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Die Lage am Morgen: Ein Botschafter


als Background-Tänzer
Christoph Hickmann, DER SPIEGEL

13–15 minutes

Krise, welche Krise?

Seit ein paar Tagen ergreift mich leichte Beklemmung, wenn ich
Zeitungen aufschlage oder Nachrichten höre. Sie geht über das
übliche Maß hinaus, und sie stellt sich immer dann ein, wenn ich
Nachrichten aus der Welt der Banken konsumiere. Sie fühlt
sich nach Déjà-vu an.

Ein paar US-Banken geraten in Schwierigkeiten. Eine kollabiert.


Eine Schweizer Großbank muss mit 50 Milliarden Franken
gestützt werden, und nur wenige Tage später muss sich diese
Bank, die Credit Suisse, vom Rivalen UBS übernehmen, also
retten lassen. Der Goldpreis steigt, Bankaktien fallen.

Womöglich geht es Ihnen da ähnlich, bei mir jedenfalls werden


gerade Erinnerungen an das Jahr 2008 wach, an die
Ereignisse rund um den Zusammenbruch von Lehman
Brothers, an die Weltfinanzkrise und all das, was daraus folgte.
Mir ist klar, dass man das nicht mal eben vergleichen kann.
Trotzdem werde ich eine leichte Unruhe nicht los, die vor allem
darauf beruht, dass auch damals kaum jemand das große,
weltumspannende Desaster kommen gesehen hatte.
Logos von UBS und Credit Suisse: Der Flächenbrand ist
abgewendet – und nun?

Foto: DENIS BALIBOUSE / REUTERS


Mein Problem ist, dass ich mich weder mit Finanzen im
Allgemeinen noch mit Banken im Besonderen gut auskenne. Ich
würde mich da als gut informierten Zeitungsleser einstufen. Das
reicht natürlich nicht, um einzuschätzen, ob wir es hier mit der
nächsten Großkrise zu tun haben oder eher entspannt bleiben
können. Deshalb habe ich jemanden gefragt, der sich
auskennt: meinen Kollegen Christian Reiermann.

Christian hat schon über die letzte Weltfinanzkrise geschrieben


und über sämtliche Finanzminister seit Theo Waigel. Außerdem
ist er ein kluger, belesener Kollege (was er gern hinter einem
etwas derben Ruhrgebietshumor verbirgt, in meinem Telefon
bewahre ich eine Liste seiner Aussprüche auf, die allerdings
nicht hierhergehören). Also, was meint er?

»Mit der Übernahme der Credit Suisse durch die UBS ist zwar
die Gefahr eines Flächenbrands fürs Erste gebannt – aber
damit ist längst noch nicht entschieden, ob die Krise gebannt
ist«, schreibt mir Christian. »Denn das Misstrauen in den
Märkten wächst, was daran abzulesen ist, dass Investoren
massenhaft Bankaktien abstoßen, was flächendeckend zu
Kursverlusten führt.«

Woran liegt das?

»Schuld daran sind nicht zuletzt die Konditionen des Credit-


Suisse-Deals«, schreibt Christian. »Sie bestimmen, dass
Investoren leer ausgehen, die Bankanleihen gekauft haben, die
im Krisenfall in Eigenkapital umgewandelt werden. Diese
Papiere waren eine Konsequenz aus der Finanzkrise und
sollten helfen, künftig angeschlagene Institute zu stabilisieren.
Jetzt werden sie womöglich zum Brandbeschleuniger, wenn
Investoren bei anderen Banken aus Angst vor dem Totalverlust
ihre Anleihen loswerden wollen.«

Klingt nicht so richtig gut, finde ich. Und die Conclusio des
Kollegen macht mich nicht zuversichtlicher: »Auch für die
Schweiz ist das Bankenproblem alles andere als gelöst. Die
Schweizer Bundesregierung sieht sich nun einem neuen
Koloss gegenüber, dessen Pleite sie sich noch weniger leisten
kann. Muss der Staat erneut einspringen, wird die Rettung noch
viel teurer.«

Wenn ich Christian richtig verstehe, ist er trotzdem noch nicht


ernsthaft beunruhigt. Ich verlasse mich da auf ihn. Der Mann
verfügt nicht nur über ökonomische Expertise, sondern trinkt für
sein Leben gern Stauder Pils. Das spricht für sein
Urteilsvermögen.

• Chef der Euro-Gruppe zum Finanzbeben: Müssen wir noch


mehr Banken retten, Herr Donohoe? 

Ein Minister und sein Schiff


Heute haben sie die erste Nacht schon hinter sich, die rund 190
Männer und Frauen an Bord der »Gorch Fock«. Am Montag ist
das Segelschulschiff der Marine in Kiel zu seiner 175.
Auslandsreise ausgelaufen. Erst geht es Richtung Spanien und
Portugal, dann über Irland zurück nach Kiel.

Warum ich das erzähle? Weil mich einerseits immer eine leichte
Wehmut befällt, wenn ich von der »Gorch Fock« lese. Ich war
auch mal bei der Marine, habe es allerdings nie auf dieses
wirklich schöne Schiff geschafft. Das war Offiziersanwärtern
vorbehalten, während ich mich erst als Ober-, dann als
Hauptgefreiter der vornehmen Aufgabe widmen durfte, die
Messingglocke des Schnellboots »S 65 Sperber« zu putzen,
sobald wir im Hafen lagen. Weshalb ich es nicht leiden konnte,
im Hafen zu liegen. (Auf der »Gorch Fock« hätte ich es
allerdings erst recht nicht leiden können, man muss da ständig
in die Masten klettern, und ich habe fürchterliche Höhenangst.)

»Gorch Fock« beim Verlassen des Marinehafens in Kiel: Gute


Fahrt!
Foto: Frank Molter / dpa
Andererseits ist die »Gorch Fock« für mich in den letzten Jahren
auch ein Symbol für die gesamte Bundeswehr gewesen, für
den erbarmungswürdigen Zustand dieser Truppe. Vieles, was im
Großen schiefging und nicht funktionierte, ließ sich im Kleinen
an diesem Schiff erzählen, das ewig auf dem Trockenen lag,
weil die Sanierung so viel länger dauerte und so viel teurer
wurde als geplant. Am Ende waren es statt zehn Millionen 135
Millionen. Erst 2021 bekam die Marine ihr Schiff zurück.

Wenn die »Gorch Fock« unterwegs ist, dann ist das erst mal ein
gutes Zeichen, für die Truppe und für den neuen
Verteidigungsminister, für Boris Pistorius. Viel mehr ist es aber
auch noch nicht, die eigentlichen Baustellen sind natürlich
größer, komplexer. Am 7. Juli wird das Schiff in Kiel
zurückerwartet, dann sind die 100 Tage Schonfrist lange
vorbei, die jeder neue Minister üblicherweise eingeräumt
bekommt. Ich bin gespannt, ob dann noch immer so freundlich
über ihn geschrieben und geredet wird wie derzeit.

• Die »Gorch Fock« und der Niedergang der Bundeswehr:


Deutschland, abgewrackt 

Vom Wert des Redens

In Weimar beginnt heute die Klausur der Grünen-


Bundestagsfraktion, und beinah wäre es dort zu einer
wichtigen Begegnung gekommen. Aber nur beinah. Es wird sie
nun doch nicht geben.

Nach Weimar eingeladen war auch der Betriebsrat des


Energiekonzerns Leag, der unter anderem Braunkohle abbaut
und damit so etwas wie der natürliche Gegner der Grünen
ist. Umso wichtiger hätte dieses Gespräch sein können. Man
hätte sich vielleicht mal gegenseitig zugehört. Doch am Montag
sagte der Konzernbetriebsrat der Leag ab. Warum? Am
Wochenende war bekannt geworden, dass die Grünen den
Kohleausstieg auch im Osten vorziehen wollen, um acht
Jahre, auf 2030. Das sei ein »notwendiger Schritt, um die
Klimaziele zu erreichen«, heißt es in einer Beschlussvorlage
für die Fraktionsklausur.

Blick über den Tagebau Nochten auf das Kohlekraftwerk


Boxberg: 2030 wollen die Grünen Schluss machen

Foto: Steffen Unger / IMAGO


Natürlich wäre das sinnvoll, daran habe ich keinen Zweifel.
Trotzdem glaube ich, dass man hier behutsam vorgehen muss.
Auf der anderen Seite stehen ja Menschen, denen es um ihren
Arbeitsplatz geht und, das darf man bei solchen Fragen nie
unterschätzen, einen Teil ihrer Identität. Eine Region bezieht
ihren Stolz eher nicht daraus, die höchste Dichte an künstlichen
Seen zu haben. Sehr viel mehr wird in der Lausitz nicht bleiben,
wenn es mit der Kohle vorbei ist.
Man mag das angesichts der Klimakrise für nachrangig halten
und das womöglich sogar zu Recht – umso mehr wäre dann
aber kluge Kommunikation gefragt. Kluge Kommunikation ist
eher nicht, den Betroffenen eine Jahreszahl hinzuknallen. Vor
allem dann nicht, wenn es eigentlich schon ein mühsam
ausgehandeltes Ausstiegsdatum gibt.

Über Olaf Scholz und seinen Kommunikationsstil ist im ersten


Jahr der Regierung viel geschimpft und gelästert worden: zu
verschlossen, erklärt zu wenig, hieß es – wohingegen die
Grünen, allen voran Annalena Baerbock und Robert Habeck,
viel Lob für ihre Mitteilsamkeit bekamen, ihre Auftritte in sozialen
und sonstigen Medien.

Ich bin mir manchmal nicht so sicher, ob das ausschließlich


gerecht war.

• Streit über Kohleausstieg: Leag-Betriebsrat sagt Grünenklausur


ab

Nachrichten und Hintergründe zu Russlands Angriffskrieg


finden Sie hier:

• Die jüngsten Entwicklungen: In der Nacht gab es ukrainische


Angriffe auf der Krim – mit sehr unterschiedlichen Angaben zu
den Zielen. Und: Kanzler Scholz spricht über seine Telefonate
mit Kremlchef Putin. Der Überblick.

• Prigoschin schreibt an Verteidigungsminister Schoigu –


und verlangt Verstärkung: Wagner-Chef Prigoschin und
Russlands Verteidigungsminister Schoigu gelten als Rivalen.
Der eine hat dem anderen nun einen Brief mit einer freundlichen
Bitte geschrieben. Sicherheitshalber hat er den auch
veröffentlicht.

• »Das ist alles Lüge, alles Show«: Auf einmal drehen sich
mehrere Männer um: Auf einem Video von Putins
Propagandabesuch in Mariupol ist aus der Ferne eine
Frauenstimme zu hören. Und die ruft etwas, das so gar nicht zur
Inszenierung passt.

• »Russland ist jetzt eine Discounttankstelle für China«: Bei


ihrem Treffen in Moskau wollen Wladimir Putin und Xi Jinping
Einigkeit und Stärke demonstrieren. Der Chef der Münchner
Sicherheitskonferenz findet: Vom gegenwärtigen Verhältnis
profitiert vor allem einer der beiden.

Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz

Gewinner des Tages...

Ackermann bittet zum Tanz

Foto: Deutsche Botschaft Indien / dpa


... ist Philipp Ackermann. Er ist der deutsche Botschafter in
Indien und hat gerade mit seinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern etwas getan, was deutsche Botschafter alter Schule
nicht einmal dann getan hätten, wenn man gedroht hätte, ihnen
den Auslandszuschlag zu streichen und ihre
Manschettenknopfsammlung zu konfiszieren: Er hat getanzt,
und zwar nicht im Ballsaal, sondern auf der Straße. Mitten in
Neu-Delhi.

Anlass war der Oscar, den der Song »Naatu Naatu« aus dem
indischen Film »RRR« kürzlich gewonnen hat. Zu diesem Song
tanzten nun Ackermann und sein Team – um damit, so schreibt
der Botschafter auf Twitter  (wo auch das Video zu finden ist),
die Auszeichnung für den Filmsong zu feiern. »Deutsche
können nicht tanzen?«, fragt Ackermann. Und gesteht dann
immerhin ein, das Ganze sei zwar alles andere als perfekt. Aber
Spaß habe es gemacht.

Ich kenne Ackermann aus Berlin. Ich habe ihm einige


anregende Gespräche zu verdanken – und die Erkenntnis, dass
die dünnwandigen Gläser, in denen halbe Liter Bier
ausgeschenkt werden, offiziell den etwas kuriosen Namen
»Willibecher« tragen (ich weiß noch, in welcher Kneipe und in
wessen Gesellschaft wir darüber geredet haben, aber nicht
mehr, warum). Ich habe ihm schon immer viel zugetraut, nur das
mit dem Tanzen eher nicht. Wobei, wenn man ganz genau
hinschaut, ahnt man schon, warum sie ihn bei der Performance
nicht in der ersten Reihe platziert haben.

• Scholz-Reise nach Indien: Wer ist hier noch mal der Bittsteller? 

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

• New York wappnet sich für mögliche Verhaftung Donald


Trumps: An diesem Dienstag könnte der frühere US-Präsident
in New York angeklagt und verhaftet werden. In der Stadt
bereitet man sich auf mögliche Ausschreitungen vor.

• Christian Lindner verwirft ursprüngliche Neubaupläne für


Finanzministerium: Nach seiner Kritik am Kanzleramt stellt der
Finanzminister nun den geplanten Neubau seines eigenen
Ministeriums infrage.

• Christian und Bettina Wulff haben offenbar erneut


geheiratet: Die Beziehung der beiden ist reich an Aufs und Abs.
Nun kommt offenbar eine neue (alte) Wende hinzu:
Medienberichten zufolge haben sich die beiden wieder das
Jawort gegeben.

Die Lage

Folgen des Bankenbebens, »Gorch Fock« auf großer Fahrt,


Grüne und ihre Gegner

Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute

• Biden setzt auf Umverteilung, Europa auf Voodoo: Europas


Regierungschefs suchen eine Antwort auf das
milliardenschwere US-Förderprogramm. Sie sollten dessen
Vorzüge kopieren, nicht die Fehler  .

• Mein Lehrer, der Roboter: Können Grundschulkinder mithilfe


von Künstlicher Intelligenz lesen lernen? Das Kieler
Bildungsministerium startet einen Versuch – und will
überarbeitete Lehrkräfte entlasten  .

• »Viehisches Vollsauffen, biß alle wie vernunfftlose Bestien


da liegen«: Völlerei, Adelsgezänk und Alkoholexzesse – an
barocken Königs- und Fürstenhöfen ging es oft wenig vornehm
zu. Über Etikettefragen zankte eine Aristokratie, die
planetengleich um sich selbst und um die königliche Sonne
kreiste  .

• Völler trinkt Bier, Flick backt Apfelkuchen: Der neue


Sportdirektor Rudi Völler soll Bundestrainer Hansi Flick zur Seite
stehen. Ihre Aufgabenteilung ist zwar nicht ganz klar. Einig sind
sie sich aber, dass die Politik sich bei der DFB-Elf raushalten
solle  .

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihr Christoph Hickmann, stellvertretender Leiter des SPIEGEL-


Hauptstadtbüros

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