Kurs, zu dem auch Gäste erwartet wer- Seminar für 2 RM. Quartiere können durch uns ver-
den, findet statt von Donnerstag, 31. März nachmittags mittelt werden.
bis Samstag, 9. April. Es werden besonders solche Per- Anmeldungen erbeten an Gottfried Husemann, Stutt-
sönlichkeiten, welche in das Seminar aufgenommen wer- gart 13, Spitilerstr. 11.
den wollen, zur Beteiligung eingeladen. Der Kurs ist
allen Interessenten zugänglich. Sommertagung und Gemeinschaftszeit
Es finden folgende Kurse und Vorträge statt: Für die Sommertagung ist als Ort: Hannover,
Dr. Rittelmeyer: Religiöse Impulse der Gegenwart. als Zeit: 28.—31. Juli vorläufig in Aussicht genommen.
Lie, Bock: Gestalten des Frühchristentums. Die Gemeinschaftszeit wird dann im An-
Otto Becher: Paracelsus und Jakob Böhme. schluß daran, also vom 1.—12. August, in der Nähe statt-
Dr. Hemleben: Die Naturforscher Johannes Müller und finden.
Ernst Haeckel als Repräsentanten des 19. Jahr- Zwei Fragen: Welche Wünsche hat man in bezug auf
hunderts. die Sommertagung? Welche Wünsche in bezug auf die
Es sprechen außerdem Lic. Goebel, Gottfried Huse- Gemeinschaftszeit?

Erwiderungen auf Briefe


„Darf ich Sie bitten, Herrn Rudolf Fuchte m- es gar das meine, und Sie haben mir nur ein Pseudonym
bekannterweise schönstens von mir zu grüßen! Sein Ge- gegeben, zur Bekräftigung meiner „Entwerdung“?
dicht in der „Christengemeinschaft“ „Meine Straße“ Herzlich grüßend
spricht mich ungemein an. Merkwürdigerweise gleicht es .. Ihr Otto Crusius
sogar Wort für Wort einem eignen Gedicht, das ich Ja, das Gedicht ist wirklich von Grusius und nicht
Ihnen ungefähr vor einem Jahr zuschickte; — oder ist von Fuchte, und es ist eine Freude für den Herans-

3
Wenn ich einem
en Weise eine Be- ein beklemmender Fremdkörper.
geber, wenn er in einer so angenehm anderen Menschen diese Übersetzungen in
die Hand
Teil der Schul d tragen freilich
richtigung erfährt. Einen gebe, weil ich vermuten darf, daß sie ihn in ihrer so
wie Zwillinge ähnlich
die Schreibmaschinen, die sich neu das Leben des heutig en Mensch en anrede nden Weise
selbst, die von ihrer
sind — und die Herren Dichter das Christ entum, das er verlore n hat, wieder nah
Gebrauch zu machen
Bescheidenheit an falscher Stelle bringen könnten, dann möchte ich dieses
Wort am
ihre Name n so oft nicht unter ihre
pflegen, indem sie liebsten überall einkla mmern und das alte Evange lien-
bedeutet nämlich, daß der Heraus-
Gedichte setzen. Das darüber schreiben.“
zehn und mehr Ge- wort „Vater“
geber, bei den manchmal bis zu n
zehn Mal den Name
dichten, die er am Tag bekommt, Christus spricht: „Ich bin der Weg... niemand
kommt
auf die Gedic hte schreiben muß, was
des Dicht ers selbst
zum Vater denn durch mich!“ Diesen Weg werden wir
täte, wenn er damit
der Herausgeber ja schließlich gern jeder Menschenweihehandlung. Wenn wir von
rblic hkeit verhe lfen könnte. Es geführt in
den Dichtern zur Unste der Bekreuzigungsformel absehen: erst nachde
m wir uns
it ab.
geht aber nur an seiner Zeitlichke Beginn der „Wandl ung“ ganz mit Christu s verbunden
sämtliche Brief- zu
Ich benütze die Gelegenheit, um haben, Wort „Vaterg
gebrauchen ott‘“.
wir Jetzt ist
das
zu bitten, daß
höflich als nachdrücklich
schreiber ebenso
dem Umschlag, sondern es auch mit dem rechten Bewußtseinsinhalt erfüllt.
sie ihre Anschrift nicht nur auf In der „Opferung“ wurden wir bis an den Ursprung
Da ich zu unbegabt bin, um
im Brief angeben möchten. der Welt, bis zum Anblick der Schöpfung selbst
zurück-
ndig zu behal ten oder gar immer zu
alle Adressen auswe geführt. Wir sahen zu, wie der Mensch aus dem gött-
als entweder alle
erraten, bleibt mir sonst nichts übrig, lichen Wesen entsteh t. In gewiss em Sinn sind wir da
auch noch aufzu-
kläglich aufgerissenen Briefumschläge noch in den vorchristlichen Religionen, wenn
auch mit
oder eigenhändi g, vielle icht nach langem “ faßt den
bewahren christlichem Blick. Das Wort „Welte ngrund
dem Besitzer schriftlich nachzu-
Rätselraten, das Haus
glaube n aller Zeiten und Völker zusamm en. Wer
mir eine angenehmere Gottes
tragen. Ich hoffe, die Leser gönnen sagen wollte, dafür würde mir das Wort „Schöpfer“
% R
Beschäftigung! wegs
richtiger erscheinen, dem wäre zu erwidern: keines
sahen alle vorchri stliche n Völker den Vatergoit als den
aussprechen, was
„Ich möchte heute etwas vor Ihnen soweit wir aus den gnostischen Schriften
, seitd em ich der Christen- Schöpfer 'an;
mir immer zu schaffen macht können, auch die Mysterien nicht; ja auch das
ltnis zum Vater- schließen
gemeinschaft angehöre. Es ist das Verhä Johannesevangelium spricht vom Logos, vom
gött-
chaft begegnet.
gott, das mir in der Christengemeins lichen Welten wort als dem Schöpfer; der Vatergott ist
meinschaft die
So sehr sich mir erst in der Christenge noch „dahinter“ und „darüber“, man kann auch
Christ i ersch losse n hat, ich exst in ihr ein immer
volle Realität sagen: „darun ter“.
e zum Christus
wirkliches Verhältnis zu finden lernt Wir erleben es also in der Menschenweihehandlung
— 50 schwer kann ich
Jesus und zum Christus in uns, Menschheit, wie sie das Wort „Vater“
den, der so weit- mit der ganzen
mich mit dem „Weltengrund“ zurechtfin Christu s empfän gt. Dadurch wird, wenn man es
Ich kann diese durch
gehend an die Stelle des „Vaters“ tritt. aufnimmt, das Wort „Vater“ wieder über
das
so schwer annehmen recht
Entfernung vom persönlichen Vater und Egoisti sche, das ihm in der
rissene flache Subjektivistische
(obwohl ich weiß, daß sie die einge religiö sen Sprach e leider meisten s anhafte t,
nzlos igkei t über wind en will) — und je mehr ich in heutigen „Vater gott“ in
Dista dann auch das Wort
hineinwachse, desto schwerer an- hinausgehoben. Wie
das Christentum „Wandl ung“ selbst einen heilige n Weg
tus ist, der der den Gebeten der
nehmen, weil es doch gerade Jesus Chris geht bis zum Höhepunkt im „Vaterunser“
, das mag man
s gebra cht hat —
Menschheit das Vater-Sohn-Verhältni selbst entdecken.
sondern er lehrte ja
nicht nur in seiner heiligen Person, ehandlung
unser“ zu sagen ... Wem dieser gauze Weg der Menschenweih
doch alle Menschen „Vater wird ihn überau s ein-
ist, der
teilbarste, die einmal aufgegangen
„Vater!“ — ist darin nicht die unzer und großart ig finden und nicht anders
men Ewigen leuchtend
dichteste, persönlichste Beziehung des einsa es, ob’ wir gut daran tun,
n: wünschen. Etwas anderes ist
in uns zu Gott ausgesprochen? An Stelle desse ent überall an den Stellen, wo im
das auch für alles, im Neuen Testam
„Weltengrund.“ Gewiß ist Gott das Wort „Vater“
vor Griechischen das Wort „Gott“ oder
was lebt. Aber ist er nicht für den Menschen einzuse tzen. Die Not,
steht, das Wort „Weltengrund“
‚allem Vater? aller Augen. Beide
elien lese und die hier vorhanden ist, liegt ja vor
Wenn ich die Übersetzungen der Evang die Schwäc he der Religion und die
Nähe der Offen- Worte haben durch
alles in mir aufgetan ist für die neue Menschen zum Äußer-
gegeb en ist, dann Hinwendung der neuzeitlichen
barung durch das Wort, die uns darin Vollklang verloren,
z für das hohe, klare lichen und Irdischen ihren früheren
trifft in dieses Offensein der Ersat hinabg esunken, sogar für
n Inhal t mir grade von neuem sind in eine egoistische Sphäre
Wort „Vater“, desse das Wort „Gott“ sozusagen
Christen. Daß
immer wieder wie die meisten
faßbar und gegenwärtig geworden ist,
305
erblindet ist, macht es allein möglich, daß heute viele - Wirklich — der Briefschreiber spricht für eine große
Menschen noch behaupten können, sie „glauben an Schar wertvoller Menschen. Ihm und allen Gleich-
Gott“, wenn ihr Gottesglaube höchstens noch die Dünne gesionten mag ein geschichtlicher Vergleich dienlich sein.
und Flüchtigkeit des Nebels hat. Daß wir uns der Unterschiede bewußt sind, darf man
Wie kommt man in der Bibelübersetzung möglichst mir glauben. Wie würden wir darüber denken, wenn in
nahe heran an die Empfindungen, die einst in den ersten der Reformationszeit ein Mensch einen ähnlichen Brief
Lesern lebendig waren? Für die Menschen damals stand nach Wittenberg geschrieben hätte? „Ich möchte gern
gerade das Persönliche im Vordergrund. Verschiedene der katholischen Kirche gerade jetzt, wo sie so viel, und
Meinungen sind bei uns möglich. Ich meinerseits vielfach ungerecht, angegriffen wird, nicht untreu wer-
meine, wir tun am besten, die Worte „Gott“ und den. Man kann seine Mutter doch in ihrer Todesstunde
„Vater“ im Neuen Testament zunächst stehen zu lassen, nicht im Stich lassen.“ Nun, die kranke Mutter bekam
wo sie stehen und wie sie stehen. So hat es auch Rudolf gerade dadurch wieder so viel Kraft, daß sie ihrerseits
Steiner im allgemeinen gehalten. Durch die innere Er- der neuen Kirche fast eine Todesstunde bereitet hätte.
ziehung in der Christengemeinschaft, das heißt vor Wir haben viel übrig für die Anständigkeit dieser Ge-
allem durch die bewußt erlebte Wirkung der Menschen- sinnung. Wir wünschen auch den alten Kirchen tüchtige
weihehandlung, sollten wir aber dahin streben, daß die Vertreter, zumal sie noch manche Mission haben. Wir
Worte „Gott“ und „Vatergott“ und „Vater“ für die machen auch für uns keine aufdringliche Sektenpropa-
Menschen wieder ihren früheren Vollklang finden. R ganda. Aber darüber muß man sich klar sein: wer die
Wahrheit erkannt hat, der hat auch einen göttlichen Ruf
*
gehört. Dem ist gesagt worden, wo die Zukunft ist, und
es ist ihm die hohe Ehre angetragen worden, für die
a... Sie werden nun wahrscheinlich fragen, warum ich Wahrheit und für die Zukunft zu kämpfen. Und nur zu
bei meiner religiösen Entwicklung nicht längst der alten. seinem eignen Schaden kann er diesen Ruf überhören.
Kirche den Rücken gekehrt habe und zur Christen- Und zum Schaden der Sache. Es gibt doch einen Fall,
gemeinschaft übergegangen bin, zumal mich. Ihre Vor- in dem ich auch an das Sterbebett meiner Mutter nicht
träge in den letzten Jahren regelmäßig in diesen Kreis eilen würde: wenn ich eine Position vor dem Feind zu
führten. Ich hätte diesen Schritt schon vor einigen halten habe. Aber ist es denn überhaupt die Mutter,
Jahren gemacht, wenn der Kirchenstreit nicht gekommen wenn man dort keine Heimat fühlt? Und hat sie nicht
wäre. Von da ab hatte ich das Gefühl, als wäre es Ver- genug Söhne, die jetzt das erste Recht und die erste
rat an der alten Kirche und ein Dolchstoß gegen sie, Pflicht haben, so daß man doch nur mit halbem Ge-
wenn ich sie in diesem Augenblicke verlassen hätte. So wissen im Hintergrund steht, während draußen die
kam es, daß ich mich... offiziell der Bekenntnisfront Schlacht nach uns ruft?
auschloß. Daß ich mich in dieser Gesellschaft nicht wohl Jede neue Gabe, die von der göttlichen Welt den Men-
fühle, ist ein Schicksal, das ich mit vielen teile. Ich schen geschenkt wird, ist zugleich eine Frage an. die
kenne selbst eine Reihe von Männern, die ihrer reli- Menschen, ob die Menschen sie wirklich erkennen —
giösen Entwicklung nach nicht dorthin gehören, die und wollen. Zum Erkennen gehört das Bekennen, zum
aber wohl aus ähnlichen Empfindungen heraus die alte Wollen das Kämpfen. Die Christengemeinschaft kann
Mutter nicht in ihrer Todesstunde im Stiche lassen nach göttlichen Gesetzen der Menschheit nicht gelassen
wollen. Wenn Sie für diese Leute einmal ein klärendes werden, wenn nicht genügend Menschen da sind, die
Wort in Ihrer Zeitschrift sprechen würden, würde das nicht nur etwas von ihr haben wollen, sondern etwas
sicherlich dankbar begrüßt.“ für sie tun. Alles für sie tun! R

Religiöse Zeugnisse aus der Gegenwart


(Grundsätzlich sei bemerkt, daß wir, wenn wir reli- streichen, ohne daß wir damit ausgestrichen werden. Was
giöse Zeugnisse aus Vergangenheit und Gegenwart wir in seinem Auftrage wurden, das ist unsere Ge-
bringen, nicht immer mit jedem Wort übereinstimmen, schichte, nicht das, was wir geworden wären, wenn der
aber auch nicht zu jedem Satz eine Kritik fügen, sondern Auftrag nicht an uns kam. Und unsere Geschichte ist kein
alles dem freien Urteil unsrer Leser übergeben.) | Bilderbuch, das wir weglegen können; denn wir selber
Wilhelm Schäfer sind es, die darin geschahen. Uns dem Geschehnis zu
(Senator der deutschen Akademie der Dichter) in dem entziehen — wenn wir es könnten —, bieße nicht nur
Buch „Deutscher Geist“ 1935: ins Nichts der Gottlosigkeit gehen; es hieße, die
„Das Christentum ist an uns geschehen, seine zwei- deutsche Sendung verleugnen, hieße unserer Berufung
tausendjährige Existenz in uns läßt sich nicht aus- entlaufen.“ .

306
Christliches aus dem Fernen Osten
Tschiangkaischek Toyohiko Kagawa
ein chinesischer Christ ein japanischer Heiliger.
Vor kurzem hat ein Abgesandter des Marschall- (Vergleiche „Die Christengemeinschaft“ Juni 1931)
Präsidenten, der zur Zeit Europa bereist, in einem Vor- . Garola Barth berichtet uns in ihrem im Salzer-Verlag
trag vor dem ostasiatischen Verein in Hamburg von dem erschienenen Buch höchst anregend über das Leben und’
bekannten Überfall gesprochen, um an ihm die völlige Wirken des .Japaners Toyohiko Kagawa. Kagawa ist
Verschiedenheit europäischer und chinesischer Geistes- heute einer der exfolgreichsten Sozialreformer Japans
verfassung beispielhaft zu belegen. Die Befreiung und gleichzeitig einer ‘der bekanntesten Romanschrift-
Tschiangkaischeks und. die Unterwerfung Tschangsue- steller und Dichter seines Landes. Durch seine Bücher
liangs wurde lediglich durch den Umstand herbeigeführt, lenkte er die Aufmerksamkeit der japanischen Öffent-
daß dem Empörer bei der Gefangennahme das Tagebuch lichkeit auf die furchtbaren Zustände in den japanischen
Tschiangkaischeks in die Hände gefallen war, in dem er Armenvierteln und erregte so großes Interesse, daß bei
seine Gedanken über die täglichen Ereignisse zu ver- Neuerscheinungen seiner Werke die Leute zu Hunderten
merken pflegte. Die öffentliche Verlesung dieses Tage- Schlange standen vor den Buchläden Tokyos.
buchs machte durch die aus ihm hervorgehende hohe Nach einer sehr harten, liebeleeren Jugend besuchte
sittliche Gesinnung einen solchen Eindruck auf unsere Kagawa die höhere Knabenschule in Tokushima und trat
Gegner, daß sie uns freiließen. Der Marschall aber war dann in die amerikanische Missionsschule von Dr. Myers
von dieser Wirkung so beeinflußt, daß er ... verzieh.“ ein. Hier wurde Kagawa Christ, Durch diesen Schritt
Diese Zeitungsnachricht wird von unseren Zeitungen lud er den Zorn der ganzen Familie auf sich und mit
mit merkwürdigen Begleitworten versehen. Man spricht seiner Weigerung, die Diplomatenlaufbahn einzuschlagen,
von der Überlegenheit der östlichen „heidnischen“ Moral löste er bewußt die letzten Familienbande. Kagawa
über das Christentum. Aber vielleicht hat man dabei ‚wurde Prediger und verbrachte lange Jahre in den
vergessen, daß Tschiangkaischek — Christ ist. Der Ton Armenvierteln Kobes, sein letztes Brot, seine Kleidung
überlegener sittlicher Hoheit, der in dem Tagebuch auf mit den Ärmsten der Armen teilend und seine eigene
andre Menschen solchen Eindruck machte, könnte viel- Gesundheit bis zur zeitweiligen Erblindung aufs Spiel
leicht gerade, mindestens teilweise, dem christlichen Ein- setzend. Trotz seines eigenen schweren Lungenleidens
schlag zu danken sein. Darauf weist auch das „Ver- führte er. dieses entsagende schwere Leben 14 Jahre
zeihen“ hin. Wenn wir nicht ganz unrecht haben, dann lang und gab so ein leuchtendes Beispiel werktätigen
würde dies Ereignis, das bekannt werden sollte, nur Christentums. In fammenden Reden fordert er auf zu
beweisen, daß der Osten durch seine tausendjährige einem Christentum der Tat und tritt auf gegen: das
innere Erziehung spirituelle Wahrheiten noch ernster zu seichte Kirchenchr
istentum. Gerade das, was die öst-
nehmen und selbstverständlicher ins praktische Leben lichen Völker bei
den Christen suchen und leider so sehr
umzusetzen imstand ist als der Westen. Rudolf Steiner selten finden,
das Christentum der Tat, das lebt Kagawa
hat gelegentlich gesagt, daß man, wenn etwa Indien dem seinem Volke
vor. Er sagt: „Es ist schwer für eine unvoll-
Bolschewismus erliegen sollte, infolge der alten Geistes- kommene und
sündige Person, die -Persönlichkeit. Gottes
kultur des Ostens einen viel größeren geistigen Radika- zu begreifen.
Da Gott eine vollkommen in sich voll-
lismus und Fanatismus erleben würde, als man dies im endete Persönlichk
eit ist, können wir ihn nur undentlich
Westen gewöhnt ist. Sollte dies vielleicht auch einmal durch unsere
gebrochene Persönlichkeit hindurch er-
gegenüber dem Christentum der Fall sein? R kennen. Er wird uns offenbar im Verhältnis des Voll-
Wir teilen dem Interesse unsrer Leser noch das Tele- kommenwerdens unserer
eigenen Persönlichkeit.“
gramm mit, das Tschiangkaischek anläßlich des Todes
Kagawa in seiner christlichen Gläubigkeit ist eine der
Ludendorffs an dessen Gattin schicken ließ: „lu beson-
treibenden Kräfte im heutigen Japan, und wenn er auch
derer Schätzung des Bandes der Ehe begreifen wir tief vielleicht
für eine geistgemäße Auffassung des Christen-
sein Zerreißen. In unsrer Liebe zum Frieden lehrt
uns tums und für die kosmische Bedeutung des Christus
der Krieg, sein Genie als Hort: des Landes zu ehren.
noch nicht das rechte Verständnis aufbringt und ganz
Diese beiden Gefühle habe ich für mein Land und seinen nur im alten
Bibelglauben wurzelt, so tut das der gewal-
Führer zu Ihrer Trauer zu übermitteln. Tsang Patie, tigen Größe
seiner Leistungen nicht den geringsten Ab-
persönlich Abgesandter des Marschalls von China.“ bruch. Irmgard Müller-Lexzau
Bezugspreise und Postscheckkonten nebenstehend. — Für
unverlangt eingesandte Manuskripte kann (außer wenn Rück-
porto beiliegt) eine Gewähr nicht übernommen werden,
Schriftleiter: Dr. Friedrich Rittelmeyer, Stuttgart 18, Für die
Anzeigen verantwortlich: Ernst Rathgeber, Stuttgart. D.A. IV. Vj. 1937: 7366. Zur Zeit gilt Anzeigenpr
Druck: Hoffmannsche Buchdruckerei Felix Krais, Stuttgart, eisliste Nr, 4.
Verlag; Verlag Urachhaus, Stuttgart 13,

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