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Von Rhythmus und Wiederholung


(v\ Martha Heimeran 113

Die „festlose“ Zeit des Jahres


( x Kurt Philippi 115

Rosen
Gedicht. Walter Ebersold 117

Der Mensch als Ebenbild Gottes


IX) Zum Brief des Paulus an die Kolosser
Karl Garms 118

Spruch
Gedicht. Dorothea Letzsch 122

Unsterblichkeit und — Ungeborenheit


a
a

Kurt von Wistinghausen 122

George Washington Carver


Powell Spring 123

Nachtwanderung
Gedicht. Rudolf Fuchte 125

Berggedanken
Wilhelm Salewski 126

Romano Guardini und Theodor Haecker


August Pauli
Hermann Fackler 128

Mitteilungen
Richard Wagner: Heldentum und Christentum
Lic. Robert Goebel: „Betrachtungen zum menschl. Leben“
Kurt von Wistinghausen 134
„Die ungöttliche Komödie“
Eduard Lenz 135

Blicke in die Zeit


Tonfilmpredigt 137
Gebetsmaschinen 138
Gespensterverleihinstitut 138
*

Gibt es Seelenwanderung? 138


Zeitgemäße Warnung 139
Von der Gottlosenbewegung 140
Bekehrte Bolschewisten 140
Die Christengemeinschaft
Diese Zeitschrift dient der religiösen Erneuerung der Gegen-
wart aus dem Geist eines sakramentalen Christentums, das
durch die Christengemeinschaft vertreten wird. Sie erscheint am
Anfang jedes Monats in Stuttgart und wird herausgegeben von
Dr. Friedrich Rittelmeyer
14. Jahrgang 5 August 1937

Von Rhythmus und Wiederholung


Martha Heimeran

Der Zug nach Abwechslung und nach Außergewöhnlichem ist eine der Haupttriebkräfte in der
Seele des Gegenwartsmenschen. Man mag diese Eigenschaft als Ungeduld der Schnell-Lebigen oder als
Sensationslust der Nervösen oder als Unbefriedigtsein der Einsamen ansehen — immer entspringt
sie dem Empfinden der Halbheit. Und dieses Gefühl ist berechtigt für den, der steigend die Ver-
bindung mit der Fülle des Lebens verloren hat.
Aber diese ’Haltung hat uns auch einen guten Freund gekostet: die Zeit. Ihr eigentliches Wesen
ist den Menschen fremd geworden. Und zwar bis zu einem solchen Grade, daß man ihr manchmal
feindlich gegenübersteht. Denn die Zeit fügt sich oft nicht unseren Plänen! Sie entgleitet uns, „wir
haben keine Zeit“, — dieser Satz scheint fast unerläßlich in der Ausstattung des modernen Bewußt-
seins. Er ist auch nicht einmal falsch. Wir haben weitgehend die rechte Art verloren, mit der Zeit
umzugehen. Darum entschlüpft sie uns. Und wir haben tatsächlich keine Zeit.
Jedenfalls hat sich ihr Wesen unseren tapsenden Händen entzogen. Geblieben ist uns der Leib,
den wir bemessen und berechnen können. Wir werten die Zeit hauptsächlich quantitativ, der Menge
nach. Viel Zeit — wenig Zeit — so zählen wir, wie man Geld zählt! Ja, wir klimpern mit den
Stunden wie mit Münzen. Können sie sich bei derartiger Behandlung wirklich zeigen?
Weit entrückt ist für uns das göttliche Wesen Zeit und ihre Offenbarung im Rhythmus. Selbst
der Sinn der Wiederholung ist uns fremd geworden.
*

Im ‘unendlichen Reigen kreisen die Stunden, Tage und Jahre, stets neue Ringe bildend und doch
auch immer sich wiederholend. Höher und höher formt sich Kreis auf Kreis in ewiger Spirale.
Himmlischem Rhythmus folgend bewegt sich um uns alles Wachsen und Vergehen, alles Werden
und Sterben. In heiliger Ordnung: schwingt unabsehbar vielfältig das Leben aller Natur. Jedes Tier,
jede Pflanzenart hat ihren eigenen Rhythmus, ihre besondre Zeit. Und wir Menschen? Wir leben
auch großenteils von solchen Rhythmen. Es ist kein Zufall, daß wir eine Zeitspanne Tag, oder Woche,
oder Monat nennen. Diese Zeiteinheiten entsprechen bestimmten Rhythmen in uns.
Ohne den Rhythmus Jahr hätten wir kein Brot. Der Leib würde verschmachten ohne die
jährlich gewachsene Nahrung. Unser Alter berechnen wir nach den Jahren unseres physischen Leibes.
Leib und Jahr haben eine innere Verwandtschaft, wie der Wochenlauf mit der Seele. Haben
wir nicht schon erlebt, wie ein starkes Ereignis eine Weile im Wochenrhythmus nachklingt? Die Pflicht
der allsonntäglichen Messe in der römischen Kirche oder der streng-gepflegte Sonntag der englischen

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Familie leben noch, wenn auch ünbewußt, vom althergebrachten Gefühl für solche Rhytbmus-
wirkungen. Sie wollen der Seele Eindrücke bringen ihrer eignen Bewegung gemäß. Der Monats-
Orga-
Rhythmus klingt in unserem Lebensleib. Er drückt sich vor allem deutlich aus im weiblichen
im
nismus. Und der Rhythmus des Ich verläuft mit dem Tag. Unseres „Tages Arbeit“ vertauschen wir
unser Ich in eine andre Welt eintaucht und sich erfrischt.
steten Wechsel mit dem Schlaf, wenn
*

heraus-
Aber gerade das Ich und die Seele haben das Bestreben, sich aus dem natürlichen Rhythmus
wird der Mensch sich seiner selbst bewußt. Eine Art von Freiheit,
zusondern. In dieser Abspaltung
Wechsel
wenn auch auf recht niedriger Stufe, hat er sich damit errungen. Er braucht zwar noch den
aber er hat ihn aus dem Weltganzen gelöst und in seine Hände genommen.
von Schlaf und Wachen,
enen Tag. So
Das künstliche Licht ersetzt ihm die Sonne, so daß er unabhängig ist vom naturgegeb
sich mit der Woche.
kann er das Schlafen und Wachen einrichten wie ihm beliebt. Ähnliches vollzieht
viel mehr für uns
Zwar haben wir noch immer eine Sieben-Tage-Woche, doch das bedeutet nicht
als eine gute Kalendereinteilung.
Vorläufig aber
Diese Unabhängigkeit kann uns zu ihrer königlichen Schwester Freiheit führen.
bescheidene n Schritt des Losgelöstseins
sieht es fast aus, als ob die Menschheit sich mit dem ersten
begnügen wollte, der doch nur in Materialismus und Tod enden kann.
Wirklichkeit,
Es ist aufschlußreich, daß die modernen Sprachen kein Wort für Rhythmus haben. Die
verloren. Gefangen in Erdenkräft en bewegen wir uns
zu der das Wort führen könnte, ist für sie
r sind wir den himmlische n Mächten, die uns mit
plump und schwerfällig über die Erde. Unerreichba
Denn nur im Ausgleich zwischen Himmel und
ihren Bewegungen begaben und beschwingen möchten.
gestalteten die Griechen ihre Skulpturen. Sie zeugen von
Erde entsteht der Rhythmus. Aus Harmonie
Und von diesem Volk müssen wir uns den Namen leihen für
solchem wundervollen Gleichklang.
etwas, das wir bestenfalls anstreben, aber nicht besitzen.
uns aufnehmen
Im Rhythmus bewegen sich Sterne und Götter. Soweit wir die göttliche Welt in
lernen, wird Rhythmus auch unser Leben durchweben.
heute recht verkannte
Als Vorstufe dazu ist uns das Wiederholen gegeben, selbst dies eine
Übung. *
Begegnung aufgeleuchtet, die
Das Wesen der Wiederbolung ist mir an einer kleinen unvergeßlichen
der jeden Tag den gleichen Weg mehrmals zurück-
ich in der Jugend hatte mit einem Menschen,
zu beklagen, schilderte er, wie ihm diese kurze Strecke zur Ge-
zulegen hatte. Statt sich darüber
verschieden aus-
legenheit wird, täglich mehr zu sehen und zu erkennen, wie alles sogar stündlich
wurde mir Anstoß, manches anders zu betrachten .
sieht. Dies bescheidene Ereignis
denen das tägliche Anziehen, ja selbst das immerwährende Essenmüssen eine Last
Es gibt Menschen,
könnte diese Alltäglichkeiten auch einmal als einen Weg ansehen, auf dem sich Ent-
ist. Aber man
deckungen machen lassen!
wir wieder-
Wiederholung ist alles Leben, und je näher wir uns ihm verbinden, desto lieber werden
g ist Wiederho lung eigentlich nur dem Trägen und Blinden; wobei allerdings immer
holen. Langweili
ausgeschlossen ist die mechanische Routine einer Maschine.
Leiten der
Alle gute Erziehung baut auf Wiederholung. Statt einmaligem Gebieten, wird stetes
dienen. Je kleiner das Kind, das heißt je stärker noch verbunden den
Entwicklung des Menschen
ung.
anßerirdischen Lebenskräften, desto mehr ist es abhängig von der regelmäßigen Wiederhol
Wiederholung ein be-
Auch in der Selbsterziehung, nur eben da mehr van inzen her, ist die
neues Versuchen führen zum Ziel.
@estsames Element. Weniger einmaliges Aufraffen, als immer
sehr
Das gilt auch für das Gebet oder die Meditation. Vielleicht gelingt beides nicht oder doch nur
uns darum hamühen immer und immer wieder, das wird
mangelhaft — jedoch die Tatsache, daß wir
Rraftquelle
seine Bedeutung jedenfalls haben. Ich denke merZmal. wenn die Menschen doch diese
der Wiederholung kennten! Die Wirkung der *iederhol ung schafft manches, was sonst kaum mit
größter Anstrengung geschehen könnte! +

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Im religiösen Leben ist die Wiederholung ungeheuer wirksam. Erstmal im Gottesdienst selbst. Ein
altes englisches Sprichwort deutet in diese Richtung: „Was man dreimal sagt, ist wahr.“ Was ich
einmal höre, erreicht meinen Kopf, beim zweitenmal dringt es bis zum Herzen, aber beim drittenmal
erfüllt es mich ganz. Wir kennen in der Menschen-Weihe-Handlung eine Reihe von Wiederholungen,
vor allem in der zweiten Hälfte. Da taucht man wirklich in die Sphäre ein, in der Himmel und Erde
sich vereinen, und da entsteht aus der Wiederholung göttlicher Rhythmus.
Eine Wiederholung ist immer in gewissem Sinn ein Neues, schon deshalb, weil die Welt, in der ich
das gleiche wiederhole, inzwischen eine andere geworden ist. Das sei uun an einem besonders ein-
drucksvollen Beispiel gezeigt, au dem Zeitengebet der Menschen-Weihe-Handlung, das am Anfang
und Schluß mit denselben Worten gesprochen wird. Am Beginn tastet sich der einzelne in diesen
Worten an die Weibehandlung heran, die ja eine verschiedene ist je nach der Jahreszeit, je nach
der Stunde des Tages oder dem Tag der Woche. Am Ende dagegen sind die gleichen Worte zum Dank-
gebet der Gemeinde geworden, in das jeder noch erfüllter, beteiligter, verantwortlicher eiustimmt,
nachdem er in das Geschehen der Weihehandlung aufgenommen war.
Früher hat manch einer zu denen gehört, die zwar zur Kirche gingen, aber um einen guten Prediger
zu hören, von dem man sich neue Anregung erhoffte. Man richtete es vielleicht so ein, gerade zum
Beginn der Predigt zu kommen, denn das übrige, die Liturgie, war ja nur immer Wiederholung!
Dagegen in der Menschen-Weihe-Handlung lernen wir den Wert ermessen, der einfach im Wieder-
holen liegt. Man kann sie nicht verstehen oder aufnehmen bei ein- oder ein paarmaligen Besuchen.
Sie ist Leben und schenkt sich deshalb am besten in der Wiederholung. Wer sie erfahren hat in den
verschiedenen Stunden des Tages, bei Sonnenaufgang oder gegen Mittag, zur Mitternacht oder am
Mitmorgen, wer sie erlebt hat in der Passions- oder Michaelzeit, Ostern oder Advent, nur der kann
sagen, daß er ihr wirklich begegnet ist.
Oft sind wir recht müde und überarbeitet und unfähig, völlig wach diese Stunde mitzuerleben.
Jedoch die Tatsache, daß wir anwesend sind, daß wir in diesen Rhythmus eintauchen und daß wir
es imımer wiederholentlich tun, wird seine Wirkenskraft an uns schon zeigen.
Wiederholung enthält jeder Gottesdienst, der dann auch zum Begründer von Sitten wird. Und
diese Sitten sind für ein Volk wieder lebende Wiederholungen, die eine wundervolle Kraft-
quelle schaffen. *

Damit haben wir ein paar Anregungen zusammengetragen, die uns vielleicht die Zeit mit ihrem
Rhythmus und ihrer Wiederholung ein wenig besser sehen lassen. Sicher, wir leben unter Umständen,
in denen die Anforderungen und Anstrengungen des Berufes kaum irgendwelche Veränderungen in
unserem Leben gestatten. Aber gerade unter schwierigen Verhältnissen könnten wir die Zeit für
uns arbeiten lassen. Ein regelmäßiger, weun auch zeitlich beschränkter Versuch zur Meditation, der
tägliche Tischspruch vor dem Mittagessen, in gleichmäßigen Abständen besuchte Weihe-Handlungen
können solche hilfreiche Wiederholungen sein.
Dabei werden wir die Zeit als guten Freund neu entdecken, der uns manches abnehmen und er-
leichtern wird. .
Denn im Grunde ist das Gefühl der Halbheit, aus dem Nervosität und Einsamkeit geboren werden,
eine verborgene Sehnsucht nach Ganzheit und vollem Menschentum.
Darum bringen will uns der weitverbreitete Trugschluß: „Zeit ist Geld“, dazu leiten aber will
uns die Wahrheit: „Zeit ist Leben“.

Die „festlose“ Zeit des Jahres


Kurt Philippi

Der Übergang in die sogenannte „festlose“ Zeit des Kirchenjahres stellt den Menschen, der mit
Bewußtsein Christ sein will, vor eine Prüfung der Seele. Machtvoll dringt Sonnenlicht, Sonnen-
wärme, Formenschönbeit der Welt auf die Seele ein und droht zu betäuben und zu ersticken, was

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an Erkenntnishelligkeit, an Seelenwärme und Wesensentflammung errungen wurde im Erleben der
festlichen Zeit des Jahres von Weihnachten über Ostern bis zu Pfingsten hin. Nur zu gerne läßt sich
die Menschenseele tragen vom Strömen der Elemente, sich einhüllen und einschläfern vou dem
Schönheitsglanz der Natur. Viele Menschen werden es gar nicht als eine Gefahr für ihr Christentum
ansehen, wenn sie die Natur so erleben, daß sie sich tragen lassen vom unsichtbaren Strom der Bilde-
kräfte der Welt, wie mit geschlossenen Augen, in gefühlsseliger Blindheit, so etwa, wie in dichterisch
schönen Worten Eichendorff es schildert:
Und ich mag mich nicht bewahren,
Weit von euch treibt mich der Wind,
Auf dem Strome will ich fahren
Von dem Glanze selig blind!

Wer an den Altären der Christengemeinschaft, im Feiern der Menschenweihehandlung begonnen


hat zu erwachen zu der Helligkeit andächtigen Eigendenkens, innig-besonnenen Erfühlens der Christus-
nähe, der weiß: Jetzt, beim vollen Eintauchen in die Schönheits-Offenbarung der äußeren Welt, jetzt
gilt es in bewußtem inneren Ringen zu bewahren, was die christliche Festzeit gebracht hat und doch
die Natur nicht liegen zu lassen oder gar zu verachten, sondern voller Dankbarkeit, Liebe und Freude
dem Ruf zu folgen, der uns aus dem Haus in die Weite führt. Wir fühlen von Jahr zu Jahr stärker:
es wäre Verrat an der Menschenweihehandlung, die bis zu Pfingsten hin errungene Seelenhaltung
bewahren zu wollen auf. Kosten des Erlebens der Natur.
Das Altarsakrament selber gibt uns die Kraft uns tragen zu lassen vom Strömen der Elemente,
des Lichtes, der Wärme, des Wassers ohne darin zu versinken, tragen wir doch den Herrn der
Elemente selber im Herzen, wenn wir in der Gesinnung der Menschenweihehandlung, in lebendiger
Erinnerung an sie, hinausgehen in die Natur. Ja, wir folgen dann erst in Wahrheit dem Christus
nach, bekennen uns wirklich zu Ihm. Ist es nicht so, daß das Wirken Christi von Weihnachten über
Ostern bis zu Pfingsten immer wieder empfunden werden kann als eine große Weihehandlung an
Menschheit und Erde? Nun aber in der „festlosen“ Zeit: Wartet da nicht die festlich geschmückte
Natur darauf, daß der Mensch sich zum Christusträger mache und mit der Kraft des Christus,
mit den Segnungen der großen Christus-Feste der Natur sich nahe?
Zu der Wegzehrung aber von Brot und Wein, die wir am Altar empfangen für unser Wandern
zum Wesen der Natur, mag noch als Weg-Weisung jenes Wort sich gesellen, das der Christus sprach zu
den Jüngern über die rechte Art Ihm nachzufolgen:

„Wer mir will nachfolgen,


der verleugne sich selbst
und nehme sein Kreuz auf sich
und folge mir nach!“

Unter dem Vielen, das uns dieses Wort zu sagen hat, kann in ihm auch eine Weisung empfunden
werden zum rechten Umgang mit der Natur.
Was hindert uns denn, wirklich wesenhaft die Natur zu erleben, nicht an der Oberfläche, sondern
dort, wo das Christus-Antlitz, die Christus-Stimme in ihr sich offenbart? — — — Ist es nicht dies, daß
wir allzuoft befangen bleiben in unseren alltäglichen Gedankengängen in dem, was uns nahe liegt,
was für uns bequem ist zu denken? Reden in uns unsere Alltagsgedanken, dann zeigt auch die Natur
ein Alltagsgesicht, so wie Menschen im Gespräch uns nur ihr Alltagsgesicht zeigen, wenn sie sich nicht
innerlich, im Wesen von uns angesprochen fühlen. Von der Stunde an, in der wir Selbstverleugnung
üben in unserem Denken und so hinausgehen in die Welt, daß wir vom Denken nur die andächtig
schauende Wachheit der Seele bewahren, zu der wir aufgerufen werden in der Meuschenweihehand-
lung, von dieser Stunde an zeigt uns erst die Natur ihr wahres Gesicht, das Antlitz Christi.
Noch aber bleibt ein zweiter Schleier — und wie dicht ist er oft gewoben — der uns trennen
kann von der Offenbarung der Natur: unsere Stimmungen! Wo die Stimme der Natur, ihres

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Eigenwesens, ertönen soll, müssen menschliche Alltagsstimmungen schweigen. Es ist nicht immer
leicht, sie zum Schweigen zu bringen: die Verärgerung, die Mutlosigkeit, die Verliebtheit, die Aus-
gelassenheit usw. — nicht zuletzt die Gleichgiltigkeit in der Maske der Sachlichkeit. — Wenn im
Innern das Wort lebendig geblieben ist: „Nimm auf dich dein Kreuz!“ dann mag es gelingen, dann,
wenn unser ganzes Fühlen sich zu einen sucht mit Christus, der das Kreuz des Eigenseins geheiligt
hat durch seinen Opfertod, das Kreuz der Ichheit, von dem unsere Leibesgestalt kündet, der Ichheit,
die unserem Leid wie unserer Freude die menschliche Eigenprägung gibt, die sie von den Leiden
und Freuden aller anderen Wesen der Welt unterscheidet. „Nimm dein Kreuz auf dich“ — das
heißt nicht nur „Ertrage dein Leid!“ es heißt: „Lerue dein Menschentum lieben, dein Ichheits-Schick-
sal mit all seiner Einsamkeit, seiner Verantwortlichkeit, aber auch seiner Kraft zur Gemein-
schaft, seiner Schöpfer-Macht. Wir gedenken der Menschenweihehandlung, in der wir — in der
Opferung — bitten darum, daß unseres Wollens Kraft entspringen möge „aus einem Fühlen,
das sich eint mit Christus“, in der wir unser Kreuz, unsere Bestimmung, Ich-Träger, Christus-
Träger zu sein in diesem Sinne auf uns nehmen und dadurch die Kraft bekommen zu rechtem
Wollen, zur Nachfolge Christi. Nicht daß wir äußerlich das Kreuz schlagen, schützt uns vor
den Widersachermächten, die in unseren undurchschauten Stimmungen lauern, sondern daß wir im
Innern mit Treue bewahren und mit immer neuer Liebe pflegen die Aufrichtekraft des Christus-
kreuzes auch im Bereich unserer auf- und abwogenden, wechselnden Gefühle. Liebend seine höchste
Bestimmung wird der Mensch Herr über jegliche Stimmung.
„Verleugne dich selbst im Denken, nimm auf dich im Fühlen dein Kreuz — lerne lieben die von
Christus dir gegebene Ich-Gestalt und Schicksalsaufgabe — dann aber folge Ihm nach — wende dich
liebend der Erde zu, weitergebend an sie, was du selber von Christus empfangen!“ Spricht so die
innere Stimme zu uns im Erleben der „festlosen“ Zeit des Jahres, dann wird diese Zeit wieder wie
einst, — aber in neuer christgemäßer Art zur festreichen, zur Hoch-Zeit des Jahres, dann wissen wir,
daß ein segensvolleres, tieferes Sommer-Erleben uns zugedacht ist als jenes, das sich „nicht bewahren
mag“, das „auf dem Strome“ dahinfahren möchte „von dem Glanze selig blind“. Unser Sommer-
Glück wird nicht ärmer, sondern reicher sein als jenes

„und wir werden uns bewahren


treibt der Wind auch in die Weiten
werden auf dem Strome fahren
selber leuchtend
selig wachend
Licht-umströmt von allen Seiten!“

Rosen
Walter Ebersold

Kannst du in das Blut der Rosen In dem alten Dornenholze


Dich mit ganzer Kraft versenken? Fließt das Blut der reinen Rosen,
Kannst du in dem uferlosen Die in ihrem stillen Stolze
Strom des Rosenduftes denken? Duftend mit den Lüften kosen.

In des Rosenblutes Strahlen


Kämpfe um des Herzens Brände,
Mit dem Duft aus Blütenschalen
Hebe betend deine Hände,

117
Der Mensch als Ebenbild Gottes
Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis im Brief des Paulus an die Kolosser
Karl Garms

Bekannt ist, daß Goethe in einem Gespräch einige Tage vor seinem Tode seine religiöse An-
schauung bedeutsam gekennzeichnet hat. Er sprach von einer zweifachen Offenbarung Gottes. Vor
dem Christus beuge er sich als der „göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit“.
In der Sonne aber bete er „das Licht und die zeugende Kraft Gottes“ an. Goethe bekannte sich da-
durch zu dem Christus als dem Inbegriff alles Guten, auch sieht er die Sonne als Gottesoffenbarung
an, doch wird eine Beziehung zwischen Christus und Sonne als im Goetheschen Weltbilde vorhanden
nicht ausgesprochen. Nur das unmittelbare Nebeneinander der Erwähnung läßt darauf schließen,
daß Goethe den Christus in der Nähe der Sonne gedacht haben mag.
Als Goethe dann weiter auf das Verhältnis des Göttlichen zu Erde und Mensch zu sprechen kommt,
meint er, Gott habe diese „plumpe Welt“ kaum aus einem anderen Grunde erschaffen, als um sich
„auf dieser materiellen Unterlage eine Pflanzschule für eine Welt von Geistern zu gründen“. Es
kann nicht bezweifelt werden, daß hier eine Pflanzschule von Geistern im Sinne des göttlichen
Wesens selbst gemeint ist. Denn um die Gottesebenbildlichkeit des Menschen ist es Goethe zu tun.
Ihr haben seine tieferen Dichtungen, besonders der Faust, ihr hat auch sein Leben gegolten. Ein
Mephisto kann im Menschen nur den „kleinen Gott der Welt‘ erblicken, der einer Zikade gleicht,
„die immer fliegt und fliegend springt und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt“. Aber die Macht
der Finsternis wird ja im Faust überwunden: „Gerettet ist das edle Glied der Geisterwelt vom Bösen.“
Die Doppelheit des Menschenwesens als Teil der Erdenwelt und als Teil des Übersinnlichen ist
zu allen Zeiten ein Gegenstand menschlichen Erkenntnisstrebens gewesen. Ihm wandten vor allem
die Mysterien sich zu und wußten viel darüber auszusagen.
Im göttlichen Wesen, mit ihm zur Einheit verschmolzen, lebte ursprünglich der Mensch. Später
erst lösten ihn die Mächte des Abfalls aus der Ureinheit heraus und gaben ihm ihr eigenes Wesen
ein. Als schmerzhaft und böse wurde die Trennung vom Licht empfunden. Aber man wußte, sie
war notwendig, um dem Menschen etwas zu geben, ohne welches das ferne Ziel der Gottesebenbild-
lichkeit nicht zu erreichen ist: die Selbständigkeit. Denn Gott selbst ist frei seinem ganzen Wesen
nach. Diese Selbständigkeit ist nur durch Abstand vom Urstand zu erreichen und macht den Menschen
zunächst nur zum „kleinen Gott der Welt“ und niederem Abbild künftizer Gestaltung.
Bevor die Menschheit den Abstieg zum Selbständigwerden begann, sammelte sie noch einmal einer
der größten Menschheitsführer, um ihr aus eigenem geistigem Erkerzen. wie von einem licht-
beschienenen Gipfel aus, den Wanderweg in großer Überschau zu zeirer. Sein Name war Zarathustra.
Doch ist anzunehmen, daß es nicht der historisch bekannte Zaratkustrz war, der um 500 v. Chr.
lebte, sondern ein Ur-Zarathustra, der als Begründer zarathustrischer Geistesrichtung noch vor
5000 v.Chr. vorangegangen und der Inspirator der iranisch-persFs=ı Anltur gewesen ist. Diese ur-
persische Epoche unterschied sich von der vorhergehenden uriz!ischen vor allem dadurch, daß sie
nicht, wie jene, den Blick rückwärts zum entschwundenen PırrzZ’sse gleiten ließ, sondern daß sie
ihn unerschrocken auf die Erdentiefen richtete. Denn d’zs= warez es, welche die Menschheit zu
durchwandern hatte.
Zaraihustra griff, um den Weg durch die Finsternis Z7-"Zera* möglich zu machen, im erkennenden
Schauen hinauf in das geistige Sonnensein, wo der Mouse Urbild in Reinheit lebte. Dies war
der Sonnengeist der Weisheit selbst, der InbegriX rer Tneez£ der Träger des Weltenfeuers und des
Weltenwortes. Als Urbild der Menschheit war er rer das Ebenbild der göttlichen Welten. Eine
später niedergeschriebene Legende spricht im Biie rs was Zarathustra tat: er stieg nach seiner
Geburt zum Himmel auf und holte dort da: zei: Fewer und das Wort des Lebens. Mit ihnen fuhr
er zur Hölle ab. Die Hölle aber war die Eri« ber nm ör- die Macht des Finstern den Menschen in
ihr Netz zu ziehen suchte.
Was Goethe später nicht mehr finds kıamme äe Wesenseinheit des höchsten Prinzips der Sitt-

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lichkeit mit dem Sonnengeist als Licht und zeugender Kraft Gottes, das lag dem Schauen Zarathustras
offen. Die Iranier erlebten noch in den Gestirnen deren geistige Herrschermächte, die Sphärenwesen,
für welche die Sternwelt der äußere Ausdruck ist. All ihre Götterweisheit aufzunehmen war nötig,
damit die Menschheit den Weg im Dunkel gehen konnte.
Aus diesen Weisheitsströmen erkannte Zarathustra, daß in ferner Zukunft das Sonnenwesen zur
Erde niedersteigen werde, wenn das Selbst des Menschen in Gefahr sein würde, der Finsternis an-
heimzufallen. Wegweisend für alle späteren Mysterienkulturen, wie diese sich auch mannigfach ge-
stalteten, ist wohl der Strahl der Gotteserkenntnis Zarathustras gewesen. Immer waren es die Sphären-
geister, zu denen als der Menschheit Ursprungsgeistern sich der Blick erhob. Aber nun wurde durch
den Weg in die Erdenniederung das Selbst des Menschen immer mebr ausgebildet. Wollte der Mensch
wissen, wer er war, so mußte er auch in dies eigene Selbst hineinschauen. In ihm war das Wider-
spiel von Licht und Finsterem, aus dem aber in den letzten vorchristlichen Zeiten das Lichte mehr
und mehr verschwand. Gerade das erstarkende Denken, wie es die griechische Philosophie lehrte,
diente der Verdichtung des Menschenselbstes, ließ dadurch aber gleichzeitig das wirkende Sein zum
bloßen Schein erstarren. Wie Versinkende griffen die Mysterienweisen hinauf in die Sphären, um das
Menschenurbild ihrem Erkenntnisstreben zu retten. Davon zeugt noch die Inschrift am delphischen
Apollotempel: Erkenne dich selbst. Dieser Leitspruch aus Mysterien zeigt, daß der Mensch zur
wahren Selbsterkenntnis die Götter nötig hatte.
Als dann der Blick zu diesen Göttern sich allmählich vexschloß und im Innern des menschlichen
Erdenselbstes kaum Anderes als Dämonisches sich vorfand, kam der Inbegriff des Guten, der Sonnen-
geist, zur Erde nieder, um Leib und Seele eines Menschen zu durchdringen. Das Menschenurbild,
zugleich Ebenbild der göttlichen Welten, stieg herab und ließ auf Golgatha das heilige Feuer und
das Wort des Lebens in die Erde strömen.
Dadurch ist der Mensch erst wahrhaft Glied einer Päanzschule für eine Welt von Geistern ge-
worden. Denn durch das herangebildete Erdenselbst hat für jeden die Aufgabe begonnen, individuell,
aus sich heraus, den Aufstieg zu beginnen. Der Wegbeginn ist noch von Dunkelheit umflossen. Die
Einschau in sich selbst zeigt nur den Menschen, wie er ist, zeigt nichts vom Ziel der Gottesebenbild-
lichkeit. Sucht der Mensch dieses Ziel denkend zu erfassen, so bleibt er zunächst bei den Erkenntnis-
mitteln, die selber im Finstern liegen. Er denkt begrifflich an sein „höheres Ich“, stellt abstrakt sein
„wahres Selbst“ sich vor. Rudolf Steiner hat einmal das Einziehn des Menschen aus der vorgeburtlichen
Welt göttlichen Seins in das Irdische dem Eingehn in eine dunkle Röhre verglichen. Nur ein Abbild und
nicht das wahre Wesen wird durchgelassen. In verdunkeltem Bewußtsein muß der Mensch sein Erden-
leben zubringen. Sagt er mit Cartesius: cogito, ergo sum — ich denke, also bin ich — —, so hat dies
nur bedingte Geltung. Denn wahr ist es nur im Hinblick auf das Erdeuselbst, dem jenes Denken entspringt.
Paulus, der die griechische Gedankenwelt kannte und sie auch überall anwendete, wußte, daß
die Kolosser stark von ihr berührt waren. Er spricht in dem Briefe an sie von ihrer feindlichen Ge-
dankenbildung, durch die sie gottentfremdet wurden und warnt sie davor, sich „durch Philosophie
und leere Täuschung, wie sie bei den Menschen gang und gäbe ist“, irreführen zu lassen (2, 8). Und
trotzdem spricht er sie in ihrer höheren Erkenntnisfähigkeit an. Kolossä war eine Stätte hoher
Geistigkeit. Der Brief des Paulus zeigt, daß dort die Überlieferungen aus Zarathustras Mysterien
besonders lebendig gewesen sein müssen. Der Christus wird mehrfach „‚das Ebenbild Gottes“ genannt.
Die Lehre von den göttlichen Sphärengeistern als seinen Dienern leuchtet stärker als anderswo auf.
Charakteristisch ist, daß ein Sprachforscher im Dienste der Schriften des Neuen Testamentes wie
Reitzenstein die Beziehungen des Kolosserbriefes zu den iranischen Mysterien erkennt und ausführ-
lich darstellt*. In Kolossä selbst deuteten Götterbilder in gewaltiger Gestaltung, von denen die
Stadt ihren Namen hat, darauf hin, daß dem Sonnenurbild der Menschheit und seinen hierarchischen
Dienern der Dienst geweiht gewesen sein muß.
Gerade für den Gegenwartsmenschen, dessen Gedauken weit mehr als es im Griechentum der

* Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen, 1927, 8.256 #£. Auch Reitzenstein, Das iranische
Erlösungsmysterium, S. 161, 2.

119
Fall war, zu Schattenwesen geworden sind, kann das, was Paulus den Kolossern schreibt, von größter
Bedeutung sein. Denn hier weist Paulus auf eine zweifache Art den Weg, der geeignet ist, auch ein
kraftlos leeres Gedankenleben, das nur diese „plumpe Welt“ als vorhanden anerkennt, neu an-
zufachen und mit Wahrheit zu erfüllen.
Er geht von demjenigen „Evangelium“ aus, das sein Helfer Epaphras den Kolossern gebracht hatte.
Dies ist die Geistesbotschaft, die vor Damaskus und später immer wieder neu unmittelbar an Paulus
ergangen ist. Es ist die Botschaft von dem Christuswesen als Menschenurbild und Ebenbild der gött-
lichen Welten. Besonders herausgestaltet ist aber die Aufschau zu den Sphärengeistern, die diesem
Urbild dienen. Wer, unbefangen vom überkommenen Denken, demjenigen Licht sich erschließt,
das von der Sonne und den Gestirnen niederströmt, und wer zu den kosmischen Gesetzen denkend
sich erhebt, kann den Weg über das Sichtbare hinaus ins Unsichtbare finden. Zarathustrische Lehre
und Lehre des Paulus können sich ihm auftun.
Nun geht es aber dem Paulus im Kolosserbrief nicht um eine Theorie der Erkenntnis. Dieleben-
digen Wirkungen des Erkennens will er zeigen. Diese Wirkungen üben eine befruchtende
Wandlungskraft auf das Erkannte und auf den Erkennenden aus. Das Letzte kann jeder an sich
selber sehen. Daß auch das Erkannte durch Erkenntnis befruchtet wird, ergibt sich daraus, daß jemand,
der einen anderen seinem wahren Wesen nach erkennt, zu diesem hin eine Brücke schlägt und
wirkliche Beziehung schafft. Solch befruchtende Wesenserkenntnis vom einen zum anderen kann
für die Menschheit von größter Bedeutung werden. Um wieviel mehr aber wollen die göttlichen
Welten vom Menschen erkannt sein. Darum fragt der Christus auch die Jünger, was sie meinen,
wer er sei (Matth.16, 16). Im wahren Erkennen liegt Schöpferisches. Das zeigt noch die griechische
Sprache mit gignoskein (erkennen) und gignesthai (entstehen), mit gnosis (Erkenntnis) und genesis
(Schöpfung). Auch das lateinische Wort Genius — der aus höherem Erkennen schöpferische Geist —
enthüllt die Beziehung zwischen Erkennen und Erschaffen.
In solch schöpferischer Befruchtung lebt auch der eigentliche Sinn einer wahren Selbsterkennt-
nis. Da vergrübelt der Mensch sich nicht in sich selbst. Er richtet den Blick von sich fort nach dem
Geistigen, was — außerhalb von ihm selbst — sein wahres höheres Wesen ausmacht. Indem
er dies erkennt, befruchtet er sich in seinem niederen Erdenselbst mit seinem höheren wahren Selbst.
Nur durch solchen Erkenntnisvorgang vermag der Mensch das Lichtvolle seines höheren Wesens in
die Finsternis des Erdenselbstes hereinzuholen. Wer immer wieder das geistige Bild des Christus-
wesens anschauend erlebt, wer aufblickt zu den Sphärenhöhen, „erkennt“ sich selbst. Das Menschen-
urbild und das Ebenbild der göttlichen Welten mit allem, was in ihm sich birgt, kann er dem
eigenen Selbst verwandelnd eingestalten.
Paulus mutet den Kolossern mehr zu als diese befruchtende Erkenntnis (gnosis). Zur epignosis
sollen sie aufsteigen lernen. Damit ist eine nachschaffende Erkenntnis gemeint, durch die das schon
Erkannte durch eigene, individuelle Urteilskraft lebendig eingeordnet werden kann. Geht es dabei
um Selbsterkenntnis, so kann dies nur bedeuten, sich selbst zu allem anderen in Beziehung zu setzen
und organisch dem Weltganzen einzugliedern. Dies wird ein Zukunftsziel der Menschheit sein.
Gleich zu Anfang hebt Paulus das zweifach Schöpferische des Erkenntnisvorganges heraus: „Für
den ganzen Kosmos und für euch selbst bringt es Frucht und Mehrung, seit ihr das göttliche Gnaden-
wirken vernahmet und dafür erkennend Urteilskraft erwarbet“ (1, 16). Aber Paulus will die Kolosser,
damit sie nicht stehen bleiben oder abirren, auch noch erfüllt sehen vom Erkennen des durch die
Zeiten strömenden göttlichen Willens „durch die in diesem waltende Weisheit und wesensverbindende
Einsicht“ (1, 19). Anders als im Menschen, sind in den Götterwelten Wille und Weisheit untrennbar
miteinander verbunden, wozu noch eine Einsicht (synesis) tritt, wie nur der Schöpfer vom Ge-
schaffenen sie haben kann. Jetzt wird beides zum Ziel menschlichen Erkenntnisstrebens. Der Erkennt-
nisvorgang wird vergöttlicht und vergöttlicht den Erkennenden selber. Das Willensleben wird „durch-
kraftet von den Weltenkräften“. Diese lassen den Menschen das Göttliche zur Offenbarung bringen
(1, 11). Es beginnt Gottesebenbildlichkeit sich im Tun zu verwirklichen. Der Mensch gewinnt seinem
ganzen Wesen nach Anteil am Lichte und wird der Finsternis entrissen (1, 13).

120
Wenn hier, wo es um höchste Erkenninis geht, der Christus — das einzige Mal im ganzen Neuen
Testament — „der Sohn der Liebe“ genannt wird, so werden wir an Lionardos Wort erinnert: Die
Liebe ist die Tochter der großen Erkenntnis. Ein auf paulinischer Grundlage beginnender Erkennt-
nisweg wird imstande sein, die Kälte moderner oberfächenhafter Weltbetrachtung in diejenige innere
Wärmekraft zu wandeln, die wahrer Geisterkenntnis innewohnt. Durch die Sobneskraft der Liebe
kann Mysterienerkenntnis zur Lebensquelle werden. Ihr Ziel ist, mit Paulus gesprochen „der Christus
in euch“, ist, daß „jeder Mensch seine Weihevollendung im Christuswesen findet“ (1, 28 und 29).
In die unermeßlichen Tiefen dieser Tatsachen läßt Paulus uns blitzartig einen Blick tun, indem er
sagt: „Aller Reichtum höherer Einsicht, die in der Götterfülle ihr Wesen hat, dient dazu, das
Mysterium der göttlichen Welten, welches der Christus ist, erkennend zu durchdringen“
(2, 2 und 3). Welches der Christus ist! Damit wird ausgesprochen, daß der Christus die voll-
inhaltliche Vereinigung aller göttlichen Mysterien nicht nur in sich trägt, sondern daß sie in ihm per-
sonifiziert sind. Sie sind zum innersten Bestandteil seines eigenen Wesens geworden. All ihre Viel-
falt und Mannigfaltigkeit findet sich im Wesen des Einen. Von hier gewinnt unendliche Bedeutung
das vom Christus am Schluß des hohepriesterlichen Gebetes gesprochene: „Heiliger Vatergrund, die
Welt hat Dich nicht erkannt, Ich aber habe Dich erkannt“ (Joh.17, 25). Keiner in der Vorzeit, auch
Zarathustra nicht, wußte um die wirklichen Tiefen des Christusmysteriums. Darum sagt Paulus von
diesem Mysterium, daß es allen Zeiten und Geschlechtern verborgen gewesen sei (2, 26). Der Ver-
kündung, daß der Christus das Mysterium aller göttlichen Welten selbst ist, fügt Paulus hinzu:
„In ihm sind alle Schätze der Weisheit und der höheren Erkenntnis verborgen“ (2, 3). Hier wird
unter Weisheit (sophia) mehr die im äußeren Kosmos wie versiegelt verborgene Weisheit zu ver-
stehen sein, während die höhere Erkenntnis (gnosis), darüber hinausgehend, die Offenbarung aller
übersinnlichen Reiche vermittelt.
Von den Sphärenwesen der Hierarchien, soweit Paulus sie erwähnt, interessieren besonders die
Urbeginne (archai) und die Vollmachtgeister (exusiai). Sie werden dreimal genannt. Denn sie waren
es, die nach esoterischer Anschauung das Selbständigwerden und die schöpferische Eigenkraft im Ich
des Menschen vorgebildet haben, deren Werk aber beim Erdenabstieg zum irdisch Dunklen sich
gewendet hat. Diese Folgen, die den ursprünglichen Taten jener Sphärengeister nicht innewohnten,
hat der Christus zum Guten gewendet: „Der Christus hat die dunklen Folgen des Wirkens der Ur-
beginne und der Vollmachtsgeister ausgeschaltet und deren reine Ursprungskraft zur Anschauung ge-
bracht, da er als Triumphator sie seinem Wesen einbezog“ (2, 15).
Erst nachdem Paulus die Kolosser das Christusmysterium erkennend hat erleben lassen, erst
nachdem er sie den Weg der wahren Selbsterkenntnis außer ihrer selbst geführt hat, wendet er sich
nun auch dem niederen Erdenselbste seiner Schüler zu. Aus der Kraft des Christus unddurch sie be-
schützt, kann der Mensch sich erkennend auch den Wesen seines eigenen Abgrunds nähern. Dort
ist der „alte“, der abgelebte Mensch, der ausgezogen werden muß mit allem seinem Willenswirken.
„Anzuziehen ist der neue Mensch, der, erst erstanden, binaufwächst in umfassende Geisterkenntnis.
Sie kat ihr Ziel im Ebenbilde der Schöpferwelten“ (4, 10). Diesem Ebenbilde entstammen die
von Paulus dann im einzelnen genannten Seelenkräfte. Wer im täglichen Leben sich mit diesen „um-
kleidet“, zieht auch seinem Erdenleibe, der ja der Willensträger ist, ein göttliches Gewand an.
Wahre Selbsterkenntnis fordert viel vom Menschen. Nie wird sie ihr Ende finden. Wesenhaft wird
sie auch erst dann, wenn das Erkennen sich im Schauen vollzieht. Doch im Kleinen und in der
Dunkelheit liegt zunächst der Wegbegiun zur Pflanzschule, von der Goethe gesprochen hat.
Die Stadt Kolossä wurde während der Regierung des Cäsars Nero durch ein Erdbeben verschüttet.
Nimmt man an, daß Paulus seinen Brief dorthin zu Anfang der sechziger Jahre n. Chr. geschrieben
hat, so kann die Stätte, der er gegolten, höchstens noch acht Jahre bestanden haben, da Nero 68 starh.
Mit Kolossä sind die steinernen Bilder der Götter versunken, an deren Stelle die Cäsaren das
niedere Menschenselbst zum Gotte machen wollten. Dadurch wurden sie selbst Werkzeuge der Macht
des Finstern. Der Christus aber wartet darauf, als das Mysterium aller göttlichen Welten und als
das Menschenurbild erkannt zu werden.

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Spruch
Dorothea Letzsch
Soll ein Feuer glühen, Soll ein Eisen sprühen,
Schür es — Schlag es —
Doch verschütt es nicht! Doch zerbrich es nicht!

Will ein Herz Dir blühen,


Trag es —
Doc gib acht —
Und verlier es nicht — —

Unsterblichkeit und — Ungeborenheit


Kurt von Wistinghausen

Während im Rahmen des kirchlichen Christentums oder des religiösen Lebens der Zivilisations-
länder überhaupt der Glaube an ein vorgeburtliches geistiges Sein des Menschen keinen Raum hat,
finden wir in Dichtungen immer wieder einmal, verwoben mit dem Unsterblichkeitsglauben, eine
Ahnung oder Gewißheit davon. Ein schönes Beispiel aus dem finnischen Volk sei hier wieder-
gegeben, aus dem Bauernroman des Finnen Aleksis Kivi „Die sieben Brüder“ (deutsch bei Heinrich
Minden, Dresden und Leipzig). Er spielt in den weiten abgelegenen Wäldern Finnlands etwa in
der Mitte des vorigen Jahrhunderts unter urwüchsigen Menschen, die ganz aus den Kräften unbe-
rührter Natur leben, dabei aber Christen sind.
„Auf der Bank saß die junge Hausfrau und plauderte mit ihrem Kinde, das wie ein schimmernder
Morgen aus ihrem Schoß zu ihr aufblickte. Sag mir, Kleiner, so plaudert sie zwischen Singen und
Sprechen, sag mir, Kleiner, wie du den Weg nach unserm Hause fandest? — Auf dem Weg von
Äbo kam ich, die Viehsteige von Tavastland tappte ich entlang. — Aber woran erkanntest du dein
Elternhaus, du Kleiner? — An dem grauen Hund unterm Tor, ich erkannte es an dem goldnen
Brunnen auf dem Hof, und ich sah auch die Pferde der Pfarrer in der Heuscheune, und im Stroh-
schober eine Biertonne. — Woran erkanntest du dein trautes Mütterchen, woran deinen Vater? —
Die Mutter schöpfte Bierwürze bei der leuchtenden Flamme, sie schöpfte und sang, sang mit heller
Stimme, um den Hals ein Linnentuch, ein Linnen wie Schnee und Regenbogen. Und woran erkannte
ich meinen Vater? Er schnitzte einen Axtstiel, schnitzte beim goldnen Fensterlein. — So fandest du
den Weg, so erkanntest du in der Stube Mutter und Vater. Aber wo mag dein Vater jetzt sein, wo,
und wird er an uns denken? .... Er denkt wohl an uns, und wenn er nicht an dich denkt, so vergesse
ich dich doch nicht, nie im Leben, nie im Tode, dich, du meiner Seele Morgenglanz und Abenddämme-
rung, du meine holde Freude und Sorge. Warum meine Sorge, du? Ach! diese Welt ist falsch und
stürmisch, und mancher Segler versank in dem ewigen Schoß ihrer Meere. Sag wir, mein Kind, mein
Märzblümchen, sag: möchtest du nicht fort zum ewigen Friedenshafen segeln, solange noch der
weiße Wimpel deiner Kindheit in reinem Glanze weht? Am Strande des nächtlichen, stillen Sees
steht der Hingeschiedenen dunkler Hof; dort im Schoß des dämmernden Laubes, im betauten Haine
steht für das Kind die Wiege bereit und weiße Linnen und Decken. Darum höre mein Lied; es
geleitet dich in das Land des Fürsten von Tuonela“ (des Todes)...
„Dunkler Hain in Tuonis Lande, Holde Lust wirst du da haben,
fein steht da ein Bett im Sande, gehst mit Tuonis Hirtenknaben
dorthin geleit ich mein KRindlein. auf den dämmrigen Feldern.
Holde Lust winkt da dem Kinde,
abends lullt im Arm gelinde
ein dich Tuonelas Tochter . . .“
mütterlichen Gedankengang einen Anklang an die
Man spürt zwar in diesen Versen und in dem
it. Aber kann eine echte Mutter überhaupt
dem Osten eigentümliche Seelenhaltung der Erdabgewandthe
lichte Welt der ungeborenen Seelen ist?
so sinnen, wenn ihr nicht die Todeswelt gleichzeitig die

George Washington Carver


Ein Licht in dunkler Zeit

Powell Spring (Amerika)

der Hand, bewegte sich schlürfenden


„Ein greiser gebeugter Neger, mit einem Strauß Feldblumen in
Tuscagee-Institut hinaufführt. Seine magere Gestalt,
Ganges die staubige Landstraße entlang, die zum
n Mütze hervorquoll, erschien mir
vom Alter gekrümmt, mit weißem Haar, das unter einer schäbige
tuts betrat. Armer Kerl, dachte ich.
merkwürdig deplaziert als sie die Anlagen des Forschungs-Insti be-
— ohne Bildung, des Lesens und Schreibens unkundig,
Hunderte dergleichen gibt es allerdings
en des Südens.
gegnet man ihnen zu allen J ahreszeiten auf allen Landweg
Sekretärin dem alten Neger ent-
Am Hauptportal des Instituts lief plötzlich die junge adrette
da. Sie werden erwartet, Dr. Carver.“
gegen und rief ihm zu: Die Delegation aus Washington ist schon
ichsten Forschergeistes der Neuen Welt,
Mit diesen Worten beginnt die Biographie des erstaunl |
Digest“ erschien. Eine kurze Wiedergabe des
welche J. S. Childers verfaßt hat und die in der „Readers
am Platze sein: |
in diesem Jahr erschienenen Textes mag hier
gekleidete Neger war der berühmte
Wenn es auch phantastisch klingen mag, dieser mehr als schlicht
gen ihm den Namen eines Hexenmeisters
Forscher des Tuscagee-Institutes, Dr. Carver, dessen Erfindun
wurde, glaubt aber etwa siebzig Jahre
eingebracht haben. Er weiß nicht einmal, wann er geboren
, wertvolle Produkte aus nichts oder so
alt zu sein. Sein Leben lang hat er Freude daran gefunden
hat er vollbracht.
gut wie nichts erstehen zu lassen. Wissenschaftliche Mirakel
nützliche Produkt e geschaffe n, darunter völlig unerwartete wie:
Aus der Erdnuß z.B. hat er 300
eine Gurkenart, Öle, Rasiercreme, Farbstoffe, Speck, Linoleum,
Käse, Bonbons, Ersatz-Kaffee,
Grütze, Seife, Gesichts puder, Haarwasser, Druckerschwärze und sogar Wagenschmiere. Pro-
Mehl,
Landstriche gerettet. Ganz neue Industrien
saisch? Gewiß. Er hat damit jedoch die Existenz ganzer
schen Marmor. Aus Sumpfablagerungen und
hat er geschaffen. Aus Holzspänen entwickelte er syntheti
Laubblättern Düngemittel. Klebstoff,
e hervorgezaubert, darunter Stärke,
Aus der süßen Kartoffel hat er mehr als 100 Produkt
usw. Die Experten sind sich darin einig, daß
Essig, Schuhcreme, Tinte, weitere Farbstoffe, Molasses zu
geleistet hat, die Landwirtschaft, besonders in den Südstaaten
er mehr als irgendein Lebender
der materielle Gewinn niemals Selbstzweck war.
retten. Er konnte das, weil ihm
Seine Bilder sind auf Weltausstel-
Dazu ist Dr. Carver auch Künstler, besonders in der Malerei.
nach der Luxembo urg-Gallerie in Paris. Auch
lungen gezeigt worden und eines ist gerade unterwegs
Lehm, der in Alabama häufig vorkommt.
hier stellt er seine eigenen Farben her, meist aus einem
ahmen aus Mais-Abf ällen. Auch hat er
Sein Papier besteht aus Erduußschalen und seine Bilderr
gewoben, aus Abfällen der Baumwollernte. Be-
schöne Teppiche aus selbst erfundenen Fasern
Talent. Vor Jahren hat er im Mittelwe sten als Klavier-
sonders erwähnenswert ist sein musikalisches
Virtuose eine Tournee gemacht.
es lernt, mit den gewöhnlichen Dingen
Seinen Studenten am Institut pflegt er zu sagen: „Wenn ihr
ihr die Welt aufhorchen machen.“ Hier
des Lebens in ehrfurchtsvoller Weise umzugehen, werdet
liegt auch das Geheimnis seiner Taten verborgen.
einer Sklavenhütte auf der Farm des Moses
Sein Lebensgang war einzigartig. Geboren wurde er in
sechs Monate alt war, wurde er mit seiner
Carver in der Nähe von Diamand Grove, Mo. Als er etwa
vernachlässigt und war nahe am Tode, als
Mutter von Abenteurern fortgeschleppt. Das Kind wurde
zurückzukaufen. Leider war die Mutter
Moses Carver Boten aussandte, um die gestohlenen Sklaven
123
schon weiterverkauft und niemand weiß, was aus ihr wurde. Der Knabe kostete Herrn Carver ein
ausgedientes Rennpferd. .
Er wuchs nun auf der Farm auf und bekam den Namen George Washington. Zart und unnormal,
klein von Statur wurde er im Hause beschäftigt und lernte gut kochen und schneidern. Für seine
Erziehung gab es kein Geld und so suchte er eine acht Meilen entfernte Schule auf. Ganz allein unter
Fremden mußte er in einem Stall Wohnung nehmen, hatte aber bald durch Arbeit genug Geld ver-
dient, daß er die Schule besuchen konnte.
Mit etwa 20 Jahren hatte er die Schule absolviert und meldete sich schriftlich an einem College in
Iowa an und wurde (auch schriftlich) aufgenommen. Als er ankam, wurde die Aufnahme rückgängig
gemacht, weil er Neger und Sohn farbiger Sklaven war. Er ließ sich nicht entmutigen und ging auf
die Suche nach Arbeit, konnte auch bald eine kleine Wäscherei begründen.
Im darauffolgenden Jahre wurde er im Simpson college, Indianapolis, aufgenommen. Als er seine
Matrikulationsgebühr bezahlt hatte, hatte er genau zehn Cents übrig und mußte sich eine Woche
lang von Maismehl nähren. Drei Jahre arbeitete er neben dem Studium um seinen leiblichen Unter-
halt. Im Jahre 1890 ging er zum Iowa State College über und bekam vier Jahre später das landwirt-
schaftliche Diplom ohne auch nur einen Cent von außen her zu erhalten. So stark war man dort von
seiner Leistung beeindruckt, daß er sogleich eine Dozentenstelle an dieser Hochschule ein-
nehmen konnte.
Kurz darauf wurde er von Booker T. Washington nach Tuscagee berufen, und Carver nahm an,
sah er doch reiche Möglichkeiten, seiner Rasse zu dienen. Er hatte insbesondere mit Schmerzen beob-
achten müssen, daß allenthalben die Baumwollfelder durch falsche Bewirtschaftung zugrunde gingen.
Er sah die Farmer, von Schulden überwältigt, verarmen. Zuerst setzte er sich die Aufgabe, für eine
Bepflanzung mit neuen Produkten zu sorgen und verfiel auf Erdnüsse und süße Kartoffeln. Nach-
dem er durch Aufrufe und Bulletins viele dazu gebracht hatte ihre Felder mit diesen Produkten zu
bebauen, zeigte es sich, daß er nicht zugleich für die Nachfrage gesorgt hatte. Die Ernten verfaulten
und die Farmer gerieten in noch tiefere Armut. Mit Feuereifer ging er nun ans Werk, Absatzmöglich-
keiten zu finden. Tag und Nacht sah man ihn in seinem Laboratorium tätig. Sobald eine Erfindung
perfekt war, schenkte er sie ohne Patentforderung der Menschheit zur freien Verfügung.
Immer wieder wurde er aufgefordert, an größeren Unternehmungen teilzunehmen. Zwei Licht-
bilder mit Widmungen von Thomas Edison hängen in seinem Arbeitsraum. Das eine, so erklärt er
allen, schickte mir Mr. Edison, als er mich einlud, in seinem Laboratorium mitzuarbeiten, das größere,
als ich ihm erklärte, mein Schicksal habe mich in den Süden gestellt und daß ich es vor Gott nicht
verantworten könne, nach dem Norden zu ziehen. Ein anderes Mal schlug er aus gleichem Grunde ein
Angebot von hunderttausend Dollars aus. In Tuscagee verringerte sich zur genannten Stunde sein
schmales Einkommen in erschreckendem Tempo, weil er, anonym bleibend, die Unkosten weißer
und schwarzer Studenten beglich, damit sie ihren Studien weiterhin obliegen konnten. Noch heute
sieht man ihn nur in seinem schwarzen Alpakajackett und schwarzen Beinkleidern, die oft starke Auf-
besserungsspuren aufweisen nebst einer der Krawatten, die er aus eigenen Stoffen selbst webt. Für
sich selbst begehrt er nichts.
Unter seinen ersten Aufgaben in Tuscagee war die, daß er eigenhändig 19 Morgen Land des schlech-
testen Bodens in Alabama in Kultivierung nahm. Mit den besten landwirtschaftlichen Methoden hatte
man pro Morgen einen Verlust von mehr als sechzehn Dollars verzeichnet. Im ersten Jahre ergab sich
nun für Dr.Carver ein Profit von vier Dollar pro Morgen. Später erreichte er zwei Ernten süßer
Kartoffeln in einem Jahre mit einem Reingewiun von 78 Dollar pro Morgen. Mit diesen Experimenten
bewies er, daß eine unabsehbare Menge geeigneter Düngemittel, die der Boden braucht, normaler-
weise verlorengehen. Er machte gewisse Sumpfprodukte und Laubblätter in geschickter Weise nutzbar.
Als die Hawley-Smoot-Gesetzesvorlage zur Debatte kam, baten die südlichen Farmer umsonst um
einen Zoll auf Erdnüsse. Ein Dutzend Experten wurden schließlich geladen, und jeder durfte zehn
Almuten sprechen. Im Hintergrunde sah man Dr.Carver, der als letzter an die Reihe kam, mit
zitternden Händen warten. Als er ans Rednerpult trat, waren die Herren Abgeordneten von der Erd-
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nuß zum Erbrechen satt. Sachlich und bescheiden erzählte nun Dr. Carver, wie er Gott befragt habe:
„Was ist eine Erdnuß und warum hast du sie geschaffen?“ und zeigte an Hand seiner Erfindungen,
wie ihm eine Antwort nach der anderen zuteil geworden sei. Nach zehn Minuten dankte er dem Aus-
schuß, verneigte sich und zog sich zurück. Aber man ließ ihn nicht los. Er mußte eine Stunde und
45 Minuten weiterreden, und der Zweck seines Kommens war erfüllt.
Geld hat für ihn keine Bedeutung. Eine Gruppe reicher Plantagenbesitzer kämpfte einmal um-
sonst gegen eine Erdnußseuche. Sie sandten Dr. Garver einige erkrankte Pflanzen und erhielten von
ibm die richtige Diagnose und Therapie. Darauf schickten sie ihm einen Scheck über hundert Dollar
und versprachen ihm eine monatliche Rente, damit er sie weiter berate. Er sandte den Scheck zurück
mit der Weisung, daß Gott nichts dafür verlangte, die Erdnuß wachsen zu lassen, und er für das
Kurieren erst recht nichts annehmen wolle.
Von Mr. Childers befragt, wie er zu so vielen Eingebungen käme, sagte er: „Ich stehe jeden
Morgen um vier Uhr auf, um allein mit der Natur zu sein, die ich innigst liebe.. Dort sammle ich
Pflanzen und versenke mich in die reichen Erkenntnisse, die mir die Natur zu vermitteln bestrebt
ist. Draußen im Walde, wenn alles schläft, bin ich am hell-hörigsten für die Aufgaben, die Gott für
mich im Auge hat.“
In „Who’s Who“, dem Jahrbuch bedeutender Amerikaner, kann man lesen, daß Dr.C. W. Carver heute
„Direktor of the department of agricultural research“ ist, also die höchste Stelle in der landwirt-
schaftlichen Forschung der Vereinigten Staaten inne hat. Es ist gewiß ein hoffnungsvolles Zeichen,
wenn im Lande der Technik ein solcher Geist, der aus religiöser Kraft für Wissenschaft und Menschen-
tum wirksam ist, volle Anerkennung findet.

Nachtwanderung
Rudolf Fuchte

In welkem Laube wühlt mein schwerer Schritt Horch! Süßer Ruf — ein frühes Vögelein!
Nachtwand’rung, rastlos — niemand wandert mit. Schlaftrunken ahnt es ersten Tagesschein. —

Auf leichten Sohlen — Moosgrund, Tannenduft — Der letzte Tritt — ein Fels noch barg das Ziel —
Rings weich und warm erinn’rungsschwüle Luft. Frühwind im Haar — aufatmend steh’ ich still:

Auf glatten Steinen — tastend — gleit’ ich aus — — Schon huscht ein scheues Licht von Osten her
Steilaufwärts weiter! Fern ist Herd und Haus, Schäumt auf an ferner Berge Gipfelmeer —

Die Enge löst sich — freier schweift der Blick — Schon eilt der Tag an ferner Wolken Saum,
In’s Dunkel sinken Wald und Pfad zurück. Streut Rosen in der Erde Morgentraum —

Im Grunde schlingen Nebel feuchte Reih’n — Hat bald mit zartem Ruß die Nacht gegrüßt,
Das Mondlicht schüttet blinkend Silber drein. — Daß sie errötend ihre Augen schließt,

Baumlos der Steig — nur Gras und Heidekraut Und willig ihm das dunkle Antlitz beut, —
Drauf klare Nacht mit Demantaugen schaut. Der
— Glut auf Glut— den Flammengruß erneut.

An jähem Sturz — durch schroffer Felsen Tor Hin sinkt sie — überstrahlt; und lichter Schein
Im Schatten fliegt mein leichter Fuß empor. Bricht siegreich über Berg und Tal herein:

Mich schauert — kalt — wie kalt! der Morgen naht! Von tausend gold’ner Speere Glanz umloht
Erklommen bald der Höhe letzter Grat. — — Taucht groß die Sonne aus der Wolken Rot!
*

125
Berggedanken
Wilhelm Salewski

Auf dem Felsenthron des Karwendelgebirges liegt der erdbejahendes Temperament wirkt anfeuernd bis in die
letzte Schein der Abendsonne. Ich schaue vom Kalva- erholungsbedürftigen Knochen.
rienberg, wo die Stationen des Leidens gemalt’ sind,
” *
über das Dorf Mittenwald hinüber zu diesem Abglanz
göttlicher Lichtseligkeit. Von halber Höhe dunkelt das Heute entdeckte ich in der Nähe der anmutigen klei-
Gebirge mit Felsschluchten und Tannengründen ins.Isar- nen Barockkirche mitten im Dorf an einem stattlichen
tal hinab, nach oben hin trägt es noch, wie alle Berge buntbemalten Hause, dem alten Gasthof zur Post, eine
ringsum, sein winterliches Schneegewand. Immer höher Tafel mit folgender Inschrift: „Hier wohnte Wolfgang
greifen die Schatten, immer feierlicher wird die Stille. von Goethe in der Nacht vom 6. zum 7. September 1786
Rings um mich her ist Andacht ergossen; ich trinke sie auf seiner Reise nach Italien.“
mit meinem Atem; mein Auge sieht sie über allen Ich glaubte plötzlich zu merken, daß mir der Genius
Dingen schwebend wie das Lächeln eines Engels. — Wie des Ortes mancherlei würde zuzuraunen haben, und so
anders würden viele Maler unserer Tage malen, kommt ging ich unmittelbar nach Hause und schlug Goethes
mir in den Sinn, wenn sie diese Ändacht sehen wür- Italienische Reise auf. Längst hatte ich vergessen, daß
den. Ich denke an Segantinis Hochlandbilder, denen sich unter den ersten Seiten seines Reiseberichtes ein
keine anderen gleichkommen, weil sie in dieses Licht Kapitel mit der Überschrift „Mittenwald“ befindet.
der Andacht getaucht sind. Nannte er doch die Berge Dieser Fund weckte in mir eine Freude, als hätte ich
seine „Hochaltäre“. — einen unmittelbaren Geistesgruß empfangen, und nun
‘ Nun leuchten nur noch die letzten Zinnen des Kar- las ich zu meinem Staunen, daß Goethe gerade auf dem
wendel und verwandeln sich plötzlich in ein Aammen- Wege nach Mittenwald, in der Nähe des Walchensees,
reines Glühen von Gold und Purpur. Zum erstenmal in jenem kleinen Harfnermädchen begegnet ist, das an die
meinem Leben sehe ich das Alpenglühen. Wie anders Gestalt der Mignon in Wilhelm Meisters Lehr- und
ist es doch als in der Phantasie! Das ist kein Wider- Wanderjahren erinnert. Diese Gestalt trug Goethe längst
leuchten, kein bloßer Abglanz der Abendsonne wie sonst in seiner Seele, bevor er diese Begegnung hatte. Die
etwa an Häusern und Fenstern, sondern ein Erglühen bedeutsamsten Mignonlieder „Kennst du das Land ...“
der Firnen und Felsgrate von innen her — eine und „Nur wer die Sehnsucht kennt ...“ sind unmittel-
Transsubstantiation der toten Materie in eine über- bar in den beiden Jahren vorher entstanden. Es voll-
irdische Lichtglorie. Ich versinke in ein Staunen, das zieht sich also hier — entgegen aller sonst üblichen
nicht mehr zu begreifen vermag, wie solch ein Glanz Kunstpraxis — das Bemerkenswerte, daß ein Künstler
noch zu. dieser Erde gehört. Ist es denkbar, daß die seinem äußeren „Vorbild“ oder „Modell“ erst dann be-
Zinnen der goldenen Stadt einst noch herrlicher leuch- gegnet, nachdem die Urgestalt bereits in seinem schöpfe-
ten werden? xischen Geist entstanden ist.
Ich fühle wohl, wie mich eine heimliche Sehnsucht er- Das gleiche gilt aber von Goethes Italienerlebnis über-
greift, dort hinaufzusteigen und nicht mehr wieder- haupt. Bevor er das äußere Italien. sah, in dem er in
zukehren. Wahrheit „das Land der Griechen mit der Seele suchte“,
— — Aber die schattige.Kühle und der blaue Hütten- batte er bereits lange vorher geistig die Alpen
rauch im Tal mabnen zur Heimkehr; in den Häusern überschritten und sich selbst ein inneres Griechen-
tlammen die Lichter auf, und plötzlich ergreift es mich land und Italien erschaffen. Alle folgenden Erlebnisse
wie ein Wunder — genau wie vor langen Jahren, als waren dann ein freudiges Wiedererkennen.
wir am Abend nach einem Schlachttage in ein fried- Als er von Mittenwald aus zur Höhe des Breuner-
liches Dorf einzogen — daß sich der Mensch auf die- passes und damit zur Scheidegrenze einer nördlichen
ser Erde seine Hütte baut, der „zu Tal“ Gestiegene und südlichen Kultur emporfuhr, trug er in sich nicht
aus Sternenhöhen, an die ihn noch die ewigen Firnen nur die Gestalt der Mignon, sondern auch die der Iphi-
gemahnen. genie und gleich einem köstlichen Samenkorn die Idee
Ich suche beim Niederstieg unter den steinbeschwer- der Urpflanze. Daher durfte ihm mit Recht „göttlich“
ten Dächern des Dorfes das Haus meiner liebens- zumute sein; er erfühlte sich als einer, der an einer
würdigen Gastgeber und freu mich plötzlich wieder werdenden Welt mitschafft, und so schreibt er in diesen
„rein menschlich“ auf den appetitlichen und geselligen Tagen in sein Reisetagebuch, daß er für seine „Welt-
Abendbrottisch. Vielleicht, daß auch wieder aus dem erschaffung‘ mancherlei gewonuen habe. Dieses
Munde der beiden kleinen Töchter ein markerschüttern- Wort hat etwas wie Schlüsselgewalt in sich. Es besagt,
der bayrischer Juchzer exschallt, falls die Mutter etwas daß derjenige, der nach Italien, Ägypten, dem Heiligen
besonders Leckeres auf den Tisch stellen sollte. Soviel Lande oder auch nach den Alpen reist, dieses alles nur

3126
TEN

dann wahrhaft sieht, wenn er es sich auf die eine ser des Gießbachs schäumt. Solch ein Blick hat etwas
oder andere Weise geistig als innere Welt erschafft. Wer Erschütterndes, man fühlt, wie er bis in das Gefüge der
vermöchte z.B. Italien wirklich als etwas Seelenver- eigenen Leiblichkeit eingreift. Diese Wirkung kommt
wandtes zu erleben, der niemals zuvor etwas vom gewiß daher, daß man ein Stück in das innere Gefüge
Wesen eines Raffael oder Lionardo in sich lebendig ge- der Erde hineinschaut und ihre lebendig quellenden
macht hätte! Adern erblickt. Es ist eine Szenerie, wie sie Goethe für
Nach diesem „Goetheerlebnis“ schaue ich die Berge seine Faustlandschaft vorgeschwebt haben mag, jene
der Alpen mit neuen Augen an und frage nach ihrem Hochgebirgslandschaft, wo die heiligen Anachoreten vom
Geistesgleichnis. * Pater profundus bis zum Pater marianus die Stufen be-
zeichnen, die den seelischen Läuterungsweg für Fausts
Alle Dinge sind Vermählung,
Unsterbliches darstellen:
dieses Wort will ich euch schenken ...“
„Daß ja das Nichtige
Diese Worte Christian Morgensterns begleiteten mich,
alles verflüchtige,
als ich zum Großen Kranzberg hinaufstieg, um die erx-
glänze der Dauerstern
habene Rundsicht auf die im Halbkreis sich aufbauende
ewiger Liebe Kern.“
Alpenkette zu genießen: Links die Soiernalpen und das
Karwendelgebirge, geradeaus die fernragenden Mie- Zwei Wegstundeu weiter hinauf befinde ich mich im
minger Alpen am Inn, rechts der Wetterstein und das völlig abgeschiedenen tiefverschneiten Hochgebirgstal,
Zugspitzmassiv. Ich lagerte eine Weile in der Früh- die Tannen schrumpfen zusammen und verschwinden
jahrssonne auf einer Alm inmitten von violetter Berg- schließlich ganz — rings um mich türmen sich nur noch
heide, Himmelschlüsselblumen und kleinen blauen schweigsam ragende Gipfel. Auch der Gießbach ver-
Enzianblüten, den „Schusternägeli“. stummt unter Eis und Schnee.
Wie gut, daß es Dichter gibt — ihre Worte helfen Mir ist plötzlich, als käme ich an das Ende der Welt,
uns nicht nur, rechte Gefühle, sondern auch gute Ge- mein Fuß stockt und will nicht mehr weiter. In der
danken zu haben! Während mein Blick hinundher- Einsamkeit, die hier waltet, redet nur noch Gott mit
schweift zwischen den tausend kleinen Blüten und dem sich selbst. Ein ungeheurer Ernst steht plötzlich auf dem
Edelweißglanz der Firnenkette, befinde ich mich un- Antlitz der Firnen geschrieben, trotz der strahlenden
versehens im Zwiegespräch mit einer Himmelschlüssel- Fülle des Lichtes. Ich fühle, wenn ich in das Innere die-
blume, und ich verstehe zum ersten Male ihr Gleichnis: ser Einsamkeit eindringen will, so muß ich über eine
„Himmelschlüssel“ — „Schlüssel zum Himmelreich!“ Ich Schwelle, und diese Schwelle heißt — Tod.
bin nur das Bild dieses Schlüssels, sagt die Blume, den Ich schließe die Augen und gebe mich ganz hin an die
Schlüssel selbst, o Mensch, hast du in dir! Stille, die um mich waltet. Das Gefühl eines inneren
Ein Wort aus dem Evangelium klingt in mir an. Sterbens kommt über mich, immer ferner scheint mir
Sprach nicht auch Christus vom Schlüssel zum Himmel- die Erde und ich mir selbst, aber die Seele weitet sich
reich? Ich denke an sein Wort zu Petrus: „Ich will dir zu den Firnen empor, und nun tritt die Stille in sie ein,
deu Schlüssel des Himmelreichs geben.“ Aber wie lernen geistig groß und: wesenhaft, und an Stelle der Todes-
wix diesen Schlüssel finden und brauchen? Sollte dieses einsamkeit atmet die Seele Frieden und Gottseligkeit.
Geheimnis nicht in dem Worte beschlossen sein: „Selig Während ich heimkehre, schaue ich immer wieder
sind, die da bitten um Geist, denn das Reich der Him- zurück nach dem „Ende der Welt“. Mir ist, als verließe
mel ist ihrer.“ ich ein Stück Heimat und müßte nun in die Fremde
Mit jedem Erkenntnislicht, das in uns aufleuchtet und wandern. *
uns den Sinnenschein durchdringen läßt, wird ein Stück
dieses Himmelreichs unser. Da haben wir den goldenen Meine „Bergzeit“ geht zu Ende. Täglich schaue ich
Schlüssel in der Hand: Plötzlich verwandelt sich für auf die Felswände des Karwendel und des Wetterstein
mich das Bild der Alpenhöhen, sie erscheinen mir wie und frage mich, ob ich den Schlüssel zu ihrem Geheim-
ein einziger gewaltiger Felsendom, der sein eigentliches nis gefunden habe. Manchmal scheint es mir so, aber
Geheimnis noch vor mir verschlossen hält. Das majestä- dann stehen sie wieder stumm und fremd vor mir, und
tische Bild seiner Schönheit ist noch nicht das Letzte; es überkommt mich bedrückende Schwermut:
es gibt noch eine Tür, zu der ich den Schlüssel finden
Stumm und gewaltig stehen die Höhen,
muß.
*
Wissendes Schweigen im steinernen Antlitz.
Darf ich euch nahen, heilige Throne,
Heute bin ich über die Tiroler Grenze gewandert und
Weisheit zu lernen aus euren Runen?
ins obere Isar- und Karwendelbachtai hinaufgestiegen.
Dex Pfad führt mich an den Rand einer steil abstürzen- Wieder einmal bin ich in die Felsschlucht des Damm-
den Felsschlucht, in deren Tiefe das smaragdgrüne Was- kar im Karwendelmassiv hinaufgestiegen und stehe in

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lautloser Stille unter steilragenden Felswänden. Ich lese Opfer möglich ist. Alle Berge aber gemahnen an jenen
in ihren Schründen und Rissen, in die etwas ein- Berg der Schmerzen, auf dem das größte Opfer geschah.
gemeißelt ist, das ich entziffern muß. Und nach und Jetzt verstehe ich die alten, frommen Bergbewohner,
nach verlieren die Felsen ihre Unnahbarkeit, und ich die inmitten der lichten Höhen ihren Kalvarienberg
erkenne in ihnen ein Antlitz, uralt und urweise, aber schmücken und die hier und da in einsamer Felsschlucht
erstarrt in Schmerz. Das sah ich noch nie, aber nun oder Gießbachklamm unter Lebensgefahr ein Kruzifix
weiß ich: Das ist Gottes eigener Weltschmerz, einge- angebracht haben. Sie fühlten es noch: Bergland ist hei-
schrieben ins steinerne Antlitz. Es redet vom Schicksal liges Land und Bergwanderschaft ist ein fortwähren-
der Erdvergangenheit, von Schöpfungsmacht und des Überwinden von Todesgewalten, im äußern wie im
Schöpfungsweh. Auch dieses Stück Welt mit seinen lieb- innern Sinn. . .
lichen Almen, mit dem Lichtglanz der Firnen, ist auf Verstehen wir nun, warum in ihren Liedern ein Jauch-
Schmerz gebaut. zen und eine Freude klingt wie sonst nirgends auf der
Warum — warum? — Weil alle Schöpfung nur durch Erde ? — —

Romano Guardini und Theodor Haecker


Gedanken zur katholischen Literatur

Unter dem Titel „Der Mensch und der liche Menschen und das heißt: Menschen mit einer uns
Glaube“ hat Romano Guardini „Versuche über vielfach fremden Seelenhaltung, mit denen wir da zu
die religiöseExistenz inDostojewski’s tun haben. Das wird uns besonders fühlbar da, wo das
großen Romanen“* veröffentlicht, auf die wir die Positive, die Frömmigkeit der russischen Seele auf ihren
Aufmerksamkeit der Leser dieser Zeitschrift lenken verschiedenen Stufen dargestellt wird. Von eigentlich
möchten. Es handelt sich bei dieser Arbeit Guardinis noch größerem und allgemeinerem Interesse für uns ist
nicht um gewöhnliche literarkritische Studien, die, so die Analyse der religiösen Negation, der Empörung, der
interessant sie an sich sein könnten, außerhalb des Gottlosigkeit. Denn hier ist es nun weniger die Eigen-
Interessenkreises einer religiösen Zeitschrift liegen wür- art der östlichen Seelenhaltung, die einem begegnet, als
den, sondern um tiefgehende Analysen des religiösen der Einbruch der neuzeitlichen Entwicklung in diese und
Lebens der Dostojewski’schen Persönlichkeiten und im die Probleme, die sich daraus ergeben, und die im
Zusammenhang damit des religiösen Lebens überhaupt. Grunde dieselben sind wie bei uns. Dazu seien mir ein
Nicht jeder ist ein Freund der Erzählungen Dostojew- paar Anmerkungen gestattet.
ski’s, so meisterhaft sie in ihrer Art sind, weil man es Unter dem Titel „Empörung“ behandelt Guardini den
unerquicklich, ja quälend finden kann, so viel Krankheit, Iwan Karamasoff und die ihm von Dostojewski in den
Verbrechen, Laster und Elend aufgehäuft zu sehen, wie Mund gelegte bekannte Legende vom „Großingqui-
es da der Fall ist, und den Menschen immer wieder als sitor“. Man betrachtet diese Legende gewöhnlich als
ungelöstes, ja unlösbares Problem empfinden zu müssen. eine Sache für sich ohne Rücksicht darauf, wem Dosto-
Wer mit solchen Gefühlen Dostojewski gegenübersteht, jewski sie in den Mund legt, sie ist sogar gesondert in
mag erstaunt sein zu sehen, was Romano Guardini an Buchform herausgekommen. So erscheint sie als ein von
religiösem Gehalt in diesen Gestalten findet und in wel- Dostojewski selbst unternommener scharfer Angriff auf
cher wesenhaft religiösen Bestimmtheit, es sei nach der die römische Kirche, der nicht mehr und nicht weniger
positiven oder negativen Seite hin, sie alle stehen. So besagt, als daß der schlimmste Gegner Christi nicht der
anschaulich weiß Guardini sie herauszustellen, daß auch Unglaube ist, sondern das Kirchentum, das dem Men-
derjenige sein Buch mit Nutzen lesen wird, der die schen die Verantwortung für sein Leben abnimmt, ihn
Romane selbst gar nicht alle kennt. Unterhaltungs- des „Stirb und Werde“ überhebt, damit aber auch um
lektüre ist es freilich nicht, sondern will studiert sein das neue Leben in Christus betrügt. Eine solche Auffas-
und ist an vielen Stellen auch schwer geschrieben. sung, so überzeugend und scheinbar unwiderleglich, wie
Romano Guardini analysiert die religiöse Existenz der sie im „Großinquisitor“ vorgetragen ist, muß einem
Gestalten Dostojewski’s nach zwei Seiten hin, da wo sie katholischen Theologen natürlich sehr peinlich sein, und
positive Vorzeichen trägt, beim „Volk“, den „frommen wie sehr auch Romano Guardini diese Peinlichkeit emp-
Frauen“, den „Stillen“ und den „geistlichen Männern“, findet, geht schon aus der Mühe hervor, die er sich gibt,
und auch da, wo sie im Zeichen der Negation, der sie zu entkräften; er gesteht übrigens auch zu, daß, wer
„Empörung“, der „Gottlosigkeit“ steht. Es sind ja öst- die Kirche liebt, selbst nur zu genau sieht, was an
schmerzlih Wahrem in der Darstellung des „Großinqui-
= Verlag Jakob Hegner in Leipzig, 1932, 377 S. sitors“ legen kann. Doch müssen wir ihm zugestehen,
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ein schauendes Wissen um die Kräfte der Auferstehung die Menschen vor allem zu einem neuen Geistesleben
anbabnt. heraus, das die trüben Augen der materialistischen Welt-
Die Menschheit hat auf solche Stimmen nicht gehört. ansicht durch eine Erkenntnis ersetzt, der sich die hel-
Sie ist den Lockrufen derer gefolgt, die auf Grund der fende Macht des Christus neu erschließt. Die drama-
naturwissenschaftlichen Verstandeserkenntnisse eine neue tischen Visionen des polnischen Dichters sind heute
soziale Ordnung aufrichten wollten. Der vom Dichter leidvolle Wirklichkeit. In unsere Verantwortung ist es
geschaute Anführer der Massen ist in Lenin und Stalin gestellt, ob genügend Menschen vorhanden sind, die auf
Fleisch geworden. Aber Krasinski weiß auch, daß es den Trümmern der alten Ideale eine neue Ordnung der
vergeblich ist, gegen diese Macht im Namen der bisherxi- Dinge aufbauen im Lichtschein der dem schauenden
gen Geistesgüter anzukämpfen. Das soziale Chaos ruft Blick sich auftuenden Geisteswelt.

Blicke in die Zeit


Tonfilmpredigt
gut, die Beleuchtung wirkungsvoll, das Bild sauber und
Aus London wird berichtet: klar; zwischenhinein wird der Kopf des Priesters sogar
Am letzten Sonntag ist ein eigenartiger Gottesdienst in einer Großaufnahme gezeigt. Dann wird der Text
abgehalten worden. Sein Schauplatz war ein Kino, das des Vaterunsers auf die Leinwand geworfen, und das
Metropole-Cinema ... Es war geradezu ein historisches Publikum betet laut mit. Dann kommt der Höhepunkt
Ereignis. Zum erstenmal in der Geschichte der Kirche des Gottesdienstes, die Predigt. Aber niemand hält eine
ist ein Filmgottesdienst abgehalten worden, und zum pathetische Ansprache, niemand redet von der Kanzel
erstenmal in der Geschichte des Films haben Hunderte herab. Ein Film vertritt die Stelle der Predigt, ein
von Gläubigen in einem Kino den Segen empfangen ... anderthalbstündiger Spielfilm. Seine Handlung: Der
Es gibt in England seit einiger Zeit einen ‚Cinema Kampf zwischen Gut und Böse, dargestellt am Beispiel
Christian Council‘: Zweck: ‚den praktischen Gebrauch des eines englischen Boarding-House. Die Menschen in
Kinos für religiöse, erzieherische und ähnliche Zwecke diesem Boarding-House sind egoistisch und böse. Da er-
zu fördern‘. Präsident der Gesellschaft ist der Erz- scheint ein seltsamer Fremder unter ihnen. Er ver-
bischof von Canterbury. Am letzten Sonntag nun hat diese körpert das gute Element, es ist Christus in der Gestalt
Gesellschaft den ersten Kinogottesdienst durchgeführt. eines Gentleman. Der Film wird dramatisch, dem Guten
Es begann, wie das in London üblich ist, mit einer exsteht ein Widersacher in der Gestalt eines geldgierigen
langen Schlange vor dem Kino, der man sich geduldig Geschäftsmannes. Es kommt zu aufregenden Szenen,
anschließen mußte. Dann strömte das Puhlikum mit einer Verführung, ja sogar zu einem Mord. Es ist ein
echt englischer Disziplin in das Kino. Portiers in bunten spannender Film, besser als mancher Film, für den man
Livreen verteilten Programme. Die Leinwand war mit teures Geld zahlen muß. Seine Wirkung ist augenschein-
einem violetten Vorhang verdeckt, auf den ein Kreuz in lich tief, da und dort schluchzt jemand. Am Ende siegt
magischer Beleuchtung projiziert war. Eine Orgel spielte.— natürlich das gute Element. So klar dieser Ausgang
Zu Beginn des Gottesdienstes begrüßt eine Stimme auch ist, so erscheint der Priester doch noch einmal auf
aus einem unsichtbaren Lautsprecher, eine geheimnis- der Leinwand, um in wenigen Worten die Moral der
volle Stimme aus dem Nichts, die Anwesenden. Dann er- Geschichte zu erläutern. Dann, nach einem neuerlichen
scheint die Aufforderung auf der Leinwand, man möge Gesang, tritt plötzlich ein richtiger Priester auf die
sich erheben und die Hymne ‚Praise, my soul‘ singen. Bühne. Man ist sehr erstaunt darüber: der Mann ist so
Die Orgel — ist es die Kino-Orgel oder ist es eine klein und schmächtig, verglichen mit seinem Vorgänger
Orgel aus einer Kirche, auf dem Tonstreifen des Films auf der Leinwand: seine Stimme ist kaum durch den
aufgenommen? — stimmt die Melodie an, und die An- ganzen Saal zu hören. Ob er auch eine Zahnlücke hat,
wesenden fallen laut ein; auch der Unkundige tut dies ist nicht zu sehen. Es folgen Lieder — die Kollekte —
ohne Schwierigkeit, da der Text dieses Liedes auf der der Segen — aus.
Leinwand zu lesen ist, Strophe für Strophe. Ein Experiment ist vorbei. Ist es gelungen oder miß-
Nun erscheint der Priester. Es ist kein natürlicher, lungen? Es ist schwer darüber zu urteilen; möge sich
sondern ein gefilmter Priester; überlebensgroß richtet jeder an Hand der Schilderung selbst eine Meinung
er von der, Leinwand herab, auf eine Kanzel gestützt, bilden. Ich meinerseits kann nur sagen, daß der Nach-
einige eindringliche Worte an die Anwesenden — eine mittag sehr anregend war. Und auch der Bettler an der
schlanke Gestalt im Talar, mit einer Zahnlücke. vorm. nächsten Straßenecke, dem ich beim Verlassen des Kinos,
Ich erwähne diese Zahnlücke nicht spasseshalber, son- aus einem seltsamen Gefühl heraus, ein Sixpencestück
dern nur um zu erläutern, daß die Überlebensgröße in die Mütze warf, ist bestimmt der Ansicht, daß der-
auch ihre Nachteile hat. Der Film ist technisch sehr artige Kinogottesdienste durchaus zu bejahen seien.“ —

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nit kam unlängst nach Gdingen, um hier ihre erst vor
Gebetsmaschinen kurzem nach Warschau übersiedelten Eltern zu be-
Zeitungen melden: „Englische Psychologen sind der suchen. Auf einem Spaziergang, der an einem alten,
Auffassung, daß die letzten Gedanken, die ein Mensch längst aufgelassenen Friedhof vorüberführte, blieb das
vor dem Einschlafen hat, mit dazu beitragen, seine Ein- Mädchen plötzlich: vor einem der alten efeuumrankten
stellung zum nächsten Tag und den bevorstehenden Grabsteine stehen und versank in stille Betrachtung.
Problemen grundlegend zu beeinflussen. Jeder normale Mit einem Male brach es zur größten Verwunderung der
Europäer müßte gezwungen werden, abends vor Eltern in die Worte aus: ‚Hier ist mein Grab‘, und fiel
dem Einschlafen eine Schlaf-Schall-Platte ein- darauf ohnmächtig auf die Erde.
Kaum hatte Elisabeth sich wieder erholt, als sie auch
zustellen, die immer den gleichen Text herunterbetet:
‚Ich werde alles, was sich mir in den Weg stellt, zweck- schon eine seltsame Geschichte zu erzählen anfıng. Sie
entsprechend und leicht erledigen!** behauptete nämlich, vor Jahrhunderten schon einmal ge-
Sollte das „Beobachtungsergebuis“ der englischen lebt zu haben und sich haargenau an alles erinnern zu
Psychologen nicht auch zu anderen Folgerungen führen können. Sie sei damals die Frau eines armen Östsee-
können? fischers gewesen, dessen Hütte in einem Dorfe an der
Stelle des heutigen Gdingen stand und der hier seinem
Gespensterverleihinstitut Berufe nachging. Aus der Ehe mit diesem Fischer seien
„Die Polizei in Prescott, im Staate Minnesota, war vor drei Kinder hervorgegangen. Ihr Mann sei später wäh-
rend eines furchtbaren Unwetters auf hoher See mit
einiger Zeit einem großen Unternehmen auf die Spur ge-
kommen, dessen Geschäftsbetrieb wohl als einzigartig seinem Fischerkahn untergegangen. Sie selbst habe dann
mit ihren unmündigen Kindern die schwersten Nöte und
bezeichnet werden darf. Der Leiter dieser seltsamen
Firma, ein gewisser W. C. Clark, hatte sein Geschäft auf Entbehrungen durchgemacht, bis sie schließlich nach Jah-
die unzähligen Spiritistenklubs im Lande abgestellt und ren ihrem Mann in den Tod gefolgt sei. Elisabeth schien
eine regelrechte Gespensterverleihanstalt ins Leben ge- sich an die Einzelheiten ihres früheren Lebens genau
„Ware“ bestand aus materialisierten Er- entsinnen zu können; sie nannte sogar den Namen,
rufen. Seine
scheinungen aus dem Jenseits, die er „frei Haus“ unter dem sie als Fischersgattin schon einmal auf Erden
lieferte. Die Preise waren entsprechend gestaffelt. Ein- gelebt habe. Sie sprach ferner von der kleinen altertüm-
fache Engelserscheinungen konnte man von 300 Dollar lichen Kapelle, die einstmals auf dem Friedhofe gestan-
aufwärts beziehen, während der Satan in höchsteigener den hätte und die später von fremder Soldateska ge-
Person eine Kleinigkeit mehr, nämlich 500 Dollar plündert und niedergebrannt worden sei.
kostete. Weit kostspieliger waren indessen die zeit- Behördliche Nachforschungen ergaben auch tatsäch-
weilig in Wesen von Fleisch und Blut zurückverwandel- lich, daß in der Nähe des alten Gdinger Friedhofs einst-
ten Seelen Verstorbener, wie sie bei den Mitgliedern mals eine Kirche stand, die während des 30jährigen
okkulter Klubs besonders stark gefragt waren. Der Krieges von schwedischen Landsknechten in Brand ge-
Tarif für derartige Erscheinungen verzeichnete laut steckt worden war. Bei dem Brande aber waren alle
Sonderpreisliste, die nur auf besondere Anforderung Kirchenbücher vernichtet worden, so daß eine weitere
hin versandt wurde, Gebühren bis zu 2000 Dollar, wobei Nachprüfung der Angaben des jungen Mädchens unmög-
nicht selten noch ein Nachtzuschlag von 50% hinzukam. lich sein dürfte.
Trotz der hohen Preise hat das Geschäft des Mr. Clark In wissenschaftlichen Kreisen neigt man der -Auffas-
lange Zeit geblüht. Der ideenreiche Unternehmer be- sung zu, daß man es bei der 18jährigen Elisabeth Wir-
schäftigte nämlich nicht weniger als 30 festangestellte nitz mit einem Fall von Autosuggestion zu tun hat. Das
Gespenster, ausschließlich junge Mädchen, die früher Mädchen, das eine eifrige Leserin ist, dürfte wahrschein-
meist als Zirkusartistinnen tätig und von Mr. Clark, lich durch die Lektüre eines historischen Romans, der
einem abgebauten Zauberer eines Neuyorker Varietes, sie sehr gefesselt hat, zu der Zwangsvorstellung ihrer
im dümmsten Hokuspokus unterwiesen worden waren.“ Seelenwanderung gekommen sein. Was diesem seltsamen
Das blühende Unternehmen wurde nun polizeilich ge- Vorkommnis aber eine gewisse geheimnisvolle Note
schlossen. x verleiht, ist die Tatsache, daß das Mädchen noch nie-
mals in Gdingen war und auch von der Existenz der
Gibt es Seelenwanderung? Grabkapelle auf dem alten Friedhof keine Ahnung
Mit diesem Untertitel brachte die nationalsoziali- haben konnte.“ — j
stische Württembergische Landeszeitung von ihrem Es ist gewiß, daß solche Geschehnisse mit der größten
Warschauer Mitarbeiter nachstehenden Bericht: Vorsicht aufzunehmen und auf das genauste zu prüfen
„Ein höchst merkwürdiger Vorfall hat unter der Be- sind. Aber machen es sich die genannten wissenschaft-
völkerung des polnischen Korridorhafens Gdingen lichen Kreise nicht allzuleicht, wenn sie immer rasch bei
größtes Aufsehen erregt. Die 18jährige Elisabeth Wir- der Hand sind, solche Phänomene nur mit „Autosugge-

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religiös bedürftige Teil der deutschen Bevölkerung wird viele Briefe zugegangen, in denen die Wiedereröffnung
sich nie mit einer solchen Lehre zufrieden geben, denn der Kirchen in den xrömisch-katholischen Gebieten der
sie bedeutet für ihn eine Leere. Wer versuchen will, Ukraine verlangt wurde. Eine Gruppe von Bauern habe
sich am religiösen Werden positiv zu beteiligen, der es sogar gewagt, von ihm die Erlaubnis zu einer Reise
muß vor allem bemüht sein, nach dem Tiefsten zu nach Rom — zum Besuch des Heiligen Vaters — zu
suchen, was den religionsbedürftigen Deutschen bewegt. erbitten. Kassiar meinte: „Das alles beweist, daß die
Von innen nach außen muß es heißen, nicht umgekehrt! Gottlosenpropaganda nichts taugt. Es ist sehr traurig,
Deswegen ist es auch ein Verbrechen, dem andern, daß man heute, am Vorabend des 20jährigen Bestands-
vollends dem Volksgenossen, seine Anschauung des jubiläums der Sowjetunion, in Rußland noch immer an
Tiefsten zu nehmen, wenn man nicht sicher ist, ihm den Papst denkt.“ (Tatsachenberichte nach „Schönere
dafür etwas geben zu können, was ihm ebensoviel oder Zukunft“)
mehr wert ist. Die Fragen: Leben, Schuld, Leiden, Tod
— durch Bagatellisierung zu ‚erledigen‘, ist nicht nur Bekehrte Bolschewisten
ein vergebliches, sondern auch ein demoralisierendes In Frankreich gibt es eine ganze Anzahl von Schrift-
Bemühen.“ stellern, die früher dem Kommunismus anhingen, aber
sich gänzlich von ihm abwandten. Der bekannteste von
Von der Gottlosenbewegung
ihnen ist Andr& Gide. Außer ihm hat Celine in seinem
Eine Verordnung Litwinows, des russischen Volks- Buch „Mea culpa“ sein Bekenntnis abgelegt. Nun
kommissars für die auswärtigen Angelegenheiten, be- schildert auch Jean Fontenoy in der Zeitschrift „Can-
sagt, daß alle Angehörigen der diplomati- dide“ seine Entwicklung. „Ich bin in meiner Jugend vom
schen Missionen Rußlands Gottlose sein Kommunismus verführt und dann schmählich getäuscht
müssen, und zwar gilt dies ebenso für den Botschafter worden. Inmitten armer Bauern aufgewachsen, die als
wie für den Portier, desgleichen für die konsularischen einzigen Yorrat für den Winter Kartoffeln und Bohnen
Vertreier. Wer den Beitritt zur Organisation der Gott- hatten, kam ich zwischen zehn und elf Jahren auf das
losen verweigert, verliert seine Stellung im diplomati- Gymnasium, wo mir alles mögliche Wissen vermittelt,
schen bzw. konsularischen Dienst. Die Wirkung der aber keine Erziehung zuteil wurde. Als der Krieg aus-
Litwinowschen Verordnung war, daß 6700 Angehörige brach, war ich 16 Jahre alt. Ich verließ die Schulbänke,
des diplomatischen Dienstes der Sowjetunion der Gott- um den Krieg im letzten Jahr mitzumachen. Als er be-
losenliga beitraten und die Verpflichtung übernahmen, endet war, habe ich Russisch gelernt, weil mich die
1 Prozent ihres Gehaltes als Beitrag für die Liga zu Sowjets angezogen haben. Ich geriet in den Bann von
zahlen. Pioniere der Roten Armee haben die Andr& Gide und habe zwischen meinem 18. und
SprengungderKathedralevon Tula dur&- 25. Lebensjahr dessen Buch ‚Paludes‘ immer wieder ge-
geführt. Die Bevölkerung erhielt erst drei Stunden vor lesen. Im Jahre 1924 kam ich nach Moskau. Ich leide
dem Beginn der Sprengung davon Kenntnis. Das ehr- weniger bei dem Gedanken daran, wie sehr mich die
würdige Gotteshaus leistete dem Dynamit sehr lange Revolution getäuscht hat, als bei dem Gedanken daran,
Widerstand; es dauerte zwei Tage, bis die vollständige wie sehr ich an sie geglaubt hatte. Die Sowjetunion
Zerstörung gelungen war. — Vom Zentralkomitee der versprach uns eine Traumwelt. Sie hat unserer Genera-
kommunistischen Jugend erging an die kommunisti- tion das Rückgrat zerschmettert... Nach Rußland be-
schen Jugendlichen anderer Länder die Aufforderung, suchte ich auch China. Hier bot sich mir dasselbe Bild
Briefe über den Atheismus und seine Fort- wie in Frankreich und in Rußland: eine durch ihre Er-
schritte in ihrer Heimat zu schreiben. Jeder Brief- zieher und durch die Erschütterungen in der Welt
schreiber im Alter von 7—15 Jahren erhält als An- exaltierte Jugend, die alles, was an die Vergangenheit
erkennung einen Bleistift mit dem kommunistischen Ab- erinnert, weggeworfen hat. Und wir, die wir unglück-
zeichen und ein Bild Stalins, außerdem Ansichtskarten licherweise eine Entwicklungskurve gehabt haben, die
von Rußland sowie Bilder und Bücher. Die Verfasser derjenigen dieser drei Länder vergleichbar ist, wir sind
der „besten“ Briefe werden mit einer kostenlosen in unser Dorf in Frankreich zurückgekehrt und haben
Studienreise nach Rußland belohnt. — Immer wieder zu uns selbst zurückgefunden. Nachdem wir töricht so
werden Klagen über die unbefriedigenden viele Verwüstungen verursacht haben, bemühen wir uns,
Ergebnisse des Kampfes gegen Gott und das Gleichgewicht, unseren Daseinsgrund, unsere Freude
die Religion laut. So hat z.B. kürzlich der Sekretär des und die Ruhe unseres Gewissens wiederzufinden. Durch
Zentralkomitees der Gottlosen in Kiew, Kassiar, mit die Rückkehr zum Boden, zu den Tugenden, zu den
Empörung fesigestellt, es seien ihm im letzten Jahr guten Sitten.“

Bezugspreise und Postscheckkonten nebenstehend. — Für unyverlanst eingesandte Manuskripte kann (außer wenn Rück-
porto beiliegt) eine Gewähr nicht übernommen werden. Für die Schriftleitung verantwortlich: Dr. Friedrich
Rittelmeyer,
Stuttgart 13. Für die Anzeigen verantwortlich: Ernst Rathgeber, Stuttgart. D.A. II. Vj. 1937: 7483 Zur Zeit gilt An-
zeigenpreisliste Nr.4. Druck: Hoffmannsche Buchdruckerei Felix Krais, Stuttgart. Verlag: Verlag Urachhaus, Stuttgart 13,

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