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Ausblick.

Die naturwissenschaftliche Weltanschauung hat zu ihrer Grundlage die Entwickelungsidee. Wer von dieser
Idee durchdrungen ist, sucht das Hervorgehen der Tatsachen in der Welt auseinander zu begreifen. Er ist aber
überzeugt, daß eine Tatsache, die eine andere aus sich hervorgehen läßt, diese nicht deswegen aus sich
hervortreibt, weil sie schon in einer gewissen Weise in ihr vorgebildet ist. Von einer solchen Zielstrebigkeit
weiß diese Weltanschauung nichts. Sie findet weder der Wirklichkeit, noch der Idee nach, das Spätere in dem
Früheren „der Anlage nach“ vorhanden. (vgl. oben S. 43 ff.) Dieses Spätere ist eine Neubildung im vollsten
Sinne des Wortes. Der Mensch entwickelt nun in sich, zu den Dingen und Vorkommnissen, die ihm in der Welt
entgegentreten, in der Kunst, in seinem Handeln, in seiner Erkenntnis eine neue Welt. Er durchdringt die
Wirklichkeit mit seinen Ideen, mit den Gebilden seines Innenlebens. Nur eine solche Weltanschauung wird im
Sinne der Entwickelungsidee denken, die auch in den Hervorbringungen des Geistes vollkommene
Neubildungen sieht. Eine solche Weltanschauung wird in der menschlichen Erkenntnis nicht nach Ideen
suchen, die in irgendeiner Form in den Dingen schon vorhanden sind, oder denen in den Dingen etwas
Tatsächliches (ein „Ding an sich“, ein „Wille“ usw.) entspricht. Der Bekenner einer solchen Weltanschauung
ist sich bewußt, daß das Ideelle, der Gedanke kein anderes Leben haben, als ein ideelles, ein gedankliches. „Im
Denken halten wir das Weltgeschehen an einem Zipfel, wo wir dabei sein müssen, wenn etwas zustande
kommen soll. Und das ist doch gerade das, worauf alles ankommt. Das ist gerade der Grund, warum mir die
Dinge so rätselhaft gegenübertreten: daß ich an ihrem Zustandekommen so unbeteiligt bin. Ich finde sie
einfach vor; beim Denken aber weiß ich, wie es gemacht wird. Daher gibt es keinen ursprünglicheren
Ausgangspunkt für das Betrachten alles Weltgeschehens als das Denken.“ (Siehe meine „Philosophie der
Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung“ Berlin 1894). Wenn ich mit meinen Gedanken die
Dinge durchdringe, so füge ich also ein seinem Wesen nach in mir Erlebtes zu den Dingen hinzu. Das Wesen
der Dinge kommt mir nicht aus ihnen, sondern ich füge es zu ihnen hinzu. Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir
als das Wesen der Dinge gilt. Die Dinge erhalten durch mich ihr Wesen. Es ist also unmöglich, nach dem
Wesen des Seins zu fragen. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen
Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden als in der von mir
erlebten. Wenn auch der Affe sich aus den Beuteltieren allmählich entwickelt, so ist doch in den Beuteltieren
noch nichts vorhanden, was schon als Wesen des Affen zu betrachten wäre. Ebensowenig ist das Wesen der
Dinge, das ich zu den Dingen hinzuentwickele, schon in irgendeiner Weise in den Dingen vorhanden. Durch
sein Erkennen setzt der Mensch die vor dem Erkennen liegenden Vorkommnisse fort; aber er holt aus ihnen
nichts heraus. (Ich habe eine in diesem Sinne mit der Entwickelungsidee im Einklang stehende Weltanschauung
in meiner „Philosophie der Freiheit“ darzustellen versucht.) Wer deswegen, weil wir mit unserem Erkennen
nicht in die Dinge hineindringen können, zum Agnostizismus geführt wird und von „Grenzen des Erkennens“
spricht, der erscheint wie jemand, der dem Affen sein Dasein bestreitet, oder von den Grenzen seines Seins
spricht, weil er nicht aus den Beuteltieren dieses Sein herausholen kann, sondern es als einen neuen Trieb der
vorhergehenden Entwickelung aufsetzt. Und ebenso wenig, wie die Ideen die Dinge kann der Mensch die
letzten Grundmotive seines Handelns aus irgendeinem äußeren Ding herholen. Er fügt sie als Neubildung der
Welt hinzu. Die Entwickelungsidee gewinnt dadurch eine Vorstellung von der Freiheit, daß sie das menschliche
Handeln nirgends vorgebildet sein, sondern als freie Schöpfung durch den Menschen entstehen läßt. In
Deutschland sind Anfänge zu einer solchen Vorstellungsart bei J. Frohschammer vorhanden („Die Phantasie
als Grundprinzip des Weltprozesses“, München 1877). Er faßt die Phantasie als dasjenige auf, was sich in der
Entwickelung aller Dinge und Vorgänge zum Ausdruck bringt. Da die Phantasie ein schöpferisches Prinzip ist,
so kann mit ihr eine Entwickelungsidee rechnen, die nicht an ein Auswickeln von schon Vorhandenem, sondern
an fortwährende Neuschöpfungen glaubt. Auch Robert Schellwien (Der Geist der neuern Philosophie. 1895-
1896) steht dieser Denkweise nahe. In Frankreich hat Emile Boutroux (geb. 1845) eine mit der
Entwickelungsidee im Einklange stehende Weltanschauung gezeichnet („De la contingence des lois de la
nature. Paris 1874. De l'idee de loi naturelle“. Paris 1895). Das Spätere ist auch für ihn in keiner Weise in dem
Früheren vorhanden; er betrachtet es geradezu als Zufall, daß sich Höheres aus Niederem entwickelt.
Durch eine Freiheitsidee im Sinne des Entwickelungsgedankeus kann allein das schwachmütige Bekenntnis
überwunden werden, zu dem jede Anschauung kommen muß, die das Wesen der Dinge nicht im Menschen,
sondern außerhalb desselben sucht. Th. Ribot hat dieses schwachmütige Bekenntnis in die Worte gekleidet:
„Das ‚Ich will’ konstatiert eine Sachlage, aber es schafft keine solche.“ (Der Wille, Berlin 1893).
Änderungen am Text:
Tatsache, tatsächlich: urspr. mit „th“ (u. ä., mehrfach)
irgendeine: urspr. „irgend eine“ (u. ä., mehrfach)
vgl.: urspr. „vergl.“
usw.: urspr. „u.s.w.“
siehe: urspr. „sieh“
gibt: urspr. „giebt“
rätselhaft: urspr. „räthselhaft“
ebensowenig: urspr. „ebenso wenig“
Agnostizismus: urspr. „Agnosticismus“
„Der Geist der neuern Philosophie.“: urspr. „der Geist der neuern Philosophie“
„gezeichnet“: urspr. „gezeichnet.“
„De la contingence...“: urspr. ohne Anführungszeichen
Niederem: urspr. „Niederm“
‚Ich will’: urspr. doppelte Anführungszeichen
Zitate und Buchtitel wurden kursiv gesetzt.

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