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Grammatik und Variation

Festschrift für Ludger Hoffmann


zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von
Yüksel Ekinci, Elke Montanari und Lirim Selmani

SYNCHRON
Wissenschaftsverlag der Autoren
Synchron Publishers
Heidelberg 2017
Inhalt

Yüksel Ekinci  /  Elke Montanari  /  Lirim Selmani


Anfänge     ................................................................................................................................ 9

Grammatik und sprachliche Variation

Jochen Rehbein (Hamburg)


Zum Verhältnis von Grammatik und Π-Bereich    .......................................................... 13

Gisela Zifonun (Mannheim)


Eine Kur für die Ellipse. Zu nicht-kanonischen Äußerungsformen
in der IDS-Grammatik     ...................................................................................................... 37

Ludwig M. Eichinger (Mannheim)


Genauigkeit – von der Schwierigkeit, angemessen zu generalisieren    ........................ 55

Frederike Eggs (Hamburg)


»Darf man fragen, wie alt Sie eigentlich sind?« – zu einigen ungewöhnlichen
Formen der Selbst- und der Fremdreferenz und ihren Funktionen  ........................... 67

Gisela Ferraresi (Bamberg)


Ludger ist am arbeiten – Neues zur am-Verlaufsform  ................................................... 83

Susanne Günthner (Münster)


Alleinstehende Nebensätze: insubordinierte wenn-Konstruktionen in der
kommunikativen Praxis ...................................................................................................... 97

Bruno Strecker (Leonberg)


Anscheinend falsch oder scheinbar richtig    .................................................................... 111

Angelika Storrer (Mannheim)


Interaktive Einheiten in der internetbasierten Kommunikation   ................................ 119

Uta Quasthoff (Dortmund)


»Kein Geld« – Beobachtungen zur Grammatik und Pragmatik von
Begründungen in Formularen     .......................................................................................... 133

Jörg Bücker (Münster)


Von »Ralfi« zu »Tschüssi«: zur wortartenübergreifenden Karriere
des i-Suffixes    ........................................................................................................................ 145
6 Inhalt

Michael Beisswenger (Dortmund)


Sprechen, um zu schreiben: zu interaktiven Formulierungsprozessen
bei der kooperativen Textproduktion  .............................................................................. 161

Susanne Beckmann (Dortmund)


Über Tabus (nicht) sprechen. Zur Rolle grammatischer Strukturen bei der
Kommunikation über tabubesetzte Sachverhalte – ein Fallbeispiel    .......................... 175

Jochen Schulz (Dortmund  /  Iserlohn)


Funktionale Partikeldidaktik    ............................................................................................ 189

Volha Naumovich (Dortmund)


Die spezifischen Verwendungsweisen des deutschen deiktischen Ausdrucks da
und des russischen deiktischen Ausdrucks von     ............................................................ 199

Joachim Ballweg (Mannheim)


Das Verhältnis von Pronomen und Determinativen –
eine deutsche Spezialität?     .................................................................................................. 203

Lirim Selmani (Dortmund)


Morphologie und Syntax des Adjektivs im Sprachvergleich Deutsch-Albanisch  ... 209

Grammatik und Sprachvermittlung

Konrad Ehlich (Berlin)


Unzuverlässige Begleiter     .................................................................................................... 231

Wilhelm Griesshaber (Münster)


(In-)Kompetente Auslassungen  .......................................................................................... 243

Anne Berkemeier  /  Regina Wieland (Heidelberg)


Interdependenz von Formen und Funktionen im Deutschen
DaZ-curricular nutzen     ....................................................................................................... 257

Ursula Bredel  /  Hildegard Gornik (Hildesheim)


Satzbegriffe in der Schule ................................................................................................... 267

Yüksel Ekinci  /  Gudrun Marci-Boehncke (Bielefeld)


Deutsch und weitere Sprachen lernen anhand von Kinderliteratur:
ein mediengestütztes Kooperationsprojekt zur Mehrsprachigkeits- und
Leseförderung in der Bibliothek     ...................................................................................... 283
Inhalt 7

Kerstin Leimbrink (Dortmund)


Funktionale Sprachreflexion in der Sekundarstufe am Beispiel des
schriftlichen Bewertens  ....................................................................................................... 297

Torsten Steinhoff (Siegen)


Funktionale Schreibdidaktik  ............................................................................................. 321

Monika Budde  (Hildesheim)   /    Nadja Wulff (Dortmund)


»Wir machen Genick heute.« Einige Aspekte des Wortschatzerwerbs
und der Wortschatzarbeit unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit  ................ 333

Shinichi Kameyama (Dortmund)


Sprachentwicklung im Schulalter, mehrsprachig  ........................................................... 349

Kristine Lang (Dortmund)


Sprachförderung in der Sekundarstufe I – Bausteine für die Förderplanung    .......... 357

Christoph Schroeder (Potsdam)


Zum Sprachverständnis in der Migrationsdebatte in Deutschland  ............................ 361

Pembe Şahiner (Dortmund)


Morpho-syntaktische Fähigkeiten bilingualer Zweitklässler  /  innen
am Beispiel des Tempusgebrauchs in der Erstsprache Türkisch.................................. 369

Zeynep Kalkavan-Aydin (Freiburg)


Zum Gebrauch lokaler Präpositionen bei ein- und mehrsprachigen Kindern ......... 375

Cana Bayrak  /  Wienke Spiekermann (Dortmund)


Kindliche Themafortführung im Kontext von Genus  ................................................. 389

Grammatik und Poetik

Angelika Redder (Hamburg)


Literarisches Einspielen des Arabischen – Roes’ Rub’ Al-Khali und
Handkes Bildverlust    ............................................................................................................ 399

Winfried Thielmann (Chemnitz)


Topologisches und prozedurales Unterminieren – Beobachtungen zum
ersten Satz von Franz Kafkas Roman Amerika     ............................................................. 413

Klaus Schenk (Dortmund)


Linguistische Poetik des Reims bei Peter Rühmkorf  ..................................................... 423
8 Inhalt

Martin Stingelin (Dortmund)


Mehrsprachigkeit und Dialekt im Cambridge-Notizheft.
Tagebuch 1968 von Mani Matter  ........................................................................................ 435

Daniel Düring  /  Tim Langenbach (Dortmund)


»Heißt das für Sie heute hier auch klar und verbindlich: eine Ampelkoalition
scheidet vollkommen aus?« – explizite Festlegungen im politischen Interview:
Formen und Funktionen kommunikativer Strategien am Beispiel des
ARD-Sommerinterviews im Vorfeld der Bundestagswahl 2013  .................................. 443

Kristin Bührig (Hamburg)


Zur Leistung von und. Überlegungen zu seinem Einsatz in
Astrid Lindgrens Lotta zieht um  ......................................................................................... 455

Hans-Werner Eroms (Passau)


Alternative Tempusformen des Deutschen und
ihre Funktionen in Erzähltexten     ...................................................................................... 465

Die Autorinnen und Autoren ........................................................................................... 479


Susanne Günthner (Münster)

Alleinstehende Nebensätze: insubordinierte


wenn-Konstruktionen in der kommunikativen Praxis1

Grammatik funktional zu betrachten, ist faszinierend.


Diese Perspektive führt überall dort hin, wo gesprochen
wird. (Hoffmann 2008, S. 244)

1 Einleitung

Wie Ludger Hoffmann (2013, S. 13) in seiner Abhandlung zu grammatischen Phänome-


nen der deutschen Sprache betont, ist Grammatik stets eingebunden in die »menschli-
che Kultur und Praxis«. Dies trifft selbstverständlich auch auf die Grammatik der ge-
sprochenen Alltagssprache zu, die wie Hoffmann (2013, S. 14) ausführt, »funktionaler
Erklärung zugänglich« ist: Die alltäglichen kommunikativen »Bedürfnisse menschli-
cher Praxis« sind geradezu »fundamental für die Ausbildung des Formensystems«.
Der vorliegende Beitrag widmet sich – aus funktionaler Perspektive – dem Ge-
brauch alleinstehender wenn-Sätze und somit Satzkonstruktionen, die zwar typische
Nebensatzphänomene (wie Subjunktor und Verbletztstellung) aufweisen, aber dennoch
selbstständige Handlungen ausführen. Ich werde verdeutlichen, dass diese syntaktisch
als subordiniert markierten Konstruktionen eng mit interaktiven Praktiken, geteilten
Wissensbeständen und kommunikativen Zugänglichkeiten und Kontingenzen verwo-
ben sind (Günthner 2015).
Konditionale (und temporale) wenn-Sätze2 werden im Allgemeinen als komplexe
Satzverknüpfungen behandelt, die aus einem subordinierten wenn-Teilsatz und einem
Matrixsatz bestehen, wobei der wenn-Teilsatz sowohl initial (›wenn du Angst hast,
kriegst du es sowieso eher‹) als auch final (›du kriegst es sowieso eher, wenn du Angst
hast‹) positioniert sein kann.3 Meist geht – wie im folgenden Gesprächsausschnitt – der
wenn-Teilsatz, der die Bedingung liefert, unter der der im Matrixsatz thematisierte
Sachverhalt zutrifft, letzterem voraus (Günthner 1999; 2012; Auer 2000; Wegner 2010;
Auer  /  Lindström 2015). Im Rahmen eines Familientischgesprächs unterhalten sich
Udo und Dora über Lebensmittelvergiftungen:

1 Für Kommentare zu einer früheren Fassung danke ich Lars Wegner und Lea Hoppe.
2 Zur Verwischung des konditionalen und temporalen Gebrauchs von wenn siehe auch
Fabricius-Hansen (2007, S. 779).
3 In seltenen Fällen kann der wenn-Teilsatz auch parenthetisch eingeschoben sein (›du
kriegst es – wenn du Angst hast – sowieso eher‹); cf. Auer (2000).
98 Susanne Günthner (Münster)

(1) Lebensmittelvergiftung (Schwarzwald)


236 Udo: ja sicher naTÜRlich.
237 (2.5)
238 Dora: <<all> wenn du ANGSCHT hasch
krIEgsch_s sowieso eher.>
239 Udo: aber sag mer mol SO?
240 wenn SAG mer mal so,
241 i möcht ähm was i zum beispiel NET
mache wÜrd,

Mit dem initialen wenn-Satz (der Protasis) »wenn du ANGSCHT hasch« (Z. 238)
führt Dora die Bedingung ein, unter der die Aussage im Hauptsatz (die Apodosis)
»krIEgsch_s sowieso eher« gültig ist. Im Sinne Hoffmanns (2013, S. 353) beschreibt
»der konditionale Zusammenhang« auch hier »eine Regularität, Gesetzlichkeit, Norm,
gängige Praxis«. Der wenn-Teilsatz enthält typische Merkmale syntaktischer Subordina-
tion (Subjunktor und Verbendstellung) und macht somit einen folgenden Hauptsatz
erwartbar. Erst mit Abschluss der Apodosis ist das komplexe Satzgefüge abgeschlos-
sen. Initiale wenn-Sätze repräsentieren somit syntaktisch, semantisch und interaktional
unabgeschlossene Äußerungseinheiten, die erst mit der Produktion des projizierten
Hauptsatzes kommunikativ komplettiert sind.
In Alltagsinteraktionen verwenden Sprecher  /  innen allerdings auch wenn-Sätze, denen
kein Hauptsatz folgt. Diese »selbständige[n] Sätze, die Nebensatzform haben« (Hoffmann
2013, S. 64), stellen eigenständige Sprechhandlungen dar und werden – wie im Folgen-
den gezeigt wird – auch vom Gegenüber als eigenständige Handlungen interpretiert.
Die vorliegende Untersuchung basiert auf einem Datenkorpus, das informelle
Face-to-Face-Interaktionen im Familien- und Freundeskreis, institutionelle Gespräche
(Arzt-Patienten-Interaktionen, genetische Beratungsgespräche und Fortbildungssemi-
nare) sowie Gespräche in unterschiedlichen medialen Kontexten (Radio-Phone-Ins,
Talkshow-Gespräche und Interaktionen aus »Reality-TV-Shows«) enthält. Die Interak-
tionen wurden 1989 bis 2015 aufgezeichnet und nach dem »Gesprächsanalytischen
Transkriptionssystem« GAT 2 (Selting et al. 2009) transkribiert.

2 Alleinstehende wenn-Sätze im Alltagsgebrauch

Bereits Brugmann (1918, S. 21) wies auf das Phänomen der »zum Hauptsatz erstarr-
ten Nebensätze« hin. In der Forschungsliteratur werden »selbständige« bzw. »isolierte
wenn-Sätze« (Riesel 1964; Buscha 1976; Weuster 1983; Altmann 1987; Oppenrieder
1989; Scholz 1991; Fabricius-Hansen 2007) mit spezifischen Handlungstypen – wie
Wünschen (»Wenn ich einmal zum Mond fliegen könnte!«) bzw. »höflichen Aufforde-
rungen oder Bitten« (»Wenn ich um eine Antwort bitten dürfte!«) – assoziiert.
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Sprecher  /  innen in Alltagsinteraktionen
alleinstehende wenn-Sätzen als Ressourcen zur Durchführung unterschiedlicher
Handlungen einsetzen: Die vorliegenden Daten weisen darauf hin, dass wir es bei
alleinstehenden wenn-Sätzen mit einer Spannbreite an funktional recht verschie-
denen Varianten zu tun haben, die sich von syntaktisch nicht-integrierten Rah-
mungskonstruktionen über analeptische wenn-Sätze zu mehr oder weniger gram-
Alleinstehende Nebensätze 99

matikalisierten Formen zur Realisierung divergierender Sprechhandlungen bzw.


»Handlungsmuster« (z. B. Ehlich 2007) (Wünschen, Aufforderungen, Warnungen  /  
Drohungen, exklamativen Bewertungen und Nichtübereinstimmungen) erstrecken.

2.1 Syntaktisch nicht-integrierte wenn-Sätze als Rahmungselemente

Im folgenden Gesprächsausschnitt, der einer Reality-TV-Serie entstammt, führt Henry


in Zeile 316 einen wenn-Satz ein, der sich sowohl formal als auch funktional von der
in (1) Lebensmittelvergiftung dargelegten Standardvariante unterscheidet:
(2) Tierreich (Reality-TV-Serie #51)
311 Henry: ich MEIN-
312 wer setzt eigentlich die NORM auf,
313 was normAl IS?
314 Dana: eigentlich is_er geMEIN,
315 FIND=s net? (0.3)
316 Henry: wenn du nämlich mal so in(nes)
TIERreich kUckst,
317 Dana: pff (1.0)
318 Henry: es is noch NIE einer drauf gekommen zu
SAGen,
319 n_elefant wäre FETTleibig,
320 bloß weil er was auf den RIP[pen] hat.(--)
321 Dana:      [ja ]

Henrys Redezug in Zeile 316 setzt mit dem Subjunktor wenn ein und weist Verbletzt-
stellung auf. Doch im Anschluss folgt nicht etwa ein sich durch Inversion auszeich-
nender Matrixsatz, sondern Henry produziert nach Danas schnaubendem »pff« und
der folgenden Pause eine eigenständige komplexe Satzkonstruktion. Allerdings enthält
die wenn-Konstruktion keine Konditionalrelation im traditionellen Sinn: Weder for-
muliert der wenn-Satz die Bedingung, unter der die Folgeaussage gültig ist, noch stellt
die Folgesequenz einen dem wenn-Teil übergeordneten Hauptsatz dar. Stattdessen weist
die einführende (im Vor-Vorfeld positionierte) wenn-Einheit deutliche Parallelen zu
Projektorkonstruktionen auf und damit zu Rahmungsverfahren, die eine bestimmte
Folgeeinheit projizieren (Günthner 2006; 2008; Günthner  /  Hopper 2010; Wegner
2010). Statt die Protasis für die folgende Apodosis zu liefern, fungiert der wenn-Satz
als Rahmungsstrategie, die die Szene für die folgende Ausführung aufbaut und zu-
gleich dem Sprecher das Rederecht für den Folgeteil sichert.

2.2 Konstruktionsübernahmen: analeptische wenn-Sätze

Im Unterschied zu der in (2) Tierreich verwendeten, nur lose mit dem Folgesyntagma
verbundenen wenn-Einheit produzieren Sprecher  /  innen durchaus auch wenn-Sätze, die
keinerlei Fortsetzung projizieren, sondern – trotz ihrer syntaktischen Markierung als
subordinierte Nebensätze – abgeschlossene Einheiten darstellen.
Der folgende Gesprächsausschnitt entstammt ebenfalls einer Reality-TV-Serie. Die
in der Serie auftretenden Mitbewohner  /  innen unterhalten sich über ihre Lebensmit-
100 Susanne Günthner (Münster)

telvorräte. Eva fragt ihren Mitbewohner Gert, ob er noch Wasser braucht, da sie noch
sechs Flaschen Sprudel vorrätig hat:
(3) Schluck Wein (Reality-TV-Serie #57)
201 Eva: und ICH hab ga-
202 ich hab SECHS flaschen wasser,
203 .h magst du sprudel?
204 Gert: .h nUr wenn=n schluck WEIN da is;
205 =aber Is ja keiner [da also BRAUCH] ich
das nich;
206 Eva:    [ach SO;    ]
207 weil ich mag SO eigentlich AUCH nich;
208 Gert: [nee SPRUdel;]
209 Eva: [sprudel; ]

Obwohl Gerts Redezug-einleitender wenn-Satz ».h nUr wenn=n schluck WEIN da


is;« (Z. 204) typische Subordinationsmarker (die Subjunktion wenn sowie Endstellung
des finiten Verbs »is«) aufweist, handelt es sich hierbei um eine eigenständige Hand-
lung, nämlich um den zweiten Teil einer Frage-Antwort-Sequenz. Der ›kommunikative
Sinn‹ dieser wenn-Äußerung ist aufgrund der vorausgehenden Entscheidungsfrage des
Gegenübers rekonstruierbar; d. h. sie »beruht auf vorgängiger Verbalisierung, die […]
in Geltung bleibt« (Hoffmann 1999, S. 72). Folglich ist der vorliegende wenn-Satz als
»analeptisch« (Hoffmann 1999, S. 72 ff.) zu klassifizieren: Im vorangehenden Frageteil
(».h magst du sprudel?«; Z. 203) wird etwas verbalisiert, das Aufschluss über das im
Antwortteil »fehlende« Konsequens gibt.
Die folgenden Gesprächsausschnitte zeigen jedoch, dass Interagierende auch allein-
stehende wenn-Konstruktionen einsetzen, die keineswegs als analeptisch bzw. als »ellip-
tische Antwort auf eine Frage« (Oppenrieder 1989, S. 171; Selting 1997, S. 129) einzu-
ordnen sind und somit keine vorausgehende Bezugsäußerung aufweisen. Solche allein-
stehenden wenn-Konstruktionen können als Formen von »Insubordination« (Evans
2007, S. 367) bezeichnet werden4 und damit als »the conventionalized main clause use of
what, on prima facie grounds, appear to be formally insubordinate clauses« [Herv. i. Orig.].

2.3 Exklamative Wunschsätze

Wunschsätze in der Form eines ›isolierten wenn-Satzes‹ werden in Grammatiken und


linguistischen Abhandlungen immer wieder erwähnt (Riesel 1964, S. 166; Buscha 1976,
S. 275; Weuster 1983; Oppenrieder 1989; Hoffmann 2013, S. 544; Zifonun  et al. 1997,
S. 668) und gelten als verselbstständigte Form ehemaliger Nebensätze (Riesel 1964,
S. 166). Wie die folgenden Gesprächsausschnitte verdeutlichen, ist die Abgrenzung
dieser Optativsätze zur Exklamationsäußerung allerdings fließend, zumal die (irrealen)
Wünsche meist als Ausrufe produziert werden, bei denen »eine spontane Empfindung
von Ungewöhnlichkeit eines gegebenen Sachverhalts oder einer Sachverhaltsdimension«
zum Ausdruck kommt (Hoffmann 2013, S. 542).

4 Buscha (1976, S. 274) spricht folglich von »autosemantischen Sätzen«; vgl. auch Scholz
(1991, S. 34), die diese wenn-Sätze als »idiomatische wenn-VL-Sätze« bezeichnet.
Alleinstehende Nebensätze 101

Der folgende Ausschnitt entstammt einem Gespräch unter Studentinnen, die sich
über ihre Joghurtvorlieben unterhalten. Während Ira einen Erdbeerjoghurt isst, berich-
tet sie, dass sie früher weder Vanille- noch Erdbeerjoghurts mochte und sich diese auch
nie gekauft hat. Im Anschluss an Kajas Äußerung setzt Ira mit einer alleinstehenden
wenn-Konstruktion ein:
(4) Erdbeerjoghurt (Freundinnen #157)
221 Kaja: und dann da[ chten ] wir das STImmt; =eh
222 Ira:  [FEI:N.]
223 Ira: wenn das mein VAter sehen würde;=
224 =dass ich ERDbeerjoghurt Esse;
225 ((Gelächter))

Mit ihrem wenn-Satz »wenn das mein VAter sehen würde;« (Z. 223) spielt Ira darauf
an, dass sie als Kind nie Erdbeerjoghurt gegessen hat. Dieser Redezug-konstituierende
wenn-Satz enthält typische Merkmale einer V-L-Form mit Wunsch-Modus (Zifonun et
al. 1997, S. 667): Die Subjunktion wenn dient als Einleitungswort, das finit platzierte
Verb steht in der würde-Form und die Intonation ist fallend. Zugleich ist die Äußerung
stark exklamativ ausgerichtet: Die Sprecherin bringt mit dem wenn-Ausruf, der die
»Ungewöhnlichkeit des Sachverhalts« indiziert, eine Affektmarkierung zum Ausdruck.
Die Grenzziehung zwischen Wunsch- und Exklamativ-Modus erweist sich hierbei als
fließend (hierzu auch Oppenrieder 1987, S. 216; Zifonun et al. 1987, S. 665 ff.).
Auch der folgende alleinstehende wenn-Satz liegt an der Schnittstelle von Wunsch-
und Exklamationssatz. Paul, der Anrufer bei einer Radio-Phone-In Sendung, berichtet
von seinen Atemproblemen in der Nacht; selbst mit einem Atemgerät leidet er unter
Erstickungsängsten:
(5) 94 Kilo (Radio-Anruf-Sendung #33)
206 Paul: GRO:ß,=
207 Mod: [=ja:.]
208 Paul: [hab ] vIErnneunzisch KIlo;
209 Mod: Is [denn KLAR,]
210 Paul: [ja:: aber;  ]
211 Mod: DASS das– (–)
212 dass das eine !KÖR!perliche URsache hat?
213 oder KÖNNte das sogA:r auch;=
214 =eine SEElische Ursache haben?
215 Paul: tj=hhh° (–) wenn ich DAS wüsste.
216 also [(DANN glaub ich-) ]
217 Mod: [das wissen die ÄRZte-]
218 können die Ärzte AU_nich klAr sagen?
219 Paul: NEE.

Auf die Vermutung des Moderators hin, dass Pauls Atemprobleme seelische Ursachen
haben könnten (Z. 209 ff.), übernimmt letzterer den Redezug. Nach einem schnalzen-
den »tj=hhh°« und einer kurzen Pause folgt der wenn-Satz »wenn ich DAS wüsste«,
der mit den gängigen Indikatoren des Wunsch-Modus (Zifonun et al. 1997, S. 667)
ausgestattet ist: Das Verb steht im Konjunktiv II und die Intonation ist final fallend.
Wie in Segment (4), so indiziert auch hier der (konjunktivische) kontrafaktische wenn-
102 Susanne Günthner (Münster)

Satz, dass der dargelegte Sachverhalt nicht der Fall ist.5 Der alleinstehende wenn-Satz
»wenn ich DAS wüsste.« hat sich bereits als formelhafte Phrase verfestigt;6 ferner ist
auch hier die Nähe zur Exklamation deutlich: Der wenn-Satz weist insofern einen
»Exklamativakzent« (Hoffmann 2013, S. 542; Oppenrieder 1989, S. 168) auf, als der
markierte Hauptakzent auf dem thematischen Ausdruck (»DAS«) liegt und der Ausruf
ein für den Exklamativmodus typisches »fallendes Grenztonmuster« (Hoffmann 2013,
S. 542) enthält.
Allerdings weist keiner der beiden wenn-Wunschsätze die laut Forschungsliteratur
für Wunsch- und Exklamationssätze »obligatorischen« bzw. »typischen« Partikeln doch,
nur, bloß, wenigstens, ja auf.7

2.4 Direktive Sprechhandlungen: Bitten, Aufforderungen und Ratschläge

Alleinstehende wenn-Konstruktionen werden in Alltagsinteraktionen nicht nur einge-


setzt, um irreale oder mögliche eigenständige Wünsche auszudrücken, sondern Spre-
cher  /  innen verwenden sie oftmals in Zusammenhang mit Bitten und Aufforderungen,
die das Gegenüber als direkten Adressaten haben.8 Solche an den  /  die Gesprächspart-
nerIn adressierten Bitten, Aufforderungen etc. greifen in dessen Handlungsspielraum
ein und sind somit potenziell gesichtsbedrohend.
Der folgende Ausschnitt entstammt ebenfalls einer Anrufsendung im Radio. Der
Moderator (Mod) bittet den Anrufer Jan, ihm mitzuteilen, welche Prominenten er
peinlich findet:
(6) Peinliche Prominente (Radio-Anruf-Sendung #48)
168 Mod: ehm (.) VIERte frAge,
169 =wElchen dEUtschen prOminenten findest
!DU! am PEINlichsten?
170 (---)
171 Jan: och=das würd(e) ich NIE sagen jetzt.(.)
172 also=d=d da KOMmen EInige;
173 da hab=ich(-)da=hab=ich ne GUTe top tEn
liste.
174 Mod: !HACH!
175 Jan: ((lacht))
176 Mod: <<:-)> wenn ich doch jetzt EIN_n nAmen
erfahrn könnte.>
177 Jan: öh: NEIN.
178 das das=is=is doch nich,
179 !NEIN!.
180 ich will doch nich dAUernd über BOHlen
sprechen.

5 Siehe Fabricius-Hansen (2007, S. 787) zu selbstständigen Exklamativsätzen mit wenn.


6 Unklar ist allerdings, inwiefern Paul in Z. 216 (überlappend mit dem Turnbeginn des
Moderators) zu einer Fortsetzung seiner wenn-Konstruktion ansetzt.
7 Hierzu u. a. Oppenrieder (1989, S. 167; S. 201); Scholz (1991, S. 33).
8 Siehe auch Hoffmann (2013, S. 541 ff.) zur Unterscheidung von Wünschen ohne und mit
Adressaten.
Alleinstehende Nebensätze 103

Der vom Moderator in Zeile 176 produzierte Redezug-einleitende wenn-Satz »<<:-)>


wenn ich doch jetzt EIN_n nAmen erfahrn könnte.>« repräsentiert einen Wunschsatz,
der – im Unterschied zu den Optativsätzen in 2.3. – als indirekte Aufforderung selbst
wiederum den 1. Teil einer Paarsequenz darstellt, die eine entsprechende Reaktion des
Gegenübers (Erfüllung bzw. Ablehnung der Aufforderung) erwartbar macht. Die Mo-
dalpartikel »doch« unterstreicht den Wunschmodus.9 Auch das prosodische Design
(Nuklearakzent auf »EIN_n« und fallende Satzendintonation) unterstreicht die relative
Unabhängigkeit der wenn-Konstruktion. Der Rezipient Jan orientiert sich insofern an
dieser Eigenständigkeit, als er direkt im Anschluss auf die als Wunsch präsentierte,
indirekte Aufforderung mit einem spielerisch stöhnenden »öh: NEIN.« (Z. 177)
reagiert und damit keine Anzeichen liefert, dass er auf einen noch ausstehenden Ma-
trixsatz wartet. Im Anschluss an seine spielerische Ablehnung erfüllt Jan in Zeile 180
schließlich die Bitte des Moderators und liefert (ebenfalls scherzhaft moduliert) einen
Prominentennamen.
Während die Bitte bzw. Aufforderung in Segment (6) Peinliche Prominente indirekt
(als Wunsch des Sprechers) formuliert war, produziert die Sprecherin (Britta) im folgen-
den Ausschnitt eine direktere Aufforderung – ebenfalls in Form eines alleinstehenden
wenn-Satzes. Die Studentin (Stu) besucht die Sprechstunde ihrer Dozentin (Doz), um
sich wegen eines Studiengangwechsels in ein höheres Fachsemester einstufen zu lassen.
Da die Dozentin jedoch nicht alle Fragen der Studentin direkt beantworten kann,
verspricht sie, nachzufragen und sich dann per Mail bei der Studentin zu melden:
(7) E-Mail-Adresse Aufschreiben (Höheres Fachsemester)
230 Doz: [damit sie mich] halt (.) DAS–
231 [irgendwie gar nicht NACHgefragt] [is].
232 Stu: [dass das noch mal n SONderfall ];
233  [JA]
klar;
234 Doz: geNAU-
235 aber da werden natürlich außer ihnen noch
MEHR kommen.
236 Stu: [genau dann SCHREIB ich ]–
237 Doz: [°hh wenn sie mir EINmal noch] mal ihre
email [adresse] und namen dazu
aufschreiben,
238 Stu: [ja ]–
239 geNAU. ((schreibt etwas auf))

Die Dozentin produziert in Zeile 237 den wenn-Satz »[°hh wenn sie mir EINmal
noch] mal ihre email [adresse] und namen dazu aufschreiben,« und richtet damit eine
Handlungsaufforderung an ihr Gegenüber. Die Abtönungspartikel mal unterstreicht
die Funktion der handlungs-projizierenden wenn-Äußerung und stuft – wie Hoffmann
(2013, S. 409) ausführt – im Kontext von Aufforderungen »die Schwere des Anliegens
ab (es ist einmalig und leicht zu machen)«.10 Obgleich dieser alleinstehende wenn-

9 Vgl. Altmann (1987, S. 40) und Thurmair (1989, S. 117) zur Rolle der Modalpartikel doch
in Wunschsätzen.
10 Siehe auch Scholz (1991, S. 37) zur Verwendung der Partikel mal in Zusammenhang mit
wenn-Wunschsätzen.
104 Susanne Günthner (Münster)

Satz nach standardgrammatischen Aspekten »unvollständig« ist und einen folgenden


Matrixsatz erwartbar macht, ist auch hier offensichtlich, dass er – trotz syntaktischer
Subordinationsmarker – keine Gestaltkomplettierung erforderlich macht. Auch im
vorliegenden Fall verdeutlicht die unmittelbare Reaktion der Studentin, dass diese den
wenn-Satz als völlig situationsadäquat behandelt: Sie stimmt umgehend der Bitte bzw.
Aufforderung zu (»ja – geNAU.«; Z. 238 f.) und führt im Anschluss die erwünschte
Handlung (non-verbal) aus.
Zu den direktiven wenn-Sätzen gehören neben Wünschen, Bitten und Auffor-
derungen an das Gegenüber auch Ratschläge, die dem Gesprächspartner bestimmte
Handlungen nahelegen. So verwendet Sara im folgenden Ausschnitt einen wenn-Satz,
um ihrem jüngeren Bruder, der Probleme mit seinem Betreuer an der Hochschule hat,
einen Ratschlag zu geben:
(8) PROBLEME MIT DEM PROF (TELEFONGESPRÄCH)
012 Rolf: komplett beSCHEUert.
013 Sara: und wenn du zur FACHschaft gIngsch?
014 Rolf: ja:hh des könnt I MACHE.

Wie bei der vorausgehenden Aufforderungshandlung enthält auch die vorliegende


alleinstehende wenn-Konstruktion »und wenn du zur FACHschaft gIngsch?« (Z. 013)
eine direkte Adressierung des Gegenübers (»du«) sowie die Thematisierung der er-
wünschten Handlung. Doch während das Verb im Ausschnitt (7) E-Mail-Adresse
Aufschreiben im Indikativ steht (»[°hh wenn sie mir EINmal noch] mal ihre email
[adresse] und namen dazu aufschreiben,«), wird es nun Konjunktiv realisiert (»und
wenn du zur FACHschaft gIngsch?«), was den Handlungsspielraum des Gegenübers
u. U. vergrößert.
Die präsentierten Ausschnitte (6), (7) und (8), die allesamt alleinstehende wenn-
Sätze zur Durchführung direktiver, an das Gegenüber gerichteter Sprechhandlungen
enthalten, verdeutlichen, dass der Grad der Verpflichtung des Gegenübers zur Durch-
führung der betreffenden Handlung unterschiedlich stark sein und von Wünschen
bzw. Bitten zu Aufforderungen bzw. Ratschlägen reichen kann.11

2.5 Drohungen und Warnungen

Während in 2.4 wenn-Sätze behandelt wurden, mit denen ein  /  e Sprecher  /  in das Ge-
genüber zur Durchführung einer bestimmten Handlung bewegen wollte, verdeutlichen
die folgenden Gesprächsausschnitte, dass Sprecher  /  innen alleinstehende wenn-Sätze
auch verwenden, um ihr Gegenüber – im Sinne einer Drohung bzw. Warnung – zur
Unterlassung einer unerwünschten Handlung zu verpflichten.
Der folgende Ausschnitt entstammt einem Familientischgespräch. Ina, die Mutter,
ärgert sich darüber, dass eines ihrer (erwachsenen) Kinder nach dem Austrinken den leeren
Getränkekarton in den Kühlschrank zurückgestellt hat, statt diesen zu entsorgen. Ge-
sprächsteilnehmer  /  innen sind Peter, der Vater, sowie die Kinder Mike und Ina:

11 Siehe Parallelen zu deontischen Infinitivkonstruktionen (Deppermann 2006).


Alleinstehende Nebensätze 105

(9) Leere Saftpackungen (Oberschwaben)


221 Ina: des NE:RVT. (–)
222 Peter: ( [ )]
223 Ina: [h_heut] mOrge auch SCHO: wieder.
224 wollt de orAngensaft ausm kühlschrank
rausSTELle,
225 Mike: [aber ( )]
226 Ina: [un- un ] MERK,
227 Ina: d_PAckung isch [wieder LEER.   ]
228 Peter:  [meischt isch no:] en
SCHLUCK drin.
229 Ina: wenn i DEN mo:l erWISCH.
230 Peter: s_kann_mer (doch wegschmeiße.)

Inas Redezug in Zeile 229 besteht aus dem alleinstehenden wenn-Satz »wenn i DEN
mo:l erWISCH.«, der als Drohung fungiert. Allerdings bleibt die Konsequenz, was
passiert, wenn Ina den Übeltäter erwischt, ausgespart. Die Äußerung weist aufgrund
der starken Akzentuierung und des markierten Rhythmus eine prosodische Empha-
semarkierung auf und ihre final fallende Tonhöhenbewegung kontextualisiert einen
Abschluss.12 Auch Peters Reaktion (Z. 230) zeigt, dass er Inas Redezug als abgeschlos-
sen behandelt. Diese wenn-Konstruktion kommt einer Aposiopese (Imo 2013) bzw.
»phatischen Ellipse« (Hoffmann 1999, S. 88; Zifonun et al. 1997, S. 429 ff.) nahe und
damit der rhetorischen Figur, bei der »ein Sprecher vor dem konstruierten, formal mar-
kierten Abschlusspunkt (›prä-final‹) abbricht und dem Hörer die Vervollständigung
des Gesagten aus seinem Wissen überantwortet« (Hoffmann 1999, S. 88). Obgleich
den Rezipient  /  innen im vorliegenden Fall zwar die Vervollständigung (und damit
die mögliche Konsequenz) überlassen wird, markiert der Tonhöhenverlauf mit seiner
fallenden Endintonation dennoch einen Abschluss.13
Wie die vorliegenden Daten verdeutlichen, scheinen jene mit Emphasemarkierung
und fallender finaler Tonhöhenbewegung ausgestatteten Droh-Aposiopesen bzw. pha-
tische Ellipsen, die die möglichen Konsequenzen aussparen, derart konventionalisiert,
dass sie durchaus als formelhaft einzustufen sind.14
Was die vorliegenden Drohungen bzw. Warnungen mit den vorausgehenden Auf-
forderungen, Bitten und Wünsche verbindet, ist, dass in beiden Fällen Formen von
»interpersonal coercion« (Evans 2007, S. 387) vorliegen und somit dialogisch ausgerich-
tete Sprechhandlungen, die das Gegenüber zu bestimmten Handlungen auffordern,
ihn um etwas bitten, ihm einen Ratschlag geben oder aber ihm die Unterlassung
bestimmter Handlungen nahelegen.

12 Siehe Selting (1994) zur prosodischen Emphasemarkierung.


13 Wie Zifonun et al. (1997, S. 431) ausführen, werden phatische Ellipsen oftmals als »Verfah-
ren der Anspielung, um bestimmte Ausdrücke (z. B. Tabuwörter) oder Inhalte zu vermei-
den«, eingesetzt.
14 Siehe auch Zifonun et al. (1997, S. 433) zur Konventionalisierung und Formelhaftigkeit
phatischer Ellipsen.
106 Susanne Günthner (Münster)

2.6 Die Indizierung von Einstellungen und Affekten

Neben den skizzierten direktiven Funktionen finden sich insubordinierte wenn-Sätze


auch in Zusammenhang mit Einstellungs- und Affektkundgaben. Wie bei den Wunsch-
sätzen in 2.3 wird auch hierbei die Nähe zur Exklamation deutlich.
Der folgende Ausschnitt entstammt wiederum einer TV-Reality-Serie. Anne wird
von ihren Mitbewohner  /  innen beschuldigt, dass sie stets Joghurts öffnet und diese
angebrochen wieder in den Kühlschrank zurückstellt. Im folgenden Ausschnitt kontert
Anne den Vorwurf, dass sie angeblich wieder mal alle Joghurts »AUFgemacht« habe:
(10) Wenn Ich Das Schon Hör (Reality-TV-Serie #2)
331 Anne: [<<f> un]
332 das war sOnntag vor EIner wOche.>
333 (3.8)
334 <<t, p > p-hm ECHT ey; >
335 <<t> ich hab die Alle AUFgemacht.> (--)
336 <<t> wenn ich dAs schon ­↑↓HÖR;>
337 Steffi: <<f> nein nich ALle?>
338 [sondern wenn es jemand;> ]
339 Anne: [<<f> hAst du aber geSACHT;>]

In Zeile 335 reproduziert Anne mit empörter Stimme den u. a. von Steffi an sie he-
rangetragenen Vorwurf, sie habe am Sonntag vor einer Woche mal wieder sämtliche
Joghurts aufgemacht: »<<t> ich hab die Alle AUFgemacht.>«.15 Im Anschluss an den
rekonstruierten Vorwurf liefert sie ihre entrüstete Bewertung in Form einer alleinste-
henden wenn-Konstruktion: »<<t> wenn ich dAs schon ↑↓HÖR;>. Auch hier wird
deutlich, dass die Rezipienten (siehe Steffis Reaktion in Zeile 337) diese Äußerung
als eine vollwertige Handlung interpretieren und keineswegs auf einen noch ausste-
henden Hauptsatz warten. Die Nähe dieser affektgeladenen Einstellungsäußerung zur
Exklamation ist offenkundig: Die Abtönungspartikel »schon« in Kombination mit
der Kundgabe einer negativen Bewertung eines vorausgehenden Sachverhalts und der
emphatisch markierten Prosodie (vgl. die steigend-fallende Tonhöhenbewegung auf
»­↑↓HÖR;«) tragen zur Affektkundgabe bei.
Affekt-geladene Einwürfe in Form alleinstehender wenn-Konstruktionen können
auch – wie der folgende Ausschnitt verdeutlicht – als direkte Nichtübereinstimmungen
eingesetzt werden. Die Teilnehmer  /  innen einer Reality-TV-Serie unterhalten sich über
ihre Mitbewohnerin Marie, die zu Werners Geburtstag gestrippt hat. Darauf folgt
eine Diskussion darüber, ob sie selbst auch strippen würden bzw. sich das vorstellen
könnten. Nachdem Kris Maries Strippen in der Sendung als »SEHR cOOl un mutig«
(Z. 011) bewertet hat und auch Finn eingesteht, dass er erstaunt über ihren Mut war
(Z. 013–014), reagiert Henry mit einer Gegenbewertung (Z. 015):

15 Zur Affektmarkierung in Redewiedergaben siehe Günthner (2002).


Alleinstehende Nebensätze 107

(11) Sehr Cool (Reality-TV-Serie #43)


011 Kris: <<:-)> das war vorhin aber wirklich SEHR
cOOl un mutig von IHR,
012 DU.>
013 Finn: (–) hätt ich AU nich geDACHT;
014 HU?
015 Henry: aber wenn_s ihr JOB is,
016 Finn: ne SIcher,=
017 =aber (.) ich MEIN;
018 millionenPUblikum ne,
019 SICHer,
020 wenns ihr JOB is;

Statt sich den affektgeladenen Erstaunenskundgaben seiner Mitbewohner anzuschlie-


ßen, produziert Henry mit »aber wenn_s ihr JOB is,« (Z. 015) eine Gegenbewertung,
die impliziert, dass Maries Auftritt in der Sendung (und damit vor einem großen
Fernsehpublikum) keineswegs so mutig war, wie Kris und Finn dies beurteilen, zumal
sie als Stripperin jobbt.
Auf den Zusammenhang von »isolierten wenn-Sätzen« und argumentativen Kon-
texten geht auch Buscha (1976, S. 276) ein und führt aus, dass damit »ein Gegenargu-
ment des Sprechers zu einer vom Gesprächspartner geäußerten Meinung« vermittelt
wird, wobei der Sprecher oftmals dem wenn-Satz ein koordinierendes und voranstelle,
das »dem Argument ebenso wie die mögliche Partikel nun ein größeres Gewicht«
verleihe. Im vorliegenden Fall wird statt eines koordinierenden und ein kontrastindizie-
rendes »aber« (Z. 015) vorangestellt, mit dem Henry bereits zu Beginn seines Redezugs
eine kommende Nichtübereinstimmung projiziert.

3 Fazit

Wie die Analyse verdeutlicht, verwenden Sprecher  /  innen in Alltagsinteraktionen oft-


mals alleinstehende wenn-Sätze, die zwar typische syntaktische Subordinationsmarker
aufweisen, aber dennoch keine Fortsetzung in Form eines Hauptsatzes erwartbar
machen. Diese »selbständige[n] Sätze, die Nebensatzform haben« (Hoffmann 2013,
S. 64), fungieren als vollwertige Sprechhandlungen, auf die die Gesprächspartner  /  in-
nen entsprechend reagieren. Dabei zeichnet sich ein Kontinuum an alleinstehenden
wenn-Konstruktionen ab, das von disintegrierten wenn-Einheiten im Vor-Vorfeld über
Analepsen und Konstruktionsübernahmen zu frei-stehenden, insubordinierten wenn-
Konstruktionen reicht. Jene alleinstehenden wenn-Konstruktionen, die zur Durchfüh-
rung von direktiven Sprechhandlungen (Bitten, Aufforderungen) bzw. Drohungen
sowie zum expressiven Ausdruck eines Wunsches und einer Einstellung verwendet
werden, erweisen sich als konventionalisierte, ja grammatikalisierte Konstruktionen,
die von den Gesprächsteilnehmer  /  innen entsprechend interpretiert werden.
So führt Hoffmann (2006, S. 90) in Zusammenhang mit Ellipsen, Kurzformen
und Aussparungen aus: »Als Form der Kooperation ist Sprache Bewegungsmoment
von Wissen und praktischem Handeln. Wir verarbeiten sie im Rahmen gemeinsamer
Praxis, aus der sich Perspektive, Erwartungen und Relevantsetzung ergeben. Was die
108 Susanne Günthner (Münster)

anderen wissen, muss nicht gesagt werden. Was ihnen zugänglich ist, kann angedeutet
werden. Das Gesagte bleibt stets hinter dem Gemeinten zurück. Eine Äußerung nutzt
alle Ressourcen, die präsent sind.«

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