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Das „bessre Bewußtsein":

Zur Funktion eines Begriffs in der Genese der


Schopenhauersehen Philosophie

Friedhelm Decker (Wenden-Ottfmgen)

Im Jahre 1813 hat der junge Schopenhauer in Berlin in sein Ma-


nuskriptbuch notiert: „Unter meinen Händen und vielmehr in mei-
nem Geiste erwächst ein Werk, eine Philosophie, die Ethik und Me-
taphysik in Einem seyn soll, da man sie bisher trennte so fälschlich
als den Menschen in Seele und Körper. Das Werk wächst, concre-
scirt allmählig und langsam wie das Kind im Mutterleibe [...]. Ich
seh' es an und spreche wie die Mutter ,ich bin mit Frucht geseg-
net'" (HN I, 55) l. Bei dem Werk, von dem in dieser Aufzeichnung
die Rede ist, handelt es sich natürlich um Schopenhauers 1818 fer-
tiggestellte und zu Beginn des Jahres 1819 veröffentlichte Schrift
Die Welt als Wille und Vorstellung. Die angeführte Notiz gibt
nicht nur Auskunft über den Entstehungsprozeß dieses Werks, son-
dern informiert auch über das ihr zugrundeliegende Konzept: Das
geplante Werk, so heißt es, soll Metaphysik und Ethik in einem
sein, soll, anders gesagt, metaphysische Grundlegung und ethische
Position zu einem in sich geschlossenen Ganzen integrieren. Wie
dieses Konzept in Die Welt als Wille und Vorstellung dann ausge-
-
führt worden ist, ist bekannt: Auf die im ersten Buch dargelegte
Theorie des Vorstellens und Erkennens die entscheidende Motive
von Schopenhauers Dissertation Über die vierfache Wurzel des
Satzes vom zureichenden Grunde (1813) aufgreift und weiterführt
- folgt im zweiten Buch die metaphysische Grundlegung des Sy-
stems. Ihr fundamentaler Bescheid lautet: Die Welt, die uns als un-
sere Vorstellung gegeben ist, ist ihrem Ansiehsein nach Wille zum
Leben. In Buch drei entfaltet Schopenhauer die Konsequenzen die-
ses Ansatzes für eine Theorie der Kunst; und in Buch vier schließ-
lich stellt er seine ethische Grundposition vor.

'Schopenhauer wird zitiert mit den im Jb. üblichen Sigeln.

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Von der ganzen Anlage her vermittelt das Schopenhauersehe
Hauptwerk den Eindruck, daß die im vierten Buch dargelegte Ethik
sich zu der Willensmetaphysik des zweiten Buchs verhält wie die
Folge zu ihrem Grund, daß sie, mit anderen Worten, erst entwickelt
werden konnte, nachdem das willensmetaphysische Fundament ge-
legt war. Die anhand des handschriftlichen Nachlasses rekonstru-
ierbare Entwicklungsgeschichte des Schopcnhauerschen Systems
zeigt demgegenüber jedoch ein völlig anderes Bild. Es ist nämlich
nicht die .Entdeckung' des Willens, die den Ausgangspunkt aller
weiteren Theoriebildung darstellt. Vielmehr verhält es sich so, daß
Schopenhauers ethische Position nicht nur in den Grundzügen, son-
dern bis in einzelne Details hinein feststand, bevor Schopenhauer zu
der für seine Willensmetaphysik alles entscheidenden Deutung des
Wesens der Welt als Wille zum Leben durchstieß. Im Zentrum sei-
ner Überlegungen zu Fragen der Ethik steht im.handschriftlichen
Nachlaß - der Begriff des besseren. Bewußtseins.- Diesem Begriff
kommt wie im folgenden zu belegen sein wird im Zuge der Her-
ausbildung des Schopenhauersehen Systems nur solange eine Funk-
tion zu, als der Grundgedanke der Metaphysik des Willens noch
nicht gefunden ist. Und solange dieser Gedanke noch nicht formu-
liert ist, mangelt es Schopenhauer an adäquaten Bezeichnungen für
die ihn beschäftigenden Probleme. Daher rührt es, daß er zu diesem
Zeitpunkt der Systementstehung die Phänomene, die er im Umkreis
ethischer Fragestellung thematisiert, unter der Perspektive des
.
„besseren Bewußtseins" diskutiert 2 Anders gesagt: Das Konzept
des besseren Bewußtseins erfüllt gewissermaßen die Funktion eines
Platzhalters, der in dem Moment entbehrlich wird, in dem Schopen-
hauer Wille und Ding an sich in eins setzt und sich damit die Mög-
lichkeit eröffnet, die bislang im Blick auf ein besseres Bewußtsein
diskutierten Phänomene unter willensmetaphysischer Perspektive zu

2Schopenhauer wählt damit einen Begriff,* der seine Verwandtschaft mit


Schellmgs .intellektualer Anschauung 4 und Fichtes .höherem Bewußtsein'
nicht verleugnen kann. S. hierzu Y. Kamata: Der junge Schopenhauer. Genese
des Grundgedankens der Welt als Wille und Vorstellung. Freiburg, München
1988, S. 121 u. 205.

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.
betrachten und in der Folge entsprechend zu bezeichnen 3 Dies ver-
mag schon ein rein äußerliches Indiz zu illustrieren. Das erste Mal
ist die Rede vom besseren Bewußtsein in einer Aufzeichnung aus
dem Jahre 1812 (Bogen \u0392; HN I, 23, Nr. 35); seine letzte Erwäh-
nung findet es ineiner Eintragung von 1814 (Bogen RR; HN I, 175,
Nr. 286). Nur wenige Seiten zuvor hat Schopenhauer geschrieben:
„Die Welt als Ding an sich ist ein großer Wille, der nicht weiß
was er will;denn er weiß nicht sondern willbloß, eben weil er ein
Wille ist und nichts Andres" (HN I, 169, Nr. 278). Dies ist
nachweislich die erste Aufzeichnung, in der Wille und Ding an sich
in eins gesetzt werden.
Die Ansicht, der Begriff des besseren Bewußtseins habe in
Schopenhauers Systementwurf in dem Augenblick seine Rolle aus-
gespielt, in dem Schopenhauer den Grundgedanken seines Systems
formuliert, läßt sich über diesen äußeren Tatbestand hinaus auf-
grund einer Untersuchung plausibel machen, die sich an der inhalt-
lichen Füllung des Begriffs vom besseren Bewußtsein orientiert.
- -
Mit einer solchen Untersuchung wird ein Begriff beleuchtet, auf den
in der Literatur auch schon in der älteren wiederholt hingewie-
sen worden ist. Gerade aber für die ältere Literatur gilt, daß durch
sie die einzelnen Momente des „bessren Bewußtseins" zu wenig er-
.
hellt worden sind4 Diesbezüglich sind neuere Untersuchungen auf-
3So gesehen halte ich es für verfehlt, mit Blick auf Schopenhauers Überlegun-
gen zum besseren Bewußtsein von „Arthurs Geheimphilosophie im Manu-
skriptbuch" zu sprechen, wie R. Safranski es in seiner Biographie Schopenhau-
er und die wilden Jahre der Philosophie, München 1987, S. 201 tut. Safranski
suggeriert damit eine Trennung in einen exoterischen und einen esoterischen

-
fern keine Rede sein, als im Begriff des besseren Bewußtseins
-
Schopenhauer. Von einer Schopenhauersehen „Geheimphilosophie" kann inso-
wie sich
zeigen wird die wesentlichen Komponenten des veröffentlichten Systems
berücksichtigt sind. -Den Ausdruck „Geheimphilosophie" verwendet Safranski
erneut in dem Vortrag „Zur Entwicklung der Philosophie Arthur Scho-
penhauers". In: Arthur Schopenhauer. Schopenhauers Philosophie als Anfrage
an das Christentum. Hrsg. von der Katholischen Akademie Hamburg. Hamburg
1989, S. 9-36, hier S. 18.
4Th. Lorenz {Zur Entwicklungsgeschichte der Metaphysik Arthur Schopenhau-
ers. Mit Benutzung des handschriftlichen Nachlasses. Leipzig 1897) und O.
Weiß {ZurGenesis der Schopenhauersehen Metaphysik. Leipzig 1907) kommen
zwar beide auf das „bessere Bewußtsein" zu sprechen, verkennen aber seine

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.
schlußreicher 5 Aber auch hier ist festzustellen, daß die Funktion,
die dem Konzept des besseren Bewußtseins in der Genese der
Schopenhauersehen Philosophie zukommt, im einzelnen eigentüm-
lich unterbelichtet bleibt 6.

Bedeutung für die Entstehung des Schopenhauersehen Systems. Ähnliches ist


von dem Aufsatz F. Mockrauers: „Über Schopenhauers Erstlingsmanuskripte"
(In: 4. Jb. 1915, S. 134-167) und von der Arbeit W. Schröders: Beiträge zur
Entwicklungsgeschichte der Philosophie Schopenhauers mit besonderer Be-
rücksichtigung einiger wichtiger frühnachkantischer Philosophen (Rostock
1911), zu sagen. Mockrauer bescheidet sich mit der Feststellung, das „bessere
Bewußtsein" sei eine „bloße Modifikation" des Willens (a.a.0., 5.144). Und
Schröder sieht in der „eigentümlichen Lehre" vom besseren Bewußtsein die
„romantischen Stimmungen" des jungen Schopenhauer zum Ausdruck kommen;
in ihr, meint t er, werde die „romantische -Unterströmung" des
Schopenhauersehen Denkens sichtbar (a.a.0., S. 78). K. Gjellerup begreift
„besseres Bewußtsein" einfach als Synonym zu „Verneinung des Willens" und
läßt damit den ganzen Bedeutungsreichtum dieses Begriffs außer Acht („Zur
Entwicklungsgeschichte der Schopenhauersehen Philosophie. Eine Studie über
den elften Band der neuen Gesamtausgabe der Werke Schopenhauers"

S. 496, 501, 508).


-
[„Genesis des Systems"]. In: Annalen der Philosophie 1, 1919, S. 495-517; hier
Auch H. Zint hat in seinem 1920 gehaltenen Vortrag
„Schopenhauers Philosophie des doppelten Bewußtseins" (wieder abgedruckt in
H. Zint:Schopenhauer als Erlebnis. München 1954, S. 15-48) auf den Begriff
des besseren Bewußtseins aufmerksam gemacht. Jedoch untersucht auch er
diesen Begriff nicht im einzelnen, sondern begnügt sich mit einer kurzen
Zusammenfassung der hauptsächlichsten Momente (s. a.a.0., S. 37). Zudem
greift seine Untersuchung insofern fehl, als er Schopenhauers System als
Weltanschauungsphilosophie, als „Ausdruck seiner Persönlichkeit" (a.a. 0.,
5.48) und infolgedessen den Begriff des besseren Bewußtseins als Resultat
seiner „allerpersönlichsten Innenerfahrung" versteht (a.a. 0., S. 17; s. femer S.
18,33,36,39).
slch5Ich verweise hier auf den
in Anm. 3 erwähnten Aufsatz von R. Safranski: „Zur
Entwicklung der Philosophie Arthur Schopenhauers" und auf das in Anm. 2
genannte Buch von Y. Kamata: Der junge Schopenhauer. Ferner sind zu nen-
nen: R. Malter: Der eine Gedanke. Hinführung zur Philosophie Arthur Scho-
penhauers. Darmstadt 1988, bes. S. sff., sowie T. Bohinc: Die Entfesselung des
Intellekts. Eine Untersuchung über die Möglichkeit der An-sich-Erkenntnis in
der Philosophie Arthur Schopenhauers unter besonderer Berücksichtigung des
Nachlasses und entwicklungsgeschichtlicher -Aspekte. Frankfurt/Main 1989,
bes. S. 50ff.
6Bohinc konzentriert sich auf die Frage nach der Relation zwischen empiri-
schem und besserem Bewußtsein und gelangt zu dein Ergebnis, man habe es
hier mit zwei .völlig verschiedenen Erkenntnisweisen* zu tun. Er moniert, daß

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Der Begriff des besseren Bewußtseins füngiert in Schopenhauers
sogenannten Erstlingsmanuskripten, wie gesagt, als eine Art Sam-
melbegriff für eine Vielzahl von Phänomenen, die vor allem im
Umkreis ethischer Fragestellungen von Schopenhauer diskutiert
werden. Um ihn ins rechte Licht rücken zu können, empfiehlt es
sich, in einem ersten Schritt die begrifflichen Unterscheidungen und
Abgrenzungen, die sich aus Schopenhauers Aufzeichnungen gewin-
nen lassen, herauszuarbeiten, und in einem zweiten Schritt dann den
Begriff des besseren Bewußtseins auf seine inhaltlichen Füllungen
hin zu befragen.
Schopenhauer nicht gezeigt habe, „auf welche Weise im empirischen Bewußt-
sein das bessre entstehen kann" (a.a.0., S. 58). Bezüglich der hier vornehmlich
interessierenden Frage nach der Funktion des Begriffs des besseren Bewußt-
seins begnügt er sich mit dem Hinweis, in seinen späteren Schriften verwende
Schopenhauer diesen Begriffnicht mehr, doch gebe es dort „andere Erkenntnis-
formen, die zu einem Bewußtsein führen, das mit dem bessern Bewußtsein zu
vergleichen ist" (a.a.0., S. 55). Im einzelnen nennt Bolline den intelligiblen
Charakter, die Platonischen Ideen und die Verneinung des Willens zum Leben
(s. ebd.). Auch Safranski weist -allerdings eher beiläufig -daraufhin, daß der
Terminus „bessres Bewußtsein" in Schopenhauers Hauptwerk nicht mehr
auftaucht. „Aber", so setzt er hinzu, „es ist nur der Terminus, der verschwin-
det; das, was er bezeichnet hat, ist geblieben" [ZurEntwicklung der Philoso-
phie Arthur Schopenhauers, a.a. 0., S. 26).
R. Malter erblickt im besseren Bewußtsein den „transzendentalphilosophisch
gedeuteten Repräsentanten der .übersinnlichen' Welt" (a.a.0., S. 5). Das
Verhältnis der Nachlaßaufzeichnungen zum ausgearbeiteten Hauptwerk
bestimmt er dahingehend, „daß die Bewegung des Gedankens, den ,Die Welt
als Wille und Vorstellung' darstellt, nur fortsetzt und akzentuiert, was die
Duplizitätsphilosophie [gemeint ist die Duplizität von empirischem und besse-
rem Bewußtsein; s. dazu u.] schon in Grundzügen qualitativ vollständig erreicht
hat" (a.a.O., S. 28).
Kamata geht bei seiner Untersuchung der Genese des Grundgedankens der Welt
als Wille und Vorstellung von einer mehrphasigen Entwicklung aus. Für die
Berliner Zeit Schopenhauers (1812-13) ist nach Kamata eine „Zerrissenheit
zwischen dem streng transzendentalkritischen Festhalten an der Einheit des
empirischen Bewußtseins (Position des Vorstellungseins) und dem aufs
-
Jenseits des Vorstellungseins gerichteten besseren Bewußtseins" kennzeich-
-
nend (a.a.0., S. 123). In der Weimarer und Dresdner Zeit also 1813-14 tritt
seiner Ansicht nach dann „die Position der durchgängigen Einheit des Vorstel-
lungseins immer deutlicher hervor. Parallel dazu wird der religiös-metaphysi-
sche Differenzgedanke zwischen der sinnlich-zeitlichen Welt und dem über-
sinnlich an sich seienden Bereich zunehmend eingeschränkt" (a.a.O., S. 226).

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Schopenhauer unterscheidet im handschriftlichen Nachlaß
grundsätzlich zwischen dem besseren und dem empirischen Be-
wußtsein. Ihr Verhältnis zueinander läßt sich vorläufig dahingehend
bestimmen, daß das eine der Inbegriff alles dessen ist, was das je-
.
weils andere nicht ist7 Das empirische Bewußtsein ist das mit un-
serem zeitlichen Dasein verknüpfte Bewußtsein. Schopenhauer be-
zeichnet es auch als sinnliches, verständiges 8 und als vernünftiges
Bewußtsein 9 und sagt, als solches sei es nichts anderes als „das
ganze Subjektseyn als Korrelat aller Klassen von Vorstellungen"
(HN I, 152). Mit dieser Formulierung bezieht er sich auf seine
Schrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde. Erkenntnis setzt der dort entwickelten Theorie eine Spal-
tung in Subjekt und Objekt voraus. Der Grundgedanke dieser
-
Schrift besagt nun, daß all das, was für ein erkennendes Subjekt
-
Objekt und das heißt fur Schopenhauer: Gegenstand seiner Vor-
stellung werden kann, in vier Klassen unterteilt werden kann und
daß jede dieser vier Klassen von Objekten im Subjekt ein Korrelat
hat. Die erste Klasse umfaßt die anschaulichen, materiellen, empiri-
schen Objekte; ihr Korrelat im Subjekt ist der Verstand. Primäre
Funktion des Verstandes ist es, Kausalität zu erkennen, also zu ei-
-
ner Anschauung der wirklichen Welt zu gelangen mittels Erkenntnis
der Ursache aus der Wirkung. Die zweite Klasse von Objekten
bilden die Begriffe oder die abstrakten Vorstellungen. Deren Korre-
lat ist die Vernunft. Die Vernunft ist zunächst die Fähigkeit, mittels
Abstraktion Begriffe zu bilden. Darüber hinaus ist sie, wie Scho-
penhauer im handschriftlichen Nachlaß formuliert hat, das
„Vermögen der Allumfassung" (HN I,50), das heißt, „das Vermö-
gen die Welt und unser Leben im Ganzen zu überschauen, als eine
Totalität" (HNI, 53). - Bei der dritten Klasse von Objekten han delt
es sich um die reinen Anschauungen. Schopenhauer bezeichnet
damit den formalen Teil der realen Objekte, also die a priori gege-
benen Formen des äußeren und inneren Sinnes: Raum und Zeit. -
Korrelat dieser reinen Anschauungen ist die reine Sinnlichkeit. In

7So auch schon T. Bohinc,


BS.8S. z.B. HNI,41, Nr. 79.
a.a. 0., S. 57.
9So z.B. HN I, 92, Nr. 162 u. HN I, 110, Nr. 202.

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der vierten Klasse hat jedes Subjekt nur einen Gegenstand, nämlich
sich selbst als Subjekt des Wollens. Korrelat ist hier das Selbstbe-
wußtsein.
Wenn Schopenhauer nun der Ansicht ist, das empirische Be-
wußtsein sei das ganze Subjektsein als Korrelat aller Klassen von
Objekten, dann wird von diesen Differenzierungen her deutlich, daß
das empirische Bewußtsein die Vollzüge von Verstand, Vernunft
und reiner Sinnlichkeit sowie die Akte des Selbstbewußtseins in
sich einbegreift. Über diese grundlegende Klärung hinaus hat Scho-
penhauer in seinen Aufzeichnungen weitere Momente namhaft ge-
macht, die seiner Ansicht nach im Zusammenhang mit den bislang
akzentuierten Aspekten des empirischen Bewußtseins zur Sprache
gebracht werden müssen. Im Vordergrund steht fur ihn dabei, daß
wir als zeitliche Wesen dem Irrtum unterliegen, von Übeln und Lei-
den umgeben sind und letztendlich dem Tod anheimfallen. Mit dem
empirischen Bewußtsein, hat er notiert,

ist nicht nur Sündhaftigkeit, sondern auch alle Uebel die aus
diesem Reich des Irrthums, des Zufalls, der Bosheit und Thorheit
folgen, und endlich der Tod nothwendig gesezt: der Tod ist
gleichsam eine durch das Leben kontrahirte Schuld, die andern
minder gewiß bestimmten Uebel eben so [...]. Die Bosheit An-
drer, durch die wir leiden, ist der Anlage nach auch in uns, und
also durch unsre Menschwerdung verschuldet und wir deshalb ih-
ren Wirkungen mit Recht anheim gefallen. Das Zeitliche in uns
gehört der Zeit muß in ihr leiden und vergehn: für selbiges ist
keine Rettung (HNI,68f.).

In diesen wenigen Zeilen sind wie in einem Brennspiegel die we-


sentlichen Aspekte konzentriert, die Schopenhauers pessimistische
Weltsicht kennzeichnen. Allerdings werden die genannten Phäno-
mene hier noch nicht von einem sich selbst undurchsichtigen und
mit sich selbst entzweiten Willen zum Leben her gedeutet. Die an-
geführten Sätze vermitteln vielmehr die Einsicht, im letzten seien
Phänomene wie Irrtum, Bosheit, Unrecht, Übel und Leiden in der
Welt sowie die Angst vor dem Tod mit dem empirischen Bewußt-
-
sein gesetzt. Das empirische Bewußtsein steht ständig in der Gefahr
zu irren kann doch der Verstand bei der anschaulichen Erkenntnis

71
der Welt versagen und zu einer Wirkung eine Ursache konstruieren,
die sich bei näherer Betrachtung als bloß vermeintlich erweist. Zu-
dem kann die Vernunft eines Individuums sich als unfähig erweisen,
die Dinge außerhalb seiner und sein eigenes Dasein im Zusammen-
hang und als Ganzes zu überschauen und infolgedessen Maximen
vorgeben, die, werden sie in Handlungen umgesetzt, in den Augen
anderer Individuen als Unrecht, Bosheit usw. erscheinen. Und
schließlich weiß das empirische Bewußtsein um das Faktum, daß
das Individuum endlich und wie alles Endliche vergänglich ist.
Aus all dem wird deutlich, daß das empirische Bewußtsein einer-
seits zwar der Quell aller Objekt- und Welterkenntnis ist, daß es
andererseits zugleich aber auch der Ursprung allen Irrtums, aller
Unwahrheit, allen Unrechts, allen Leidens, aller Laster und aller
Ängste ist, mit denen die Individuen Tag für Tag konfrontiert wer-
den. Schopenhauers Formulierungen legen es nahe, das mit der Ge-
burt des Menschen gesetzte empirische Bewußtsein als einen Sün-
denfall zu begreifen, durch den das Individuum eine Schuld auf sich
-
lädt, die nur durch den Tod getilgt werden kann. In diesem Sinne
hat er wiederholt sowohl in seinen veröffentlichten Schriften als
auch schon in den Erstlingsmanuskripten (s. HN I, 310) aus Cal-
-
derons Das Leben ein Traum zustimmend die Verse zitiert: „Denn
des Menschen größte Sünde / Ist, daß er geboren ward".
Die Frage ist nun, was mit diesen Überlegungen hinsichtlich des
Begriffs des besseren Bewußtseins gewonnen ist. Da Schopenhauer,
wie gesagt, das empirische Bewußtsein als den Inbegriff all dessen
versteht, was das bessere nicht ist, läßt sich im Ausgang von der
bislang erreichten Präzisierung des Begriffs des empirischen Be-
-
wußtseins via negationis eine ganze Reihe von Bestimmungen an-
führen, die das bessere Bewußtsein freilich negativ 10 kenn-
-
zeichnen. Demnach ist das bessere Bewußtsein nicht an ein zeitli-
ches Dasein geknüpft; es ist mithin weder Selbstbewußtsein noch
individuelles Bewußtsein, also weder ein Bewußtsein, das um seine
Akte weiß, noch ein Bewußtsein, das nur einem bestimmten Men-

10Daß sich Aussagen über das bessere Bewußtsein nur ex negativo machen
lassen, ist auch schon von R. Malter,
123 vermerkt worden.
a.a. 0., S. 8 und von Y. Kainata, a.a. 0., S.

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sehen, und keinem anderen, eignet. Da für Schopenhauer alle Indi-
viduation durch Raum und Zeit bedingt ist, muß das bessere Be-
wußtsein als etwas Außerräumliches und Außerzeitliches - Scho-
penhauer spricht wiederholt von ihm als einem ,außerzeitlichen
-
Sein' 11 begriffen werden. Als außerzeitliches Bewußtsein aber un-
terliegt es nicht der Vergänglichkeit; mithin bleibt es unberührt von
Todesfurcht und anderen mit der Sorge um den individuellen Fort-
bestand verknüpften Ängsten. Zudem kann das bessere Bewußtsein
kein Inbegriff aller in einem Subjekt vereinigter Korrelate verschie-
dener Klassen von Objekten sein. Überhaupt ist es kein Gegen-
standsbewußtsein, da es jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung
.
liegt12 Daraus aber folgt, daß es weder denkt, noch erkennt in ei-
nem dem empirischen Bewußtsein geläufigen Sinn13 In Abhebung .
vom empirischen Bewußtsein ist damit zu verstehen gegeben, daß es
auch nicht irren kann und den wahren Zusammenhang von Mensch
und Welt ständig in sich gegenwärtig hält und folglich auch keine
Handlungsdirektiven formuliert, die imstande sind, das Leiden in
der Welt zu vermehren.
Freilich ist hiermit das bessere Bewußtsein nur in einem ersten
und allzu vorläufigen Zugriff bestimmt. Nähere Auskünfte über es
erhält man, wenn man in Schopenhauers Manuskriptbuch Ausschau
hält nach Antworten auf Fragen wie etwa den folgenden: Wie äus-
sert sich das bessere Bewußtsein? Welche Phänomene sind es, in
denen es seinen Ausdruck findet?
Schopenhauers Antwort auf diese Fragen lautet: Die Äußerung
des besseren Bewußtseins ist zweifacher Art: Zum einen äußert es
sich als „Heiligkeit", zum anderen als „Genie" (HN I, 151). Das
Genie ist für Schopenhauer Bedingung aller großen Kunst; und der
Titel »Heiligkeit' bezeichnet wie später dann in Die Welt als Wille
und Vorstellung so auch schon in den frühen Nachlaßaufzeichnun-

nZ.B. HNI, 39 Nr. 72; HN I,42, Nr. 81; HNI,52, Nr. 88.
12S.
HNI, 42, Nr. 81: „[...] das bessre Bevvußtseyn in mir erhebt mich in eine
Welt wo es weder Persönlichkeit und Kausalität noch Subjekt und Objekt mehr
giebt". Und \u0397\u039d \u039 , 166 \u0393, Nr. 274 heißt es, „daß das bessre Bewußtseyn (...)
nicht inSubjekt und Objekt zerfallt".
13S. HN I,67, Nr. 96: „[...] das bessre Bewußtsein denkt und erkennt nicht, da
es jenseit des Subjekts und Objekts liegt".

73
gen den Gipfelpunkt tugendhaften Verhaltens im Sinne Schopen-
hauers. Kunst und das ganze Spektrum moralischen Verhaltens und
Handelns entspringen also gleicherweise aus dem besseren Bewußt-
sein.
Die Frage ist nun: Wie äußert es sich in diesen beiden Bereichen
-
im einzelnen? Eine Synopse der auf die moralischen Phänomene
-
bezogenen Schopenhauersehen Reflexionen um mit diesen zu be-
ginnen liefert folgendes Bild. Schopenhauers Grundüberzeugung
ist, daß alles moralische Handeln und Verhalten darauf ausgerichtet
ist, den mit dem empirischen Bewußtsein gesetzten und in ethischem
Kontext relevanten Handlungen und Verhaltensweisen wie etwa
Egoismus, Bosheit, Grausamkeit, Unrecht usw. gegenzusteuern, ja
im letzten auf eine gänzliche Loslösung vom empirischen Bewußt-
sein hinzuarbeiten. Solche Phänomene wie die genannten, die eine
Schädigung und Verletzung anderer Wesen und mithin eine Ver-
mehrung des Leidens in der Welt zur Folge haben, faßt Schopen-
hauer unter dem Begriff des Lasters zusammen. In ihnen dokumen-
tiert sich ein dem besseren Bewußtsein Zuwiderhandeln (s. HN I,
32), cine Negation dcs besseren Bewußtseins (s. HN I, 52). Eine
Affirmation des besseren Bewußtseins hingegen, ein Handeln gemäß
dem besseren Bewußtsein, schlägt sich demgegenüber in solchen
Verhaltensweisen nieder, die für Schopenhauer mit den Begriffen
Tugend und Askese am besten zu umschreiben sind. Freilich ist er
der Ansicht, daß weder Tugend noch Askese rege gemacht werden
könnten, gäbe es das Laster nicht. In einer Aufzeichnung aus dem
Jahre 1813 spricht er von einer geheimnisvollen Teleologie der Mo-
ral. „Wie es eine Teleologie der Natur giebt", führt er aus,
so giebt es eine noch viel geheimnißvollere der Moral: d.h. ge-
wisse Einrichtungen der Natur in Beziehung auf den Menschen
erscheinen als Beförderung seiner Moralität zum Zweck habend.
Diesen Karakter trägt nämlich das ganze Verhältniß der Natur zu
den Bedürfnissen des Menschen, wohin auch die Nothwendigkeit
der Kollision der Menschen unter einander gehört. Wäre nämlich
nicht eine Menge theils natürlicher theils durch Menschen her-
vorgebrachter Uebel dem menschlichen Leben aufgelegt, so
würde alle Moralität und vielleicht durch das stete sinnliche
Wohlseyn jede Regung des bessern Bewußtseyns unmöglich: so

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wäre es im Schlaraffenland: dort wäre keine Tugend möglich
und auch kein Trauerspiel (HN I,52).

Zugleich aber vertritt Schopenhauer die Auffassung, Tugend und


Askese müssten nicht in jedem einzelnen Fall einer ungerechten
Handlung oder einer Konfrontation mit dem Laster immer wieder
von neuem aktiviert werden. Vielmehr, so gibt er seiner Überzeu-
gung Ausdruck, sei es denkbar, daß in einem Individuum das
bessere Bewußtsein so lebendig ist, daß es ein für alle Mal gegen
die Anfechtungen des Lasters gewappnet ist und sein Handeln allein
nach seinem besseren Bewußtsein ausrichtet (s. HN I,51).
MitTugend und Askese sind im Kontext der Schopenhauersehen
Überlegungen keine zwei grundverschiedene Weisen, sich vom em-
pirischen Bewußtsein zu emanzipieren, bezeichnet, sondern ledig-
lich zwei unterschiedliche Grade eines an dem einen und selben Ziel
sich orientierenden Verhaltens. Die Tugend stellt dabei den niedri-
- -
geren Grad dar; ihren Ausdruck findet sie in Handlungen, die das
Gepräge der Liebe im Sinne von Caritas und der Menschlichkeit
tragen (s. ebd.). Der höhere Grad wird durch die Askese repräsen-
tiert. Was sie von der Tugend abhebt und wodurch sie sich für
Schopenhauer als von noch höherer Dignität als die Tugend erweist,
ist, daß sich in ihr nicht bloß eine Äußerung und Affirmation des
besseren Bewußtseins bekundet, sondern daß zu dieser Affirmation
eine ausdrückliche und „absichtliche Negation" hinzugekommen ist,
nämlich eine „förmliche Verleugnung, Zurückweisung alles Zeitli-
chen als solchen" (HN I, 39). Erster Schritt auf dem Weg zur Aske-
se und somit der Übergang von der Tugend zur Askese ist die
Keuschheit. Ihre höchste Ausprägung erreicht die Askese, wenn die
Zurückweisung alles Zeitlichen soweit vorgetrieben wird, daß sie
faktisch auf einen freiwilligen Hungertod hinausläuft (s. HN I, 69).
Derjenige, der sich auf diesen Weg begeben hat und ihn konsequent
zu Ende geht, ist für Schopenhauer der wahre Heilige; er ist in sei-
nen Augen der wahre Welterlöser (s. HN I,44).
Mit diesen Darlegungen ist die Erlösungslehre, die Schopen-
hauer im vierten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung aus-
geführt hat, ihren wesentlichen Momenten nach umrissen. In dem
Stadium der Systementstehung, dem die bislang herangezogenen

75
Aufzeichnungen entstammen, ist allerdings noch mit keinem Wort
die Rede davon, daß Welterlösung mittels Tugend und Askese einer
Verneinung des Willens zum Leben gleichkommt. Tugend, Askese
und Heiligkeit werden als Äußerungen, die durch sie initiierte Erlö-
sung als Affirmation des besseren Bewußtseins interpretiert. Der
Zielpunkt, auf den das geplante Werk hinauslaufen soll, ist also
schon relativ früh gesteckt. Nur ist Schopenhauer zu diesem Zeit-
punkt noch nicht auf den Gedanken gestoßen, von dem in der Fol-
gezeit das System insgesamt abhängen wird. Daher nimmt es nicht
wunder, wenn er all das, was er im Zusammenhang seines Ethik-
Entwurfs und seiner Erlösungslehre offenbar noch nicht präzise zu
benennen weiß, in dem Begriff des besseren Bewußtseins zusam-
menfaßt.
Ähnlich wie hinsichtlich der ethischen Position verhält es sich
mit dem ästhetischen Konzept, das Schopenhauer entwickelt hat.
Auch diesbezüglich gilt, daß alle entscheidenden Linien gezogen
sind, bevor die Metaphysik des Willens ins Spiel kommt. Und: Phä-
nomene, deren tiefere Bedeutung sich fur Schopenhauer im ausge-
führten Werk allererst durch ihren Bezug zur zugrundeliegenden
Konzeption des Willens zum Leben aufschließt, werden in den
Erstlingsmanuskripten als Äußerungen und Affirmationsweisen des
besseren Bewußtseins gedeutet. Exemplarisch läßt sich dies zeigen
anhand der Bestimmung der Schönheit, der Ausführungen über Be-
griff und Funktion der Kontemplation sowie der Deutung derjenigen
Kunstgattung, der Schopenhauer in seinem System der Künste eine
Sonderstellung einräumt: nämlich der Musik. Während nach der
Theorie der Schönheit im dritten Buch der Welt als Wille und Vor-
stellung einem Objekt das Prädikat ,schön' dann beigelegt wird,
wenn erstens sein Anblick uns objektiv macht, das heißt, wenn seine
Betrachtung uns aus dem Kreislauf von Wollen, Befriedigung des
Wollens, Übergang zu neuem Wollen, herausreißt und wir zweitens
in diesem Gegenstand nicht ein einzelnes Ding, sondern die Idee er-
kennen 14, bescheidet sich Schopenhauer in einer Eintragung von
1813, die in nuce seine ästhetische Theorie enthält, mit der Formu-
lierung, „das Wesen aller Schönheit" soi „theoretische Negation

14S. WI, 247.

76
der Zeitlichen Welt und Affirmation der Ewigen" (HN I, 45). Und
während er im veröffentlichten Werk die Kontemplation als Sich-
Losreißen vom Willensdrang, als Sich-Lösen aus allen Relationen
zum Willen begreift 15, bestimmt er sie in seinen Notizen als
„Befreiung vom Zeitlichen Bewußtseyn", die das „bessre ewige
Bevvußtseyn" übrig läßt (HN I, 47). Zwar ist Schopenhauer auch
schon auf dieser Stufe der Herausbildung seines Systems der An-
sicht, der Effekt der Kontemplation sei, daß das Subjekt sich als
„reines Subjekt des Erkennens" finde (HN I, 167); doch vermag er
noch nicht hinzuzufügen, reines Subjekt des Erkennens sei es, weil
es im Moment der Kontemplation willenloses und mithin auch
schmerzloses Subjekt des Erkennens sei. Und auch der Gedanke,
-
daß Kunsterfahrung durchaus eine Art von Erlösung wenn auch
eine zeitlich begrenzte - darstellt, ist im Manuskriptbuch bereits
früh mit aller Deutlichkeit vermerkt. Aber auch diese Einsicht wird
mit Bezug auf das bessere Bewußtsein formuliert. So heißt es bei-
spielsweise, in der durch das Genie produzierten Kunst äußere sich
das bessere Bewußtsein „zum Trost für die Zeitlichkeit" (HN I,
44); und, an einer späteren Stelle: Wenn wir uns in der Kontempla-
tion als reines Subjekt dcs Erkennens finden, dann ist dies „noch
nicht die Seeligkeit, noch nicht das bessre Bevvußtseyn selbst", im-
merhin aber doch „die Bedingung, der Weg dazu, die Verheißung
desselben" (HN I, 167). Und was schließlich die Musik angeht, so
sieht die auf der Willensmetaphysik fußende Ästhetik deren Sonder-
stellung dadurch begründet, daß sie nicht wie die anderen Künste
den Willen auf einer bestimmten Stufe seiner Objektivation reprä-
.
sentiert, sondern den Willen selbst abbildet 16 Bereits in der ersten
Aufzeichnung, in der von der Musik im Zusammenhang mit anderen
Künsten die Rede ist, wird ihr eine Sonderstellung eingeräumt.
Freilich begründet Schopenhauer sie an der betreffenden Stelle da-
mit, sie sei „nicht wie andre Künste eine Darstellung der Wirkungen
des bessern Bewußtseyns in der Sinnenwelt, sondern selbst eine die-
ser Wirkungen" und sie selbst rege „am unmittelbarsten" das besse-
re Bewußtsein an (HN I,49).

15S. WI, 209f.


16S. WI, 304.

77
Diese Überlegungen Schopenhauers zur Ethik und zur Kunst
lassen deutlich werden, daß er dem besseren Bewußtsein eine die
Endlichkeit und Zeitlichkeit transzendierende Funktion zuspricht.
Das bessere Bewußtsein ist der Quell, aus dem Einstellungen,
Handlungen und Verhaltensweisen entspringen, die in der Lage
sind, die mit dem zeitlichen Dasein gesetzten Leiden zu lindern, ja
-
im letzten sie sogar völlig aufzuheben. Und: Das bessere Bewußt-
-
sein kann durch die Kunst da diese quo Genieprodukt ja eine sei-
ner Äußerungen ist aktiviert werden, so, daß das kunstgenießende,
kontemplierende Subjekt aus dem Strudel von Zeitlichkeit und
Vergänglichkeit zeitweilig herausgehoben und in einen Zustand
versetzt wird, den Schopenhauer als Verheißung der Seligkeit be-
zeichnet.
Mit diesem Fazit ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Klä-
rung des Begriffs vom besseren Bewußtsein getan. An es muß sich
die Frage nach dem Verhältnis zwischen empirischem und besserem
Bewußtsein anschließen. Wie sich die Sachlage bisher darbietet,
scheint es sich so zu verhalten, daß, wenn die Einstellungen, Ver-
haltensweisen usw. eines Individuums vom zeitlichen, empirischen
Bewußtsein bestimmt sind, damit eine Abwesenheit des besseren
Bewußtseins angezeigt ist und daß umgekehrt die Äußerung des
besseren Bewußtseins in einem Individuum einer Aufhebung seines
empirischen Bewußtseins gleichkommt. Empirisches und besseres
Bewußtsein scheinen demnach im Verhältnis eines sich ausschlie-
ßenden Gegensatzes zu stehen. Jedoch ist damit die Relation zwi-
schen beiden nur sehr unzureichend bestimmt. Hier gilt es näher zu-
zusehen. Vor allem ist folgendes zu bedenken: Wenn das bessere
Bewußtsein, wie Schopenhauers Reflexionen ja deutlich genug zu
verstehen geben, von wesentlich höherer Dignität als das empirische
Bewußtsein ist und im Rahmen seines Konzepts letzten Endes alles
daran gelegen ist, das empirische Bewußtsein aufzuheben, dann
muß dieses Konzept eine Antwort auf die Frage geben, warum es
überhaupt ein empirisches Bewußtsein gibt. Die ausgeführte Wil-
lensmetaphysik gibt diesbezüglich den Bescheid: Das empirische
Bewußtsein muß begriffen werden als eine Objektivation des Wil-
lens zum Leben; es hat seinen Grund in einer Äußerung der Freiheit
des Willens zum Leben. Da Freiheit des Willens zum Leben für

78
Schopenhauer gleichbedeutend ist mit absoluter Zufälligkeit, han-
delt es sich bei dem empirischen Bewußtsein um etwas zuhöchst
Zufälliges, um eine Erscheinung also, die auch nicht hätte da sein
können 17 .
Solange sich der Wille für Schopenhauer noch nicht als das We-
sen der Welt enthüllt hat, kann in den Erstlingsmanuskripten auch
von einer solchen Lösung nicht die Rede sein. Die Antwort, die
Schopenhauer auf die aufgeworfene Frage gibt, zeigt, daß seine
Theorie des besseren Bewußtseins hier mit einer Schwierigkeit kon-
frontiert wird, der mit den Theorieelementen, die Schopenhauer zu
diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen, nicht beizukommen ist.
Schopenhauers Auskunft lautet nämlich: „Die Frage ist transcen-
dent und diese Relation ist ein transcendentaler Schein" (HN I, 67).
Die argumentative Stützung dieser Antwort schlägt folgenden Weg
ein. Erstens: Wenn gefragt wird, wie es je zu dem empirischen Be-
wußtsein habe kommen können, dann setzt diese Frage nach Scho-
penhauer voraus, das bessere Bewußtsein sei das Erste und das em-
pirische Bewußtsein sei ihm irgendwann einmal gefolgt. Das aber
heißt, es wird eine Sukzession zwischen beiden und mithin Zeit vor-
ausgesetzt. Zeit aber ist gemäß dem Schopenhauersehen Konzept
des empirischen Bewußtseins etwas, was durch das empirische
-
Bewußtsein bedingt ist und das folglich das bessere Bewußtsein gar
nicht tangieren kann. Zweitens: Steht bei der Frage nach dem
Verhältnis zwischen empirischem und besserem Bewußtsein die
Relation als solche im Blick, mit anderen Worten, wird zum Bei-
spiel gefragt, ob das empirische Bewußtsein im besseren seine Ur-
sache hat, dann ist darauf zu antworten, daß alle mögliche Relation
nur eine Bestimmung des empirischen Bewußtseins ist, daß sie, mit
Schopenhauer gesprochen, „ihr Wesen nur im Denken [hat], wel-
ches Denken Bestimmung des empirischen als Verstand und Ver-
nunft erscheinenden Bewußtseins ist" (ebd.). Und er faßt zusam-
men: „Die Frage nach obiger Relation hat also gar keinen Sinn:
denn sie hebt das empirische Bewußtsein auf und fragt nach Relati-

17 Vgl. hierzuF. Decher: Wille zum Leben - Wille zur Macht. Eine Untersu-
chung zu Schopenhauer und Nietzsche. Wurzburg, Amsterdam 1984, S. 157ÎÏ.

79
on die doch nur mit jenem Bewußtsein gesezt wird". Zugleich aber
weist er daraufhin:

Dennoch ist dieser transeendentale Schein unvermeidlich und


nicht zu heben: wir können gar nicht umhin besagte Relation zu
denken: der Sündenfall drückt sie mythisch aus. Man kann sagen,
wenn man durchaus von dieser Relation reden will,sie sei eine
schlechthin und in alle Ewigkeit unerkennbare. Denn das bessre
Bewußtsein denkt und erkennt nicht, da es jenseit des Subjekts
und Objekts liegt: das empirische Bewußtsein aber kann keine
Relation erkennen deren eines Glied es selbst ist, die also über
seine Sphäre hinausliegt und diese selbst einschließt (ebd.).

Es gilt also festzuhalten: Die Frage nach der Relation zwischen


dem empirischen und dem besseren Bewußtsein macht deshalb we-
-
nig Sinn, weil sie prinzipiell unbeantwortbar ist. Gleichwohl können
wir gar nicht anders, als diese Frage zu stellen aus dem einfachen
Grund, weil wir uns nicht nur als zeitlich-empirisches Bewußtsein
erfahren, sondern auch Äußerungen des besseren Bewußtseins ver-
nehmen. Diesen Sachverhalt faßt Schopenhauer in die Formulie-
rung, unser Bewußtsein sei ein „Gemisch" aus besserem und em-
pirischem Bewußtsein, aus Ewigkeit und Zeitlichkeit (HN I,46). Er
diskutiert ihn unter dem Titel Duplizität unseres Bewußtseins 18 .
Diese Duplizität wird für ihn sinnenfallig im moralischen Verhalten
und im Kunstgenuß. Zudem spricht sie sich seiner Überzeugung
nach deutlich aus in unserer zu verschiedenen Zeiten verschiedenen
Einstellung zum Tod. „Es giebt Augenblicke", schreibt er, „wo,
wenn wir den Tod lebhaft denken, er in so fürchterlicher Gestalt er-
scheint, daß wir nicht begreifen wie man mit solcher Aussicht eine

über die Nothwendigkeit des Todes zubringe.


-
ruhige Minute haben könne und nicht Jeder sein Leben mit Klagen
In andern Zeiten
denken wir mit ruhiger Freude, ja mit Sehnsucht an den Tod". Und
er fügt hinzu: „Inbeiden haben wir Recht. In der ersten Stimmung
sind wir ganz vom zeitlichen Bewußtsein erfüllt, sind nichts als Er-
scheinung in der Zeit; als solcher ist uns der Tod Vernichtung, und

18S. HN I,68, Nr. 99 und HN I, 135, Nr. 234.

80
als das größte Uebel mit Recht zu furchten. In der andern
Stimmung ist das bessre Bewußtsein lebendig [...]"(HN I, 68).
Nun wäre es freilich ein grobes Mißverständnis, würde man
diese Duplizität des Bewußtseins im Sinne eines harmonischen
Ausgleichs zwischen empirischem und besserem Bewußtsein begrei-
fen. Schopenhauer belehrt darüber, daß beide zumeist miteinander
im „Kampf liegen und bestrebt sind, sich voneinander zu sondern
(HN I, 46). Zwar kann es seinem Ansatz gemäß sowohl Menschen

vernommen haben oder aber sie verdrängen


-
geben, die die Äußerung des besseren Bewußtseins entweder nie
die ausgearbeitete
-, als auch solche, in denen
-
Ethik wird sie als grausam bezeichnen
-
das bessere Bewußtsein überwiegt nämlich in den genialen und tu-
gendhaften oder in denen es gar allein herrscht - wie es bei den
Heiligen der Fäll ist. Bei der Mehrzahl der Menschen verhält es sich
nach Schopenhauers Überzeugung jedoch so, daß das empirische
Bewußtsein überwiegt und das bessere nur gelegentlich zum Zuge
kommt.
Wie aber, so läßt sich fragen, hat man sich dies dann vorzustel-
len? Schopenhauers Position ist klar und eindeutig: „Das bessre
Bewußtseyn", hat er nämlich formuliert,

ist vom empirischen durch eine Grenze ohne Breite, eine


mathematische Linie, getrennt: das wollen wir meistens nicht
einsehn und glauben vielmehr es sey eine physische, auf der sich
wandeln ließe, mitten zwischen beiden Gebieten, und von der
man nach beiden sehn könnte: d.h. wir wollen den Himmel ver-
dienen, und dabei die Blumen der Erde pflücken. Das geht aber
nicht: wie wir das eine Gebiet betreten, haben wir auch gleich das
andre verlassen und verleugnet: zu vermitteln und zu verbinden
ist nichts, nur zu wählen, für jeden Augenblick (HN I, 111).

Der Übergang zwischen empirischem und besserem Bewußtsein,


hat er in einer anderen Aufzeichnung notiert, kann niemals sukzes-
sive, sondern nur „mit Einem Schlage" erfolgen und kommt einem
„Uebertreten aus der Zeit in die Ewigkeit" gleich (HN I, 85). Eben-
so wie er im vierten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung
die Möglichkeit eröffnet, über die von Leiden übervolle Welt und
das in diese Welt eingebundene eigene Dasein mit Bejahung und

81
Verneinung des Willens die Entscheidung zu fallen, stellt Schopen-
hauer hier vor die Alternative, entweder im Befangensein im
empirischen Bewußtsein zu verharren oder sich aus diesem Befan-
gensein zu befreien, den Übertritt aus der Zeitlichkeit in die Ewig-
keit ein für alle Mal zu wagen. Was aber bleibt dann? Schopenhau-
er antwortet: Wenn das bessere Bewußtsein eingetreten und habitu-
ell geworden ist, dann
verschwindet jene ganze Welt Ides empirischen Bewußtseins] wie
ein leichter Morgentraum, wie ein optisches Blendwerk, nur nach
ihrer Bedeutung fragen wir noch, nach den Platonischen Ideen,
welche auszudrücken alle Zeit und aller Raum nebst ihrem Inhalt,
nur die Buchstaben, der rohe Stoff waren; und selbst die Ideen
verschwinden zuletzt, indem das Bewußtseyn sich zurückzieht in
die ewige Ruhe und ungetrübte Seeligkeit, die geistige Sonne des
Piaton (HN I,136f).

Ebenso wie später in Die Welt als Wille und Vorstellung erklärt
sich Schopenhauer auch hier nicht näher. Das „Zerfließen ins
Nichts" wie es im veröffentlichten Werk heißt 19, entzieht sich wie
das Sich-Zurückziehen des Bewußtseins in die ,ewige Ruhe und
ungetrübte Seligkeit' jedem weiteren begrifflichen Zugriff. Beides
-
hat etwas Mysteriöses und läßt sich allenfalls metaphorisch um-
schreiben.
-
Schopenhauers Begriff des besseren Bewußtseins faßt eine Fülle
von Phänomenen in sich und bleibt doch eigentümlich unscharf.
Es zeugt von der Schwierigkeit, vor der Schopenhauer bezüglich
einer präzisen Bestimmung des Begriffs vom besseren Bewußtseins
stand, daß er in einer Aufzeichnung den Vorschlag macht, eventuell
könne man statt ,besseres Bewußtsein' auch sagen: Gott. Freilich,
schränkt er sofort ein, dürfe man den Ausdruck ,Gott' nur
symbolisch fur ,besseres Bewußtsein' gebrauchen. Aber auch dabei
-
scheint ihm nicht ganz wohl gewesen zu sein setzt er doch noch
hinzu: „so mags seyn: doch dächte ich [,] nicht unter Philosophen"
(HN I,42).

19 W I, 486.

82
Mit dem Hinweis auf die Unscharfe eines der zentralsten Begrif-
fe ist zweifellos der Schwachpunkt des sich herauskristallisierenden
Systems namhaft gemacht. All die damit verbundenen Unzu-
länglichkeiten, seien sie systematisch-sachlicher oder begrifflich-
sprachlicher Art, lösen sich in dem Augenblick gleichsam in nichts
auf, in welchem Schopenhauer auf den Willen zum Leben als den
innersten Kern der Welt stößt. Jetzt, nachdem der Wille entdeckt
ist, kann Schopenhauer getrost auf den Begriff des besseren Be-
wußtseins verzichten. Denn von nun an vermag er die mit der Rede
von der Duplizität des Bewußtseins intendierten Phänomene unter
den Titeln Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben zu dis-
kutieren. Jetzt hat er es nicht mehr nötig, Phänomene wie Egoismus,
Bosheit, Unrecht usw. als Abwesenheit des besseren Bewußtseins
zu interpretieren;· nun kann er sie auf die unersättliche Daseinsgier
eines sich selbst nicht durchsichtigen Willens zum Leben und auf
den Einbruch des Willens in den Bezirk anderer Willensbejahung
zurückfuhren. Jetzt ist er in der Lage, die Kontemplation als Sich-
Losreißen vom Willensdrang zu konzipieren und den ästhetischen
Zustand als willen- und schmerzfreies Anschauen zu definieren.
Und er vermag fortan Phänomene wie Mitleid, Liebe, Mensch-
lichkeit, Tugend, Heiligkeit als verschiedene Grade einer Vernei-
nung des Willens zu begreifen.
Wenn Schopenhauer im Jahre 1849 zu seinen Erstlingsmanu-
skripten notiert: Es sei bemerkenswert, daß bereits 1814 alle „Dog-
men" seines Systems, „sogar die untergeordneten", festgestellt seien
(HN I, 113, Fußn.), dann ist dem durchaus zuzustimmen. Zu einem
in sich geschlossenen Konzept konnte er sie indessen erst inte-
grieren, als er auf den Willen als das Wesen der Welt stieß.

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