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Abitur

"Wat is en Dampfmaschin?", fragte Professor Bömmel die Abiturienten in Heinrich Spoerls berühmtem Pennäler-Roman "Die Feuerzangenbowle". Nicht immer
geht es so lustig zu in den langen Jahren auf den Schulbänken der Gymnasien. Aber das bestandene Abitur war zu allen Zeiten ein Grund zum Feiern.
"Abgehen" bedeutet das neulateinische Wort "abiturire". "Matura", die Reifeprüfung, wird sie auch genannt. 27,9 Prozent aller Deutschen haben nach Angaben
des Statistischen Bundesamtes eine Fachhochschul- oder Hochschulreife. Reif für das Studium sind die Schülerinnen und Schüler also – aber auch bereit fürs
Leben?
Die Erfindung der Reifeprüfung
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts strömten in Preußen die Söhne des aufstrebenden Bürgertums an die Universitäten, um dem Militärdienst zu entgehen. Als
Soldat erwartete sie keine große Zukunft, denn Offizier konnten nur Adelige werden. Mit einem Studium dagegen genoss man großes Ansehen. Für die
Aufnahme an der Hochschule genügte ein einfaches Empfehlungsschreiben des Lehrers. Damit begab sich der fertige Gymnasiast zur Universität seiner Wahl,
wurde vom Dekan eine halbe Stunde auf Lateinisch interviewt und war dann in den meisten Fällen ein gut bezahlender Student. Die Universitäten füllten sich,
das Niveau sank.Die preußische Regierung reagierte: "Es ist daher beschlossen worden, dass künftig alle von öffentlichen Schulen zur Universität abgehende
Jünglinge schon vorher auf der von ihnen besuchten Schule (...) öffentlich geprüft werden, und nachher ein detailliertes Zeugniß über ihre bey der Prüfung
befundene Reife oder Unreife zur Universität erhalten sollen..." So heißt es im Abiturreglement von 1788, mit dem Preußen als erstes deutsches Land das Abitur
einführte. Große Konzequenzen hatte diese neue Reifeprüfung zunächst jedoch nicht, da sich Schulabgänger nach wie vor auch ohne Abitur an den
Universitäten einschreiben konnten.In den Folgejahren wurde die Idee einer Zugangsprüfung für die Universität weiterentwickelt, unter anderem von Wilhelm
von Humboldt, dem Leiter der preußischen Kultus- und Bildungsverwaltung. Nach seinen Ideen wurde 1812 das Abitur neu gestaltet und erstmals genau
festgelegt, welche Inhalte überprüft werden sollten. Doch erst 1834 wurde das Abitur als Voraussetzung für ein Studium festgeschrieben.
Vom Kirchenlehrer zum Beamten
Die Bildung der Kinder wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr Sache des Staates. Bis dahin war Schule noch ein Privileg weniger. Es gab zwar seit
1763 erste Ansätze für die Einführung einer Schulpflicht und auch einige Elementar- oder Volksschulen, aber für viele Kinder war es in der Realität gar nicht
möglich, sie zu besuchen. Das Gymnasium als einzige weiterführende Schulform besuchten nur die Söhne der oberen Gesellschaftsschichten. Latein und
Griechisch waren die Hauptfächer, Geistliche unterrichteten. Schule stand im Dienste der Kirche.Um dies zu ändern, musste sich auch das Berufsbild des Lehrers
verändern. Zusammen mit dem Abitur-Examen führte Humboldt deshalb auch eine Lehrerausbildung ein. Der Lehrer als Beamter, als Staatsdiener entstand.
Im Laufe des Jahrhunderts wurde das gesamte Schulwesen verstaatlicht und fast überall die allgemeine Schulpflicht eingeführt. 1899 konnte auch die erste
junge Frau die Reifeprüfung ablegen.Alle diese Veränderungen im Schulwesen garantierten allerdings nicht die Qualität der Bildung. Schule stand nun im Dienste
des autoritären preußischen Staates. Die Kinder sollten zu gehorsamen und kaisertreuen Untertanen erzogen werden.
Schulung des Nationalbewusstseins
"Warum lieben wir unser Volk mehr als andere Völker?" – so lautete das Thema für einen Abitur-Aufsatz Ende des 19. Jahrhunderts. Durch seine Lehrer und die
Auswahl der Inhalte kontrollierte der Staat die Ausbildung seiner Jugend. Während des Deutsch-Französischen Krieges im Jahre 1870 lautete an vielen Schulen
das Thema für den Abituraufsatz: "Süß ist es und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben". Und die Gymnasiasten sangen brav das Loblied der Nation: "Mit einem
Schlag hatte die kraftvolle deutsche Faust den Übermut des französischen Heeres gestraft", schrieb ein Schüler. Im Ersten Weltkrieg kehrte dieses Thema
wieder. Der Krieg wurde auch an den Schulen vorbereitet.In der Zeit des Nationalsozialismus' stand die Bildung vollends unter dem Einfluss der Politik und der
herrschenden Ideologie. Sport stand an erster Stelle, man las NS-Schriftsteller, im Fach Biologie wurde die Rassenlehre unterrichtet. Jüdische Lehrer und Schüler
waren vom Unterricht ausgeschlossen. 1939 schrieben fast alle Abiturienten im Deutschaufsatz über das Thema "Der Totale Krieg". Viele der Schüler konnten es
kaum erwarten, als Soldaten an die Front zu ziehen. Wie schon im Ersten Weltkrieg erhielten sie ein sogenanntes Notabitur, um schneller fürs Vaterland sterben
zu können.
"Ein Referat über Freiheit"
Nach dem Zweiten Weltkrieg lautete ein Abiturthema: "Was fordert die heutige Zeit von uns?" Nicht nur die Gebäude, auch die Bildungsinhalte mussten neu
errichtet werden. Es fehlte an Lehrern, die Erfahrungen mit Demokratie hatten. Viele waren noch in ihren alten Ansichten gefangen. An den Gymnasien verließ
man sich deshalb auf Altbewährtes – die Klassiker kehrten zurück. Goethe, Schiller, Shakespeare wurden aus sich selbst heraus interpretiert, denn über Politik,
Vergangenheit und die Gegenwartsliteratur schwieg man lieber. Die gesetzliche Regelung der Bildung wird 1949 im Grundgesetz der neuen Bundesrepublik
verankert. "Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates", heißt es dort in Paragraf 1, Artikel 7. Die Schulaufsicht und damit die Ausformung der
Gymnasien obliegt aber den einzelnen Bundesländern. Die Abiturienten schrieben in den 1960er Jahren über die Emanzipation der Frau, die Remilitarisierung,
das Wirtschaftwunder. 1965 stand auf den Prüfungsbogen in Bremen: "Ein Referat über Freiheit, gehalten vom Abiturienten vor einer Gruppe Jugendlicher aus
der DDR". Im anderen Teil Deutschlands schrieb man über Lenin-Zitate. In der Bundesrepublik war das Abitur viel wert. Keine Beschränkungen verhinderten den
Zugang zu den Universitäten. Die Abiturienten konnten Ort und Fach frei wählen. Die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt waren glänzend. In Deutschland
mangelte es damals sogar an eigenen Arbeitskräften, rund 270.000 Gastarbeiterwurden ins Land geholt.
Reformen und viele Formen der Reifeprüfung
Nach dem Sturm im Bildungssystem durch die Studentenunruhen Ende der 1960er Jahre wird auch das Abitur neu gestaltet. Die Kultusministerkonferenz
beschließt 1972 die "reformierte Oberstufe". Die altbekannten Schulfächer – wie Deutsch, Mathematik, Geschichte, Kunst, Chemie oder Sport – heißen jetzt
Kurse, statt Noten gibt es Punkte. Die Schülerinnen und Schüler können Schwerpunkte auswählen, in denen sie dann entsprechend mehr Unterricht erhalten
und auch im Abitur geprüft werden. Ganz frei ist die Wahl jedoch nicht: Die wichtigsten Fächer – dazu zählen Deutsch und Mathematik – müssen von allen
belegt werden. Das Abitur-Examen besteht in der Regel aus vier Fächern, dreimal müssen die Abiturienten eine "Klausur" schreiben, einmal geht es in die
gefürchtete mündliche Prüfung. Die Gesamtnote, die entscheidende Abiturnote, das was – je nach Schulform und Bundesland – von zwölf oder dreizehn Jahren
Schule unterm Strich übrig bleibt, setzt sich aus den Ergebnissen dieser Prüfung und den Punkten der verschiedenen Kurse der letzten zwei Jahrgangsstufen
zusammen. Die Abitur-Regelungen gleichen in Deutschland einem Flickenteppich. Jedes Bundesland hat seine eigenen Wege. In Thüringen etwa hat das Abitur
nach zwölf Jahren eine lange Tradition, in Nordrhein-Westfalen war es erst ab dem Schuljahr 2013/14 für ein paar Jahre Standard – mit Ausnahme von
sogenannten Gemeinschaftsschulen, die weiterhin ein Abitur nach 13 Jahren ermöglichten.
Einige Bundesländer wie Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen probierten für einige Jahre das Abitur nach 12 Schuljahren aus, kehrten aber nach kurzer Zeit
wieder zu den alten Regelungen zurück. Im Sommer 2013 einigte sich die Kultusministerkonferenz darauf, zum Abitur 2017 erstmals einen gemeinsamen
Abituraufgaben-Pool für alle Bundesländer einzusetzen. Sechs Bundesländer – Hamburg, Bayern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und
Mecklenburg-Vorpommern – testeten bereits 2014 gemeinsame Prüfungsaufgaben.
"Damit leiten wir einen Kulturwandel beim Abitur ein", bilanzierte der Präsident der Kultusministerkonferenz, Stephan Dorgerloh. "Durch einen gemeinsamen
Qualitätsentwicklungsprozess aller Länder wird sowohl die Qualität der Prüfungsaufgaben verbessert als auch das Anforderungsniveau schrittweise
angeglichen."
Reif für den Arbeitsmarkt oder reif fürs Menschsein?
Auch im 21. Jahrhunderts schwitzen und zittern die Abiturienten wie ehedem bei ihrer Reifeprüfung. Aber das Abitur hat seinen Mythos verloren. Wie unter
Humboldt sind die Universitäten überfüllt, der Zugang wird nun über die Note des Abiturs geregelt, nur die Besten dürfen studieren. Jedoch platzen heute auch
die Gymnasien aus allen Nähten. Niemandem kann der Besuch verweigert werden. Alle Eltern möchten ihrem Kind den höchsten Schulabschluss ermöglichen,
weil sie wissen, dass fast nur so eine Chance auf dem schwierigen Arbeitsmarkt besteht. Die Realschulen als Vorbereitung für eine Berufsausbildung haben an
Bedeutung verloren, mindestens ein Fachabitur wollen viele Firmen sehen. Viele holen deshalb ihr Abitur auf dem sogenannten zweiten Bildungsweg nach.
Hauptschülerinnen und -schüler gelten auf dem Arbeitsmarkt als schwer vermittelbar. Der Druck auf die Jugendlichen wächst. Und ein weiteres Problem
besteht: Das Wissen der Menschheit ist in einem Maße angewachsen, dass es unmöglich geworden ist, alles zu lernen und zu lehren. Was gehört also ins Abitur?
Was gehört zu einem notwendigen Wissenskanon? Die Reifeprüfung steht vor neuen Anforderungen. Die Fehler der Vergangenheit will man nicht wiederholen.
Gymnasien sollen nie wieder ideologische Kriegsschulen werden, im demokratischen Grundverständnis müssen alle Lernziele verankert sein. Und alle jungen
Menschen mit Abitur sollen neben fachlichem Wissen auch soziale Kompetenz und menschliche Reife gelernt haben.

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