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Humboldt-Universität zu Berlin

Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät


Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft
Modul IV: Mediendramaturgie und Medienästhetik
Seminar: Lesen: Kulturtechnik zwischen Mensch und Maschine
Kursnummer: 53511
Dozentin: Dr. Hannah Wiemer

Die kulturelle Bedeutung der „Slawobulgarischen Geschichte“


als Medium der Formation nationaler Identität

Eingereicht von: Jasmina Antonova


Matrikelnummer: 625277
E-Mail: jasmina.antonova@student.hu-berlin.de
Hauptfach: Kunst- und Bildgeschichte (2. Semester)
Nebenfach: Medienwissenschaft (2. Semester)
Eingereicht am: 14.10.2022

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 2
1. Einleitung 3
2. Historischer Überblick 4
2.1. Folgen der osmanischen Dominanz auf der Balkanischen Halbinsel 5
2.2. Die Rolle der orthodoxen Kirche 6
2.3. Die neue Historiographie 7
3. Paisij von Hilendar. Leben. Gründe und Umstände der Entstehung der
„Slawobulgarischen Geschichte“ 8
4. Mediale Eigenschaften 10
4.1. Struktur des Werkes 11
4.2. Schrift und Sprache 12
5. Verbreitung und Rezeption 13
6. Fazit 15
Literaturverzeichnis 17




1. Einleitung
Die historische Erzählung besitzt eine enorme Wirkungskraft, indem sie gemäß ihrer
Darstellungsweise unterschiedlicher Ziele dienen kann. Beispielsweise kann die Geschichte für
Erweckung oder Verletzung nationales Stolzes, Spaltung, aber auch Vereinigung der Gesellschaft,
für politische Manipulation oder Verbergen von Taten genutzt werden. Die vorliegende Hausarbeit
beschäftigt sich mit einer im 18. Jahrhundert entstandenen bulgarischen Historiographie, die als
Anfangspunkt der Wiedergeburt in Bulgarien gilt. Es geht um die „Slawobulgarische
Geschichte“ vom Priestermönch Paisij von Hilendar. Die Wiedergeburt ist die Periode, wenn die
Formation der nationalen Identität des bulgarischen Volkes unter osmanischer Dominanz beginnt,
von 1762 (Entstehung der „Geschichte“) bis 1878 (Befreiung Bulgariens von der osmanischen
Macht). Als Epoche ist sie das Äquivalent der westeuropäischen Renaissance und Aufklärung.
Es ist unumgänglich, die Frage zu stellen, wieso Paisij als ein halbalphabetischer Mönch zu dem
ersten Aufklärer Bulgariens wird und sein einziges Werk, „dieses ohne sprachlichen oder gar
wissenschaftlichen Ehrgeiz verfaßte Manifest zur nationalen Selbstbesinnung als solches zu
beurteilen“1 ist. Die Hausarbeit beschäftigt sich mit der Frage, was Paisij gelungen ist, welches
seinen zeitgenössischen Historiographen, die über Bulgarien geschrieben haben, entgangen ist.
Spezifischer lautet die Fragestellung der vorliegenden Forschung: welche mediale Eigenschaften
erweisen sich als zentral für den historischen Erfolg der „Slawobulgarischen Geschichte“ während
der bulgarischen Wiedergeburt. Im Zentrum der Forschung stehen die folgenden Aspekte: Vorteile
des geschriebenen Wortes in Vergleich zu der mündlichen Tradition, Verständlichkeit der Sprache
als Voraussetzung für ganzheitliche Enthüllung des Sinnes bei Lesen bzw. Zuhören, Ähnlichkeiten
des Manuskriptes mit der handschriftlichen Zeitung.
Es wird versucht, zu beweisen, dass die Wirkung des Mediums unabhängig von der faktischen
Glaubwürdigkeit des Inhaltes sein kann. Von McLuhans These „das Medium ist die
Botschaft“ ausgehend, lässt sich den Inhalt des Buches Paisijs mit ihrer Effekte im Laufe der Zeit
auf die folgende Weise verbinden: der Mönch predigt die Notwendigkeit, die Geschichte zu kennen,
um den Volksgeist zu bewahren; gleichzeitig verursacht das Kennenlernen der bulgarischen
Geschichte dank dieses selben Manuskriptes die Wiedergeburt des ganzen Volkes, was mit der
nationalen Bewegung für Freiheit und Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert kulminiert.
Die Struktur der Hausarbeit besteht aus vier Hauptteilen. Sie beginnt mit einem historischen
Überblick, der sich auf den Zustand der bulgarischen ethnischen Gemeinschaft innerhalb des

1 Podskalsky 1989, S. 75.


3

Osmanischen Imperiums konzentriert. Es werden die Rolle der orthodoxen Kirche als
vereinigendem Faktor und Wächter der kulturelle Identität, als auch die zentrale Eigenschaften der
von Westeuropa empfangenen neuzeitlichen Historiographie erklärt. Als Nächstes werden ein Paar
Daten über Paisij von Hilendar, als auch über die Morivation und die Umstände der Entstehung der
„Slawobulgarsichen Geschichte“ gegeben. Danach wird die Wichtigkeit der angemessenen Struktur
und Sprache des Werkes kommentiert. Als Letztes lassen sich die Effekte der handschriftlichen
Verbreitung des Werkes und seine Rezeption anbringen.
Für diese Hausarbeit werden fünf Hauptquellen benutzt. „The ‚Nation‘ during the First Bulgarian
Risorgimento: a Discussion of Paisij Hilendarski and Spiridon Palauzov“ von Giacomo Brucciani
(2006) beschäftigt sich mit der Wandel von mittelalterlichen zu neuzeitlichen Historiographie, als
auch mit der Wichtigkeit der biblischen Ursprungsmythos in der „Slawobulgarischen Geschichte“.
Die zweite zentrale Quelle ist Igor Kaliganovs „Paisius of Hilendar and his ‚Slavo-Bulgarian
Hbstory‘: a manifesto of the national revival of the Bulgarian people“ (2020), wo die Gründe und
die Umstände der Entstehung dieses Manuskriptes erklärt werden. Als Nächstes sind zwei Quellen
a u f B u l g a r i s c h z u e r w ä h n e n , n ä m l i c h D o c h o L e k o v s „ Ve c h n a t a ‚ I s t o r i j a
Slavjanobulgarskaja‘“ (2003) und Kalina Lukovas „Slavonic-Bulgarian History of Paisii
Hilendarski– Media Effects“ (2012), die sich entsprechend mit der Struktur und Sprache des Werkes
und der Diskussion über die These, dass das Manuskript als handschriftliche Zeitung funktioniert,
beschäftigen. Die letzte Hauptquelle ist das Werk von Susanne Strätling mit dem Titel
„Schrifterscheinungen. Das Alphabet als Medium von Epiphanie, Invention und Alterität (N. V.
Gogol’)“ (2012), in dem die Sakralität des kyrillischen Alphabets kommentiert wird.

2. Historischer Überblick
Im 14. Jahrhundert beginnt die Osmanische Invasion auf der Balkanischen Halbinsel und die
balkanischen Völker, einschließlich der Bulgaren, verschwinden von der geo-politischen Karte
Europas. Das resultiert in mehrere Wandlungen innerhalb des gesellschaftlichen Lebens, die
hauptsächlich aufgrund der verschiedenen Religion und sozial-politischen Ordnung der Eroberer
stattfinden.
Die osmanische Dominanz in Südosteuropa dauert ungefähr 500 Jahre und führt zu einer
allgemeinen Tendenz von Rückständigkeit in Vergleich zu Westeuropa. Es ist festzustellen, dass der
bulgarischsprachige ethnische Raum am langsamsten in seinem Fortschritt wegen der Nähe zur
Hauptstadt des Imperiums Istanbul und folglich wegen des größeren Druckes ist.2

2 Brucciani 2006, S. 70.


4

In Folgendem werden den gesellschaftlichen Status und das kulturelle Niveau des bulgarischen
Volkes während der osmanischen Dominanz, als auch die Rolle der orthodoxen Kirche, erklärt.
Diese Aspekte sind wichtig, um die Wirkung des Werkes Paisijs zu verstehen.

2.1. Folgen der osmanischen Dominanz auf der Balkanischen Halbinsel

Die osmanische Invasion im 14. Jahrhundert resultiert in wesentliche materielle und kulturelle
Zerstörung und soziale Wandlungen. Ein neues feudales Regime ersetzt das bisherige. Das wird mit
einem System von religiöser Diskrimination kombiniert, in dem die christliche unterworfene
Bevölkerung höhere Steuern zahlen muss, was klar im islamischen Steuergesetz erläutert wird.3
Nicht nur eine Segregation aufgrund des Glaubens ist festzustellen, sondern auch eine räumliche
Abgrenzung. Die christliche Bevölkerung wird von den Stadtzentren isoliert und bleibt in den
ländlichen Zonen. Die bewusst geförderte kulturelle und soziale Differenzierung zwischen beider
Gruppen verhindert die Assimilation der Christen in der osmanischen Gesellschaft: „the peasant
masses ‚remained Christian, alien in language and culture as well as in religion, outside the cultural
horizon of the Turks.’“4
Eine weitere Charakteristik der gesellschaftlichen Segregation ist der Mangel an Kultur- und
Bildungseinrichtungen für die unterworfenen Christen. Die osmanischen Herrscher
institutionalisieren literarisches und künstlerisches Schaffen, das fremd für die einheimische
balkanische Bevölkerung in Hinsicht auf Sprache, Ideologie, ästhetischen Mitteln u. a. ist.5
Diese drei Aspekte der Gesellschaft innerhalb des Osmanischen Imperiums resultieren in eine
kulturelle Stagnation und Rückständigkeit in Vergleich zu Westeuropa: „Like the Turks themselves,
the Balkan peoples were bypassed by the Renaissance and Reformation. When humanism started to
cast its rays over Western Europe, Ottoman ‚darkness‘ descended over the Balkans.“6
Die andere Seite der Medaille muss aber auch in Rücksicht genommen werden, denn genau diese
Segregation der Gesellschaft erlaubt der christlichen Gemeinschaften im Rahmen des Osmanischen
Reiches zu überleben. „By living in compact settlements, with their own social organization, the
peasants were able to resist the penetration of alien cultures and to preserve their ethnic

3 Vucinich 1962, S. 604.


4 Ebd., S. 606.
5 Mutafchieva 1995, S. 62.
6 Vucinich 1962, S. 611.
5

individuality.“7 Zum Weiteren resultieren die Notwendigkeit von künstlerischem Ausdruck und
Konsumation seiner Produkte in eine reiche epische Volksdichtung.

Folklore offered an unlimited scope for the talented among the subjugated Balkan peoples who had long
enjoyed a national state of their own.
The fact that local folklore played this role over a long period of time and that it had a nation-wide
audience stimulated its creators. This fact also guaranteed its exceptional (due to no competition) impact
on the mentality of the public.8

Bei der bulgarischen epischen Dichtung wird der letzte Herrscher des bestimmten Gebiets vor der
Invasion als Held der Erzählung gewählt.9 Auf diese Weise wird die Erinnerung an die
mittelalterliche herrliche Vergangenheit in dem christlichen Dorf aufbewahrt. Die mündliche
Tradition erweist sich als Katalysator für Patriotismus.10

2.2. Die Rolle der orthodoxen Kirche

Es ist wichtig, wirklich zu betonen, dass die Teilung der Gesellschaft eher religiösen als ethnischen
Grund hat. Deswegen identifizieren sich die Unterworfene in erster Linie auf Basis ihrer
Religionszugehörigkeit. Christentum gibt der unterworfenen Völker eine gemeinsame Identität. Sie
halten sich daran trotz der Diskrimination fest, denn dadurch werden sie zu einer Gemeinschaft
vereinigt, die ihnen gegenseitige Unterstützung und Schutz garantiert.11
In diesem Kontext übt die Orthodoxe Kirche mehrere Funktionen aus. Sie ist die wichtigste die
mittelalterlichen Staaten überlebte christliche Institution. Mit dem Verschwinden der politischen
Macht funktioniert die Kirche als Link zwischen der Vergangenheit und der Zukunft jeder Nation.
Nicht nur bewahrt diese Institution mindestens teilweise das kulturelle Erbe und die ethnische
Identität der Gläubigen, sondern auch übt eine politische Funktion aus, indem die kirchliche
Verwaltung geographisch und sozial-organisatorisch getrennte Gruppen vereinigt. Die Kirche
repräsentiert ihre Anhänger vor den osmanischen Behörden und sogar führt sie gelegentlich zur
Rebellion. Die orthodoxe Institution erleichtert den begrenzten Durchlass von westeuropäischem
Einfluss und dient als Brennpunkt des sozialen Lebens.12
Eine weitere wesentliche Rolle der Kirche für die damalige balkanische Gesellschaft ist als
Bildungseinrichtung. Die s. g. Klosterschulen bzw. Zellenschulen sind die einzigen christlichen

7 Vucinich 1962, S. 603.


8 Mutafchieva 1995, S. 62.
9 Ebd., S. 64.
10 Vucinich 1962, S. 603.
11 Mutafchieva 1995, S. 55–56.
12 Vucinich 1962, S. 608–609.
6

Zentren für Produktion und Austausch von Wissen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die
Ausbildung dort ist stark religiös, konzentriert sich auf die Lektüre von mittelalterlichen geistlichen
Texten und findet auf Griechisch und/oder Altkirchenslawisch statt. Diese Sprachen sind schwer zu
verstehen für die einfache Masse, was diejenigen, die Wissen bekommen, auf eine elitäre Position
stellt.13
Außer des hohen Klerus gibt es „secular clerics“, eine niedrigere Klasse von Geistigen, die
Beziehungen mit den einfachen Gläubigen unterhalten.

Although they lacked learning and possessed little if any power, the secular clergy, because of their
relation to the peasantry, exercised an influence over the fate of their nation ‚quite incommensurate with
their social rank.‘ They supplied some of the ‚moral strength’ which enabled the Greeks, Serbs, Bulgars,
and others ‚to resist the Ottoman power.‘
The peasants respected the parish priest because he was one of them. The parish clergy in the town were
less influential, because the small Christian urban element had not yet developed a politically minded and
literate class to articulate their national aspirations effectively.14

Es lässt sich zusammenfassen, dass die Gesellschaft nach der osmanischen Invasion auf religiöse
Basis getrennt wird und der Großteil des balkanischen Kulturerbes zerstört wird. Ein System
religiöser Diskrimination etabliert sich, in dem die Muslen privilegiert sind. In diesem Kontext aber
erweist sich die Kirche als ein vereinigender Faktor der christlichen Gemeinschaft. Diese Institution
funktioniert als soziales und kulturelles Zentrum, als Wächter der Sprache und der historischen
Erinnerung. Im 19. Jahrhundert wird dieses aufbewahrte ethnische Erbe politisiert, um der
balkanischen nationalen Bewegungen zu dienen.15 Zunächst aber soll sich eine nationale Identität
etablieren und das wird anhand der mittelalterlichen Geschichte erzielt.

2.3. Die neue Historiographie

Nach einer Reihe wesentlicher Gebietsverluste und militärischer Misserfolge im 16. Jahrhundert
beginnt die Schwächung des Feudalsystems und der zentralen Macht, was das ökonomische und
technische Zurückbleiben des Osmanischen Reiches in Vergleich zu Westeuropa verursacht. Die
politische und gesellschaftliche Instabilität öffnen Raum für sozial-religiöse und nationale
Aufstände.16 Der Einfluss von Westeuropa in den Städten wird intensiver und besonders im 18.
Jahrhundert strömen die westeuropäische Ideen der Aufklärung in das Osmanische Reich ein.17 Es

13 Vrinat-Nikolov 2018, S. 233.


14 Vucinich 1962, S. 604.
15 Brucciani 2006, S. 70.
16 Vicinich 1962, S. 600–601.
17 Ebd., S. 615.
7

ist wichtig aber, zu bemerken, dass die christlichen Kanäle zu dem Westen als geschlossene
Kreisläufe operieren, und als Resultat akzeptieren nur die Christen diese neuen Ideen.18
Allerdings haben manche Völker, die sich längerer Zeit unter osmanischer Herrschaft befinden,
ihre nationale Identität vergessen und brauchen eine Erinnerung daran. Das ist Aufgabe der
Geschichte, aber die Art und Weise, wie sie geschrieben wird, hat einen enormen Einfluss über ihre
Rezeption. In Folgendem wird ein Vergleich zwischen der mittelalterlichen und der von Westeuropa
empfangenen neuzeitlichen Historiographie gemacht.
Für die Erzählung der Geschichte im Mittelalter ist das Universalismus charakteristisch, nach
dem die Menschheit dem Heilswille Gottes unterworfen ist und die historischen Ereignisse durch
das Gottes Vorsehen erklärt werden. Während sich diese Art Historiographie mit einer liturgischen
und metaphysischen Erzählungsweise kennzeichnet, fokussiert sich die Neuzeit auf die Nation als
historisches Makrosubjekt, das sich durch die Geschichte legitimiert. Das mittelalterliche
Universalismus wird von der neuzeitlichen Partikularität ersetzt, die eine nationale Absonderung
voraussetzt. Die vergangene Vorstellung von patrimonialem Staat mit dem Herrscher ins Zentrum
wird von neuen Ideen substituiert, die dem Volk die zentrale Rolle geben.19 Meiner Meinung nach
reflektiert die neue balkanische Historiographie den Wandel von der vereinigten orthodoxen Kirche
(Universalismus) zu der Idee unabhängiger geistlichen Institutionen jeder einzelnen Nation als
erster Schritt zur nationalen Absonderung.
In seinem Werk „The ‚Nation‘ during the First Bulgarian Risorgimento: a Discussion of Paisij
Hilendarski and Spiridon Palauzov“ unterscheidet Giacomo Brucciani zwischen zwei Arten
balkanischer neuzeitlichen Historiographie. Einerseits nennt er die s. g. „dynastische
Historiographie“, die historische Rechte anhand kaiserlicher Abstammung behauptet. Auf die
andere Seite steht der Typus, der die historische Rechte eines Volkes auf einen eigenen Staat
recherchiert, indem ihre Autorität anhand biblischer Verbindungen legitimiert wird. Die
„Slawobulgarische Geschichte“ Paisijs gehört zur zweiten Kategorie.20

3. Paisij von Hilendar. Leben. Gründe und Umstände der Entstehung


der „Slawobulgarischen Geschichte“
Paisij von Hilendar gilt als der erste Ideologe der bulgarischen Wiedergeburt. Es gibt keine präzise
Information über seine Biographie, allerdings wird es vermutet, dass er in 1722 in Westbulgarien

18 Zit. n. Vucinich 1962, S. 610.


19 Kapriev 2012, S. 116–117.
20 Brucciani 2006, S. 71–72.
8

geboren ist und aus einer vermögenden Familie stammt. 23-jährig wird er Mönch in dem Kloster
Hilendar auf den heiligen Berg Athos (heutige Griechenland) und nimmt den Namen Paisij. Seine
Position ist als Priestermönch und Assistent des Abtes.
In seiner Zeit in Hilendar bekommt Paisij die Idee, eine bulgarische Geschichte zu schreiben. Für
diese Entscheidung spielt die Umgebung des Mönches von anderen Geistlichen mit
unterschiedlichen Nationalitäten, hauptsächlich Serben und Griechen, eine zentrale Rolle: „In that
intention, according to Paisius‘s own testimony, he was strengthened by the constant ridicule of
Greek and Serbian Athos brethren, who reproached Bulgarians for their ignorance of their own
history and their lack of works on the subject.“21 Es ist wichtig zu betonen, dass die Mönche mit
serbischer und griechischer Herkunft über Informationen bezüglich der Geschichte ihrer Volker
verfügen und schon von den westlichen Ideen der Aufklärung beeinflusst sind. Das erklärt sich
durch ihre geographische Positionierung und demographische Verteilung. Die Serben befinden sich
geographisch näher zu Westeuropa und im Gegensatz zu Bulgaren wohnt der Großteil der Griechen
in den Städten22– „avenues through which Western influence was diffused in the Ottoman Empire.
“23
Im 18. Jahrhundert beginnt die Formierung eines günstigen intellektuellen Kontextes für die
Verbreitung neuzeitlicher Historiographie in Südosteuropa. Brucciani zitiert Ilija Konevs „The
Bulgarian Risorgimento and the Enlightenment“ (1983–1992), wo der Author Titel von im 18. Jh.
entstandenen Historiographien balkanischer Authoren aus Kroatien, Serbien, Slovenien, Rumänien
und Montenegro aufzählt.24
Neben der Motivation und dem intellektuellen Milieu verfügt Paisij über geeinigte Bedingungen
für das Schreiben einer Geschichte der Bulgaren. „Acting as a ‚taxidiot‘ (from the Greek
‚stranger‘ that is, a collector of donations […]), and at the same time a guide for groups of pilgrims
going to the Holy Mountain, Paisius moved around a lot, and this enabled him to start purposefully
collecting information about the history of his countrymen. While in various cities and monasteries,
he sought out such information in ancient manuscripts, medieval chronicles, Russian printed
prologues, and other sources.“25

21 Kaliganov 2020, S. 147.


22 Vucinich 1962, S. 605.
23 Ebd., S. 615.
24 Brucciani 2006, S. 71.
25 Kaliganov 2020, S. 148.
9

Paisij beginnt, die „Slawobulgarische Geschichte“ im Jahr 1760 nach seinem Besuch in dem
serbischen Patriarchat in Sremski-Karlovci zu schreiben, wo er zwei seiner Hauptquellen findet: die
russische Übersetzungen von „Acts of Church and Civil“ des italienischen Kardinals und
Kirchenhistorikers Cesare Baronio (Moskau, 1719; Original: Rom, 1588) und von der
„Historiographie“ des dalmatischen Geschichtsschreibers Mavro Orbini (Sankt Petersburg 1722;
Original: Pesaro, 1601).26 Der Mönch beendet das Werk in 1762 im Kloster Zograph, wo er
inzwischen umzieht. Die elf Jahren bevor seinem Tod beschäftigt er sich mit der Verbreitung seiner
Schrift.

4. Mediale Eigenschaften
Die „Slawobulgarische Geschichte“ markiert den Übergang von dem Wissensaustausch und der
Aufbewahrung des Volksgeistes durch die mündliche Tradition zum Textträger, was an sich ein
wesentlicher Schritt in dem historiographischen Vorgehen ist. Die Schrift verleiht der Information
Autorität, Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit. Die geschriebene Geschichte erweist sich als
materielles Zeugnis der Vergangenheit, das die nationale kulturelle Identität und das Patriotismus
erweckt.
Allerdings ist Paisijs Werk chronologisch nicht die älteste bulgarische Historiographie. Als
solche gilt der in 1667 entstandene auf Lateinisch geschriebene Text des katholischen Bischofs und
Historikers Petar Bogdan mit dem Titel „De antiguitate Patreni soli, et de rebus Bulgaricus“. Zum
Weiteren entsteht in den 1760-er Jahren neben dem Buch Paisijs eine Reihe Schriften über die
bulgarische Geschichte. In 1761 schreibt der unter den bulgarischen Katholiken lebende
Franziskanermönch Blasius Kleiner seine „Geschichte Bulgariens“ wieder auf Lateinisch. Um diese
Zeit entsteht auch die s. g. „Zographska Istorija“ („Zographische Geschichte“), deren Author
anonym bleibt. Keines dieser Werke aber erreicht die Popularität der „Slawobulgarischen
Geschichte“, weil sie im Gegensatz zum Text Paisijs verständlich nur für die alphabetische elitäre
Minderheit waren und entweder nicht oder von wenigen Leuten gelesen wurden.27 Und die Lektüre
ist der Akt von Belebung der Buchstaben, von Enthüllung des damit decodierten Sinnes.28 Eine
Voraussetzung, damit das Lesen bzw. Vorlesen stattfinden kann, ist die Verständlichkeit des Textes.
Es ist nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern auch wie es gesagt wird. Damit die Information
assimiliert wird, soll diese mit Rücksicht auf die Leser bzw. Zuhörer dargestellt werden.

26 Kaliganov 2020, S. 148.


27 Tsanev 2006, S. 121–122.
28 Schmitz-Emans 2018, S. 606.
10

Meiner Meinung nach verdankt Teil des Erfolgs der „Slawobulgarischen Geschichte“ der
Erzählweise des Authors. In Folgendem wird eine Analyse der inhaltlichen und medialen Aspekte in
dem Vorgehen Paisijs versucht.

4.1. Struktur des Werkes

Wie schon erwähnt, ist die bulgarische Bevölkerung im 18. Jahrhundert stark zurückgeblieben in
ihrer historischen Entwicklung in Vergleich zu Westeuropa. Diese Gesellschaft hat eine stark
religiöse und patriarchale Mentalität und der Großteil davon ist analphabetisch. Es ist Paisij
gelungen, eine angemessene Struktur seiner Geschichtserzählung für ein solches Auditorium zu
finden.
Das Ziel der „Slawobulgarischen Geschichte“ ist die Wiedergeburt der bulgarischen Nationalität.
Das Werk wird als der Ausgangspunkt des bulgarischen Nationalismus bezeichnet. Damit der Geist
des Volkes erweckt wird, besteht die Notwendigkeit einer Erzählung über seine Genesis. Der Text
erfüllt diese Funktionen, indem er ein Schöpfungsmythos der ethnischen Gruppe anbietet und dafür
einen maßgeblichen Rahmen verwendet, nämlich die Bibel.29 Paisij erklärt die Genesis der
Bulgaren mit der ihnen gut bekannten Erzählung über die Aufteilung der Welt zwischen den Söhnen
Noahs, gefolgt von dem Turmbau zu Babel, wovon die Sprachverwirrung als göttliche Strafe
stammt. Thematisch ist ein klarer mittelalterlicher Muster festzustellen, der aber durch die Linse der
humanistischen historiographischen Tradition dargestellt wird, da im Fokus nicht das Gottes
Vorsehen, sondern die Bulgaren als uraltes orthodoxe Volk stehen. Die Verwendung von Verweisen
auf das Alte Testament sind notwendig für die Verstärkung des nationalen Bewusstseins.30
Die „Slawobulgarische Geschichte“ folgt eine interessante Gliederung. Das Buch beginnt mit
einer Einleitung, wo es erklärt wird, warum das Kennen der Geschichte nützlich ist. Danach kommt
der historiographische Teil, der mit einem Vorwort beginnt. Hier wird eine dialogische Beziehung
zwischen Author und Leser bzw. Zuhörer festgestellt, Paisij verbirgt seine Identität nicht, was auch
eine Abweichung von der mittelalterlichen anonymen Erzählweise ist. Zum ersten Mal in der
neubulgarischen Literatur entsteht die Beziehung von Schöpfer einerseits und Rezipient andererseits
mit dem Werk als Medium dazwischen.31 Die eigentlichen historischen Fakten umfassen drei
Kapiteln und werden von drei merkwürdigen Teilen, die als Listen strukturiert sind, gefolgt.

29 Aretov 2014, S. 174–175.


30 Brucciani 2006, S. 72–73.
31 Lekov 2003.
11

Inhaltlich wiederholen diese das davor geschriebene, damit die vielfältige Information von den
einfachen Leuten leichter behalten und besser assimiliert wird.
Das Ziel Paisijs ist nicht eine vertiefte und ausführliche Historiographie zu schreiben, sondern
die Erinnerung an den bulgarischen Staat in seinem Herrlichkeit und Macht zu erwecken. In Bezug
auf den Inhalt sind deshalb mehrere faktische Fehler zu beobachten. Ein roter Faden mit religiösem
Charakter ist in Pisijs Werk zu erkennen, wodurch die Idee einer Verbindung zwischen Volk und
Gott erzielt wird. Es ist nicht nur die Erinnerung an der Vergangenheit, die Paisij strebt, sondern
auch die Erweckung von Stolz darauf.

Paisij now adds a new element: the Bulgarians who defeated the Emperor by “the will of God” are
presented as executors of divine punishment against the Greeks who had become too proud, having
neglected one of the qualities dearest to God, simplicity.
The national position therefore emerges like a thread between the people and God as on the occasion of
the conversion of the Bulgarians to Christianity at the time of Murtagon. […]
The conversion of the Bulgarians marks a watershed in history because a still closer connection with God
emerges, which seems to favour the “elect nation”. Moreover, the Bulgarians were the first holy Slavs to
pray in the Bulgarian language. Indeed, in the third part of the history, Za slavijanskite učiteli [For the
Slav masters], Paisij recounts the lives of Saints Cyril and Methodius and how they were the first to
codify Old Church Slavonic.32

Von diesem Zitat ausgehend ist eine Beziehung zwischen der Sprache bzw. dem Alphabet, der
Religiosität und der nationalen Identität festzustellen. Die Sprache erweist sich als ein wichtiges
Medium für den Erfolg der „Slawobulgarischen Geschichte“. In Folgendem werden die
linguistischen Merkmale des Werkes vom Mönch analysiert.

4.2. Schrift und Sprache

Wie schon erwähnt, ist die „Slawobulgarische Geschichte“ nicht die älteste Historiographie der
Bulgaren. Allerdings ist sie die erste für das Volk verständliche und ergreifende Geschichte. Das
wird durch die Sprache von ihrer Basis (das Alphabet) bis zum allgemeinen Stil des Werkes
ermöglicht.
Zunächst lässt sich die Frage behandeln, woraus die Verbindung zwischen der bulgarischen
Schrift und der Religion stammt. In dem Kapitel „Über den slawischen Lehrern“ erzählt Paisij die
Ursprungsgeschichte des kyrillischen Alphabets als Voraussetzung für die Christianisierung des
Volkes (9. Jh.). Auf diese Weise entsteht das Medienprivileg der Schrift als scriptura sacra und nicht
als einfaches Notationssystem. Mit seiner graphischen Evidenz gebe uns die Schrift die
Erscheinung eines Bildes zu sehen. „In diesem Umschlagen von der Sichtbarkeit der Evidenz (dem,
was graphisch manifest vor uns liegt) zur Sichtbarkeit der Erscheinung (dem, was sich uns
graphisch vermittelt darbietet) liegt das Wesen der Schrift. Es ist das Vermögen, die

32 Brucciani 2006, S. 75.


12

Wahrnehmbarkeit des Buchstabens mit der Vorstellbarkeit des Bildes zu verbinden.“33 Die Schrift
dient dem In-Erscheinung-Treten von abstrakten Ideen und funktioniert als materielles Zeugnis von
Erscheinungen der Vergangenheit. Ihre spirituelle Aura verleiht Sakralität dem Werk Paisijs.
Als Nächstes lässt sich die Nutzung bestimmter Wörter und Ausdrücke in der
„Slawobulgarischen Geschichte“ kommentieren. Paisij führt die Begriffe Volk (rod), Sprache (ezik),
Vaterland (otechestvo) und Geschichte (istorija) ein, wodurch die Komponente der nationalen
Identität bestimmt werden. Sie werden zu Schlüsselwörtern der bulgarischen Wiedergeburt.34 Der
vom Mönch benutzte Ausdruck „bis zum heutigen Tag“ hat auch eine interessante Wirkung, indem
er Kontinuität mit der Vergangenheit suggeriert.35
Als Letztes lässt sich der allgemeine Stil des Werkes Paisijs kommentieren. In dem Nachwort
schreibt der Author, er halte sich an den grammatischen Regeln (der altkirchenslawischen Sprache)
nicht, da er diese nicht kenne. Der Mönch habe einfach für die einfachen Bulgaren geschrieben.
Genau aus diesem Grund hat sein Werk einen riesigen Erfolg. Die verständliche Sprache erweist
sich als ein Medium der Wissensübertragung und damit festigt Paisij seine These, dass die Bildung
des bulgarischen Volkes auf die gesprochene Sprache stattfinden muss, damit sie zugänglich für
mehr Personen ist und damit die nationale Identität nicht verloren wird.

5. Verbreitung und Rezeption


Das Manuskript Paisijs wird handschriftlich verbreitet. Innerhalb eines Jahrhunderts entsteht eine
mediale Netz von Abschriften, die ganze Bulgarien umfasst. Die Abschreiber werden zu
Mitautoren, indem sie Notizen mit unterschiedlichem Charakter und Informationen über
gegenwärtige Ereignisse hinzufügen. Die alphabetischen Leser schreiben Kommentare bezüglich
des Inhaltes am Rand der Seite. Auf diese Weise werden die Abschriften inhaltlich ergänzt und
erhalten die Aktualität der Publizistik.36 In der Forschung wird es sogar behauptet, dass die
„Slawobulgarische Geschichte“ den Charakter einer handschriftlichen Zeitung durch diese mediale
Netz erhält. Die folgenden Ähnlichkeiten werden zwischen dem Manuskript und der medialen
Publizität festgestellt: Informativität, Periodizität, Verbreitung, Publizität, Kommentare,
Redaktionen und soziale Funktionen.37 Bis heute sind mehr als 70 handschriftliche Kopien des

33 Strätling 2012, S. 293.


34 Lekov 2003.
35 Brucciani 2006, S. 73.
36 Zit. n. Lukova 2012, S. 73–74.
37 Lukova 2012, S. 76.
13

Manuskriptes gefunden und wahrscheinlich gibt es mehr verlorene oder zerstörte. Die erste
gedruckte Version der Geschichte erscheint 123 Jahre nach dem Original, obwohl der Buchdruck
viel früher in Bulgarien erscheint.38 Sogar im 21. Jahrhundert wird das Werk Paisijs bei
studentischen Projekten oder aus Anlass historischer Jubiläen abgeschrieben.39
Die schon erwähnte spirituelle Aura des Werkes beweist sich auch durch seine Rezeption
während der Wiedergeburt. Das Buch wird in der Kirche gelesen und hinter dem Altar neben dem
Evangelium aufbewahrt.40 Zum Weiteren wird Paisij am 26.07.1963 in die Schar der Heiligen der
bulgarischen Kirche aufgenommen. Die Heiligsprechung vom Priestermönch verstärkt die
Vorstellung von Sakralität seines Werkes.
Von der Wirkung der „Slawobulgarischen Geschichte“ als Manifest zur nationalen
Selbstbestimmung zeugt das folgende Zitat des bulgarischen Schriftstellers der Wiedergeburt Petko
Slavejkov:

Ich hatte bis jetzt nur einseitig darüber nachgedacht, wie ich meine Seele retten sollte. Nach der Lektüre
dieses Werkes stellte ich mir zur Aufgabe, mein Volk zu retten, d. h. ihm patriotischen Geist einzuflößen.
Das Lesen und Abschreiben dieser Geschichte gab meinen Wünschen und meiner Tätigkeit eine andere
Richtung.41

Es lässt sich schlussfolgern, dass die Nachwirkung und Deutung dieser Historiographie „ganz im
Zeichen eines sich jeweils ideologisch wandelnden Nationalismus standen und stehen.“42
Das Problematisieren der „Slawobulgarischen Geschichte“ als missbrauchte Schrift und als
Spielball entgegengesetzter Ideologien kann hier nur kurz angebracht werden, weil das nicht im
Fokus der vorliegenden Forschung steht. Laut Gerhard Podskalsky hat Paisij selbst den
problematischen Gebrauch seiner Historiographie wegen Mangel an christlicher bzw.
humanistischer oder wissenschaftlicher Absicherung des Textes, als auch wegen unreflektierter
Mischung „von naivem Nationalismus und zur reinen Tradition erstarrter Väterreligion leicht
gemacht [hat].“43
Im Endeffekt, während die Information in der „Slawobulgarsichen Geschichte“ im Laufe der
bulgarischen Wiedergeburt als absolut glaubwürdig beurteilt wird, hat das Werk heutzutage eher

38 Kaliganov 2020, S. 148.


39 Lukova 2012, S. 77.
40 Ebd., S. 76.
41 Zit. n. Podskalsky 1989, S. 75–76.
42 Podskalsky 1989, S. 76.
43 Ebd., S. 79.
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eine symbolische Bedeutung. Sie wird als der Anfangspunkt einer transitorischen Periode in der
Geschichte Bulgariens bezeichnet, indem sie neue Ideen für die damalige Gesellschaft einführt.

6. Fazit
Nach der osmanischen Invasion auf der Balkanischen Halbinsel geratet die einheimische christliche
Bevölkerung in ein System von religiöser Segregation, topographischer Abgrenzung und kultureller
Stagnation. Der Mangel an Assimilation und die Entwicklung von epischer Volksdichtung als
Folgen dieser Umstände erlauben allerdings das Überleben der ethnischen Identität. In dieser
Situation vereinigt die Orthodoxe Kirche die diskriminierten Christen zu einer sich gegenseitig
unterstützenden Gemeinschaft. Sie funktioniert auch als eine Art Wächter der Sprache und der
ethnischen Individualität und die Zellenschulen sind die einzigen Bildungseinrichtungen verfügbar
für die Christen bis zum 18.–19. Jahrhundert. Die Bildung aber findet auf Griechisch oder
Altkirchenslawisch statt, die mehr oder weniger schwer zu verstehen für die meisten Bulgaren sind.
Auf diese Weise bleibt das Wissen Privilegium für ein begrenztes kirchliche Elite. Allerdings
erweist sich die epische Volksdichtung als Wächter des Volksgeistes.
Die Balkanische Halbinsel kann nicht für immer von dem Rest Europas isoliert bleiben und
besonders im 18. Jahrhundert verstärkt sich der Einfluss vom Westen in der Form von
Modernisierung und neue Ideen. In dieser Periode entstehen mehrere Historiographien balkanischer
Völker, womit einen Übergang von der mittelalterlichen, liturgischen, universalen
Geschichtserzählung zu der neuzeitlichen, partikularen, nationalistischen Historiographie
festzustellen ist. In diesem günstigen intellektuellen Milieu entsteht Paisijs „Slawobulgarsiche
Geschichte“.
Dieses Werk markiert den Wandel von der mündlichen Tradition zur schriftlichen Übertragung
von Wissen bezüglich der nationalen Identität. Dank des materiellen Textträgers gewinnt das
Wissen an Glaubwürdigkeit, Nachhaltigkeit und Authentizität. Der Text wirkt auch anhand des
Alphabets und des allgemeinen Stils. Einerseits funktioniert für die Leser die Schrift als
wahrnehmbares Medium, die die Vorstellung eines Bildes ermöglicht. Andererseits macht das
verwendete gesprochene Bulgarisch diesen Text verständlich für die analphabetischen Zuhörer.
Diese linguistischen Merkmale sind relevant für die Assimilation der Information seitens des
Rezipienten, denn dadurch wird der Sinn enthüllt. Die Wirkungskraft dieser Historiographie über
die damalige bulgarische Bevölkerung wird auch durch ihre sakrale Aura verstärkt. Das kyrillische
Alphabet als scriptura sacra und die Geschichte des biblischen Ursprungs sind ein maßgeblicher
Rahmen, in dem Paisij sein Werk positioniert.
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In der „Slawobulgarischen Geschichte“ mischen sich mittelalterliche und neuzeitliche Tradition.


Der Mönch nutzt die Religiosität, um das nationale Bewusstsein zu verstärken. Sein Ziel ist, Stolz
in dem Volk zu erwecken, weswegen er einen roter Faden des „auserwählten Volkes“ in seinem
Buch etabliert.
Ein weiterer Aspekt der „Slawobulgarischen Geschichte“ als Medium ist ihre Verbreitungsweise.
Die Mitautorenschaft der Abschreiber und der Leser etabliert ein mediales Netzwerk, in dem jeder
Exemplar mit (aktueller) Information ergänzt wird. Das trägt zu der Authentizität und der
Kontinuität des Werkes bei.
Im Großen und Ganzen lässt sich schlussfolgern, dass der Erfolg der „Slawobulgarischen
Geschichte“ auf mehreren medialen Aspekten beruht. Das Materialisieren der Information anhand
der Schrift und des Manuskriptes als Textträger verleihen ihr Autorität und Nachhaltigkeit und
verstärken ihre Wirkung. Die Sprache als Medium führt ihre Funktion aus, ausschließlich wenn sie
verständlich für den Rezipient ist. Die Wiederholungen in der Struktur der Erzählung sind eine
weitere Erleichterung für die Assimilation der Information. Meines Erachtens sind diese die
medialen Eigenschaften, die neben dem Inhalt zur Signifikanz des Buches Paisijs als Anfangspunkt
der Wiedergeburt beigetragen haben. Der Mönch ist in der Geschichte Bulgariens als der erste
Aufklärer geblieben und sein einziges Werk als die Glocke, die den Volksgeist erweckt hat.

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