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Müller-Lauter - Nietzsches Lehre Vom Willen Zur Macht
Müller-Lauter - Nietzsches Lehre Vom Willen Zur Macht
Wenn Nietzsche schreibt, die Welt sei der Wille zur Macht und nichts
außerdem, so scheint er uns mit dieser klaren Aussage einen Schlüssel zum
Verständnis seines Denkens in die Hand zu geben, mit dessen Gebrauch die
philosophischen Interpreten vertraut sind: Er nennt den Grund des Seienden
und bestimmt von ihm her das Seiende im ganzen; sein Denken ist Meta-
physik in dem uns aus der langen Geschichte der abendländischen Philo-
sophie geläufigen Sinne. Das Verständnis dieses Denkens stellt uns dann
nicht vor grundsätzlich neue Probleme. Mag Nietzsche sich auch ausdrück-
lich gegen die Metaphysik wenden, so können wir uns doch rasch davon
überzeugen, daß er von dieser nur in der Bedeutung einer Zweiwelten-
theorie spricht. Sehen wir von einer solchen Verengung ab, so ist Nietzsches
Anspruch, seine Philosophie sei keine Metaphysik, doch wohl nicht auf recht
zu erhalten. Nietzsche verlängert nur, so könnten wir sagen, die Kette
metaphysischer Weltdeutungen um ein weiteres Glied.
Heidegger hat der Philosophie Nietzsches eine besondere Bedeutung
innerhalb der Geschichte der Metaphysik zugesprochen. Er deutet sie als
die Vollendung der abendländischen Metaphysik, insofern sich in der
von ihr vollzogenen Umkehrung der Metaphysik deren Wesensmöglich-
keiten erschöpfen sollen. In Nietzsches Denken geschieht aber noch mehr:
die Zerstörung der Metaphysik aus ihr selbst heraus. Es läßt sich zeigen, daß
ihr gerade als der höchsten Aufgipfelung der ,Metaphysik der Subjektivität*
diese Subjektivität ins Grund-lose hinabsinkt. Der metaphysische ,Wille
zum Willenc wird in der Gestalt des Willens zur Macht, der sich als er selbst
durchschaut, zum gewollten Wollen, das nicht mehr auf ein Wollendes, auf
den Willen zurückverweist, sondern nur noch auf das Gefüge von Wollen-
dem, welches sich, auf sein letztes faktisches Gegebensein hin befragt, ins
Un-fest-stell-bare entzieht. Kein Zweifel, daß Nietzsche Metaphysiker
bleibt. Kein Zweifel, daß er Metaphysik restauriert: so etwa, wenn er in
der Wiederkunftslehre die höchste Annäherung des Werdens an das Sein
denkt. Aber wesentlicher scheint mir, daß hinter den von ihm immer wieder
Wille zur Macht ist nicht ein Spezialfall des Wollens. Ein Wille ,an sidic
oder ,als solcher" ist eine bloße Abstraktion: faktisch gibt es ihn nicht. Alles
Wollen ist Nietzsche zufolge Etwas-Wollen. Das in allem Wollen wesenhaft
gesetzte Etwas ist: Macht. Wille zur Macht sucht zu herrschen und seinen
Machtbereich unablässig zu erweitern. Machterweiterung vollzieht sich in
1
In Grundzügen habe ich meine Deutung des ,Willens zur Macht* in meinem Buch
Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie,
Berlin-New York 1971, vorgelegt. In ausführlicherer Kritik haben sich bisher mit ihr
auseinandergesetzt: W. Weischedel in einem Diskussionsbeitrag unter dem Titel Der
Wille und die Willen. Zur Auseinandersetzung Wolfgang Müller-Lauters mit Martin
Heidegger, in: ZfphF 27/1, 1973, 71—76 und P. Köster in Die Problematik wissen-
schaftlicher Nietzsche-Interpretation. Kritische Überlegungen zu Wolfgang Müller-
Lauters Nietzschebuch, in Nietzsche-Studien 2, 1973, 31—60. Ich werde im folgenden
auf die wesentlichen Einwände vor allem dieser Kritiker, soweit sie sich auf die
Problematik des Willens zur Macht beziehen, in Anmerkungen eingehen. Wo dies nicht
ausdrücklich geschieht, meine ich den Einwänden doch im Zuge meiner Ausführungen
Rechnung getragen zu haben.
2
Die nachstehenden Ausführungen sind hervorgegangen aus einem Vortrag, den ich
unter dem Titel Überlegungen zu Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht auf Ein-
ladung der Wijsgerig Gezelschap am 13. Mai 1973 in Löwen gehalten habe.
Diese ersten Ausführungen zur Thematik des Willens zur Macht orien-
tierten sich am Nachlaß Nietzsches. Es fragt sich, ob eine solche Orientie-
rung legitim ist. Sollte man sich in einer so wichtigen Frage nicht besser
allein — oder wenigstens primär — an die von Nietzsche selbst veröffent-
lichten Schriften halten? Wie steht es denn um die philologische Zuver-
lässigkeit des edierten Nachlasses? Welches philosophische Gewicht haben
die von Nietzsche nicht publizierten Aufzeichnungen im Verhältnis zu dem
von ihm autorisierten Werk?
des Willens zur Macht ins öffentliche Bewußtsein trat, und zwar im guten,
philosophisch fragenden Sinne wie auch im schlechten, sdilagwortartigen
Gebrauch, dies ist jedoch vor allem darauf zurückzuführen, daß mit der
Ausgabe von 1906 ein B unter dem Titel ,Der Wille zur Macht* erschien
und zur Wirkung gelangte, von dem behauptet wurde, es stelle das philo-
sophische Hauptwerk Nietzsches dar.
Es verbietet sich, von einem solchen Hauptwerk Nietzsches zu spre-
chen. Aber es verbietet sich auch, die in den genannten Kompilationen wie
in anderen Bänden der Groß-Oktav-Ausgabe veröffentlichten Aphorismen
und Fragmente als bloßen Nachlaß beiseitezuschieben. Zwar bedarf es der
Differenzierung zwischen ,editem Nachlaß" einerseits und paraphrasierenden
Exzerpten, die Nietzsche anfertigte, sowie ,Vorstufenc zu von ihm selbst
noch Veröffentlichtem andererseits. Hier wird die neue Kritische Gesamt-
ausgabe noch wesentliche Einsichten eröffnen. Aber schon um das Verhält-
nis zwischen früheren Niederschriften und späteren, für die Publikation
umgearbeiteten Texten steht es im Falle Nietzsche nicht so wie bei anderen
Autoren. Nietzsche hielt nicht nur viele seiner Einsichten zurück. Er gab
auch mancher von ihnen in seinen Schriften nur in verdeckender, lediglich
andeutender Weise oder auch in hypothetischer Form Ausdruck. Der Hin-
weis auf die eigentümliche Bedeutung des Nachlasses Nietzsches verliert an
Befremdlichkeit, wenn wir hören, daß Nietzsche sich selbst als der Ver-
steckteste aller Versteckten verstanden hat.10 In Jenseits von Gut und Böse*
schreibt er sogar, man liebe seine Erkenntnis nicht mehr genug, sobald man
sie mitteile.11 Und in einer nachgelassenen Aufzeichnung aus dem Jahre
1887 heißt es: „Ich achte die Leser nicht mehr: wie könnte ich für Leser
schreiben? ... Aber ich notire midi, für midi."12 Was Nietzsdie zurückge-
halten hat, bekommt von solchen Äußerungen her besonderes Gewidit. So
finden sidi gute Gründe für M. Heideggers Auffassung, daß „die eigent-
liche Philosophie Nietzsdies... nicht zur endgültigen Gestaltung und nidit
zur werkmäßigen Veröffentlichung, weder in dem Jahrzehnt zwischen 1879
und 1889 noch in den voranliegenden Jahren" gekommen sei. Was
Nietzsche selbst veröffentlicht habe, sei „immer Vordergrund". Die eigent-
lidie Philosophie Nietzsches sei als ,Nadilaßc zurückgeblieben.13
10
Vgl. E. Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart I960, 10.
11
JGB 160; KGW VI 2, 100.
12
Nadilaß Herbst 1887, 9 [188]; KGW VIII 2, 114.
13
M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961; hier: 1,17.
14
K. Schlechta, Der Fall Nietzsche, München 19592, 11, vgl. 90 und im Nachwort zu
Sdilechtas Nietzsche-Ausgabe, SA III, 1433. — Daß Schlechta die Möglichkeit nicht
ausschließt, im noch nicht edierten Nachlaß könne sich nodi wichtiges Material finden,
zeigt eine Bemerkung im Philologischen Nacbbericht zu seiner Nietzsche-Ausgabe:
„Wenn ich gesagt habe: ,Der Wille zur Macht* biete nichts Neues, so bezieht sich diese
Behauptung nur auf die genannte Nachlaß-Auswahl. Allerdings sieht es mit dem in der
G<roß> O<ktav) A(usgabe), XII f. (1903 f.) Publizierten auch nicht besser aus — aber
meine Behauptung bezieht sich nicht auf den ganzen Nachlaß. Das kann gar nicht sein,
denn dieser Nachlaß ist ja z. T. noch gar nicht oder nicht einwandfrei entziffert; es gibt
also noch unbekannte Texte darin." (SA III, 1405)
Folge, in der es auch um die sachliche Problematik des Willens zur Macht
ging. K. Löwith warf Schledita vor, eine neue Nietzsche-Legende ver-
breitet zu haben, die nämlich, „daß es den Willen zur Macht als ein von
Nietzsche gestelltes und durchdachtes Problem von weitester Herkunft und
größter Tragweite nicht gäbe."17 In seiner Antwort führt Schlechta aus18, er
bestreite natürlich nicht, „daß Nietzsche in dem von ihm veröffentlichten
Werk des öfteren den Willen zur Macht als eine Grundeigenschaft des
Lebens" apostrophiere, so etwa, wenn er Zarathustra sagen lasse: „Wo ich
Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht". Aber wo Nietzsche
„diesen seinen Gedanken auseinanderzulegen und zu präzisieren" suche, sei
er zu einem „vorzeigbaren Resultat" nicht gelangt.
Dieses Urteil Schlechtas läßt sich nicht aufrechterhalten. Zwar bietet
das von Nietzsche autorisierte Werk keine zureichende Grundlage für ein
Verständnis des Willens zur Macht. Die Abgründigkeit dessen, was er mit
diesem Wortgefüge zu nennen sucht, öffnet sich nur, wenn man den Nachlaß
heranzieht. Schlechta zufolge aber bietet der in der Groß-Oktav-Ausgabe
publizierte Nachlaß nichts Neues gegenüber dem, was Nietzsche in seinen
Veröffentlichungen gesagt hat. So gelangt er zu der grundsätzlichen Über-
zeugung, daß es dem Gedanken des Willens zur Macht an Tragfähigkeit
mangele. Aber wenn sich auch in Nietzsches Schriften oft nur , Vorder-
gründiges' zum Willen zur Macht findet, so ist ihnen für eine Klärung dieses
Problems doch mehr zu entnehmen, als Schlechta wahrhaben will.
Lassen wir uns hier nur auf das ein, was Schlechta selber anführt. In
seiner Antwort an Löwith legt er „zwei Proben" aus Werken Nietzsches
vor, die er als repräsentativ für das erörterte Problem betrachtet. Sie sind —
so will Schlechta zeigen — nicht nur miteinander unvereinbar. Jede der
beiden Ausführungen soll darüber hinaus auch in sich selbst problematisch
sein. Im folgenden werde ich die beiden ,Probenc einer genaueren Betrach-
tung unterziehen. Ich verstehe die in ihnen herangezogenen Texte ebenfalls
als repräsentativ für das von Nietzsche Veröffentlichte.
Die ,erste Probe" Schlechtas ist der Aphorismus 36 in Jenseits von Gut
und Böse*. Nietzsche stellt hier seinen Gedanken des Willens zur Macht im
Kontext einer Reihe von Überlegungen vor, die in die Form von Hypo-
thesen gekleidet sind. Sie brauchen hier im einzelnen um so weniger vor-
geführt zu werden, als es dem Interpreten Schlechta allein um den hypo-
thetischen Charakter geht, welcher sich in Wendungen ausdrückt wie: „Ge-
setzt dass...", „man muss die Hypothese wagen ...", „gesetzt endlich, dass
es gelänge..." — und dergleichen. Nietzsche schließt seine Ausführungen
17
K. Löwith, Zu Schlechtas neuer Nietzsche-Legende, Merkur 12, 1958, 782.
18
Zu den im folgenden herangezogenen Ausführungen Sdilechtas s. Der Fall Nietzsche,
a. a. O. 120—122.
ab mit der Überlegung: „... so hätte man damit sich das Recht verschafft,
alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt
von innen gesehen, die Welt auf ihren ,intelligiblen Charakter* hin be-
stimmt und bezeichnet — sie wäre eben ,Wille zur Machtc und nichts
ausserdem. —a19
Schledita findet die Vorsicht bemerkenswert, mit der sich Nietzsche in
dieser seiner ersten veröffentlichten Auseinanderlegung der Problematik des
Willens zur Macht äußert. Daß Nietzsche den Konjunktiv wählt: die Welt
wäre ,Wille zur Macht' und nichts außerdem, veranlaßt ihn zu schreiben:
„Das klingt für einen Gedanken, der tragen soll, nicht sehr zuversichtlich/
Gegen Schlechtas Auffassung läßt sich zweierlei ins Feld führen.
A. Nietzsche spricht in dem herangezogenen Aphorismus nicht nur hypothe-
tisch. Nachdem er geschrieben hat: „Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser
gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grund-
form des Willens zu erklären", fügt er die Parenthese ein: "— nämlich des
Willens zur Macht, wie es mein Satz ist —". Zu recht schreibt E. Heftrich:
„Das deutliche notum est der Parenthese aber schränkt die Hypothese, als
welche der Aphorismus durchgeführt wird, ein; ja, setzt sie gänzlich in die
Klammer. Damit wird, was in der Parenthese steht, zur Lösung, zum
Grundsatz (,mein Satz')."20 Mit der Einfügung geht Nietzsche in der Tat
über die von ihm in jenem Aphorismus als frag-würdige Annahmen vorge-
tragenen Überlegungen hinaus und nennt in ihr seine Grundüberzeugung.
Von mangelnder Zuversicht kann da wohl nicht gesprochen werden. —
B. Der genannte Aphorismus steht in Jenseits von Gut und Böse unter dem
Zwischentitel Der freie Geist (Zweites Hauptstück). Die freien Geister
sollen die neuen „Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Ver-
stande" sein, wie Nietzsche schon vorher, im Ersten Hauptstück seines
Buches, schreibt. Er empfiehlt ihnen ihre „Maske und Feinheit", auf daß
man sie verwechsle. Hierin soll sich ihr Stil ausdrücken.21 Sie stellen einen
Ubergangstypus dar: es geht Nietzsche darum, wie es in einer Notiz zu den
Schriften seiner mittleren Schaffensperiode heißt, „den Zugang zum Ver-
ständniss eines noch höheren und schwierigeren Typus zu erschliessen, als es
selbst der Typus des freien Geistes ist: — es führt kein andrer Weg zum
Verständniss."22 Betrachtet man die im Aphorismus 36 von Jenseits vonGut
und Böse vorgeführten Gedankenexperimente unter diesem Aspekt, so wird
man A. Baeumler in seiner Kritik an Schledita zustimmen müssen. Baeumler
19
JGB36;KGWVI2,50f.
20
Heftrich, Nietzsches Philosophie, a. a. O. 72.
21
JGB25;KGWVI2, 38.
22
Nachlaß; GA XIV, 349.
23
A. Baeumler, Nachwort zu ,Der Wille zur Ma<ht\ in: KTA 9 (196410), 714.
24
Nachlaß, WM 1067; GA XVI, 401 f.
25
Zur Problematik des Verhältnisses von veröffentlichtem und nachgelassenem Text vgl.
Heftrich, Nietzsches Philosophie, a. a. O., 69 ff. — Man kann darüber hinaus noch eine
frühere Fassung des Schlusses des Aph. WM 1067 heranziehen, die in GA XVI, 515
abgedruckt ist. K. Löwith hat im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit L. Kla-
ges in seinem Buch Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (Stutt-
gart 19562, 97) die beiden Fassungen gegenübergestellt. Die erste Fassung rückt den
„Willen zum Wieder-und-und-noch-einmal-Wollen" in den Vordergrund. Sie könnte nur
unter Einbeziehung der Problematik von Nietzsches Wiederkunftslehre interpretiert
werden, die im Rahmen dieser Abhandlung ausgespart bleiben muß. Löwith schreibt:
„Während in der ersten Fassung das Problem eines Wollens der ewigen Wiederkehr im
Bilde der wechselseitigen Spiegelung von Weltverfassung und Selbstverhalten dadurch
eine scheinbare Lösung findet, daß das Sichselberwollen der Welt als ein Sich-immer-
wieder-Wollen von der ewigen Wiederkunft her gedacht ist und der menschliche Wille
als ein zurück und voran wollender sich ebenfalls im Kreise bewegt, wird die Frag-
würdigkeit eines Wollens der Fatalität in der zweiten Fassung mit der abrupten Formel
vom ,Willen zur Macht', der im Menschen und in der Welt einfach derselbe sein soll,
eher verdeckt als zur Sprache gebracht." (A. a. O. 98.) Löwith findet, daß Nietzsches
Lehren vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkunft einander wider-
sprechen. Dementgegen habe ich in meinem Nietzsche-Buch ihre Vereinbarkeit aufzu-
weisen versucht (a. a. O. 135 ff.). Es geht mir dort u. a. darum, zu zeigen, inwiefern
der höchste Wille zur Macht die ewige Wiederkunft des Gleichen wollen muß. Von
meiner Deutung her löst sich der Schein einer sachlichen Diskrepanz zwischen den
beiden Textfassungen auf.
28
Nachlaß, WM 1067; GA XVI, 402.
27
GM II, 12; KGW VI 2, 329—332.
29
K. Jaspers, Nietzsche, Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin
19472, 310.
80
S. dazu Vf., Nietzsche, a. a. O. 30 ff.
31
W. Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Tübingen 1957, 101.
82
In Der Wille und die Willen fragt Weischedel: „Ist Nietzsche Metaphysiker, wie
Heidegger will, oder ist er es nicht, wie Müller-Lauter behauptet?" (a. a. O. 74) Mit
der Frage wird ein gemeinsames Verständnis von Metaphysik bei den Befragten vor-
ausgesetzt. Ob dies zu recht geschieht, soll wenigstens andeutungsweise erörtert
werden.
Nach Nietzsche entsteht Metaphysik dadurch, daß das Denken „zu dem Bedingten das
Unbedingte hinzudenkt, hinzuerfindet". Es geht Nietzsche immer wieder darum, den
„Unsinn aller Metaphysik als einer Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten"
herauszustellen. (Nachlaß, WM 574; GA XVI, 71) An Nietzsches eigenem Verständnis
von Metaphysik orientiere ich mich, wenn ich auf die Genealogie der Metaphysik aus
der Logik eingehe (Vf., Nietzsche, a. a. O. 13) und wenn ich Nietzsches Philosophie von
der Schopenhauers abhebe. Für Nietzsche handelt es sich um Metaphysik, wenn „aus
einem Ersten, Einfachen eine Vielheit deduziert wird". Daß sich mein eigenes Ver-
ständnis von Metaphysik in dieser Formulierung erschöpft, wie Weischedel offensicht-
lich meint (Der Wille und die Willen, a. a. O. 72), trifft nicht zu. Wichtig ist mir die
Herausstellung von Nietzsches Verständnis von Metaphysik auch für meine Ausein-
andersetzung mit anderen Nietzsche-Interpretationen. Man wird Nietzsche nicht ge-
recht werden können, wenn man ihm unterstellt, er falle selber in die von ihm ge-
Die Welt ist Eins und Vieles. Die Welt ist der Wille zur Macht. Danach
läßt sich vermuten, daß auch der Wille zur Macht Eins und Vieles ist. Gehen
wir davon aus, der Wille zur Macht sei Eins. Wie kann dann dieses Eins-
sein verstanden werden? Das Eins als theologisch oder metaphysisch Grün-
dendes weist Zarathustra zurück. „Böse" heißt er „all dies Lehren vom
Einen".33 Auch ist das Eins für Nietzsche keineswegs ,das Einfache<. „Alles
was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht ,wahr*. Was aber wirklich, was
wahr ist, ist weder Eins, noch auch nur reduzirbar auf Eins"34. Was aber
besagt dann Einheit für Nietzsche? Er antwortet: „Alle Einheit ist nur als
Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders, als wie ein mensch-
liches Gemeinwesen eine Einheit ist"35. Dies nötigt uns, auch das Eins des
sehene und kritisierte Gestalt von Metaphysik zurück. Dies geschieht bei Heidegger, wie
ich zu zeigen versucht habe (Vf., Nietzsche, a. a. O. 30 ff.). Dies geschieht auch bei
Weischedel, wenn er schreibt, Nietzsche könne „zwar als der große Zerstörer der über-
lieferten Metaphysik gelten. Aber das besagt doch nur, daß er diese durch seine neue
Metaphysik des Willens zur Macht ersetzt. Auch er kann im Philosophieren nicht dar-
auf verzichten, ein Absolutum zu setzen." (Der Gott der Philosophen, Erster Band,
Darmstadt 1971, 455).
Von Nietzsches nichtmetaphysischem Denken spreche ich nur, wenn ich in immanenter
Darstellung sein Verständnis von Metaphysik zugrunde lege. Versteht man aber unter
Metaphysik sehr viel umfassender das Fragen nach dem Seienden im ganzen und als
solchem, so muß man auch nach meiner Auffassung Nietzsche als Metaphysiker be-
zeichnen. Es muß dann freilich auf die Zeichen der Auflösung in Nietzsches Metaphysik
geachtet werden: ,das Ganze* ist nur noch als ,Chaos* gegeben, das Seiende als solches
ist nicht mehr feststellbar*. Deutet man Metaphysik in ihrem , Wesen* mit Heidegger
als Seinsvergessenheit, so stellt Nietzsches Philosophie, in der ,Sein* als bloße Fiktion
gilt, eine Metaphysik hervorgehobener Art dar. Jedenfalls stimme ich insoweit mit
Heidegger überein, als ich nicht bereit bin, Nietzsche aus der Geschichte der Metaphysik,
gar aus der Metaphysik der Subjektivität herauszunehmen, wie B. Taureck in seiner Be-
sprechung meines Buches vermutet (in: Wissenschaft und Weltbild 1972, Heft 3, 236 f.).
Daß die aufs Äußerste gesteigerte Subjektivität zugleich ihren eigenen Zerfall signali-
siert, soll im folgenden oben noch deutlicher dargestellt werden.
Diese wenigen Andeutungen müssen genügen, um Weischedels eingangs genannte Frage
einzugrenzen. Nur insoweit Heidegger dem Denken Nietzsches eine Metaphysik unter-
stellt, gegen die dieser sich ausdrücklich gewandt hat, erfolgt die in der Frage vorge-
nommene Entgegensetzung zu recht. Weischedel bleibt selbst nicht bei der Entgegen-
setzung stehen. Er weist darauf hin, daß die Bestimmung des Willens zur Macht als
Seinsverfassung durch Heidegger und meine Ausführungen zum Willen zur Macht als
der einzigen Qualität „einander näher sind, als es auf den ersten Blick erscheint" (Der
Wille und die Willen, a. a. O. 75). In der Tat arbeiten sowohl Heidegger als auch ich
den Willen zur Macht als Essenz heraus. Doch schon in der Ausarbeitung dessen, was
bei Nietzsche Essenz und Existenz besagen, endet die Gemeinsamkeit.
33
Za II, Auf den glückseligen Inseln; KGW VI l, 106.
34
Nachlaß Frühjahr 1888, 15 [118]; KGW VIII 3, 272 f. (WM 536).
85
Nachlaß, WM 561; GA XVI, 63.
WLlens zur Macht unter diesem Aspekt zu bedenken. Das Viele tritt in den
Vordergrund. Nur eine Mannigfaltigkeit kann zur Einheit organisiert
werden. Bei dem organisierten Vielen muß es sich um ,Machtquantenc han-
deln, wenn denn die eine Welt nichts anderes ist als der Wille zur Macht. Ich
kann nun an das anknüpfen, was zu Schlechtas ,zweiter Probe" ausgeführt
worden ist.
Der Wille zur Macht ist die Vielheit von miteinander im Streite liegen-
den Kräften. Auch von der Kraft im Sinne Nietzsches kann man Einheit
nur in der Bedeutung von Organisation aussagen. Zwar ist die Welt „eine
feste, eherne Grosse von Kraft", sie bildet „Ein Quantum von Kraft".36
Aber dieses Quantum ist allein im Gegeneinander von Quanten gegeben. Zu
recht bemerkt G. Deleuze: «Toute force est... dans un rapport essentiel
avec une autre force. L'etre de la force est le pluriel; il serait proprement
absurde de penser la force en singulier.»37 Sind die Kräfte aber nichts ande-
res als die ,Willen zur Macht', so läßt sich auch Heideggers Behauptung
nicht aufrecht erhalten, Wille zur Macht sei „nie Wollen eines Einzelnen,
Wirklichen", Wille zur Macht sei „immer Wesenswille".38
Als Spiel und Gegenspiel von Kräften resp. Machtwillen enthüllt sich
die Welt, von der Nietzsche spricht. Bedenken wir zunächst, daß die Zusam-
menballungen von Machtquanten sich unablässig mehren oder mindern, so
kann nur von sich fortlaufend ändernden Einheiten gesprochen werden,
nicht aber von der Einheit. Einheit ist immer nur Organisation unter der
kurzfristigen Herrschaft dominierender Machtwillen. Nietzsche radikali-
siert seine Auffassung noch durch die Bemerkung, daß jede solche Einheit
als ein „Herrschafts-GebiIde" nur „Eins" bedeute, jedoch „nicht Eins" sei?*
Das Eins ist nicht. Dann ist auch der Wille zur Macht nicht als Eins. Die
Einheit von Herrschafts-Gebilden, in denen eine Vielheit von Machtquan-
ten zusammengefügt ist, hat kein Sein. Andererseits aber sagt Nietzsche, wie
wir gehört haben: Die Einheit ist Einheit als Organisation. Gerät Nietzsche
hier nicht in Widerspruch mit sich selbst? Wenn wir an „die , Vernunft' in
der Sprache" glauben, so müssen wir die Frage bejahen. Doch für Nietzsche
ist die Sprach-Vernunft „eine alte betrügerische Weibsperson". Nichts habe
bisher „eine naivere Uberredungskraft gehabt", so heißt es im gleichen
Zusammenhang, „als der Irrthum vom Sein, wie er zum Beispiel von den
Eleaten formuliert wurde: er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich,
den wir sprechen!"40 Nietzsche ist überzeugt, daß die Sprache uns täuscht,
s
» Nadilaß, WM 1067 und 638; GA XVI, 401 und 115.
37
G. Deleuze, Nietzsche et la philosophic, Paris 1970*, 7.
38
M. Heidegger, Nietzsche, a. a. O., I, 73. — Heidegger führt aus (a. a. O. II, 36): „Statt
,Wille zur Macht* sagt Nietzsche oft und mißverständlich »Kraft'."
39
Nadilaß, WM 561; GA XVI, 63.
40
GD, Die „Vernunft" in der Philosophie 5; KGW VI 3, 72.
wenn wir das Wort beim Wort nehmen, d. h. wenn wir bei ihm stehen-
bleiben und uns nicht durch es hinweisen lassen auf die Sachverhalte, die in
ihm nicht aufgehen. Weil Nietzsche solcherart hinweisend spricht, kann er
sowohl ,istc sagen und dem ,istc zugleich Wirklichkeit absprechen.41 Gefragt
werden muß freilich, in welchem Sinne es kein Sein gibt. ,Seinc ist Nietzsche
zufolge „eine leere Fiktion". Daß er sich mit dieser Behauptung auf
Heraklit berufen zu können glaubt42, zeigt wie schon sein Hinweis auf die
Eleaten an, welche „Beschränkung des Seins", mit Heidegger zu reden43, für
Nietzsches Seins Verständnis konstitutiv ist: das Sein wird dem Werden ent-
gegengesetzt und als ,Täuschungc aus diesem abgeleitet44. Als das dem
Werden Entgegengesetzte gilt ,Seinc als das Beständige. Der Gedanke der
Beständigkeit verträgt sich nun aber durchaus mit dem Gedanken der Viel-
heit. Nietzsche bemerkt: „Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der
Verführung ihres Seins-Begriffs: Demokrit unter Anderen, als er sein Atom
erfand .. ,"45.
Nietzsche unterliegt einer solchen Verführung nicht. Wenn es kein Sein
im Sinne von Beständigem gibt, dann gibt es auch keine Atome. Nicht nur
das Eins eines organisierten Herrschafts-Gebildes hat kein solches jSein',
sondern auch das Viele, das in einem Gebilde ,zusammenspielt', ,istf nicht,
sofern es als aus festen Einheiten zusammengesetzt gedacht wird. Das Viele
von Machtquanten ist also nicht als Pluralität von quantitativ irreduziblen
Letztgegebenheiten, nicht als Pluralität von unteilbaren ,Monadenc zu ver-
stehen.46 Machtverschiebungen innerhalb der instabilen Organisationen
41
Köster kritisiert meine im Hinblick auf Nietzsche vorgenommene Differenzierung
zwischen fixierendem Begriff und hinweisendem Wort (Die Problematik ..., a. a. O. 40).
Die sich in diesem Zusammenhang stellenden Fragen sind von J. Salaquarda (in Der
Antichrist, Nietzsche-Studien 2, 1973, 91 ff.; hier: 133 ff.) weitergeführt und vertieft
worden. Aus Salaquardas Ausführungen erhellt, wieso Nietzsche seinen ,Begriffen* z. B.
„eine eigene Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebensosehr der Tiefe als des Moders" zu-
kommen lassen kann (Nachlaß; GA XIV, 355).
42
GD, Die „Vernunft" in der Philosophie 2; KGW VI 3, 69.
43
M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953, 71 ff.
44
Gelegentlich gebraucht Nietzsche das Wort ,Sem' allerdings auch im Sinne von ,Leben*.
Dann wird Sein selber als das Werden verstanden. Auch in der Bedeutung von , Wesen*,
von , Wirklichkeit*, von ,besonderem Seienden* wie von ,Seiendem im ganzen* findet es
manchmal Verwendung.
45
GD, Die „Vernunft" in der Philosophie 5; KGW VI 3, 72.
48
Wenn ich die Annahme zurückweise, man könne Nietzsches Willen zur Macht eine Sub-
stantialität im Leibnizschen Sinne zusprechen (Vf., Nietzsdne, a. a. O. 32 f.), so ver-
birgt sich dahinter nicht der Gedanke, den Willen zur Macht komme Substantialität in
irgendeinem anderen Sinne zu, wie Köster argwöhnt (Die Problematik..., a. a. O.
43 ff.). Ich gerate auch nicht in die Gefahr einer Substantialisierung, wenn ich, Nietzsches
Gedankengängen folgend, den Menschen als Einheit von relativer Eigenständigkeit ver-
stehe. ,Der Mensch* erwacht in meiner Deutung nach seiner vorangegangenen „Destruk-
lassen aus einem Machtquantum zwei werden oder aus zweien eines. Wenn
wir uns der Zahlen in einem fest-stellenden und abschließenden Sinne be-
dienen, so muß gesagt werden, daß die ,Zahlc der Wesen immer im Fluß
bleibt.47 Es gibt kein Jndividuum', es gibt kein letztes unteilbares Quantum
Macht, zu dem wir hinunterkommen. Nietzsche nimmt für sich in Anspruch,
jradikal' zu denken, insofern er „die ,kleinste Welt' als das überall-Ent-
scheidende entdeckt" habe48. Dieses Kleinste kann als faktisches nie ein
Letztes sein. Es ist als Welt immer ein Gebilde, das konstituiert ist durch
„Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta
Macht auszuüben"49.
Ein Herrsdiafts-Gebilde ,istc nicht Eins, es bedeutet Eins. Was meint
hier ,bedeutenc? In Jenseits von Gut und Böse schreibt Nietzsche, Wollen er-
scheine ihm vor allem als „etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine
Einheit ist"50. Daß uns die Sprache Einheiten vorgaukelt, haben wir schon
vernommen. Doch das Bedeuten ist ursprünglicheren Wesens als das
Sprechen. Sprechen ist eine Ausdrucksweise des Machtwollens.51 Es be-
siegelt, was vorgängig schon als etwas ausgelegt worden ist. Alle Auslegung
erwächst aus dem Machtstreben der Herrschafts-Gebilde. Diese legen sich
dasjenige zurecht, was sie überwinden, vielleicht sich einverleiben wollen
oder gegen das sie sich zur Wehr setzen. Das Zurechtmachen ist immer ein
fälschendes Gleichmachen und Festmachen. Das gleich und fest Gemachte ist
für den Zugriff oder auch für die Abwehrhaltung eines Machtwollens prä-
pariert.52 Nietzsche schreibt: „Wenn ich alle Relationen, alle ,Eigenschaftenc
alle ,Thätigkeitenc eines Dinges wegdenke, so bleibt nicht das Ding übrig:
weil Dingheit erst von uns hinzufingirt ist, aus logischen Bedürfnissen, also
zum Zwecke der Bezeichnung, der Verständigung."53 ,Dasc Ding bedeutet
dem Auslegenden Eins, obwohl ihm in Wirklichkeit nur eine Vielheit gegen-
übersteht. Doch auch ,der' Auslegende ist nichts anderes als eine Vielheit
„mit unsicheren Grenzen"54. Wir sind „eine Vielheit, welche sich eine Einheit
tion" damit nicht „zu neuem Leben", wie Köster schreibt (a. a. O. 46), er ist vom Be-
ginn meiner diesbezüglichen Ausführungen an (Vf., Nietzsche, a. a. O. 18 ff.) als zur
Einheit organisierte Vielheit von Kräften im Blick.
47
Vgl. Vf., Nietzsche, a. a. O. 33.
48
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [37]; KGW VIII 3, 28.
49
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [81]; KGW VIII 3, 53.
50
JGB 19; KGW VI 2, 26.
51
„Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, daß man sich erlauben sollte, den
Ursprung der Sprache selbst als Machtäußerung der Herrschenden zu fassen: sie sagen
,das ist das und das4, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und
nehmen es dadurch gleichsam in Besitz", heißt es in Zur Genealogie der Moral (I, 2;
KGW VI 2, 274).
52
S. dazu Vf., Nietzsche, a. a. O. 11 if.
53
Nachlaß Herbst 1887, 10 [202]; KGW VIII 2, 246 (WM 558).
54
Nachlaß; GA XIII, 80.
eingebildet hat", notiert Nietzsche55. Als Mittel, mit dem ,ichc , ' über
,mich selbst* täusche56, dient das Bewußtsein, der Intellekt. Zwar muß es
„eine Menge Bewusstseins und Willens in jedem complizirten organischen
Wesen geben", doch „unser oberstes Bewusstsein hält für gewöhnlich die
anderen geschlossen."57 Das Herrschafts-Gebilde, das ich bin, gibt sich sich
selbst durch dieses Bewußtsein als Eins zu bedeuten: durch „Vereinfachen
und Übersichtlich-machen, also Fälschen". Auf diese Weise werden die
scheinbar einfachen Willensakte ermöglicht.58
Aus all dem dürfte deutlich geworden sein, daß Nietzsche immer fak-
tische Vielheiten von Willen zur Macht im Blick hat, die jeweils Eins im
Sinne von Einfachheit bzw. Stabilität bedeuten, in Wahrheit jedoch kom-
plexe und unaufhörlich sich wandelnde Gebilde ohne Beständigkeit sind, in
denen sich ein Gegeneinander von in mannigfachen Abstufungen organi-
sierten Kraftquanten abspielt. Mit welchem Recht kann Nietzsche dann
aber immer wieder von dem Willen zur Macht sprechen, als wäre er nicht
nur in der charakterisierten Vielheit gegeben, als wäre er faktisch Eins? Als
gründe der Wille zur Macht als Einfaches die Welt?59
55
Nachlaß; GA XII, 156.
56
„Ich und Mich sind immer zwei verschiedene Personen." Auch mein ,Michc ist „er-
dichtet und erfunden" (Nachlaß; GA XII, 304).
57
Nadilaß; G A XIII, 239 f.
58
Nadilaß; GA XIII, 249. — Vgl. Vf., Nietzsche, a. a. O. 25 f.
59
Sowohl Weischedel als auch Köster wenden gegen die von mir in meinem Nietzsche-
Buch vorgelegte Deutung des ,Willens-zur-Macht-Pluralismus' ein, daß Nietzsche doch
immer wieder von dem Willen zur Macht spreche. Beide Kritiker beziehen sich dabei
auch auf Nietzsches Satz, diese Welt sei der Wille zur Macht und nichts außerdem. Es
stelle sich die Frage, so schreibt Weischedel, warum Nietzsche „nicht — im Sinne Müller-
Lauters — sagt: Diese Welt ist die unendliche Fülle der Willen zur Macht" (Der Wille
und die Willen, a. a. O. 75). Köster führt aus, der Satz hätte „nach Müller-Lauter
eigentlich zu lauten ...: ,Diese Welt ist die (Vielheit von) Willen zur Macht.. ."* (Die
Problematik..., a. a. O. 39). Der genannte Satz verlangt in der Tat, wie ich in dieser
Abhandlung ausführlich zu zeigen versuche, eine Explikation in die von meinen
Kritikern charakterisierte Richtung. In welchem Sinne Nietzsche von dem Willen zur
Macht als der Welt sprechen kann, soll in den folgenden beiden Abschnitten deutlich
gemacht werden.
Die Folgerung, die Weischedel aus jenem Satz zieht, dieser lege nahe, „daß Nietzsche
die vielen konkreten Willen zur Macht doch schließlich als Manifestationen eines einheit-
lichen, die ganze Wirklichkeit bestimmenden Prinzips denkt", „dies freilich so, daß
dieser umgreifende Wille in einzelnen Willen zur Macht Gestalt gewinnt" (Der Wille
und die Willen, a. a. O. 75), verweist Nietzsches Denken in jene metaphysische Dimen-
sion, die es verlassen hat. Nietzsche verfiele selber jener Verdoppelung der Wirklichkeit,
die er bekämpft: der Wille zur Macht bestünde einmal als Umgreifendes, als Prinzip,
und dann noch in seinen Besonderungen. Weischedel nähert sich andererseits meiner
Auffassung, wenn er schreibt, die vielen Machtwillen seien „darin verbunden, daß sie
alle vom Wesen des Willens zur Macht sind" (a. a. O. 75), der Wille zur Macht habe
„seine Daseinsweise in den konkreten Willen, deren Verfassung er bildet". Er entfernt
sich wieder von ihr, wenn er ausführt, Nietzsche sei „unterwegs von der Metaphysik
zur konkreten Realität" (a. a. O. 76). Damit denkt Weischedel doch die Vielheit von
dem Willen zur Macht als einem sie allererst Gründenden her.
Die Problematik einer Deutung, die den Willen zur Macht als ein Quasi-Subjekt an-
sieht, das sich selber will, tritt in Kösters Auseinandersetzung mit mir deutlich hervor.
Köster findet in meinem „Insistieren auf der Vielheit der Letztgegebenheiten** eine „Ein-
seitigkeit" (Die Problematik ..., a. a. O. 48). Der „im Willen zur Macht zweifellos kon-
stitutive(n) Aspekt der Vielheit" dürfe nicht »auf Kosten des ebenso konsumtiven
Aspekts der Einheit" herausgestellt werden (a. a. O. 41). Im Zuge seiner Deutung eines
Nachlaßfragments aus dem Frühjahr 1888 (das freilich nun erst unzerstückt und voll-
ständig in KGW VIII 3, 49—51, Frgm. 14 [79], vorliegt) kommt er zu dem Resultat:
„Im Willen zur Macht scheint somit die Vielheit der (mit ihm identischen) Quanten
ihren einen Grund zu haben." (a.a.O. 41, Anm. 22) Das erscheint mir fragwürdig.
Die Frage, die hier gestellt werden muß, ist die nach dem Verhältnis von ,Identität*
und ,Grund*. Köster gerät in Gefahr, in einen von Nietzsches Denkvoraussetzungen her
unangemessenen Dualismus abzugleiten, wenn er zwischen den Machtwillen des Indi-
viduums und dem Willen zur Macht unterscheidet. Was für jene gelte, so schreibt er,
könne „nicht ohne weiteres verallgemeinert und auf den Willen zur Macht angewendet
werden". Meine Ausführung, alles Einfache stelle sich als Produkt einer wirklichen
Vielheit dar, gelte zwar „durchaus für Nietzsches Destruktion des Individual willens,
sie gilt aber nicht in gleicher Weise (sie!) für den damit nicht zu verwechselnden (sie!)
, Willen zur Macht*" (a. a. O. 42). Andererseits betont Köster, daß trotz aller Unter-
scheidung die beiden Bestimmungen zusammengehören. Zusammeni/en&en lassen sie
sich ihm zufolge jedoch nicht. Der „Gesamtcharakter der Welt und damit der Wille zur
Macht meldet sich im undenkbaren und gerade so gewollten Zugleich von Eins und
Vielem", wofür „Nietzsche den Begriff des Dionysischen gebraucht" habe. Jedenfalls sei
„die dionysische Identität... von Nietzsche trotz und wegen ihrer Unmöglichkeit ge-
wollt" worden (a. a. O. 42 f.). Trotz des Monitums von Köster (a. a. O. 36, Anm. 16)
kann ich auch hier nicht auf Nietzsches Verständnis des Dionysischen eingehen. In
Kösters Kritik erhält das Dionysische jedenfalls die Funktion, die Gegensätze im ge-
wollten Undenkbaren zur Synthese zu bringen (a. a. O. 36, vgl. bes. auch 57) und von
diesem Undenkbaren her die Ausarbeitung von Nietzsches Gegensätzen als rationali-
stisch abzuqualifizieren (s. dazu im folg. S. 54 ff., Anm. 188).
Wenn Köster sich bei seiner Unterscheidung zwischen dem Willen zur Macht und den
Willen zur Macht Nietzsches Gebrauch der Anführungszeichen zuwendet, so steht die
Art seiner Argumentation in Kontrast zu der Subtilität ihres Gegenstandes. Er weist
darauf hin, daß Nietzsche an zwei von mir zitierten Stellen den Plural in Anfüh-
rungszeichen setzt, während der Singular nicht in ihnen steht (a. a. O. 48 f., Anm. 33).
Dies sei „die Feinheit, auf die hier zu achten gewesen wäre". Wenn Köster nun schreibt,
es sei „auch sonst fast durchgehend in den anderen Nachlaßtexten... der Begriff des
Willens zur Macht zunächst singularisch gebraucht und nicht in Anführungszeichen ge-
zieht.60 Wir müssen uns aber davor hüten, die Qualität in irgendeiner Weise
zu substantialisieren, sei diese Weise auch noch so sublim. Es gibt die Quali-
tät nicht als etwas Für-sich-bestehendes, nicht als Subjekt oder Quasi-
Subjekt, auch nicht als das Eine, dessen „Hervorbringungen" erst die kom-
plexen Gebilde von relativer Dauer sind, wie Heidegger ausführt61. Die
einzige Qualität ist vielmehr immer schon in solchen quantitativen Besonde-
rungen gegeben, sonst könnte sie diese Qualität nicht sein. Ist doch jeder
Wille zur Macht auf den Gegensatz zu anderen Machtwillen angewiesen,
um Wille zur Macht sein zu können. Die Qualität ,Wille zur Macht' ist
nicht ein wirkliches Eins; dies Eins besteht weder in irgend einer Weise für
sich, noch ist es gar ,Seinsgrundc. , Wirkliche' Einheit gibt es allein als Orga-
nisation und Zusammenspiel von Machtquanten.
setzt", so ist dies, gelinde gesagt, eine Ubertreibung. Es gibt viele Ausführungen, in
denen Nietzsche den Plural ohne Anführungszeichen gebraucht, und es gibt viele
Stellen, wo er den Singular in Anführungszeichen setzt. Sie hier aufzuzählen, erscheint
mir überflüssig. — Aber auch wenn man von der zitierten, zur Generalisierung tendie-
renden Äußerung Kösters absieht und seine Forderung ernst nimmt, daß die Bedeutung
der von Nietzsche gesetzten Anführungszeichen „nur dann hervortritt, wenn man den
(sc. besonderen) Text als ganzen nimmt", zeigt sich sogleich, daß man den besonderen
Text überschreiten muß, um den Sinn dieser Auszeichnungen zu verstehen (a. a. O. 49).
Ein instruktives Beispiel hierfür bietet Heftrichs Bemühung, die Anführungszeichen, in
die Nietzsche am Beginn des Aphorismus WM 1067 die beiden Wörter „die Welt"
genommen hat, zu interpretieren. Es zeigt sich bald, daß Heftrich weit über den langen
Aphorismus hinausgehen muß: „denn die Anführungszeichen interpretieren heißt na-
türlich, den Begriff ,Welt* bestimmen" (Nietzsches Philosophie, a. a. O. 54). Auch die
Deutung, die mir Köster als Beispiel vorhält — Heideggers Exegese eines Binde-
strichs —, ist nur von einem Verständnis des Willens zur Macht her möglich, das nicht
aus dem interpretierten Aphorismus zu ziehen ist. — Schränkt man Kösters Vorhaltung
noch weiter ein, bezieht man sie nur auf die Stelle, von der seine Argumentation aus-
geht, nämlich auf Nietzsches Rede von „zwei ,Willen zur Macht* im Kampfe", so muß
man feststellen, daß Köster seine eigene Deutung nicht nur aus dem herangezogenen
Aphorismus (WM 401) gewinnt: daß der Wille zur Macht aus dem Widerspruch von
Leben und Nichts „die mannigfachen Gegensätze desjenigen nichtigen Scheins, der
,Welt' geheißen wird, produziert und zugleich vernichtend in sich zurücknimmt" (a. a.
O. 49), ist der Textvorlage nicht zu entnehmen, wie man der genannten Forderung
gemäß erwarten dürfte.
Daß auch meine Deutung der Anführungszeichen in der Wendung von den zwei
, Willen zur Macht* im Kampfe sich aus einem Gesamtverständnis von Nietzsches Den-
ken speist, ist selbstverständlich. Es sind hier wie auch anderwärts mehrere Gründe, die
eine solche Auszeichnung angebracht erscheinen lassen. In diesem Falle: die extreme Ver-
einfachung (worauf ich schon in meinem Buch, a. a. O. 76, hingewiesen habe); die Ver-
deutlichung dessen, daß auch der Wille zum Nichts Wille zur Macht ist; der Sachver-
halt, daß die zwei Willen zur Macht (der Starken und der Schwachen) keine fak-
tischen Machtwillen sind, denkt man sie in ihrer Allgemeinheit und nicht als Besonde-
rungen in Organisationen (dazu oben S. 27 f.). — Warum Nietzsches Philosophie über-
haupt „immer wie eine Philosophie der ,Gänsefüßchen' aussehn" müsse, wie er selbst
schreibt (Nachlaß; GA XIV, 355), bedürfte einer eigenen Erörterung.
60
S. hierzu Vf., Nietzsche, a. a. O. 21 ff.
61
M. Heidegger, Nietzsche, a. a. O. II, 106.
Spricht Nietzsche vom Willen zur Macht als der einzigen Qualität, so
läßt er sehr häufig den Artikel fort. Dadurch wird besonders deutlich, daß
es sich bei dem Machtwillen nicht um ein Prinzip oder ein ens metaphysicum
handelt. Dies geschieht auch in zwei Formulierungen Nietzsches, die be-
sondern gern herangezogen werden, um seine Philosophie in ein metaphy-
sisches Schema zu pressen, in das sie nicht paßt. So spricht er im Zusammen-
hang einer Schopenhauer-Kritik in Jenseits von Gut und Böse von der
„Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist"62, und im Nachlaß heißt es (wie
schon eingangs zitiert), „das innerste Wesen des Seins" sei „Wille zur
Macht". Ob Nietzsche nun schreibt: „der Wille zur Macht" oder „Wille zur
Macht", er meint doch immer die einzige Qualität, abgesehen selbstver-
ständlich von den Fällen, in denen er mit der Bezeichnung ,der Wille zur
Macht' einen Machtwillen in seiner besonderen Konstitution herausstellt.
Nun zur zweiten Bedeutung von Nietzsches ,singularischer Redeweise*.
Da der Wille zur Macht die einzige Qualität des Wirklichen ist, kann
Nietzsche den Singular auch im Hinblick auf allgemeine Bestimmungen an-
wenden, mit denen üblicherweise Mannigfaltiges in Bereiche zusammen-
gefaßt wird oder die in irgendeiner sonstigen umfassenden Weise Bedeutung
haben. Als Beispiel sei der Entwurf eines Planes vom Frühjahr 1888 heran-
gezogen, der die Überschrift trägt: „Wille zur Macht. Morphologie." In
dieser Aufzeichnung stellt Nietzsche die Titel zusammen:
„Wille zur Macht als ,Naturc
als Leben
als Gesellschaft
als Wille zur Wahrheit
als Religion
als Kunst
als Moral
als Menschheit"63.
Uns können hier weder die einzelnen Titel noch die Reihenfolge ihrer
Zusammenstellung beschäftigen64. Im Ausgang von dieser Aufzeichnung
62
JGB 186; KGW VI 2, 109.
63
Nadilaß Frühjahr 1888, 14 [72]; KGW VIII 3, 46. — Unmittelbar vor diesem Text
findet sich folgende Aufstellung Nietzsches:
„Wille zur Macht als ,Naturgesetzc
Wille zur Macht als Leben
Wille zur Macht als Kunst
Wille zur Macht als Moral
Wille zur Macht als Politik
Wille zur Macht als Wissenschaft
Wille zur Macht als Religion" (Ebd., 14 [71]).
64
Hier ist vergleichende ,Gänsefüßdien-Philologie' am Platz. Das Wort ,Natur* ist in der
Aufzählung als einziges Wort in Anführungszeichen gesetzt. In der von Nietzsche zu-
soll deutlich gemacht werden, wie (der) Wille zur Macht nicht verstanden
werden darf. Er ist nicht ein der Welt Zugrundeliegendes, das Leben her-
vorbringt oder sich als Kunst entäußert oder sich als Menschheit verwirk-
licht. Vielmehr sind die von Nietzsche aufgeführten ,Gestaltungenc ihrem
Wesen nach: Wille zur Macht. Dieses Wesen in den verschiedenartigen Be-
reichen' sichtbar zu machen, ist die Aufgabe einer „Morphologie des ,Willens
zur Macht'", von der auch in einem anderen Plan Nietzsches aus der ersten
Jahreshälfte 1888 die Rede ist65. Dies gilt gerade dann, wenn der Wille zur
Macht in bestimmten Ausdrucksweisen (nicht Hervorbringungen!) ver-
borgen bleibt. Aus einem weiteren Entwurf Nietzsches aus dem gleichen
Jahre, der die Überschrift trägt: „Der Wille zur Macht. Versuch einer Um-
werthung aller Werthe", sei ein Teil der Gliederung angeführt. Er zeigt, in
welcher Weise der Wille zur Macht z. B. als Moral und Religion verstanden
werden muß:
„II. Die falschen Werthe.
1. Moral als falsch.
2. Religion als falsch.
3. Metaphysik als falsch.
4. die modernen Ideen als falsch.
///. Das Kriterium der Wahrheit.
1. der Wille zur Macht."66
Moral und Religion sind in ihren überlieferten, das Zeitalter noch
immer bestimmenden Gestaltungen vom Wesen des Willens zur Macht, auch
wenn in ihnen dieses Wesen in einer Verkehrung erscheint. Das Kriterium
für ,falschc und ,wahre ist in dem zu finden, was Wille zur Macht unverdeckt
als Wille mr Macht ist. „In der Steigerung des Machtgefühls" tritt es
zutage67.
Wir müssen noch einen Schritt weitergehen. Die allgemeinen Gestal-
tungen und Bestimmungen sind nicht nur ,falschc, insoweit in ihnen be-
sondere Inhalte zu Einheiten zusammengefaßt werden. Sie sind schon ihrer
68
Heidegger sucht darzulegen, »wie in Nietzsches Metaphysik der Unterschied von
essentia und existentia verschwindet, warum er verschwinden muß im Ende der Meta-
physik, wie gleichwohl so die weiteste Entfernung vom Anfang erreicht ist" (Nietzsche,
a. a. O. II, 476). Im Zusammenhang seiner metaphysikgeschichtlichen Betrachtungen
versteht Heidegger den Willen zur Macht als essentia, die ewige Wiederkehr des
Gleichen als existentia. Eine solche Zuordnung ist Nietzsches Denken unangemessen,
worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. Für das hier zu Erörternde
ist wesentlich, daß schon hinsichtlich des Willens zur Macht das Verhältnis Essenz -
Existenz bedacht werden muß. Zwar scheint auch dabei der Unterschied zu verschwin-
den: zumindest zeugen die herrschenden Nietzsche-Deutungen dafür. Wenn es sich um
ein „Verschwinden" handelt, dann gilt allerdings Heideggers im zitierten Zusammen-
hang vorgebrachter Satz, daß sich ein solches Verschwinden „nur zeigen" lasse, „indem
versucht wird, den Unterschied sichtbar zu machen". Dies soll oben versucht werden.
Zum Verständnis des Wesens des Willens zur Macht im metaphysischen Sinne faßt
Heidegger einige Bestimmungen des Willens, die sich bei Nietzsche auffinden lassen, zu-
sammen : „Wille als das über sich hinausgreifende Herrsein über..., Wille als Affekt
(der aufregende Anfall), Wille als Leidenschaft (der ausgreifende Fortriß in die Weite
des Seienden), Wille als Gefühl (Zuständlichkeit des Zu-sich-selbst-stehens) und Wille
als Befehl". Zu recht lehnt es Heidegger ab, aus diesen und weiteren möglichen Be-
stimmungen „eine der Form nach saubere Definition', die all das Angeführte aufsam-
melt, herzustellen". (Nietzsche, a. a. O., I, 70 f.) Auch im Fortgang dieser Untersuchung
wird auf ,Definitionen' verzichtet: mit ihnen verfiele man der von Nietzsche unter-
laufenen Logik. Was die von Heidegger genannten Bestimmungen angeht, so interessiert
hier vor allem die erste. Wie ist das über sich hinausgreifende Herrsein zu verstehen?
Heidegger deutet es als Sz'c&übermächtigen des Willens. Das „eine einheitliche Wesen
des Willens zur Macht regelt die ihm eigene Verflechtung. Zur Ubermächtigung gehört
solches, was als jeweilige Machtstufe überwunden wird, und solches, was überwindet.
Das zu Überwindende muß einen Widerstand setzen und dazu selbst ein Ständiges sein,
das sich hält und erhält. Aber auch das Überwindende muß einen Stand haben und
standhaft sein, sonst könnte es weder über sich hinausgehen, noch in der Steigerung
ohne Schwanken und seiner Steigerungsmöglichkeit sicher bleiben." (A. a. O. II, 269 f.)
Das Überwindende bedarf des Widerstands des zu Überwindenden. Hierin stimme ich
mit Heidegger überein. Wenn er jedoch das faktische Gegenspiel von Übermächtigenden
und zu Übermächtigenden als Stufengang ,eines Einheitlichen* begreift (s. z. B. a. a. O.
II, 36 und 103), so erhebt er das Wesen des Willens zur Macht zu einem absoluten
Seienden, das sich aus sich selbst zur Vielheit entfaltet und gleichwohl in sich bleibt.
Damit aber wird Nietzsches Gedanke verfehlt.
69
GD, Die „Vernunft" in der Philosophie 4; KGW VI 3, 70.
Zentren gesteuert werden.70 Hiervon ist auszugehen, bei ihnen der Anfang
zu machen. Eine der ,Idiosynkrasien der Philosophene besteht aber darin,
„das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen Das, was am Ende
kommt (sc. die ^ochsten' und allgemeinsten Begriffe) — leider! denn es
sollte gar nicht kommen! ... an den Anfang als Anfang." Stützt man sich
auf die Vernunft (soweit diese nicht dem historischen Sinn Rechnung trägt
und das zu Ende denkt, was die Sinne bezeugen), so bleibt man bei der
„Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft" stehen, was da heißt bei „Meta-
physik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie". Oder bei „Formai-
Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die
Mathematik." Nietzsche sagt von diesen sich in verschiedenen inhaltlichen
oder formalen Bestimmungen allgemeiner Art bewegenden Disziplinen: „In
ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor".71
Auch im Hinblick auf diejenigen ,allgemeinen Bestimmungen* (im Rah-
men dieser Ausführungen muß es bei diesem undiiferenzierten Ausdruck
bleiben), die nicht — als eigentlich entbehrlich — ,am Endec kommen, son-
dern die für menschliches Existieren unentbehrlich geworden sind, spricht
Nietzsche von Unwirklichkeit und Falschheit': „Ehemals nahm man die
Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Schein-
barkeit ... Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-
Vorurteil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Ding-
lichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum,
necessitirt zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrech-
nung bei uns darüber sind, dass hier der Irrthum ist."72 Auch hier ist das
,Falsdiec Umwandlung des wahren Wesens des Willens zur Macht. Dieses
wahre Wesen kann jedoch in allem Umgewandelten, ja noch als Bedingung
von Möglichkeit und Notwendigkeit solcher Umwandlung aufgewiesen
werden. Dies wird in einer anderen Aufzeichnung Nietzsches deutlich. Sie
nennt:
„,Zweck und Mittel·
,Ursache und Wirkung" als Ausdeutungen (nicht als Thatbestand) und
,Subjekt und Objekt" inwiefern vielleicht nothwendige Ausdeutun-
,Thun und Leiden" gen? (als ,erhaltendec) — alle im Sinne eines
,Ding an sich und Willens zur Macht."73
»Erscheinung"
Betrachtet man etwas als Zweck oder als Mittel zu einem Zweck, so
hat man keinen Tatbestand vor Augen, man nimmt eine Ausdeutung vor.
70
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [184]; KGW VIII 3, 162 f. (WM 567).
71
GD, Die „Vernunft" in der Philosophie 4 und 3; KGW VI 3, 70.
72
Ebd. 5; KG W VI 3, 71.
73
Nachlaß, WM 589; GA XVI, 91.
74
Nietzsche nennt die ,anscheinende Zweckmäßigkeit* auch einmal „die Folge... (des)
Willens zur Macht" (Nachlaß Herbst 1887, 9 [91]; KGW VIII 2, 50; WM 552).
75
Nachlaß Nov. 1887 — März 1888, 11 [96]; KGW VIII 2, 286 f. (WM 675).
76
Nachlaß, WM 644; GA XVI, 118.
77
Za I, Von tausend und Einem Ziele; KGW VI l, 70.
78
Nachlaß Mai-Juni 1888, 17 [4]; KGW VIII 3, 321.
79
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [186]; KGW VIII 3, 165 f. (WM 636).
80
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [81]; KGW VIII 3, 52 (WM 689).
81
Nachlaß Herbst 1887, 9 [91]; KGW VIII 2, 50 (WM 552).
82
„Am Leitfaden des Leibes" — wie Nietzsche oft formuliert — sollen wir am besten
erfahren können, was wir selbst sind. Dieser sei im Vergleich mit dem Geist „das viel
reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt" (Nachlaß, WM 532, vgl.
492; GA XVI, 44, vgl. 18).
83
Nachlaß; GA XIII, 247 f.
84
Nachlaß; G A XIII, 248 f.
85
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [316]; KGW V 2, 461.
8e
GM II, 12; KGW VI 2, 330.
In dem herangezogenen Satz bedeutet ,Welt£ das, was man das ,A11 des
Seiendenc oder das ,Seiende im ganzen" zu nennen pflegt. Nun ist dies nicht
die einzige Bedeutung von Welt in der Philosophie Nietzsches. So schreibt
er: „Das Ganze der organischen Welt ist die Aneinanderfädelung von
Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich: indem sie ihre Kraft, ihre
Begierden, ihre Gewohnheiten in den Erfahrungen ausser sich heraussetzen,
als ihre Aussenwelt."ss Welt ist demzufolge einmal ein Ganzes: Welt des
87
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [316]; KGW V 2, 461. — Nietzsche spricht von
den letzten Organismen im Plural: Völker, Staaten, Gesellschaften. Bedarf doch jeder
Wille zur Macht eines Gegenwillens, um Wille zur Macht sein zu können. Über den
genannten drei letzten Gebilden noch ein allerletztes als faktisch bestehend anzunehmen,
verbietet sich daher. So kann Nietzsche sagen: „Die Menschheit* avancirt nicht, sie
existirt nicht einmal" (Nachlaß Frühjahr 1888, 15 [8]; KGW VIII 3, 202; WM 90).
Daß er den Ausdruck »Menschheit* häufig bei der Darstellung seiner eigenen Anliegen
verwendet (z. B. im Sinne von Masse, von Summe aller Menschen, von Wesen des
Menschen) muß hier unerörtert bleiben. Die Menschheit ist jedenfalls für ihn kein
Organismus und damit nicht ein Wille zur Macht.
88
Nachlaß; GA XIII, 80.
89
Vgl. S. 17.
90
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [184]; KGW VIII 3, 162 f. (WM 567).
91
Nachlaß, WM 565; GA XVI, 65.
92
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [36]; KGW V 2, 352.
93
Nadilaß Frühjahr 1888, 14 [184]; KGW VIII 3, 163 (WM 567).
94
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [93]; KGW VIII 3, 63 (WM 568).
95
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [184]; KGW VIII 3, 163 (WM 567).
96
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [148]; KGW V 2, 396.
97
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [93]; KGW VIII 3, 63 (WM 568).
98
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [202]; KGW V 2, 421.
99
Nachlaß, WM 1067; GA XVI, 401.
unendliche Teilbarkeit der Kräfte, durch die jeder Gedanke an eine Quasi-
Substantialität der Willen zur Macht ausgeschlossen wird, läßt dem Ge-
danken von unendlich vielen Kräfte-Kombinationen Raum. Nietzsche muß
jedoch eine Begrenzung der Kraftlagen annehmen, wenn denn seine hier
nicht zu erörternde Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen kosmo-
logisdie Gültigkeit haben soll.100 Zur Begründung der Begrenztheit notiert
er: „Das unendlich neue Werden ist ein Widerspruch, es würde eine un-
endlich wachsende Kraft voraussetzen. Aber wovon soll sie wachsen! Woher
sich ernähren, mit Überschuß ernähren!"101 Die Argumentation hat Über-
zeugungskraft im Hinblick auf die Unveränderlichkeit der Kraftmenge: Die
Annahme einer unendlich wachsenden Gesamtkraft ist absurd. Doch sind, so
ist hier gegen Nietzsche einzuwenden, unendlich wechselnde Kraftkombi-
nationen innerhalb der gleichbleibenden Kraftmenge keineswegs ausge-
schlossen, wenn denn die Kraftquanten unendlich teilbar sind.
Unsere Frage nach der Welt orientiert sich an der Problematik des
Willens zur Macht. Für sie ist wesentlich, daß Nietzsche seinem Begrün-
dungsversuch hinzufügt, die Annahme, das All sei ein Organismus, wider-
streite dem Wesen des Organischen.102 Und so wenig die Welt als All ein
lebendiges Wesen ist103, so wenig ist sie eine Organisation in irgendeinem
anderen Sinne. Nun haben wir gehört, daß Einheit nur als Organisation
Einheit ist. Deshalb kann Nietzsche vom All nicht als von der einheitlichen
Welt sprechen. Es ist aufschlußreich, daß er in einer späteren Niederschrift
die Möglichkeit zurückweist, die Welt sei das , als Einheit: „Es scheint
mir wichtig, dass man das All, die Einheit los wird". Noch aufschlußreicher
ist die Begründung, die er hierfür gibt. Zu solcher Einheit müßte „irgend
eine Kraft, ein Unbedingtes" gehören. „Man würde nicht umhin können, es
als höchste Instanz zu nehmen und ,Gottc zu taufen." Zur Konstituierung
der Einheit des Alls bedürfte es eines ursprünglich Gründenden, welches die
totale Vielheit organisierte. Damit aber verfiele man dem von Nietzsche
bekämpften metaphysischen Vorurteil. So fordert er: „Man muss das All
zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; Das, was wir dem Unbe-
kannten und Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste,
Unsere."104 Damit verwirft Nietzsche ausdrücklich den Gedanken, die Welt
könne in dem Willen zur Macht als einem faktisch bestehenden Seinsgrund
verwurzelt sein.
100
Vgl. dazu Vf., Nietzsche, a. a. 0.180 ff.
101
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881,11 [213]; KGW V 2, 423.
102
Ebd. — Vgl. auch Nachlaß; GA XII, 60: „Wenn das All ein Organismus werden
könnte, wäre es einer geworden. Wir müssen es als Ganzes uns gerade so entfernt wie
möglich von dem Organischen denken."
los FW 109; KGW V 2, 145.
104
Nachlaß, WM 331; GA XV, 381.
,Diec Welt ist kein All als Einheit, wenn denn alle Einheit Organisa-
tion ist. Gibt es doch keine sie zu einem Ganzen organisierende Grundkraft.
Von einer Welt zu sprechen hat dann für Nietzsche nur die Bedeutung, daß
er eine begrenzte Kraftmenge annimmt, die in unablässiger Veränderung
begriffen ist. Um begrenzte Kraftmengen handelt es sich auch, wenn
Nietzsche von der organischen Welt, der unorganischen Welt und dgl. in
einem bereichhaften Sinn redet. Solche ,Weltenc existieren nicht für sich,
auch stellen sie keine organisierten Einheiten dar. Es handelt sich dabei
um Einteilungen aus letztlich heuristischen Gründen.
,Die Welt' ist Chaos, wie Nietzsche sagt105: Gesetzlosigkeit von Aggre-
gationen und Disgregationen von Kräften. Da die Welt nicht ein organi-
siertes Ganzes ist, so gibt es auch nicht den Willen zur Macht als das diese
konstituierende ens metaphysicum. Es existieren nur Vielheiten von Willen
zur Macht, der Wille zur Macht existiert nicht.
Über das, was einen Willen zur Macht als Willen zur Macht kenn-
zeichnet, ist das Wichtigste bereits gesagt worden. Im folgenden soll Seien-
des in seiner Besonderheit als Machtwille in der Welt aufgewiesen werden.
Alle Seienden werden von Nietzsche als Herrschaftsgefüge, als hierar-
chisch organisierte Machtquanten aufgefaßt. Auch der Mensch ist, wie wir
schon gehört haben, ein solches Gefüge. „Was der Mensch will, was jeder
kleinste Theil eines lebenden Organismus will, das ist ein plus von
Macht."106 Jeder ,Triebc in ihm ist selber ein Wille zur Macht. Jeder ist
„eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm
allen übrigen Trieben aufzwingen möchte"107. Triebe schließen sich zusam-
men, um den Gegensatz zu anderen Triebkomplexen auszutragen. Die
Gegensätze der Triebe führen zu unaufhörlichen Verschiebungen der Macht-
konstellationen: „durch jeden Trieb wird auch sein Gegentrieb erregt"108.
Wie in allem, was ist, so muß auch im Menschen „alles Geschehen, alle Be-
wegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen,
als ein Kampf"109 gedeutet werden. In diesem Sinne hat Nietzsche^dgs. ego
105
So führt Nietzsche z.B. im Nachlaß (Nov. 1887 —März 1888, 11 [74]; KGW VIII 2,
279; WM 711) aus, „daß die Welt durchaus kein Organism ist, sondern das Chaos".
106
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [174]; KGW VIII 3, 152 (WM 702).
107
Nachlaß, WM 481; GA XVI, 12.
108
Nachlaß; GA XI, 283.
109
Nachlaß Herbst 1887, 9 [91]; KGW VIII 2, 49 (WM 552).
110
Nachlaß, GA XI, 235.
111
Nachlaß, GA XIII, 245. — In einer anderen Nachlaßaufzeichnung heißt es zum
Menschen „als Vielheit**: „Es wäre falsch, aus einem Staate nothwendig auf einen ab-
soluten Monarchen zu schliessen (die Einheit des Subjects)" (Nachlaß; GA XIII, 243). —
Nietzsche spricht gelegentlich von einer „Art Aristokratie von ,Zellen' in denen die
Herrschaft ruht" (Nachlaß, WM 490; GA XVI, 16). Er hebt so die Vielheit auch im je
dominierenden Machtwillen hervor.
112
Nachlaß; GA XIII, 227.
113
Nadilaß Herbst 1887, 9 [151]; KGW VIII 2, 88 (WM 656). — Vgl. Nachlaß Frühjahr
1888, 14 [174]; KGW VIII 3, 152 (WM 702).
114
Nachlaß; GA XIII, 259, vgl. XIV, 325.
115
S. 11 f.
116
Nachlaß; GA XIII, 85.
117
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [79]; KGW VIII 3, 51 (WM 635). — In derselben Auf-
zeichnung (= WM 634) notiert Nietzsche, es mache keinen Unterschied, ob wir von
„der Fiktion eines Klümpchen-Atoms oder selbst von dessen Abstraktion, dem dyna-
mischen Atom", ausgehen. In diesem wird „immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt,
— d. h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und
Sprache verleiten."
unterscheiden uns, die Thäter, vom Thun und von diesem Schema machen
wir überall Gebrauch, — wir suchen nach einem Thäter zu jedem Ge-
schehen ... Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas
verändert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes ,Ding*
und ,Ursubjektc. .. Endlich begreifen wir, daß Dinge, folglich auch Atome
nichts wirken: weil sie gar nicht da sind ... daß der Begriff Causalität voll-
kommen unbrauchbar ist... Es giebt weder Ursachen, noch Wirkungen.
Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts.
Wenn ich den Muskel von seinen ,Wirkungenc getrennt denke, so habe ich
ihn negirt.. ,"118 Wir müssen alle „Zuthaten* unserer irrtümlichen subjek-
tiven Überzeugung „eliminiren", um zu dem zu gelangen, was im mecha-
nistischen Wirklichkeitsverständnis verdeckt ist. Wir finden dann „dyna-
mische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen dyna-
mischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quan-
ten besteht, in ihrem ,Wirken" auf dieselben."119 Auch für den unorganischen
,Wirklichkeitsbereich' gilt der Satz, „daß alle treibende Kraft Wille zur
Macht ist". Eine andere Kraft gibt es nicht. Gerade das agierende und
reagierende Treiben, die Mehrung und Minderung von Kräften, werden
als diese „in unserer Wissenschaft" nicht bedacht, das Bedenkenswerte bleibt
hinter dem Ursache-Wirkung-Schema verborgen.120
118
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [98]; KGW VIII 3, 66 f. (WM 551).
119
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [79]; KGW VIII 3, 51 (WM 635).
120
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [121]; KGW VIII 3, 92 (WM 688). — Man darf Nietzsche
nicht mißverstehen, wenn er schreibt: „Der siegreiche Begriff jKraft', mit dem unsere
Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß
ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als ,Willen zur
Macht"* (Nachlaß, WM 619; GA XVI, 104). Deleuze bezeichnet diesen Satz als «un des
textes les plus importants que Nietzsche pour expliquer ce qu'il entendait par
de puissance» (Nietzsche et la philosophic, Paris 19703, 56). Er nimmt
Nietzsches Ausführung, der physikalische Kraftbegriff bedürfe der Ergänzung
(«complement») durch den Willen zur Macht, freilich allzu wörtlich. Zwar schreibt er
zu recht: «La de puissance... n'est jamais separable de teile et teile forces
determines». Es ist ihm auch zuzustimmen, wenn er ausführt: «La volonte de puissance
ne peut pas etre s&p&rie de la force, sans tomber dans Pabstraction metaphysique.»
(A. a. O. 57) Die Problematik seiner Interpretation tritt jedoch zutage, wenn er hinzu-
fügt: «Inseparable ne signifie pas identique», und die Unterscheidung einführt: «La
force est ce qui peut, la de puissance est ce qui veut» (a. a. O. 56). Damit
Differenziert* er, wo Nietzsche nicht Differenziert', nicht differenzieren darf, ohne die
innere Geschlossenheit seines Denkens aufzugeben. Es sei für diesen Zusammenhang
über das schon Ausgeführte hinaus nur noch auf Nietzsches Ausführungen im Aphoris-
mus 36 von Jenseits von Gut und Böse hingewiesen, in denen es darum geht, „alle
wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht". „,Wille* kann natürlich
nur auf ,Wille* wirken..., man muß die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo
, Wirkungen* anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt — und ob nicht alles mecha-
nische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-
Wirkung ist" (KGW VI 2, 51). Nietzsche gebraucht den Kraftbegriff in seinen Schriften
128
Nachlaß Herbst 1887, 10 [138]; KGW VIII 2, 202 (WM 639).
124
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [293]; KGW V 2, 452.
125
Daß es in Wahrheit keine Qualitäten gebe, steht am Schluß des im folgenden zitierten
Textes. Gibt es doch nur die einzige Qualität ,Wille zur Macht*.
12
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [149]; KGW V 2, 397.
127
Nachlaß; GA XIII, 230.
128
Nadilaß; GA XIII, 227 f.
129
Nachlaß; GA XIII, 228. — Vgl. dazu Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [70]; KGW
V 2, 366: „Grundfalsche Wertschätzung der empfindenden Welt gegen die todte.
Weil wir sie sind! Dazu gehören\ Und doch geht mit der Empfindung die Ober-
flächlichkeit, der Betrug los... Die ,todte* Welt! ewig bewegt und ohne Irrthum, Kraft
gegen Kraft! und in der empfindenden Welt alles falsch, dünkelhaft! Es ist ein Fest,
aus dieser Welt in die ,todte Welt* überzugehen — und die größte Begierde der Er-
kenntniß geht dahin, dieser falschen dünkelhaften Welt die ewigen Gesetze entgegen-
zuhalten, wo es keine Lust und keinen Schmerz und Betrug giebt... Laßt uns die
Rückkehr in's Empfindungslose nicht als einen Rückgang denken! Wir werden ganz
wahr, wir vollenden uns. Der Tod ist umzudeuten). Wir versöhnen (uns) so mit dem
Wirklichen d. h. mit der todten Welt."
130
Nachlaß; GA XIII, 229.
181
Nachlaß; GA XIII, 231.
132
Nachlaß Frühjahr 1888,14 [122]; KGW VIII 3, 95 (WM 625).
133
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 13 [11]; KGW V 2, 518. — Vgl. oben S. 17.
134
Ich erinnere an Nietzsdies Hinweis, daß z. B. der Sauerstoff in jedem Augenblick etwas
Neues sei. S. oben S. 37.
135
Zur Problematik, die sich in diesem Zusammenhang für Nietzsches Lehre vom Willen
zur Macht ergibt, s. Vf., Nietzsche, a. a. O. 95—115.
136
Nachlaß; GA XIII, 227.
137
S. S. 28 f.
Wir haben uns Nietzsches Deutung der Wirklichkeit vor Augen ge-
führt. Nun gibt es viele solcher Deutungen. Vermehrt Nietzsches Philo-
sophie nur ihre Zahl, wie wir schon zu Anfang dieser Abhandlung fragten?
Oder hat sie einen Vorzug gegenüber den anderen? Wir wollen hier nicht
nach einem Vorzug fragen, der ihr von einem anderen Denken her einge-
räumt werden könnte. Es geht uns um Nietzsches Selbstverständnis. Er
selbst erhebt einen Anspruch auf Überlegenheit gegenüber anderen Welt-
deutungen. Indem wir sein Denken auf diesen Anspruch hin befragen,
stoßen wir auf das Problem der Begründbarkeit seiner ,Lehre vom Willen
zur Maditc.
Wir gehen vom Aphorismus 22 in Jenseits von Gut und Böse aus.140
Nietzsche weist dort auf die Unzulänglichkeit der mechanischen Weltdeu-
tung hin. Wir kennen seine Argumente schon und haben sie auf der Grund-
lage anderer Aphorismen und Fragmente, in denen sie eine ausführlichere
Darstellung erfahren, erörtert oder wenigstens genannt141. Für das, worum
es uns hier geht, ist wesentlich, daß er ,den Physikern' schlechte ,Philologiec
vorwirft. Die „Gesetzmäßigkeit der Natur" sei „kein Thatbestand, kein
Text", sondern „Interpretation". Er stellt dieser seine eigene Deutung
138
Damit soll nicht gesagt sein, daß sich in Nietzsches Ausführungen zum Verhältnis
Unorganisches-Organisches nicht Widersprüche fänden. Wird das Organische einmal aus
dem Unorganischen Abgeleitet', so heißt es in einer anderen Niederschrift, das Orga-
nische (im engeren Sinne) sei nicht entstanden (Nachlaß; G A XIII, 232). Auch wird
die jEntwicklung* vom Unorganischen bis zum Menschen manchmal als Aufstieg, manch-
mal als Abstieg aufgefaßt.
139
S. S. 31 f.
140
JGB 22; KGW VI 2, 31.
141
Vgl. oben S. 11 f. und S. 34 ff.
142
K. Jaspers, Nietzsche, a. a. O., 290.
143
A. a. O. 296.
148
Nachlaß, WM 556; GA XVI, 61.
149
Nachlaß, WM 481; GA XVI, 12.
150
Nachlaß, WM 556; G A XVI, 61.
151
Nachlaß, WM 481; GA XVI, 11.
152
Zum philosophischen „Gleichnis der Auslegung" bei Nietzsche vgl. Jaspers, Nietzsche,
a. a. O. 292 ff.
153
Nachlaß; GA XIII, 69.
154
S. oben S. 16 f.
155
FW (5. Buch) 374; KGW V 2, 309.
156
Nachlaß; GA XIII, 69.
157
Nachlaß; G A XIV, 40.
158
S. S. 22.
159
Nachlaß, WM 600; GA XVI, 95.
160
Nachlaß; G A XIV, 31.
161
»Von den Welt-Auslegungen, welche bisher versucht worden sind, scheint heutzutage
die mechanistische siegreich im Vordergrund zu stehen" (Nachlaß, WM 618; GA XVI,
103).
162
Nachlaß; GA XIII, 82.
163
Dazu und zum folgenden s. oben S. 34 f.
164
Nachlaß; GA XIII, 83 f.
soll165: Die mechanistische Vorstellung sei „zugleich eine Probe für das
physische und seelische Gedeihen: missrathene, willensschwache Rassen
gehen daran zu Grunde".166
Mag die mechanistische Welt-Interpretation auch „eine der dümmsten"
sein, ja mag man mit ihr sogar „dem Prinzip der grosstmöglidien Dumm-
heit" huldigen167, so spricht das doch nicht gegen ihre machtsteigernde
,Wahrheitc. Mag es sich bei ihr auch um eine Oberflächen-Perspektive han-
deln, es bleibt doch „wunderbar, dass für unsere Bedürfnisse (Maschinen,
Brücken usw.) die Annahmen der Mechanik ausreichen". Und mag es sich
dabei um „sehr grobe Bedürfnisse" handeln und „die ,kleinen Fehler*...
nicht in Betracht" kommen168: sind wir mit dieser Interpretation die über
die Natur Herrschenden, so muß es doch unerheblich bleiben, ob die Aus-
legung dumm, grob, fehlerhaft ist.
Hingegen scheint es nicht ausgemacht zu sein, daß die Einsicht, die
Welt sei allein in einer Unendlichkeit perspektivischer Interpretationen der
Willen zur Macht gegeben, für das Machtwollen förderlich ist — ganz ab-
gesehen von der weiter unten noch zu erörternden Frage, wie denn eine
solche Einsicht über den ausschließlichen Perspektivismus möglich sein kann.
Ist die mechanistische Deutung falsch im Sinne von Aufdeckung des wirk-
lichen Geschehens und wahr im Sinne von Nietzsches eigenem Wahrheits-
verständnis, so könnte es sein, daß die Deutung der Welt als Vielheit von
Willen zur Macht zwar in dem Sinne ,wahrc ist, der dem mechanistischen
Weltbild abgesprochen werden mußte, gleichwohl aber verfehlt im Sinne des
Wahrheitskriteriums von Machtsteigerung. Liegt der Gedanke nicht nahe,
daß die Einsicht in die Relativität unserer Interpretationen unser Macht-
streben lahmt, während sich im Nichtwissen um die Relativität unser
Machtwollen unbefangen und gerade deswegen erfolgreich entfalten läßt?
Nietzsche selbst weist oft genug auf die Notwendigkeit von Unwissenheit
oder gar Selbsttäuschung für Zusammenhalt wie Machtmehrung jener Or-
ganisation hin, die der Mensch ist. Zu unserer „Subjekt-Einheit", in der wir
„Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens" denken müssen, gehört „die
gewisse Unwissenheit) in der der Regent gehalten wird über die einzelnen
Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens": als Bedingung für
die organisierende Regentschaft. Wir sollen eine Hochschätzung gewinnen
„auch für das Nichtwissen, das Im-Grossen-und-Groben-Sehen, das Ver-
165
Vgl. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [336]; KGW V 2, 470: „Die zukünftige
Geschichte: immer mehr wird dieser Gedanke siegen — und die nicht daran Glaubenden
müssen ihrer Natur nach endlich aussterbenl"
166
Nachlaß;GA XIII, 82.
167
FW (5. Buch) 373; KGW V 2, 308. — Nachlaß, WM 618; GA XVI 103.
168
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [234]; KGW V 2, 429.
1W
Nachlaß, WM 492; GA XVI, 17 f.
170
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [27]; KGW VIII 3, 23 (WM 426).
171
Nachlaß, WM 632; GA XVI, 110.
172
Nachlaß, WM 629; GA XVI, 108.
178
Nachlaß, WM 630; GA XVI, 108 f.
174
Nachlaß; GA XIV, 31.
175
Nadilaß, WM 55; GA XV, 183.
176
FW108;KGWV2, 145.
177
S. dazu Vf., Nietzsche, a. a. O. 118 f.
Dies schließt nicht aus, daß sie sich einer anderen Interpretation als eines
Instruments bedienen kann, soweit diese der Machtsteigerung nützt, wie
das bei der Mechanik in Hinsicht auf die Naturbeherrschung der Fall ist. Sie
faßt diese Deutung damit nicht als wahr im Sinne von deren eigenem
Geltungsanspruch auf.
Wenn Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht die Wahrheit über
die Wirklichkeit auszusagen beansprucht, so gerät sie also nicht in Wider-
spruch mit dem aus dieser Philosophie selber erwachsenden Wahrheits-
kriterium. Von diesem her gesehen ist sie sogar die einzige konsequente
Weltdeutung. Wir bewegen uns im Zirkel. Solche Zirkelhaftigkeit gehört zu
allem Verstehen. Nietzsche weiß das durchaus, sein Denken wird von
diesem Wissen geleitet. „Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts
wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: — das Wiederfinden heisst
sich Wissenschaft, das Hineinstecken — Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In
Beidem, wenn es selbst Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und
guten Muth zu Beidem haben — die Einen zum Wiederfinden, die Ändern
— wir Ändern! — zum Hineinstecken!"178 Letzteres besagt natürlich nicht,
daß die Einen nur wiederfinden, was die Anderen nur hineingesteckt haben.
Hineinstecken und Wiederfinden gehören in der jeweiligen Einheit von Aus-
legung zusammen. Wohl aber akzentuiert Nietzsche das Hineinstecken als
das Entscheidende. Das von ihm Geforderte ist ein Hineinstecken im Schaf-
fen neuer Werte. Das Wiederfinden ist nicht nur ein Aufmerksamwerden
auf das Hineingesteckte, sondern darüber hinaus das Entdecken des Hin-
eingesteckten in allem Ausgelegten, das Ausbreiten des Hineingesteckten auf
das Verständnis alles Wirklichen. Entfaltet nun Nietzsches Philosophie, die
künftige Philosophen zu neuen Wertsetzungen ermutigen will, nicht selber
nur das in perspektivischer Interpretation, was sie ursprünglich ,hineinge-
steckt* hat? Kommt in dem, was er schreibt, nicht allein seine besondere
Perspektive zu Wort? Schlägt die von ihm behauptete Relativität aller
Deutungen nicht auf seine eigene Deutung zurück?
Im folgenden versuchen wir, die Zirkelhaftigkeit von Nietzsches Den-
ken aufzuhellen. Es kommt wie bei allem Verstehen darauf an, in den
Zirkel „auf die rechte Weise hineinzukommen", um eine Wendung Heid-
eggers zu gebrauchen179. Daß Nietzsche den Anspruch seiner Philosophie,
die wahre Weltdeutung zu sein, mit dem aus dieser Philosophie selbst erst
entspringenden Wahrheitskriterium begründen kann, haben wir dargestellt.
Diesem Kriterium gemäß muß sich eine Deutung gegen die anderen Welt-
deutungen durchsetzen. Können sich doch nur darin ihre Stärke und ihre
178
Nachlaß, WM 606; GA XVI, 97.
179
M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 19537, 153.
Macht zeigen. Fragen wir genauer nach dem, was Stärke und Macht einer
Deutung besagen, so geraten wir tiefer in den Zirkel hinein. Sie lassen sich
nicht einfach am ,Erfolgc, etwa an der bisherigen Geschichte, ablesen. Ist für
Nietzsche doch die Jahrtausende währende Herrschaft des moralisch be-
stimmten Weltverständnisses nicht Ausdruck von dessen Stärke, sondern das
Zeichen von Schwäche. Das Machtwollen ist hier gerade nicht als das wahre
Machtwollen freigesetzt. Wir müssen Nietzsches eigene Interpretation von
Stärke im Sinne von rückhaltlosem Ubermäditigenkönnen zugrunde legen,
wenn wir den Anspruch seiner Philosophie, sie sei wahrer weil stärker als
die anderen Weltdeutungen, nachvollziehen wollen. Und wieder zeigt sich
der Zirkel, wenn Nietzsche eine ,vormoralische Periode der Mensdiheite an-
nimmt, die die prähistorische Zeit umfassen soll, auf die allererst die mora-
lische Periode folgte. Wir finden hier eine Konstruktion der ,Geschichtec des
Menschen, die aus der Rückwendung zu dem, was anfänglich gewesen sein
soll, die Notwendigkeit künftiger Stärke in einem nachmoralischen Zeit-
alter begründen soll. Diese Stärke wäre dann wahre Stärke.
Jaspers schreibt, bei Nietzsche werde „in einem Zirkel gedacht, der sich
aufzuheben scheint und doch von neuem hervortreibt"180. Der Zirkel kann
nicht aufgehoben werden. Blicken wir auf ihn nur als auf eine formale
Struktur, so bleiben uns Besonderheit und Radikalität von Nietzsches Inter-
pretation verborgen. Bewegen wir uns in ihm, so können diese sichtbar ge-
macht werden. Es gilt herauszuarbeiten, daß Nietzsche nicht nur alles Welt-
auslegen wesenhaft als vom Willen zur Macht konstituiert begreift, sondern
daß er auch die Konsequenzen bedenkt, die aus dem Selbstverständnis seiner
Philosophie als Auslegung erwachsen. Seine Philosophie des Willens zur
Macht kann ja keinen bloß kontemplativen Charakter haben. Sie ist selber
Ausdruck des Machtwollens. In ihr wird gewollt, daß die künftigen Werte-
schaffenden sich als Willen zur Macht verstehen. „Ihr selber seid dieser
Wille zur Macht — und nichts ausserdem!",ruft er den Menschen zu. Das ist
ein Appell. Er besagt: ,Begreift endlich, was Ihr in Wahrheit seid! Gott ist
tot, bekämpft auch noch seine Schatten! Die Wertetafeln, die Ihr bisher
über Euch gehängt habt, haben keine Gültigkeit! Laßt Euch nicht mehr von
diesen Werten bestimmen, bestimmt selbst die Werte! Wertet die alten
Werte um, schafft aus Eurem Selbstverständnis als Machtwollen heraus neue
Werte !c Audi Nietzsche kommt es darauf an, die Welt nicht nur zu ,inter-
pretierene, sondern sie zu verändern. Er hat freilich verstanden, daß alles
Verändern Interpretieren ist und alles Interpretieren Verändern. Zwar ist
auch die moralische Periode der Menschheit durch die Abfolge immer neuer
Weltinterpretationen gekennzeichnet. Aber die grundlegende Veränderung
180
K. Jaspers, Nietzsae, a. a. O. 294.
steht noch aus. Über ihre Notwendigkeit gilt es nicht nur zu reflektieren, es
muß dazu aufgefordert werden. Aus dem Verständnis des Wirklichen als
Wille zur Macht heraus wird Nietzsche zum Verkünder. In Also sprach
Zarathustra gleitet seine Philosophie nicht in ,Dichtungc ab. Zarathustra ist
das Sprachrohr seiner Verkündigung. Da sein Ruf ungehört verhallt, sieht
sich Nietzsche auf die Aufgabe zurückgeworfen, den Menschen die noch
immer dominierenden moralischen Weltauslegungen in ihrer Nichtigkeit vor
Augen zu führen. Da er auch damit nur wenig Gehör findet, werden in
seinen letzten Schaifensjahren die Argumentationen, die er anführt, immer
gröber, die Selbstdarstellung immer übersteigerter, die Töne, die er an-
schlägt, immer schriller. Mit all dem fordert er: ,Hört mich endlich!'
Wir dürfen aber Nietzsches Philosophie nicht allein unter dem Aspekt
von Verkündigung und Appell betrachten, so wesentlich dieser auch für das
Verständnis seiner Schriften besonders vom Zarathustra an ist. In der Aus-
faltung seiner Interpretation sieht er sich genötigt, den ihr immanenten
Denkvoraussetzungen nachzugehen. Erst in der Reflexion auf sie kann seine
Philosophie ihren Anspruch auf grundlegende Deutung der Wirklichkeit im
ganzen erfüllen. Beginnen wir mit der Frage: Inwiefern kann Nietzsche den
Anspruch erheben, seine Interpretation des interpretierenden Wirklichen
treffe dessen Interpretationscharakter?
Damit rückt noch einmal der perspektivische Charakter allen Inter-
pretierens ins Thema. Im Fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft hat
Nietzsche dazu ausgeführt: „Wie weit der perspektivische Charakter des
Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat,...
ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist — das
kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste
Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der
menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter
seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. Wir
können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde,
wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive
geben könnte: zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder
abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine andre
Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung ge-
geben wäre)."181 Nietzsches Argumentation ist in sich überzeugend. ,Wirc
sind perspektivisch interpretierende Wesen; ob alle anderen Wesen auch
interpretieren, vermag unser Intellekt freilich nicht zu ergründen. Mit der
Annahme anderer perspizierender Wesen ist über den besonderen Charakter
von deren Perspektiven noch nichts ausgemacht. Wir können nur unter
181
FW (5. Buch) 374; KGW V 2, 308 f.
182
„Es ist beinahe komisch, dass unsre Philosophen verlangen, die Philosophie müsse mit
einer Kritik des Erkenntnissvermögens beginnen: ist es nicht sehr unwahrscheinlich, dass
das Organ der Erkenntniss sich selber ,kritisiren' kann, wenn man misstrauisch ge-
worden ist über die bisherigen Ergebnisse der Erkenntniss?" — »Ein Werkzeug kann
nicht seine eigne Tauglichkeit kritisiren: der Intellect kann nicht selber seine Grenze,
auch nicht sein Wohlgerathensein oder sein Missrathensein bestimmen." — „Ein Er-
kenntniss-Apparat, der sich selber erkennen will!! Man sollte doch über diese Ab-
surdität der Aufgabe hinaus sein! (Der Magen, der sich selber aufzehrt! —)" (Nachlaß;
GA XIV, 3).
183
K. Jaspers, Nietzsche, a. a. O. 309 f., vgl. z. B. 330.
184
Zur Problematik, in die Nietzsche gerät, indem er den künftigen großen Menschen
und schließlich den Übermenschen als Synthese von Stärke und Weisheit zu denken
sucht, s. Vf., Nietzsche, a. a. O. 117—134.
185
Nachlaß; GA XIII, 48 f.
mäßigkeit der „Unterscheidung von einem , Wesen der Dingec und einer
,Erscheinungs-Welt<cc Wissen zu haben vorgebe. „Um eine solche Unter-
scheidung machen zu können, müsste man sich unsern Intellect mit einem
widerspruchsvollen Character behaftet denken: einmal, eingerichtet auf das
perspectivische Sehen (wie dies noth thut, damit gerade Wesen unserer Art
sich im Dasein erhalten können), andrerseits zugleich mit einem Vermögen,
eben dieses perspectivische Sehen als perspectivisches, die Erscheinung als
Erscheinung zu begreifen. Das will sagen: ausgestattet mit einem Glauben
an die jRealität', wie als ob sie die einzige wäre, und wiederum auch mit der
Einsicht über diesen Glauben, dass er nämlich nur eine perspectivische Be-
schränktheit sei in Hinsicht auf eine wahre Realität. Ein Glaube aber, mit
dieser Einsicht angeschaut, ist nicht mehr Glaube, ist als Glaube aufgelöst.
Kurz, wir dürfen uns unsern Intellect nicht dergestalt widerspruchsvoll
denken, dass er ein Glaube ist und zugleich ein Wissen um diesen Glauben
als Glauben." Am Schlüsse dieser Betrachtung fordert Nietzsche die Ab-
schaffung der Begriffe ,Ding an sich' und jErscheinung*. Ihr Gegensatz sei
ebenso „unbrauchbar" wie der „ältere von ,Materie und Geist'".
Der unbrauchbare Gegensatz Ding an sich — Erscheinung entspringt
einer Denkweise, die einen Widerspruch in unseren Intellekt hineinlegt. Der
Widerspruch macht die Unhaltbarkeit der Konstruktion jenes Gegensatzes
deutlich. Nietzsche verwendet hierbei aber nicht „ausnahmsweise einmal
den Widerspruch als letztes Wahrheitskriterium für seine Behauptungen",
wie Jaspers im Zusammenhang seiner Interpretation der zitierten Nieder-
schrift ausführt186. Der ,Satz vom Widerspruch" ist für Nietzsche eine grobe
und fälschende ,Zurechtmachungc, die den wirklichen Gegensatzcharakter
des Daseins verschleiert.187 Als unhinnehmbare Widersprüche müssen ihm
aber diejenigen gelten, welche zur Aufhebung seines eigenen Wahrheits-
kriteriums führen. Faktische Machtausübung kann nicht sowohl möglich als
auch unmöglich sein.188 Auch unser Intellekt steht im Dienste der Macht-
186
K. Jaspers, Nietzsae, a. a. O. 329.
187
S. Vf., Nietzsthe, a. a. O. 13 ff.
188
Zu Anfang seiner kritischen Ausführungen bezeichnet es Köster als „generelles Charak-
ter istikum" meines Nietzsche-Buches, ich stellte mich „entschieden auf den Boden der
rationalen, den Argumenten der Logik vertrauenden Wissenschaft" (Die Problema-
tik ..., a. a. O. 34). Gründlicher konnte meine Interpretation nicht mißverstanden
werden. Dieses unangemessene Vorverständnis prägt alle Einwände Kösters, die er im
folgenden vorträgt. Es ist um so unverständlicher, als ich meine Nietzsche-Darstellung
mit Nietzsches Destruktion der logischen Gegensätzlichkeit beginne, um hinter dieser
die wirklichen Gegensätze der Machtwillen aufzuzeigen. Köster findet, daß ich
Nietzsches Logikkritik nicht radikal genug auffasse (a. a. O. 40), „daß demzufolge
Nietzsches Aufhebung* des Satzes vom Widerspruch für den Fortgang der Unter-
suchung in eigentümlicher Weise ohne durchgreifende Konsequenz bleibt" (a. a. O. 41).
Da ich nun aber im Fortgang meiner Untersuchung die Konsequenzen von Nietzsches
ausübung, er ist, wie wir gehört haben, ein Organ, das sich die vielen
Machtwillen geschaffen haben, welche ,wirc sind. Soll er als Werkzeug dieser
Machtwillen den ,Glauben an die Realität* konstituieren, so kann er als ein
solches Werkzeug nicht zugleich dazu bestimmt sein, diesen Glauben zu
negieren, indem er ihn als perspektivische Fiktion auffaßt. Das bedeutet,
daß auch im hier diskutierten Falle nicht die Vermeidung von Wider-
sprüchlichkeit im formallogischen Sinne das Wahrheitskriterium bildet —
so wenig wie schon Nietzsches Ausführung, ein Werkzeug könne über seine
Tauglichkeit als Werkzeug selber nicht befinden, als ,logisches Argument*
angesehen werden darf —, sondern die faktische Unmöglichkeit, daß dem-
selben Organ des Maditwollens einander wechselseitig aufhebende Funk-
tionen zugeordnet worden sein können.
Die Frage, wie es denn dazu kommen konnte, daß der Intellekt sich
selber in dem charakterisierten Sinne mißverstehen lernte, ließe sich von
Nietzsche her nur im ausgebreiteten Zusammenhang einer Genealogie des
Logikkritik voraussetze, stellt sich die Frage: Wie kommt Köster dazu, mich bei jener
Logik zu behaften, die ich mit Nietzsche zurücklasse? Wo es mir um die Frage nach
Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines philosophischen Aufweises der Synthese von
Gegensätzen bei Nietzsche geht, findet Köster, daß „alle Indizien" darauf hinweisen,
daß ich „damit eine rational argumentierende Beweisführung** von Nietzsche erwarte
(a. a. O. 57). Muß ich sagen, daß ich so töricht nicht bin? Wenn ich Gegensätze in
Nietzsches Denken konstatiere, so halte ich nach Köster lediglich an ihrer „logischen
Unvereinbarkeit" fest (a. a. O. 37). Auch die Vorsicht, mit der ich meine Worte wähle
(Plausibilität, Vereinbarkeit, philosophischer Auf weis), hat Köster nicht dazu veran-
laßt, seinen Rationalismus-Vorwurf in Frage zu stellen. Man muß den Eindruck gewin-
nen, daß er widerspruchaufweisend = rational = logisch = wissenschaftlich setzt, und
solcher Gleichung, die er unter das Vorzeichen ,Denkbarkeit* bringt, nur das von
Nietzsche ,als undenkbar Gewollte' gegenüber sieht. Als ob es nicht ein sich aus-
weisendes Denken gäbe, das Rationalität hinter sich läßt, als ob es nicht — zum Bei-
spiel — Hegels ,Wissenschaft der Logik* gäbe, die den Rechtsanspruch formaler Logik
bestreitet. Es ist grotesk, meine Auslegung in dieser Hinsicht „in einem klaren Gegen-
satz zu Heideggers Umgang mit Nietzsche" zu sehen (a. a. O. 34). Als ob es Heidegger
nicht ebenfalls immer wieder darum ginge, die Vereinbarkeit von Nietzsches Aussagen
darzulegen. Nennen wir nur die Frage nach dem Verhältnis von Nietzsches Lehren des
Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr, wie sie sich für Heidegger stellt. Er
schreibt in einer Kritik an Baeumlers Nietzschedeutung: „Aber gesetzt, es besteht ein
Widerspruch zwischen beiden Lehren...: seit Hegel wissen wir, daß ein Widerspruch
nicht notwendig (sie!) ein Beweis gegen die Wahrheit eines metaphysischen Satzes ist,
sondern ein Beweis dafür. Wenn ewige Wiederkehr und Wille zur Macht sich also
widersprechen, dann ist vielleicht dieser Widerspruch gerade die Aufforderung, diesen
schwersten Gedanken zu denken (sie!), statt ins »Religiöse* zu flüchten. Aber selbst zu-
gegeben, es liege ein unaufhebbarer Widerspruch vor und der Widerspruch zwinge zur
Entscheidung: entweder Wille zur Macht oder ewige Wiederkehr, warum entscheidet
sich dann Baeumler gegen Nietzsches schwersten Gedanken und Gipfel der Betrachtung
und für den Willen zur Macht?" (Nietzsche, a. a. O. I, 30 f.) Heidegger stellt Nietzsche
uneingeschränkt unter den Anspruch des Denkens; selbst fundamentale Widersprüche
bilden für ihn keine Aufforderung, ins ,Undenkbare* zu entfliehen; er räumt die Mög-
lichkeit ein, daß es bei Nietzsche unaufhebbaren Widerspruch geben könne, der zur
daß der Mensch für ihn „nicht nur ein Individuum, sondern das fortlebende
Gesammt-Organische in Einer bestimmten Linie" ist.189 Von dieser Vor-
aussetzung her wird uns vollends deutlich, warum die ,Analysis und Selbst-
prüfung des Intellekts' weder etwas über die Richtigkeit unseres Er-
kennens noch auch Zureichendes über den Intellekt selber auszumachen
imstande ist: in ihr wird nicht einmal der Mensch, sondern nur eins seiner
, Werkzeuge' dem Flusse des Werdens entrissen, für sich genommen, isoliert
und durch sich selbst auf seine Tauglichkeit hin angesehen. Nietzsche will
dementgegen „den Menschen... zurückübersetzen in die Natur", „taub"
bleiben „gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche
ihm allzulange zugeflötet haben: ,du bist mehr! du bist höher! du bist
anderer Herkunft!"'190 Die Herkunft des Menschen liegt in der Natur, und
,mehrc ist er nicht in einem qualitativen, wohl aber in einem quantitativen
Sinne. Das Gesamt-Organische lebt in ihm fort. Und insofern alles Orga-
nische eine Synthesis von unorganischen Kräften ist, ,lebt' auch das Un-
organische in ihm.191 Ältestes, ihm „fest einverleibt", steht mit Jüngerem im
Kampf. Der Mensch trägt das Viele in sich, das er interpretiert. Und er
könnte es nicht in sich aufgenommen haben, er könnte nicht der Inter-
pretierende sein, der er ist, wenn das Aufgenommene nicht selber vom
Wesen des Interpretierens wäre. Nietzsche kann von der genannten Vor-
aussetzung her noch einen Schritt weiter gehen: Daß der Mensch besteht,
„damit ist bewiesen, dass eine Gattung von Interpretation (wenn auch
immer fortgebaut) auch bestanden hat, dass das System der Interpretation
nicht gewechselt hat".192
189
Nachlaß, WM 678; GA XVI, 143.
190
JGB 230; KGW VI 2, 175.
191
„Das Unorganische bedingt uns ganz und gar: Wasser Luft Boden Bodengestalt Elek-
tricität usw. Wir sind Pflanzen unter solchen Bedingungen", lautet eine Aufzeichnung
(Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [210]; KGW V 2, 423). Das Bedingende bleibt
nicht als Ursache außer uns, wir sind das, was uns bedingt.
192
Nachlaß, WM 678; GA XVI, 143. — Bei Nietzsche sind transzendentales und natura-
listisches Denken nicht nur eine Symbiose eingegangen, sie durchdringen einander, ver-
schmelzen gänzlich ineinander. Jede Betonung von Nietzsches Naturalismus bedarf der
Korrektur durch den Hinweis darauf, daß alles Seiende interpretiert, Interpretation ist.
Und umgekehrt gilt, daß jede Interpretation ,naturhaft* ist. Es ist unzureichend und
führt zu Mißverständnissen, wenn man, wie J. Habermas (s. sein Nachwort zu Fr.
Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, Frankfurt/M. 1968)> in der Erörterung von
Nietzsches Revision des ,BegrifTs des Transzendentalen* bei der Perspektivenlehre der
menschlichen Affekte halt macht. Diese Perspektivität muß ihrerseits von der Vielfalt
der ,naturhaften' Perspektiven her verstanden werden, die in das Menschsein einge-
gangen sind. Eine solche Deutung ermöglicht es Nietzsche, Aussagen über den Inter-
pretationscharakter auch des unorganischen und organischen Seienden zu machen und
zugleich den möglichen Vorwurf zu unterlaufen, seine Philosophie des Willens zur
Macht sei dogmatischer Naturalismus. Ansatzpunkte für eine Kritik an Nietzsche sind
Damit haben wir den Schlüssel zur Antwort auf die beiden gestellten
Fragen in der Hand. Nietzsche kann das vielfältige Wirkliche, das natur-
haft Seiende, als vielfältiges Interpretieren interpretieren, weil der Mensch
selber interpretierendes Wesen ist und dies nur sein kann, weil das, was in
ihm zusammenfließt, als unorganisches und organisches Seiendes selber
schon interpretiert. Als Synthesis und Vielheit von Interpretationen kann
der Mensch seines perspektivischen Interpretierens inne werden, insofern
,der Subjektpunkt herumspringtc und von jedem neuen Punkt aus die Per-
spektivik wechselt. Das Wissen um dieses Herumspringen hat er, weil er,
wie alles Organische, Erfahrungen sammelt, über Gedächtnis verfügt.193 Die
Möglichkeit, das Interpretieren zu interpretieren, entspringt so dem Wech-
sel der Interpretationen. Weder bedarf es dazu eines besonderen Vermö-
gens, noch wird damit die Perspektivität des Interpretierens verlassen.
Nietzsche hat einmal zusammengefaßt: „Dass der Werth der Welt in
unserer Interpretation liegt (— dass vielleicht irgendwo noch andre Inter-
pretationen möglich sind, als bloss menschliche —), dass die bisherigen
Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns
im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wadisthum der Macht, erhalten,
dass jede Erhöhung des Menschen die Überwindung engerer Interpreta-
tionen mit sich bringt, dass jede erreichte Verstärkung und Machterweite-
rung neue Perspektiven aufthut und an neue Horizonte glauben heisst —
das geht durch meine Schriften."194 Wir beschränken uns, von dieser Selbst-
darstellung Nietzsches ausgehend, auf die Hervorhebung von zwei Gesichts-
punkten. A. Machtvermehrung besagt Gewinnung neuer Perspektiven (weil
weitere Machtquanten einverleibt worden sind) und damit Erweiterung der
Interpretationen. Diese wiederum kennzeichnet die Erhöhung des Menschen.
Umgekehrt gilt: „die Mehrheit der Deutung (:) Zeichen der Kraft"195. Die
Umkehrung gilt freilich nur dann, wenn die vielen Deutungen sich zur Ein-
heit organisieren lassen und nicht die Disgregation bewirken, wie Nietzsche
dies besonders für ,die Moderne' herausstellt196. B. Nietzsches Interpretation
der Interpretationen versteht sich selbst nicht als absolute Philosophie. Zwar
setzt sich in seinem Denken die Überzeugung durch, daß alles, was ist,
auch auf der damit gewonnenen Verständnisebene gegeben. Aber sie muß erst einmal
erreicht sein, wenn eine sachgegründete Kritik von Nietzsches ,Erkenntnistheoriec ver-
sucht werden soll.
193
„Vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte
des Menschen, als seine Mnemotechnik", schreibt Nietzsche in Zur Genealogie der Moral
(GM II, 3; KGW VI 2, 311). Ausgehend von der Frage nach der Möglichkeit des
Versprechenkönnens, gibt er dort Hinweise auf seine Genealogie des Gedächtnisses.
194
Nachlaß, WM 616; GA XVI, 100.
195
Nachlaß, WM 600; GA XVI, 95.
19e
S. Vf., Nietzsche, a. a. O. 35 ff.
Interpretation sei. Aber er schließt nicht aus, daß es noch andere Inter-
pretationen gibt, die nicht in das Menschsein eingegangen sind. Ist der
Mensch doch ,nurc das fortlebende Gesamt-Organische „in Einer bestimmten
Linie"197. Damit wird zugleich die Möglichkeit offen gehalten, daß künftige
Menschen, jUbermenschen', durch Einverleibung von uns Heutigen noch
unzugänglichen Interpretationen ihr Wirklichkeitsverständnis im Vergleich
mit den jetzt Lebenden noch erweitern könnten. „Die Erkenntnis wird, bei
höherer Art von Wesen, auch neue Formen haben, welche jetzt noch nicht
nöthig sind."198 Nietzsches Interpretation bezieht die Möglichkeit, ja Not-
wendigkeit ihrer eigenen Erweiterung und damit Modifizierung als einen
ihr wesentlichen Aspekt in sich selbst ein.
Nachdem wir uns auf mannigfache Weise im Zirkel der Interpretation
Nietzsches bewegt haben, sei zum Schluß noch einmal auf die Frage nach
dem Wer seiner Interpretation eingegangen. Wir haben schon gehört, daß
diese Frage unzulässig ist, insofern es nicht erst ein Etwas gebe, das dann
interpretiere. Das Interpretieren selber habe Dasein. Nietzsches Perspekti-
vismus als Subjektivismus zu verstehen, ist daher verfehlt. „,Es ist Alles
subjektiv', sagt ihr: aber schon das ist Auslegung", schreibt Nietzsche und
weist solche Rede zurück.199 In einer längeren Aufzeichnung aus dem Jahre
1885 heißt es: „Der Gedanke ... taucht in mir auf — woher? wodurch? das
weiss ich nicht. Er kommt, unabhängig von meinem Willen, gewöhnlich um-
ringt und umdunkelt durch ein Gedräng von Gefühlen, Begehrungen, Ab-
neigungen, auch von ändern Gedanken. .. Man zieht ihn aus diesem Ge-
dränge, reinigt ihn, stellt ihn auf seine Füsse...: wer das Alles thut — ich
weiss es nicht und bin sicherlich mehr Zuschauer dabei als Urheber dieses
Vorgangs ... Dass bei allem Denken eine Vielheit von Personen betheiligt
scheint —: dies ist nicht gar zu leicht zu beobachten, wir sind im Grunde
umgekehrt geschult, nämlich beim Denken nicht an's Denken zu denken. Der
Ursprung des Gedankens bleibt verborgen; die Wahrscheinlichkeit dafür
ist gross, dass er nur das Symptom eines viel umfänglicheren Zustandes ist;
darin dass gerade er kommt und kein anderer, dass er gerade mit dieser
grösseren oder minderen Helligkeit kommt, mitunter sicher und befehle-
risch, mitunter schwach und einer Stütze bedürftig . ..: in dem Allen drückt
sich irgend Etwas von unserem Gesammtzustande in Zeichen aus."200 An
dem, was hier der ,Psychologec Nietzsche als der sich selbst Beobachtende
schreibt — er, der die Selbstbeobachtung sonst so entschieden zurückweist
197
Nachlaß, WM 678; GA XVI, 143.
198
Nachlaß, WM 615; GA XVI, 100.
199
Nachlaß, WM 481; GA XVI, 12.
200
Nachlaß; GA XIV, 40 f.
oder zumindest vor ihr warnt —, läßt sich der Geschehnischarakter von
Interpretationen deutlich machen. Als Interpretation ist der Mensch Wille
zur Macht, gewiß. Aber dieser Wille zur Macht ist die fortlaufend sich
wandelnde Organisation von Machtwillen, die in sich selbst organisierte
Machtwillen sind. Je ,umfänglicher' die Machtorganisationen werden, desto
abhängiger sind die organisierenden Kräfte von den organisierten. Sind es
doch letztlich deren wechselnde Machtkonstellationen, die über die Regent-
schaft entscheiden. Der Mensch ist eine so komplexe Machtorganisation, daß
er nicht mehr erfahren kann, was ihn ,im Grunde' treibt. Er ist Interpreta-
tion, aber er wird interpretiert. Er ist Wille zur Macht, aber — als ,Wille
des Menschen" — ohnmächtiger Wille zur Macht hinsichtlich seiner Selbst-
konstitution. Dies einzusehen, heißt das Eingesehene als das letztlich Wahre
uneingeschränkt bejahen. ,Amor fati' ist das letzte Won der Philosophie des
Willens zur Macht. Aber auch dieses Wort konnte ihr selbst nur aus ihrer
eigenen Abgründigkeit heraus ,zugesprochenc werden.201
Nichts wäre verfehlter, der Interpretation Nietzsches unangemessener,
als zuletzt doch noch den Willen zur Macht, einem deus ex machina gleich,
wenn schon nicht als das eine metaphysische Subjekt, so doch als das eine
Grundgeschehnis hervortreten zu lassen. Es gibt für Nietzsche zwar Ge-
schehniszusammenhänge, aber es gibt nicht das Grundgeschehnis. Es gibt
nicht das Eine, es gibt immer nur Vielheiten, sich zusammenfügend, aus-
einandertretend. Nietzsches Philosophieren schließt die Frage nach dem
Grund des Seienden im Sinne überlieferter Metaphysik als eine für das
wirkliche Geschehen relevante Frage aus.
201
Nietzsches »Fatalismus* gerät nicht in Widerstreit mit seinem Selbstverständnis als des-
jenigen, der an die Menschen appellieren muß, die Wahrheit der Lehre vom Willen zur
Macht auf sich zu nehmen. , * und , Verkündigung* sind ihrerseits ernötigt, wie dies
auch die Aufnahme des Appells durch die künftigen großen Menschen wäre.