WISSEN

NR. 06
WI SSE N

November!/!Dezember 2018

+
ZEIT WISSEN
CHECK:
Welches
Hobby passt
zu mir?

Die großen
Denkschulen
Wie Sokrates uns
heute weiterbringt

Neue Fenster
ins Weltall
Wie Astrophysiker
unseren Blick aufs
Universum verändern

WOW!
Italien, Spanien 9,10 € — Schweiz 10,90 CHF
Österreich, Benelux 8,00 € — Frankreich,
6,95 EURO

Wie man sich neu begeistert

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Für eine Aufgabe, einen Menschen – und sich selbst

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durch Rhododendronwald und genießen die Ausblicke
auf die Bergkette des Jugal Himals. Übernachten Sie
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nur erdbebensicher sind, sondern auch einen heraus-
ragenden Komfort in den Bergen Nepals bieten.
Auch die sieben Unesco-Weltkulturerbestätten im
Kathmandu-Tal sind einmalige Höhepunkte dieser
Reise! Der Nepal-Experte Mukunda Raj Pant begleitet
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DER ANDERE DREH

Wir standen auf einem riesigen geteerten Platz. Der Mann neben
mir war klein, hatte staksige Beine, wuschelige Haare. Günther
hieß er, und er war in einem Punkt anders als alle anderen: Er
konnte sich beim besten Willen nicht merken, wo rechts und
links war. Die Wehrpflicht hatte uns auf diesem Platz in einer
Kaserne zusammengeführt. Wir trainierten dort, wie das geht, in
nicht einem einzigen Punkt anders zu sein als die anderen. Aufgereiht in der gleichen
Kleidung und der gleichen Haltung, sollten wir gleichzeitig und im Gleichschritt
losgehen, gleichzeitig und im Gleichschritt die Richtung wechseln, je nach Kommando
rechts oder links, gleichzeitig anhalten, stillstehen und uns gleichzeitig drehen, ruckartig
und zackig natürlich, Militär, klar. Nach Ausführung des Kommandos »Reeeeechtsum!«
blickten alle Soldaten auf die Hinterköpfe der Kameraden. Auch ich blickte auf viele

Lymphdiaral
Hinterköpfe, aber eben auch direkt in Günthers blaue Augen. Die sofort erschrocken ®
aufleuchteten. Ich musste lachen, erst recht beim Marschieren: Hundert Mann bogen
geschlossen nach rechts, nur einer schlug ruckartig und zackig die andere Richtung ein.
Jedes Mal wurde Günther angebrüllt, es nützte nichts. Ihre Abwehrkrä!e
Liebe Leserin und lieber Leser, mit dieser Erinnerung möchte ich Ihnen die Geschichte
auf Seite 64 ans Herz legen, sie handelt ebenfalls vom Anderssein.
natürlich im Fluss
Günther bekam übrigens dann einen Stein in die Hand – zur Unterscheidung der Seiten. • regt das Lymphsystem an und
Aber als das Kommando kam, musste er selbst lachen: War die Hand mit dem Stein fördert so das Immunsystem
jetzt die rechte oder die linke?
• unterstützt bei Infekten der
Andreas Lebert, Chefredakteur oberen Atemwege
Foto Vera Tammen; Lisa Morgenstern; Pasi Orrensalo

AUS DER REDAKTION

Filipa Lessing hat ziemlich normale Hobbys: nähen,

tanzen, Klavier spielen – am liebsten gemeinsam
mit anderen Musikern. Dann begann sie für den
ZEIT WISSEN Hobby-Check (S. 30) zu recherchieren,
trug über 80 Hobbys zusammen und erinnerte sich
an eine Leidenschaft aus ihrer Kindheit: Poi spielen.
Titelfoto Todor Tsvetkov / Getty Images

Lymphdiaral® Basistropfen SL · Die

Pasi Orrensalo hat eine besondere Leidenschaft: Er Anwendungsgebiete leiten sich von den
homöopathischen Arzneimittelbildern
geht gern über Schrottplätze. Der finnische Fotograf ab. Dazu gehören: Unterstützende Be-
stellt sich dann vor, warum jemand Laptop, Gartentor handlung von Infekten der oberen
oder Fahrrad weggeworfen hat und welche Geschichten Atemwege, insbesondere mit Beteili-
gung des lokalen Lymphsystems.
die Dinge zu erzählen hätten. Auf seinen Fotos Enthält 39 Vol.-% Alkohol. Zu Risiken
jedenfalls kommen die Teile in den Himmel (S. 82). und Nebenwirkungen lesen Sie die
Packungsbeilage und fragen Sie Ihren
Arzt oder Apotheker. www.pascoe.de


Denken wie Sokrates S. 58
6 AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Wächst man wirklich mit der
Aufgabe? 2. Gibt es gute
Diktaturen? 3. Warum darf man
nicht kratzen, wenn es juckt?
12 JUNGES WISSEN
ALTES WISSEN
Timothy Emmer (16) und
Barbara Grotkamp-Schepers
(67) haben die gleiche
Leidenschaft: Messer
16 GEORDNETE VERHÄLTNISSE
Infografik zum Thema Lächeln
18 OPTIMIST
Die Meere werden plastikfrei
30 DER ZEIT WISSEN-CHECK
Welches Hobby passt zu mir?
36 STIMMT SO!
Wofür gibt man Trinkgeld? Mit
welchen Erwartungen? Und mit
welchem Resultat? Aufklärung
eines zwielichtigen Geschäfts
INHALT
Reden über Trends S.!40
40 KANN MAN AN DER KLEIDUNG
DEN ZUSTAND
DER WELT ABLESEN?
Das ZEIT WISSEN-Gespräch mit
der Trendforscherin Li Edelkoort
50 DIE LETZTE MEILE
Pakete stecken im Stau, das
Internet lahmt. Das dicke Ende
kommt immer am Schluss
56 DER TIERFREUND
Peter Wohllebens Kolumne
58 DIE GROSSEN DENKSCHULEN
Wie Sokrates’ Art zu fragen
uns heute noch weiterbringt
64 LEGASTHENIE
Wenn die Buchstaben tanzen
70 DAS EXPERIMENT
Diesmal: Unverwundbar sein
73 DIE ZUMUTUNG
Astrophysik: Das Weltall
hat zwei neue Fenster
Lesen von der Macht der Buchstaben S. 64
78 GEBRAUCHSANWEISUNG
FÜR EIN GEFÜHL
Fotos Collage: Julia Ossko, Eugen Schulz; Matthieu Salvaing / OTTO Archive; Lisa Rienermann, Tomas Januska
Diesmal: Nervosität
82 GOLD UND GIFT
In Schrott steckt vieles drin,
man muss es nur rauskriegen
90 DIE UNERTRÄGLICHE
LEICHTIGKEIT DES REISENS
Rein in den Flieger und ab ins
Vergnügen. Wie kann man heute
noch ein guter Tourist sein?
96 CITIZEN-SCIENCE
Der Migräne auf der Spur
98 BUCHTIPPS
102 IMPRESSUM/BESTE ERKLÄRUNG
103 APPS
104 KANN MAN DAS NOCH
BESSER MACHEN?
Diesmal: Die Waschmaschine
106 DIE WELT AUS DER SICHT
EINES KORKENS
 

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WOW! WIE MAN SICH NEU BEGEISTERT
Es kann eine Idee sein, ein anderer Mensch, ein Job, ein Hobby: Plötzlich
springt ein Funke über, und man fängt an zu brennen. Begeisterung verschafft
neue Energie, schützt vor Burn-out und gibt dem Leben einen Sinn.

+ ZEIT WISSEN-CHECK: Welches Hobby passt zu mir?

Unsere Recherchequellen
Studien, Bücher, Artikel, Dokumente – die Recherchequellen, die wir für unsere journalistische Arbeit genutzt haben, finden Sie
online unter www.zeit-wissen.de/0618quellen zu diesen Texten: Stimmt so!, Die letzte Meile, Die großen Denkschulen, Legasthenie,
Die Zumutung, Gold und Gift, Die unerträgliche Leichtigkeit des Reisens
 AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Wächst man wirklich
mit der Aufgabe?
Es ist das Credo der Leistungsgesellschaft,
das Mantra der Evolution. Warum dürfen
wir eigentlich nicht auch mal klein bleiben?
Text Linda Fischer Foto Sami Parkkinen
D
as Immunsystem hat ein Gedächtnis.
Es erinnert sich an kleinste Merkmale
eines bekämpften Erregers, um ihn
beim nächsten Mal schneller zu elimi-
nieren. Muskeln wachsen, wenn man
sie regelmäßig trainiert. Teile des Ge-
hirns nehmen an Volumen zu oder ab, je nachdem, an
welchen Gedanken es sich täglich abarbeiten muss –
auch bei Erwachsenen. Es vergeht also kein Tag, an
dem nicht ein kleiner Teil unseres Körpers mit einer
gemeisterten Aufgabe wächst. Oder schrumpft, sobald
er nicht mehr gefordert wird.
Mit der menschlichen Psyche ist das etwas kom-
plizierter. Potenzial, zu wachsen, gibt es natürlich genug.
Jeden Tag vermehren wir unser Wissen, machen neue
Erfahrungen und festigen unser Vertrauen in die eige-
nen Fähigkeiten. Der Mensch sei von Natur aus auf
Leistung programmiert, sagt der Erziehungswissen-
schaftler Felix von Cube. Der emeritierte Professor der
Universität Heidelberg ist davon überzeugt, dass Men-
schen stets gefordert werden sollten, aber niemals ver-
wöhnt. Dazu hat von Cube mehrere Bücher geschrieben
und animiert darin besonders Unternehmen, ihre Mit-
arbeiter zu neuen Leistungen anzutreiben, wenn diese
produktiver werden sollen. Es gebe allerdings eine
wichtige Voraussetzung: Leistung müsse Spaß machen,
denn nur wer motiviert sei, könne auch langfristig gute
Leistungen erbringen.
Was sich wie eine Binse anhört, mit der Lehrer
auch heute noch Schülern langweiligen Unterrichtsstoff
schmackhaft machen wollen, ist wissenschaftlich unter-
mauert. Denn Spaß entsteht im Flow – das ist ein Zu-
stand, in dem sich etwa Manager befinden, die ganz in
ihrem Beruf aufgehen. Sie stellen sich schwierigen Ver-
handlungen, üben Druck auf andere aus, machen sich
notfalls unbeliebt, alles, um das bestmögliche Ergebnis
herauszuholen. Ein vergleichbarer Zustand lässt sich
auch durch eine Leidenschaft erzeugen: Wer regelrecht
in ein Videospiel eintaucht, bei dem er – oft unter Zeit-
druck und im Team – eine schwierige Aufgaben lösen
muss, ist im Flow. Diese Theorie beschrieb erstmals der
amerikanische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi.
Ihm zufolge ist der Flow ein Zustand des Glücks, zu
dem man nur gelangt, indem man eine Aufgabe erfüllt.
Zeit, Alltagssorgen oder gar das eigene Nahrungsbe-
dürfnis werden nebensächlich. Wichtig ist einzig und
allein die Herausforderung.
Csíkszentmihályi stellte fest: Betroffene balancieren
dabei stets auf der Grenze zwischen einer möglichen
Über- und Unterforderung. Ohne Herausforderung
kein Flow. Aber verunsichert die Aufgabe – ist sie zu
schwer und übt Stress aus –, entsteht er ebenfalls nicht.
Leistung funktioniert also nicht nach dem Prinzip: Je
fordernder die Aufgabe, desto höher die Leistungsfähig-
keit. Entscheidend ist die ganz persönliche Einstellung
und die Fähigkeit, dort selbstsicher zu werden, wo Auf-
gaben zuvor verunsichert haben.
In einer Studie untersuchten Psychologen, was
Menschen befähigt, eine Aufgabe zu meistern, ohne an
ihr zu verzweifeln. Dabei identifizierten die Forscher
mehrere Eigenschaften, die diejenigen auszeichnet, die
eine Aufgabe eher als Chance erleben und weniger als ein
Ding der Unmöglichkeit: Diese Menschen fühlten sich
eher in der Lage, ein Ziel hartnäckig bis zur Lösung zu
verfolgen. Sie waren überzeugt davon, dass sich die ei-
genen Bemühungen am Ende lohnen. Außerdem glaub-
ten sie, sich unter diesen Bedingungen weiterentwickeln
zu können. Und schließlich waren sie davon überzeugt,
etwas bewegen zu können. Kurz gesagt: Sie glaubten
daran, an ihrer Aufgabe wachsen zu können. —
Foto »Arvi«, aus der Serie »Father and Son« von Sami Parkkinen
 AM ANFANG DREI FRAGEN
2. Gibt es gute Diktaturen?
Kann man diese Frage überhaupt diskutieren?
Ist die Antwort nicht klar? Abraham Lincoln und
Platon waren jedenfalls verschiedener Meinung
Text Tobias Bug Foto Zhang Kechun
P
laton war der Ansicht, dass eine Volks-
gemeinschaft zu verführbar und von Stim-
mungen abhängig sei, um ein Land regieren
zu können – der Philosoph war ein Gegner
der Demokratie. Für das antike Athen sah
er einen Philosophen auf dem Königs-
thron. Jemanden, der an der Führungsspitze Weisheit
und Gerechtigkeit verkörpert, natürlich zum Besten
des Volkes, aber als Alleinherrscher.
»Ordnung und wirtschaftlicher Fortschritt kom-
men vor Freiheit«, findet auch der amerikanische Publi-
zist Robert D. Kaplan. Seine Darstellung des Imperia-
lismus als stabilisierender Kraft wird von vielen kritisiert.
Doch als erfolgreiches Diktaturbeispiel führt Kaplan
den arabischen Staat Oman an: Dort regiert Sultan Ka-
bus ibn Said – seit 48 Jahren, absolutistisch und dikta-
torisch. Kaplan glaubt, dass Kabus ibn Said das Land
nach dem Dhofar-Krieg (1965–1975) in eine neue Ord-
nung geführt habe und die Wirtschaft seinetwegen
wieder aufgeblüht sei. »Im Oman gibt es nur wenig
Repression«, so Kaplan: Die Omaner könnten offen
ihre Meinung sagen und die Regierung kritisieren.
Was er nicht erwähnt: Auch im Oman wurden die
Proteste im Arabischen Frühling 2011 gewaltsam nie-
dergeschlagen. Legitimieren öffentliche Ordnung und
wirtschaftlicher Wohlstand solche Repressionen einer
Diktatur? Kaplan ist dieser Meinung. Auch jüngere
Wahlergebnisse der westlichen Welt scheinen dafürzu-
sprechen. Zwar votierten die Wähler in den USA oder
in der Türkei nicht für die Einführung einer Diktatur.
Doch gaben sie mit Donald Trump und Recep Tayyip
Erdoğan Autokraten ihre Stimme. Auch in anderen
Ländern kamen Populisten an die Macht: in Polen und
in Italien, und in Deutschland verzeichnet die AfD
weitere Zuwächse. Die Sehnsucht nach einfachen Lö-
sungen ist nicht ausgestorben. »Fremdbestimmung, wie
in einer Diktatur ausgeübt, kann niemals gut sein«, sagt
dagegen Martin Sabrow, »und niemals besser als Selbst-
bestimmung.« Sabrow ist Historiker und Direktor am
Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er
war Vorsitzender der von der Bundesregierung einge-
setzten Expertenkommission, die 2006 ein Konzept zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur vorlegte. Er glaubt
nicht daran, dass es gute Diktaturen gibt.
Auch Birgit Aschmann ist Historikerin. Sie lehrt
an der Humboldt-Universität in Berlin Europäische Ge-
schichte des 19. Jahrhunderts. Sie hatte die Gesprächs-
anfrage zunächst abgelehnt: Sie fand die Frage nach einer
guten Diktatur absurd. Später räumte Aschmann aber
ein, dass es Menschen gebe, die den Diktaturen, in de-
nen sie leben, positive Seiten abgewinnen können, bei-
spielsweise Personengruppen, die von einer Diktatur
profitieren. In einer Diktatur würden ja nicht nur Posten,
sondern auch Prestige verteilt. Dann genössen zuvor
chancenlose Menschen plötzlich Macht und Respekt.
Doch der Stolz der einen werde mit der Angst der an-
deren bezahlt. »Wer nicht in das ideologische Weltbild
passt oder nicht bereit ist, sich systemkonform zu ver-
halten, muss in der ständigen Angst leben, dass dies
weitreichende Folgen für ihn haben kann«, sagt Asch-
mann. Kaplans Argument, dass viele Diktatoren ihren
Ländern zu wirtschaftlichem Wohlstand verholfen
hätten, findet die Professorin problematisch. »Wirt-
schaftlicher Fortschritt sollte niemals auf Kosten von
Freiheit und Selbstbestimmung gehen. Außerdem kann
man nie wissen, ob die Wirtschaft nicht auch in einer
Demokratie gewachsen wäre.«
Abraham Lincoln, 16. Präsident der Vereinigten
Staaten, sagte: »Kein Mensch ist gut genug, einen anderen
Menschen ohne dessen Zustimmung zu regieren.« —
 AM ANFANG DREI FRAGEN
3. Warum darf man nicht
kratzen, wenn es juckt?
Dieser fiese Mückenstich. Die Brennnesseln. Darf
man nicht doch ein bisschen, ein kleines bisschen,
nur bis es blutet? Die Juckreiz-Ambulanz weiß Rat
Text Filipa Lessing Foto Pauline Caranton
D
as Ruyi-Zepter war zur Zeit der Qing-
Dynastie in China ein äußerst kostbares
und sehr beliebtes Geschenk. Noch
heute liegen allein im Palastmuseum
Peking etwa 3000 schmuckvoll ver-
zierte Exemplare, die führende Gene-
rale, Beamte und Gelehrte dem Kaiser zum Neujahrs-
fest geschenkt hatten. Der glücksbringende Talisman
geht dabei auf einen vollkommen profanen Gegen-
stand zurück: den Rückenkratzer. Bereits 200 Jahre vor
Christus kratzten sich die Chinesen damit die jucken-
den, aber unerreichbaren Stellen. Europa eroberte das
Kratzgerät erst im flohreichen 18. Jahrhundert: Dort
erblühte es als Schmuckstück für höfische Damen.
Kratzen war sozusagen en vogue.
Heute ist das Gegenteil der Fall. Und kratzt man sich
doch mal – im Büro oder im Kreise der Familie –, gibt
es garantiert jemanden, der mahnt: »Nicht kratzen!«
Dabei liegt uns das Kratzen im Blut. Durch das reflex-
hafte Rubbeln, Reiben oder Scheuern stellt der Körper
sicher, dass Insekten, Parasiten oder Reizstoffe entfernt
werden. Das wohlige Gefühl der Erleichterung habe also
durchaus einen Sinn, erklärt Sonja Ständer, Leiterin des
Juckreiz-Zentrums am Universitätsklinikum Münster:
»Alle Fremdstoffe bedrohen die Integrität der Haut und
Foto Pauline Caranton und Mathieu Missiaen
letztendlich des ganzen Individuums. Hinter dem Juck-
reiz steckt also eine Art Schutzfunktion: Die Natur stellt
sicher, dass auch wirklich gekratzt wird.«
Sie weiß, wovon sie spricht: Die Dermatologin hat
die erste Juckreiz-Ambulanz Deutschlands gegründet,
das Kompetenzzentrum Chronischer Pruritus. »In der
heutigen Zeit, wo wir sehr hygienisch leben, kommt
diese Art Schutzmechanismus kaum noch zum Tragen,
aber wir merken ihn bei Insektenstichen oder Brenn-
nesselberührungen. Das darf allerdings nicht mit Jucken

als Krankheitssymptom verwechselt werden«, sagt
Sonja Ständer. Unter Letzterem leiden in Deutschland
13 bis 16 Prozent der Erwachsenen. Der dauerhafte
Juckreiz kann unterschiedlichste Ursachen haben: von
trockener Haut über Milben bis zu Neurodermitis,
Schäden des Rückenmarks oder sogar einem Hirntu-
mor. Denn Jucken ist vor allem eins: ein Warnsignal.
Die zentralen Akteure dieser Warnung sitzen im
Rückenmark: Spezialisierte Nervenzellen, die je für ein
abgegrenztes sensorisches Feld auf der Haut verantwort-
lich sind, senden beim Jucken einen Alarm an die
Nervenenden. Die wiederum schicken ein elektrisches
Signal ans Gehirn. Geben wir dem Verlangen nach und
kratzen, wird der Juckreiz mit Schmerzen überdeckt.
Denn im Rückenmark schütten die Schmerzfasern den
Botenstoff Dynorphin aus, der die Weiterleitung des
Juckreizes hemmt. Dadurch ändert sich das Signalmus-
ter, das die Nervenzellen an das Gehirn schicken, und
für 30 wohlige Sekunden gibt die juckende Stelle Ruhe
– nur damit das Jucken mit verstärkter Kraft zurück-
kommt. Dann beginnt das schmerzstillende Hormon
Serotonin seine Arbeit. Es dockt an die Schmerzrezepto-
ren an und blockiert sie. Das Problem: Serotonin beein-
flusst auch die Juckreiz auslösenden Nervenzellen – und
die Haut juckt stärker als zuvor. Der moderne Volks-
mund hat also recht mit seiner Anti-kratz-Haltung.
Allerdings: »Kratzen kann man dauerhaft nicht
willentlich stoppen«, weiß Sonja Ständer. Der Reflex ist
so ausgeprägt, dass unsere Haut sogar juckt, wenn wir
andere Menschen nur beim Kratzen beobachten. Statt
jedoch dem Drang nachzugeben und Hautverletzungen
zu riskieren, die wiederum zu juckenden Entzündungen
führen können, hilft überraschenderweise: Streicheln
oder sanftes Kneten. Der leichte Empfindungsreiz ist
eine willkommene Ablenkung für die Haut. —
 JUNGES WISSEN


ÜBER
MESSER

Unser Experte:
Timothy Emmer, 16,
lebt in Troisdorf.
Er hat gerade eine
Ausbildung zum
Feinwerkmechaniker
Aufgezeichnet von
am Kernphysikali-
Hella Kemper
schen Institut der
Universität Köln Foto
begonnen Jann Höfer

M
ein erstes Messer habe ich
gemacht, weil ich mit
neun Jahren in einem
Feriencamp kein Messer
dabeihaben durfte: Da
habe ich mit einem Fluss-
stein so lange einen Nagel geschliffen, bis er
eine Schneide hatte. Das hat tagelang ge-
dauert, aber ich wollte mich dem Verbot
nicht beugen. Immerhin konnte ich mit
dem Messerchen meine Initialen in Stöcke
ritzen. Ein paar Jahre später habe ich dann
ein Lieblingsmesser verloren, ein Weltunter-
gang. Weil ein neues Messer viel zu teuer
gewesen wäre, habe ich Messermacherkurse
belegt und mir eine Werkstatt eingerichtet.
Der Bandschleifer ist dort die wichtigste
Maschine, sie erspart viel mühsame Hand-
arbeit mit Feile und Schleifpapier. Trotzdem
mag ich die manuellen Detailarbeiten, weil
sie so meditativ sind. Inzwischen habe ich
schon viele Messer gemacht: Mein liebstes
ist immer das, an dem ich gerade arbeite.
Ein gutes Messer hält lange seine
Schärfe, das hängt vor allem vom Material
ab. Ich mag besonders gern Damastmesser,
die in Schichten geschmiedet werden: Die
zwei weichen Lagen aus Banddamast stabi-
lisieren den harten Stahlkern dazwischen.
Die Schneide wird umso schärfer, je härter
der Stahl ist. Die Damastschichten besitzen
auch ein sehr schönes Oberflächenmuster.
Damastmesser erfordern viele Arbeits-
schritte: Wenn man die Form der Klinge
fertig geschliffen hat, muss das Messer ge-
härtet werden. Kohlenstoffstahl wird auf
800 bis 900 Grad erhitzt, dann glüht er
orange-rot, und das Stahlgefüge verändert
sich. Anschließend wird der Stahl in Härte-
öl abgeschreckt. Vorher trage ich Lehm in
den oberen Bereichen der Klinge auf, die
weicher bleiben sollen; dort kühlt der Stahl
dann nicht so schnell ab. Die Härte des
Stahls wird in Rockwell gemessen, normale
Gebrauchsmesser haben eine Härte von 56
bis 65 Rockwell. Küchenmesser sind härter,
weil sie lange scharf bleiben sollen und nicht
so hohen Belastungen ausgesetzt sind. Jagd-
und Gebrauchsmesser müssen dagegen
weicher sein, damit sie nicht brechen, wenn
man mit ihnen härtere Materialien bearbei-
tet: Sie müssen sich biegen und federn.
Erst wenn ein Messer komplett fertig
ist, wird es geschärft. Beim Schärfen ist es
wichtig, den Winkel zu halten, damit die
Schneide symmetrisch wird; ist sie es nicht,
schneidet sie schief oder wird schnell stumpf.
Geschnitten habe ich mich schon oft: Als
Kind bis auf die Knochen, mit einem
Schinkenmesser, aber das gehört dazu. —
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 ALTES WISSEN


ÜBER
MESSER

Unsere Expertin:
Barbara Grotkamp-
Schepers, 67,
ist Kunsthistorikerin
und leitete 25 Jahre
lang das Deutsche
Klingenmuseum in
Solingen. Sie lebt in
Aufgezeichnet von
Düsseldorf und hat
Hella Kemper
ein Buch über asia-
tische Blankwaffen Foto
veröffentlicht Jann Höfer

M
esser helfen uns, unser
Essen zuzubereiten, aber
Messer können auch ver-
letzen oder sogar Leben
vernichten. Schon in der
Steinzeit haben die Men-
schen so etwas wie Messer benutzt: Sie haben
erlegte Tiere ausgenommen und ihr Fleisch
mit Steinwerkzeugen von den Fellen ge-
schabt. Immer geht es darum, etwas zu
trennen, zu teilen oder zu zerkleinern.
Mit der Verhüttung von Eisen und
dem Wissen um das Schmieden von Stahl
veränderten sich auch die Herstellung und
die Qualität von Messern: Diese wurden zu
einem wesentlichen Kulturgut in fast allen
Bereichen des Lebens. Doch bei Tisch aßen
die Menschen noch im Mittelalter mit den
Fingern, nahmen vielleicht einen Löffel zu
Hilfe. Erst im 16. Jahrhundert wurden in
Italien und Frankreich, dann auch in
Deutschland Tafelmesser üblich. War man
zu Gast, trug man sein Messer in einer
schönen Schatulle mit sich. Besteck, wie wir
es heute kennen, gibt es erst seit dem 18. Jahr-
hundert, selbst im Bürgertum noch später.
Schmiede galten lange Zeit als Magier,
weil sie hartes Eisen formen konnten und
dabei Verse vor sich hin murmelten. Keine
Zaubersprüche, sondern um die Dauer, die
das Metall im Feuer bleiben musste, zu
messen. In ihren Werkstätten war es zudem
dunkel, damit sie an der Farbe des glühen-
den Eisens den Zeitpunkt für den nächsten
Arbeitsschritt erkennen konnten. Das alles
machte Schmiede sehr geheimnisvoll.
Messer bestehen aus nur zwei Teilen:
Griff und Klinge, doch sie können viele
Funktionen haben. Ein Ausbeinmesser hat
eine andere Klinge als ein Seziermesser;
Spargelmesser, Kittmesser, Reetmesser oder
auch Postsackmesser dienen verschiedenen
Zwecken. Spargelmesser sind sogar je nach
Region unterschiedlich geformt – warum,
weiß man nicht. In jedem Fall müssen
Messer hart und gleichzeitig flexibel sein, da-
mit sie nicht brechen. Und natürlich müssen
sie scharf sein – und schnitthaltig, das heißt,
sie dürfen nicht schnell stumpf werden.
In meiner Küche arbeite ich am liebs-
ten mit vier Messern: einem kleinen mit
leicht gebogener Klinge für Obst, einem
längeren Allzweckmesser, einem japani-
schen Santoku mit breiter Klinge und einem
Damastmesser. Mein Mann braucht mehr
Messer, so wie viele Männer, sie zelebrieren
das Kochen, Frauen sind da pragmatischer.
Wichtig ist, dass ein Messer gut in der Hand
liegt. Wenn die Balance stimmt, es nicht
kippt, hat man einen guten Zugriff. —
SCIENCE CAMP
UNIVERSITÄT ZU KÖLN
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10. NOVEMBER 2018, AB 11.00 UHR ss e
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An m haft
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© Fotos: Bild 1: Boris Breuer, Bild 2: Thilo Vogel, Bild 3: emely photography, Bild 4: Jürgen Hermann Krause
Dr. Ulrike
Dr. Julia Shaw Dr. Renzo Vitale Brandt-Bohne Lendgold

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Background an spannenden Themen arbeiten kannst? Dann komm zum
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ALBERTUS MAGNUS
NACHWUCHS
ZENTRUM

GEORDNETE VERHÄLTNISSE

Lächeln 1,0

0,68

0,64
0,8

0,58
Wir zeigen anderen unsere Zähne und meinen das

0,56

0,53
0,6
nicht aggressiv – und ab und zu sind wir böse, wenn

Bangkok
95!%

São Paulo
es nicht erwidert wird: Lächeln ist einfach komplex

New York
0,4

Berlin

Moskau

Quellen Edge Hill University, Ipsos, Journal of Nonverbal Behavior, Parship, Paul Ekman Group, selfiecity.net, Tonka PR, Trends in Cognitive Sciences, Universität Amsterdam
0,2

<4 Sek. 400-mal

0,0

lächeln hierzulande zurück, Das Projekt selfiecity.net zeigt

Ein echtes Lächeln dauert am Tag lächeln Kinder, wenn sie angelächelt werden. mit seinem »Smile Score«, in
in der Regel zwischen einer Erwachsene hingegen tun das 79 Prozent wünschen sich welchen Städten bei Selfies
halben und vier Sekunden im Schnitt nur 15-mal täglich mehr Lächeln im Alltag häufiger gelächelt wird

1,0 1,0
Indien (Reg. Karnataka)

Südafrika (Nichtweiße)
Indien (Region Kerala)

0,8 Südafrika (Weiße) 0,8

0,6 0,6
Griechenland

Indonesien
Argentinien

Albanien
Malediven
Kolumbien
Norwegen
Frankreich

Effektgröße
Hongkong

Taiwan
0,4 0,4
Südkorea

Kuwait
Russland

Irland
USA
Ungarn
Mexiko
Japan

Italien
Polen
Israel

0,2 0,2
Iran

0 Simbabwe 0
Kanada
Georgien
Türkei
Australien
Portugal
Nigeria
Pakistan
Brasilien
Dänemark
Großbritannien
Philippinen
Ägypten
Österreich
China
Malaysia
Schweiz
Deutschland
–0,2 –0,2

–0,4 –0,4
Weltweiter Vergleich: In diesen Ländern gilt ein Lächeln im Gespräch
als Zeichen für niedrige (lila) bzw. hohe (pink) Intelligenz

Handgesten
5&%
lächelnde
Gesichter
Niko-niko Niya-niya
Herzen 45&% Ruhe und Zufriedenheit hämisches Lächeln
13&%

traurige
Nita-nita Niumari zu 2&% verärgert
nicht ganz frei von Verachtung Erfolgslächeln zu 6&% besorgt
Gesichter zu 9&% empört
14&%
andere Ni Chohshoh zu 83&% glücklich
23&% kurzes Grinsen höhnisches Lächeln
Laut einer Gefühlserkennungs-
Emojis: In digitalen Textnachrichten Die japanische Sprache kennt unter anderem diese Software war Mona Lisa, als
wird am häufigsten gelächelt sechs Wörter für verschiedene Formen des Lächelns Leonardo da Vinci sie malte, ...

kein offenes
91&% ein offenes Lächeln SPD
Lächeln Lächeln
90&% ein offenes Lächeln 10&% 63&% CDU/CSU
83&% gute Manieren, Höflichkeit
Die Linke
65&% selbstbewusstes Auftreten
73&% selbstbewusstes Auftreten Die Grünen
geschlossenes
52&% lange Haare Lächeln FDP
53&% eleganter Duft, Parfum 27&%
AfD
33&% stilvolle, elegante Kleidung
Infografik Mirko Merkel

fraktionslos
17&% graue Haare und Schläfen
Frauen
29&% eleganter Gang Quer durch die Parteien: offenes&... geschlossenes&... kein Lächeln
Männer
90 Prozent der Bundestags-
Was finden Menschen aneinander sexy? abgeordneten lächeln auf Blickt man auf die Parteizugehörigkeit,
Beim Lächeln sind sich die Geschlechter einig ihrem offiziellen Porträtfoto zeigen sich beim Lächeln Unterschiede
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
OPTIMIST
Die Meere werden plastikfrei
Etwa 150 Millionen Tonnen Kunststoff schwimmen in unseren Weltmeeren.
Bioplastik und bessere Gesetze könnten das ändern
Text Filipa Lessing
J
edes Jahr gelangen zwischen fünf und 13 Mil-
lionen Tonnen Plastik in unsere Ozeane –
etwa ein vollgeladener Müllwagen pro Minute.
Gemessen am Gewicht könnte bereits Mitte
des Jahrhunderts mehr Plastik als Fisch in den
Meeren schwimmen, so die Ellen MacArthur
Foundation. Kein Wunder, dass 96 Prozent der Deut-
schen Plastik als größte Gefahr für die Meere sehen, wie
die aktuelle Naturbewusstseinsstudie vom Umwelt-
ministerium und Bundesamt für Naturschutz zeigt.
Weiterlesen Die gute Nachricht: Weltweit formiert sich Wider-
Gerade erschienen stand gegen die Kunststofffluten. So macht etwa der
ist das Buch »Wie junge Niederländer Boyan Slat mit seinem »Ocean
wir Plastik vermei- Clean-up« große Schlagzeilen. Mit seinem Team ent-
den« – der britische wickelte er eine durch den Pazifik treibende Plattform,
Umweltaktivist an deren 600 Meter langen Fangarmen das Meeres-
Will McCallum gibt plastik hängen bleibt. Die Reichweite des Projektes ist
praktische Tipps umstritten – die Plastikteile seien zu weit verstreut, be-
Ullstein, 256 S., 12!€.
fürchten Kritiker. Sicher ist: Bekämpft wird so nur das
Wie viel Plastik
Symptom, nicht die Ursache. Denn 80 Prozent des
kommt woher? Mülls kommen vom Land und gelangen über Abwässer
Die Studie im und Flüsse in die Meere. Acht der zehn Flüsse mit dem
»Science Magazine«. höchsten Mülleintrag liegen in Asien. Und über die
doi.org/f6zq3q Hälfte des weltweiten Meeresplastiks stammt aus fünf
asiatischen Staaten: China, Indonesien, den Philippinen,
Vietnam und Sri Lanka, so eine Studie von 2015. Doch
Fotos imago; Barbara Munker / dpa Picture-Alliance; Subhash Sharma / Polaris / laif; Shutterstock
seitdem hat sich viel getan: China stoppte die Einfuhr
von Plastikabfällen und hat den Gebrauch von Plastik-
tüten eingeschränkt. Auf den Philippinen und in Haiti
bezahlt die kanadische Organisation Plastic Bank die
Bevölkerung für jedes Kilo gesammelten Müll; Plastik
soll so zu wertvoll zum Wegwerfen werden. Als »Social
Plastic« werden die recycelten Pellets weiterverkauft.
Weltweit haben 81 Länder Gesetze verabschiedet,
die die Menge von Plastik und Styropor minimieren
sollen. In Ruanda und Kenia sind Plastiktüten unter
Strafe verboten. In Kamerun zahlen Haushalte pro Kilo-
gramm Plastikmüll eine Gebühr. Und die EU arbeitet
an einer Richtlinie, um die Zahl ausrangierter Fischer-
netze im Meer und von Wegwerfprodukten zu verringern.
Die »eine« Lösung gibt es indes nicht. Bioplastik aus
Pflanzenzucker, Seegras oder Stärke könnte ein Teil der
Lösung sein. Noch bauen diese Kunststoffe sich nur
unter bestimmten Bedingungen ab und bei ihrer Her-
stellung entsteht mehr CO₂ als bei herkömmlichem
Plastik. Doch die Wissenschaft arbeitet schon an natür-
lich verrottenden Stoffen. Damit in den Meeren wieder
mehr Fische als Plastik schwimmen. —
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blatt ab. Ein besonderer Blickfang
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

Die Seele des Menschen ist brennbar.

Sie sehnt sich nach dem Funken,
der sie entzündet. Wo und wie finden
wir Aufgaben, Erlebnisse und Menschen,
die uns begeistern?
Text Daniel Müller Fotos Tomas Januska

W
enn am 21. Oktober
eine versunkene Dampf-
lok aus dem Rhein ge-
borgen werden wird,
wenn monströse Kräne
vor den Augen Hunder-
ter staunender Zuschauer diese 20 Tonnen
triefenden Stahls aus dem Kiesbett hieven
werden, dann wird ein Mann am Flussufer
stehen, mit Tränen in den Augen. Ich kenne
diesen Mann nicht, aber ich trete ihm wohl
nicht zu nahe, wenn ich sage: Horst Müller
wird dieser Moment alles bedeuten.
Mir sind Züge völlig egal. Und den-
noch war ich sehr gerührt, als ich neulich in
der Zeitung die Geschichte von Horst Müller
las. Zuerst war da dieses Bild. Ein leicht
untersetzter Rentner mit freundlichen Au-
gen und stolzem Schnauzer. Er trug eine
historische Lokführermütze und sah dabei
aus wie ein alter Mann, der noch einmal
Kind sein darf. So ganz und gar erfüllt. Drei
Jahrzehnte seines Lebens, so las ich, hat
Horst Müller der Suche nach dieser Dampf-
lok gewidmet, die 1852 von einem Frachter
in den Rhein gefallen war und seither als
unauffindbar galt. Ich las, wie ihn diese Ge-
schichte erstmals mit zwölf Jahren elektri-
sierte und er sie wieder vergaß. Wie er durch
Zufall 24 Jahre später erneut auf diese Lok
stieß und die Jagd danach zu seinem Lebens-
ziel machte. Ich las, dass Horst Müller 140
Briefe an Büchereien und Archive schrieb
und Rheinkarten aus dem 19. Jahrhundert
mit aktuellen verglich, Detail für Detail.
Dass er im Urlaub um vier Uhr morgens
aufstand, um als Erster im Archiv zu sein,
und um 22 Uhr heimkehrte. Dass ihm
manchmal schwindlig war, weil er zu essen
vergaß. Dass er diese verdammten 20 Tonnen
Stahl gegen jede Wahrscheinlichkeit am
Ende tatsächlich fand. Nach 166 Jahren.
Ich las die Geschichte eines begeister-
ten Mannes. Sie machte mich unfassbar
glücklich. Und ein bisschen traurig.
Ich bin jetzt 36 Jahre alt, genauso alt,
wie Horst Müller war, als die Begeisterung
in sein Leben zurückkehrte. Als Journalist
ist es mein Beruf, mich jeden Tag für das
Leben der anderen zu begeistern. Ich mag
das sehr. Aber dennoch hat Horst Müller
etwas in mir verändert. So schön es ist, sich
für Mitmenschen zu begeistern, so sehr be-
merke ich eine Leerstelle in mir. Die Sehn-
sucht nach einer Begeisterung für etwas, das
nichts mit meiner Arbeit zu tun hat.
In meinem alten Büro hing direkt über
meinem Schreibtisch ein Zitat des ehema-
ligen Wiener Burgtheater-Direktors Adolf
von Wilbrandt: »Gib einem Menschen alle
Gaben der Erde, und nimm ihm die Fähig-
keit der Begeisterung, und du verdammst
ihn zum ewigen Tod.« In das neue Büro ist
dieses Zitat nicht mit umgezogen. Und ich
frage mich nun, warum. Es ist an der Zeit,
diese besondere Form der Freude wieder zu
erspüren, die aus meinem Innersten kommt,
etwas zu finden, das Sinn stiftet und mich
brennen lässt. Allein: Wie geht das?
Dies ist die Suche danach, wie man sich
wieder neu begeistern kann. Und sie beginnt
dort, wo Begeisterung entsteht.


Wenn ein Mensch für eine Sache brennt,
springt im Gehirn das Belohnungssystem
an und schüttet einen Cocktail an Boten-
stoffen aus: Dopamin, das die Aufmerk-
samkeit steigert, Endorphine, die eupho-
risch machen, Serotonin, auch als
Wohlfühlhormon bezeichnet, sowie Nor-
adrenalin, einen Wachmacher. Positive Er-
fahrungen werden durch diese Neurotrans-
mitter verstärkt. In der Evolution war das
sinnvoll, damit Menschen eingetretene
Pfade verlassen und Neues entdecken.
Ohne Begeisterung keine Innovation.
Es gibt auch ein Zuviel an Begeiste-
rung. Solche Fälle kennt der Psychiater und
Neurowissenschaftler Surjo Soekadar von
der Berliner Charité. Menschen mit einer
Manie zum Beispiel seien mitunter extrem
begeisterungsfähig, sagt er. »Sie verlieren
jede Kritikfähigkeit und sehen die Welt
rosarot.« Darin ähneln sie frisch Verliebten.
Im Normalfall stellt das Gehirn eine gesunde
Balance her. Und profitiert davon: »Für das
Wachstum von Nervenzellen wirkt Begeis-
terung wie Doping«, sagt Soekadar, der viel
über die Plastizität des Gehirns geforscht
hat, also die fortwährende Selbstoptimie-
rung der neuronalen Netzwerke. Er sagt: »Es
ist wie mit der Musik. Sie können mit-
schwingen, wenn Sie mit Neuem konfron-
tiert werden. Oder auf Distanz gehen.«
Um mitschwingen zu können, muss
eine Aufgabe, ein Hobby oder eine Erfah-
rung zu uns passen. Wenn der einen Tränen
der Begeisterung ins Auge treten, sobald sie
den Gipfel eines Berges erklimmt, zuckt der
andere nur mit den Achseln. Dafür geht ihm
das Herz auf, wenn er Schulter an Schulter
mit anderen auf einem Konzert die Songs
seiner Lieblingsband mitgrölt. Begeisterung
ist so vielfältig wie das Leben selbst, radikal
subjektiv, oft selbst für die engsten Men-
schen im Umfeld kaum nachzuvollziehen.
Für mich gab es als Kind nichts Grö-
ßeres, als Fußballspiele nachzuspielen, mit
nichts als einem Tennisball und meinem
Schreibtisch als Tor. WM 1990, Halbfinale,
Elfmeterschießen zwischen Deutschland
und England. Erst trifft Brehme, dann Mat-
thäus, dann Riedle. Und schließlich der
kleine Olaf Thon. Ich sehe ihn noch heute
mit dem Ball in der Hand zum Elfmeter-
punkt schreiten, hoch konzentriert, aber
nicht nervös, eher froh, dass er den Eng-
ländern gleich das vierte Ding reinzimmern
wird. Ich konnte Stunden damit verbringen,
meinen Tennisball an der gleichen Stelle des
Tores unterzubringen wie Olaf Thon.
Damals hätte es mir das Herz heraus-
gerissen, wenn die Deutschen ausgeschieden
wären. Im Sommer 2018 habe ich nach dem
verkorksten WM-Spiel gegen Südkorea kurz
mit den Schultern gezuckt und mich wieder
an meinen Schreibtisch gesetzt. Ich bin kein
trauriger Mensch, aber es ist nicht nur der
Fußball, der mich nicht mehr so begeistern
kann wie früher. Es sind auch Bücher, Filme,
Musik. Manchmal habe ich so ein irritie-
rendes Gefühl, schon alles zu kennen, alles
Für das
Gehirn wirkt
Begeisterung
wie Doping,
sagt der
Psychiater. Es
bleibt jung
gesehen zu haben. Bin ich einfach zu faul
geworden, um nach Neuem zu suchen?
Oder gar abgestumpft? Warum geht mir fast
nichts mehr so unter die Haut wie früher?
Dass sich Begeisterungsfähigkeit im
Alter abnutzt, sei normal, sagt der Hirnfor-
scher Surjo Soekadar. Teenager brauchen
einen gewissen Begeisterungsüberschuss,
um neue Beziehungen einzugehen und um
ein eigenständiges Leben zu wagen. Mit den
Jahren stellt sich Ernüchterung ein. Die
gute Nachricht: Das Feuer der Jugend lässt
sich neu entfachen.
Ein Klassiker der Verhaltenstherapie
lautet: Die Stimmung folgt der Aktivität.
Wer unter nihilistischen Gedanken leidet,
unter lähmender Trägheit oder auch nur
unter ständiger Langeweile, dem fällt es
schwer, sich aufzuraffen. Aber wer sich nicht
überwindet, der wird auch nicht belohnt.
Im Besonderen gilt das für depressive Men-
schen, denen es oft vorkommt, als könnte
sich ja eh nichts ändern, egal was sie machen.
Das ist ein Teufelskreis. Denn wer so denkt,
der macht erst recht nichts mehr. Psycho-
therapeuten nennen das erlernte Hilflosig-
keit. Das Denken beeinflusst und bestimmt
das Verhalten. Natürlich ist es nicht damit
getan, zu sagen: Jetzt mach ich halt was
Schönes, und gut ist. Es ist ein Prozess,
Schritt für Schritt wieder das zu entdecken,
was Sinn stiftet und Spaß macht, was Be-
geisterung weckt. Dass dies selbst in der
dunkelsten Stunde gelingen kann, zeigt das
Beispiel des Psychiaters Viktor Frankl.
Die Nazis deportieren Viktor Frankl
1942 in das Konzentrationslager Theresien-
stadt, später nach Auschwitz, von dort ins
KZ Kaufering, kurz vor Kriegsende in ein
Außenlager des KZ Dachau. »Fast weinend
vor Schmerzen in den wunden Füßen«,
schreibt er in seiner Autobiografie, »im
grimmigen Frost und eisigen Gegenwind
humpelte ich in langer Kolonne die paar
Kilometer vom Lager zum Arbeitsplatz ...
Da gebrauche ich einen Trick: Plötzlich sehe
ich mich selbst in einem hell erleuchteten,
schönen und warmen, großen Vortragssaal
am Rednerpult stehen, vor mir ein interes-
siert lauschendes Publikum in gemütlichen
Polstersitzen – und ich spreche; spreche und
halte einen Vortrag über die Psychologie des
Konzentrationslagers!«
Die Nazis ermordeten Viktor Frankls
Vater in Theresienstadt, seinen Bruder und
seine Mutter in Auschwitz, seine Frau in
Bergen-Belsen. Er selbst überlebte. Und ver-
öffentlichte nur ein Jahr nach Kriegsende
das Buch ... trotzdem Ja zum Leben sagen.
Darin beschreibt er, wie Menschen sich
noch unter den grauenerregendsten Bedin-
gungen für etwas begeistern können – und
ihrem Leben dadurch einen Sinn geben.
Man muss sich das einmal vor Augen
führen: Viktor Frankl war jahrelang Zeuge
davon geworden, was passieren kann, wenn
Begeisterung in die Irre geht. Er musste er-
leben, wie ein von Adolf Hitler und Joseph
Goebbels aufgepeitschtes, im kollektiven
Massenrausch befindliches Deutschland das
größte Verbrechen in der Geschichte der
Menschheit beging. Seine gesamte Familie
wurde von dieser verirrten, agitierten Lei-
denschaft vernichtet. Aber als Viktor Frankl
befreit wurde, verteufelte er die Kraft der
Begeisterung nicht. Er verliebte sich statt-
dessen in die Idee, dass Ruinen den Blick auf
den Himmel freigeben.
Als erfahrener Therapeut wusste er
natürlich, dass dieser freie Blick Zeit benö-
tigt, dass Menschen manchmal jede Hoff-
nung verlieren und sich am Ende selbst
UND WAS BEGEISTERT DICH?
100 Menschen zwischen 1 und 100, fotografiert in Russland

Alexander, 1, ist begeistert von Autos, Nadia, 6, geht in den Kindergarten, tanzt Julia, 9, singt gerne Karaoke und möchte
sagt seine Mutter gerne und hofft, Friseurin zu werden Malerin werden

Denis, 12, liebt es, mit Jo-Jos, Fußbällen Natalia, 16, will einmal andere heilen: Mit Artem, 19, kellnert, mag gerne Hockey
und ferngesteuerten Autos zu spielen Kräutern, Medizin oder netten Worten und begeistert sich für Sportwagen

Marina, 20, ist IT-Spezialistin und träumt Wassili, 24, mag Essen, Fußball, das Ekaterina, 30, ist Vertriebsleiterin und
davon, um die Welt zu reisen Meer. Gerne würde er nach Neuseeland liebt Extremsport und bildende Kunst

Artem, 32, wäre gerne Mitglied der Tina, 36, ist Journalistin und begeistert Dmitri, 40, würde sehr gerne mal ein
Russian Academy of Medical Science sich für den Tanz Bachata Motorradrennen fahren


aufgeben. Doch Frankl glaubte fest daran,
dass in jedem Menschen etwas schlummert,
das ihn positiv begeistert. »Wir müssen
lernen«, schreibt er, »daß es eigentlich nie
und nimmer darauf ankommt, was wir vom
Leben noch zu erwarten haben, vielmehr
lediglich darauf: was das Leben von uns er-
wartet!« Wir sollten nicht einfach nach dem
Sinn des Lebens fragen, sondern uns selbst
»als diejenigen erleben, an die das Leben
täglich und stündlich Fragen stellt«. Es ist
wie die Suche nach einem Schatz. Mühsam,
das schon, aber vor allem: sinnstiftend.
Die moderne Psychologie nimmt an,
dass man zu einem gewissen Grad selbst
beeinflussen kann, ob sich das Leben mit
Sinn füllt. Der Quell der Begeisterung sei es,
das Leben zu bejahen. Sich an Details zu
erfreuen. Selbstwirksamkeit zu erleben. Und
wenn das partout nicht gelingen will, muss
man – wie Viktor Frankl im Konzentra-
tionslager – die Zukunft imaginieren, um
Hoffnung in den Augenblick zu bringen. Im
Grunde geht es darum, sich in die eigene
Zukunft zu verlieben.
Frankl leitete aus seinen Erfahrungen
eine Methode ab, mit der er weltberühmt
wurde. Überall arbeiten heute Psychothera-
peuten damit, um in Patienten Begeisterung
neu zu wecken: Die Logotherapie gilt als
dritte Wiener Schule der Tiefenpsychologie
und geht davon aus, dass jeder Mensch im
Kern sinnorientiert ist. Wird dieser Sinn auf
Dauer frustriert, so droht die innere Leere.
Dieser Leere wird in der Logotherapie das
Streben nach Sinn als Kontrapunkt entge-
gengesetzt. Doch diese Sinnsuche, die Ent-
wicklung neuer Begeisterung braucht Zeit.
Wenn man, wie die Logotherapie sich das
zum Ziel gesetzt hat, den Menschen wieder
mit Geist erfüllen, seine Geisteskräfte mobi-
lisieren will, dann geht das nur mit Maß und
Demut, mit Raum für Stille, Fokus und
Inhalt. Atemlose Begeisterung wird schnell
zur Verausgabung.
Ich habe viel über das Wort Begeiste-
rung nachgedacht und darüber, welche Rolle
der »Geist« darin spielt. In der Schöpfungs-
geschichte schwebt der Geist Gottes über
dem Wasser und bringt Licht und Leben in
die Welt. Adam und Eva haucht er seinen
Geist ein. Wenn man so will, wurden die
ersten Menschen also von Gott begeistert.
Ich denke, das lässt sich auf das Leben eines
jeden Menschen übertragen. Jedes Neuge-
borene ist qua Existenz begeistert, von
Farben, Geräuschen, Nähe, dem Lernen.
Und vielleicht ist es nicht die schlechteste
Idee, nach Begeisterungsfähigkeit dort zu
suchen, wo sie ganz natürlich ist.
Mein Sohn Emil ist sechs Jahre alt und
ist gerade eingeschult worden. Er lernt jeden
Tag etwas Neues, so wie ich seit sechs Jahren
jeden Tag etwas Neues von ihm lerne. Er hat
zwei imaginäre Freunde, Geister könnte
man sagen, sie heißen Scholli und Dreinick.
Warum sie so heißen, das weiß ich nicht,
und ich weiß auch nicht, woher sie auf ein-
mal kamen. Aber an einem Sonntag kurz vor
Im Grunde
geht es bei
Begeisterung
darum, sich
in die eigene
Zukunft zu
verlieben
seinem dritten Geburtstag waren sie einfach
da. Emil erzählte, er sei in der Nacht mit
ihnen zur Sonne geflogen. Dort wohnen die
beiden nämlich.
Seit mehr als drei Jahren gehören diese
Geister jetzt zu ihm, manchmal sind sie je-
den Tag da, dann wieder wochenlang nicht.
Wenn Emil eine Telefonzelle sieht, ruft er die
beiden oft an. Scholli hat besorgniserregend
häufig Grippe, Dreinick besitzt das schnellste
Auto der Welt, und er kann es so klein hexen,
dass es auf der Autobahn einfach unter allen
anderen Fahrzeugen hindurchrast. Manch-
mal glaube ich: Scholli und Dreinick leben
Emils Träume stellvertretend für ihn aus. Ich
kann kaum in Worte fassen, wie sehr mich
Emils Geschichten faszinieren und immer
wieder aufs Neue begeistern. Und ich glaube,
das hat viel damit zu tun, dass sein Denken
keine Grenzen kennt.
Ich erkenne langsam ein Muster: Da ist
Horst Müller, der Jäger der verschollenen
Lokomotive, der sich in dem Moment neu
begeistern kann, in dem er sich wieder auf
das Gefühl seiner Kindheit besinnt. Da ist
das Gehirn, das durch Neuroplastizität jung

bleibt. Da ist mein Sohn, ein Schulkind, das
mir jeden Tag vormacht, wie man sich be-
geistert. Begeisterung neu lernen, das heißt
wohl: von Kindern lernen.
Der Biologe und Naturphilosoph An-
dreas Weber hat vor einigen Jahren ein tolles
Buch geschrieben, es trägt den Titel Mehr
Matsch. Weber plädiert darin für eine Kind-
heit in der Natur, für das Recht, zu kokeln,
sich im Schlamm zu wälzen und Bäume zu
erobern. »Was Kinder begeistert«, schreibt
Weber, »ist Spiel.« Es gehe immer um eine
Handlung, in deren Mittelpunkt sie selbst
stünden, die sie selbstständig vorantrieben
und von der sie dann erfasst würden. Ich
denke, Weber hat recht. Genau das ist der
Schlüssel: eine Handlung vorantreiben und
von ihr erfasst werden. Das gilt gleicherma-
ßen für Kinder wie für Erwachsene, nur
müssen wir neu lernen, was sie ganz un-
schuldig in sich tragen: die Begeisterung für
das Spiel. Und vielleicht müssen wir noch
etwas früher anfangen. Und erst einmal neu
lernen, etwas wirklich zu erleben, zu spüren,
zuzulassen, bevor wir wieder richtig begeis-
tert sein können. Wenn Begeisterung etwas
natürlich Gegebenes ist, ist es doch nur lo-
gisch, sie genau dort zu suchen: in der Natur.
An einem Sonntagmittag, der Sommer
ist soeben dem Herbst gewichen, packe ich
Bananen, eine Trinkflasche, drei belegte
Brötchen und eine rote Funktionsjacke, die
ich abscheulich finde, in meinen völlig ver-
staubten Wanderrucksack, der seit Jahren
unberührt im Keller liegt. Ich ziehe die alten
Wanderschuhe an, die das letzte Mal vor
zwölf Jahren in Norwegen im Einsatz waren,
und schmiere mir Sonnencreme ins Gesicht.
Für alle Fälle. Da ich nicht die geringste
Ahnung habe, wo ich hinfahren soll, google
ich: »schönster Wald in Brandenburg«. Ich
stoße schnell auf den Blumenthal im Pröt-
zeler Forst, knapp 50 Kilometer östlich von
meiner Wohnung in Berlin gelegen. Ich lese
von lichten Schonungen und eingeschlos-
senen kleinen Seen, von kaum überwind-
barem Dickicht und Ginsterbüschen. Und
von Theodor Fontane, der sagenumwobene
untergegangene Städte in diesem 3,5 Hektar
großen Areal vermutete.
Ich mache mein Handy aus und ver-
staue es in meinem Rucksack, als ich im
Blumenthal ankomme. Und gehe einfach
drauflos. Es ist wunderschön hier, aber ich
gebe zu: Am Anfang ist mir etwas langweilig.
Ich merke, dass ich mit mir selbst hadere.

Was mache ich hier eigentlich? Dann fällt
mir ein, dass ich mir extra ein Buch einge-
packt habe, Der große Naturführer für Kinder.
Ich hatte es vor einem Jahr mal gekauft, weil
ich mit meinen Söhnen wandern gehen
wollte. Doch daraus wurde nichts.
Nun stehe ich also mit diesem Kinder-
buch in der Hand zwischen hoch aufragen-
den Bäumen, die kaum Licht auf den Boden
lassen, und versuche Pflanzen zu identifi-
zieren. Ich habe absolut keine Ahnung von
der heimischen Flora und kaum mehr von
der hiesigen Fauna. Ich kann eine Birke von
einer Eiche unterscheiden, und wenn mir
Füchse oder Marder begegnen sollten, dann
wüsste ich, dass es Füchse und Marder sind.
Aber wie sieht eigentlich ein Eichelhäher
aus? Und wie dieser Ginsterbusch, von dem
ich gelesen hatte?
Ich fühle mich wie ein kleiner Natur-
detektiv, es fehlt nur noch die Lupe. Ich
fasse Baumrinden an, rieche an Blüten,
greife lustvoll in den aufgelockerten Wald-
boden, weil ich gelesen habe, dass sich un-
glaubliche sieben Milliarden Lebewesen in
einer Handvoll Erde tummeln. So viele wie
Menschen auf diesem Planeten. Überall
knackt und kracht und raschelt und plät-
schert es. Ständig erschrecke ich mich, aber
auf diese gute, Adrenalin freisetzende Art,
die einen spüren lässt, dass man lebt.
Ich bin jetzt seit sechs Stunden hier,
dunkel ist es geworden. Ich stehe auf einer
Lichtung, hinter mir Bäume, vor mir Bäume,
links und rechts Bäume, aber dieser Fleck
hier, vielleicht 20 mal 20 Meter groß, ist
unbewachsen. Ich schaue hinauf, und es
kommt mir vor, als hätte jemand das Licht
angemacht. Ich hatte vergessen, wie viele
Sterne man sehen kann, wenn die Sicht
nicht durch die Lichter der Stadt getrübt ist.
Ich hatte vergessen, wie bedrückend schön
der Anblick eines klaren Sternenhimmels
sein kann. Ich war selten so allein in meinem
Leben wie in diesem Moment. Und es hat
sich noch nie so gut angefühlt.
Einige Tage später, zurück in Berlin,
zurück im Beton, stelle ich fest, dass ich ganz
unbewusst etwas getan hatte, was zentral ist,
wenn man sich neu begeistern möchte. Ich
hatte einfach angefangen.
Die Psychotherapeutin Eva Wlodarek
sagt, man müsse jeden Tag einen kleinen
Schritt aus der eigenen Komfortzone ma-
chen. »Begeisterung entsteht nur, wenn wir
uns aus der Routine herausbegeben, im
Alltäglichen finden wir sie selten«, sagt sie,
und wenn man einmal losgegangen sei,
dann komme schon die Lust weiterzugehen.
Vertage nicht dein Glück, ändere dein Leben
heißt ihr neues Buch.
Ich muss an meinen guten Freund
David Denk denken. Vor ein paar Jahren
war er an einem Punkt angekommen, an
dem die Trägheit sein Leben außerhalb des
Büros zusehends lähmte. Seine Freizeit
war verkümmert. Er stellte sich die Frage:
»Habe ich einen Job, oder hat der Job mich?«
Dann wagte er etwas. Und zog aus, ein neues
Begeisterung
hat gute
Chancen zu
entstehen,
wenn wir
unsere Routinen
verlassen
Hobby zu finden. Er hat darüber ein geist-
reiches, witziges und selbstkritisches Buch
geschrieben, es heißt Der Hobbyist. Er taucht
in das Leben von Menschen ein, die Dackel
züchten, in menschenkörpergroßen Tier-
kostümen rumlaufen oder Insekten sam-
meln. Mitunter also in das Leben von Men-
schen, die wegen ihrer Begeisterung belächelt
und von der Mehrheitsgesellschaft abge-
lehnt werden, weil sie ihr nicht geheuer sind.
Es ist leider so, dass jede Form echter
Begeisterung den anderen erst mal verdächtig
erscheint. Sei es aus Neid, sei es aus man-
gelnder Fantasie. Das Zweifelnde, Grübleri-
sche war den Deutschen schon immer näher
als der Rausch. Goethe schrieb: »Die Deut-
schen sind übrigens wunderliche Leute! Sie
machen sich durch ihre tiefen Gedanken
und Ideen, die sie überall suchen und über-
all hineinlegen, das Leben schwerer als
billig.« Und forderte: »Ei, so habt doch end-
lich einmal die Courage, euch den Eindrü-
cken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen,
euch rühren zu lassen, euch erheben zu
lassen, ja euch belehren und zu etwas Gro-
ßem entflammen und ermutigen zu lassen!«
Dass im Nichtkönnen und Trotzdem-Ma-
chen ein Zauber steckt, scheint den Deut-
schen irgendwie fremd. Es ist daher kein
Wunder, dass auch die Angst zu jeder neuen
Begeisterung gehört. Auch davon konnte
der Psychiater Viktor Frankl berichten. Er
litt unter Höhenangst und wurde doch ein
begeisterter Bergsteiger. »Ich lass mir von
mir selbst nicht alles gefallen«, sagte er.
Herausforderungen sind da, um angenom-
men zu werden. Wer etwas wagt, hat gute
Chancen, begeistert zu werden.
Genau da setzt das Buch meines Freun-
des David Denk an. Und es nötigt einen,
ehrlich zu sich selbst zu sein. Was würde ich
sagen, wenn mein bester Freund freude-
strahlend zu mir käme, um mir zu eröffnen,
dass er fortan seine Wochenenden als Harry
Potter auf einer für Rollenspieler gepach-
teten Burg verbringen will? Wie würde ich
reagieren, wenn meine Freundin plötzlich
all ihre Energie in das Präparieren von Kä-
fern stecken würde? Wäre ich skeptisch, weil
mir diese Beschäftigungen bizarr erschei-
nen? Oder hätte ich einfach Angst, dass es
negativ auf mich abfärben könnte? Das alles
sollte überhaupt keine Rolle spielen. Das
sehr einfache wie erhellende Fazit des
Hobbyisten lautet: »Sie haben das Hobby
für sich und niemanden sonst.«
Die Therapeutin Eva Wlodarek sagt,
dass man Begeisterung aus sich selbst heraus
erzeugen kann, mit einem Trick. Sie nennt
ihn die Tom-Sawyer-Methode. Der große
Mark Twain ließ seinen berühmtesten Hel-
den einst einen Zaun streichen, wozu dieser
Junge absolut keine Lust hatte. Tom Sawyer
dachte, seine Freunde würden ihn auslachen,
wenn sie sehen, dass er arbeiten muss. Da tat
er einfach so, als ob er die Aufgabe genießen
würde. Und siehe da: Die Freunde strichen
mit Feuereifer für ihn. Das So-tun-als-ob
kann einen, so Wlodarek, in eine andere
Stimmung versetzen. Wenn es Menschen
gelingt, eine Situation anders zu deuten,
auch dann, wenn alles sehr verfahren wirkt,
wenn man es schafft, seine Einstellung zu
ändern – und damit die Situation –, dann
sprechen Experten von Reframing (framing
ist englisch für Rahmung). Es geht darum,
zum Gestalter des eigenen Lebens zu werden
– statt zu dessen Opfer.
Wer wie mein Freund David Denk
nicht länger seine Situation erträgt, sondern
sich aufrafft, seine Freizeit selbst zu gestalten,
der hat die richtige Wahl getroffen.

Dmitri, 46, ist Autowäscher und wäre
gerne ein Direktor
Nina, 56, würde gerne ein Geschichts-
museum nahe St. Petersburg eröffnen
Wladislaw, 67, ist Ingenieur und begeistert
sich für schöne Frauen
Lidia, 91, spielt begeistert Gitarre und
träumt davon, nach Dänemark zu fahren
Tatiana, 47, ist Pianistin und begeistert
sich für Jazz-Festivals
Petr, 59, ist Tischler und würde gerne
einmal selbst im Internet surfen
Ludmila, 75, hat ihr Leben lang Kunst
restauriert und Windhunde gezüchtet
Ewdokija, 100, träumt davon, allein zu
laufen, unabhängig und lebendig zu sein

Margarita, 53, schreibt Kurzgeschichten
und wünscht sich, Bücher zu publizieren
Tamara, 66, wünscht sich, dass alle
Menschen glücklich und gesund sind
Valentin, 83, möchte seine Leidenschaften
Fotografie und Malerei gerne teilen
»100 Years: The Russian Portrait«
heißt die Fotoserie des dänischen Foto-
künstlers Keen Heick-Abildhauge, von
der wir auf diesen Seiten eine Auswahl
zeigen. Heick-Abildhauge folgte seiner
Frau nach Moskau, als sie dort einen Job
bekam. Er reiste mit vielen Vorurteilen
ins Land. »Mein Ziel ist, die Russen zum
Lächeln zu bringen«, erklärte er. Das war
nicht schwierig: Er fragte sie nach ihren
Träumen. Seine Serie zeigt 100 Menschen
im Alter von 1 bis 100. Die ältesten traf
er im Veteranenheim.


Wer begeistert ist, macht eine interessante
Erfahrung: Plötzlich wirkt es, als ob sich die
Energie vermehrt, auch wenn das physika-
lisch unmöglich ist. Selbst wenn Begeisterte
wie besessen arbeiten, scheinen sie für eine
Weile gegen ein Ausbrennen immun zu sein.
Es ist, als lege sich die Begeisterung wie ein
Schutzfilm um den Körper. Die Aufgabe
selbst, einen Berg zu erklimmen, eine seit
Jahrzehnten verschollene Lok in den Un-
tiefen des Rheins oder auch nur ein neues
Hobby zu finden, wird zum Elixier. »Man
muss es schaffen, das Wertvolle und das
Gute in den Dingen zu sehen. So als wären
sie ein Schatz«, sagt Eva Wlodarek.
Ein Schatz kann fast alles sein. Und es
wirkt Wunder, wenn man sich auf die Schätze
besinnt, die man bereits gefunden hat. Der
Mensch ist schon ein seltsames Wesen. Ich
weiß und wusste immer, wie viel Freude es
mir gibt, Musik zu entdecken, die mich
berührt. Und doch habe ich das in den ver-
gangenen Jahren praktisch komplett unter-
lassen. Habe immer wieder dieselben Lieder
gehört, bis mich selbst Oasis genervt haben.
Meine Kopfhörer blieben oft monatelang
unbenutzt. Aber damit ist jetzt Schluss.
Ich stecke das Kabelende in die Buchse
meines Computers und gehe an den Ort, der
mich früher so oft glücklich gemacht hat:
die NPR Tiny Desk Concerts bei YouTube.
Die Idee dieser Konzertreihe ist es, dass
Künstler – mal Weltstars wie Adele und mal
Newcomer – unplugged in einem kleinen
Büro ein paar Songs spielen. Ich fange an
mit einer Band, die ich sehr schätze, und
drücke auf »Autoplay«, in der Hoffnung,
dass der Algorithmus mir im Anschluss bis-
lang unentdeckte Musik liefert, die ich ähn-
lich schätze. Ich werde nicht enttäuscht.
Ich lerne Ólafur Arnalds aus Island
kennen, einen Mann, der zwei Jahre seines
Lebens damit verbracht hat, seinem Key-
board beizubringen, wie es zwei weitere Kla-
viere bedient. Ich sitze bass erstaunt da über
so viel Leidenschaft und Talent. Und ich
Fotos Tomas Januska, www.tomasjanuska.com
stoße auf Keaton Henson, der so leise und
zurückgenommen spricht, dass ich Angst
habe, er könnte jeden Moment in sich selbst
verschwinden. Er singt: »If you must die,
sweetheart, die knowing your life was my life’s
best part.« Wenn du stirbst, mein Schatz,
dann stirb in dem Wissen, dass dein Leben
das Beste in meinem war. Ich weine hem-
mungslos. Und setze meine Kopfhörer erst
ab, als es draußen wieder hell wird.
Sich für Dinge neu zu begeistern, das habe
ich auf meiner Suche gemerkt, ist gar nicht
so schwer. Aber ich frage mich, wie es wohl
bei Menschen ist, die einem mal wirklich
wichtig waren – und es nicht mehr sind.
Ein Anruf bei Wolfgang Schmidbauer, ei-
nem der bekanntesten Paartherapeuten
Deutschlands. Schmidbauer lacht kurz, als
ich ihn frage, wie man sich wieder neu für
jemanden begeistern kann, für einen alten
Freund, eine ehemals geschätzte Kollegin
oder für einen Lebenspartner. »Erwarten
Sie jetzt das Rezept für einen Zaubertrank?«
Begeisterung
braucht Liebe
und Hingabe,
sie ist authen-
tisch. Man
kann sie nicht
simulieren
Die Beziehungen, so Wolfgang Schmid-
bauer, dünnten sich oft dadurch aus, dass
man nicht mehr so viel Zeit miteinander
verbringe. Bei Paaren sei das klassischerweise
dann zu beobachten, wenn sie Kinder be-
kommen. »Paarzeit wird dann oft nur als
ein Abhandeln von Plänen wahrgenom-
men, die Familienmaschine zehrt die Paar-
energie auf, und die frühere Faszination
geht verloren.« Elementar sei es, Bedingun-
gen dafür zu schaffen, dass gemeinsame
Paarzeit wieder möglich ist. Einen Raum zu
kreieren, in dem Begeisterung füreinander
wiedererlebt werden kann.
»Was sich bei glücklichen Paaren im-
mer wieder beobachten lässt, sind Ritualisie-
rungen«, sagt Schmidbauer. Wenn man sich
etwa an den ersten gemeinsamen Sex erin-
nere und immer wieder in das Lokal zurück-
kehre, an dem dieser magische Abend be-
gann. Müde Paare sind dazu oft nicht in der
Lage und verharren in ihrem Unglück. Es
gibt eine Karikatur von Doris Lerche, ein
Pärchen sitzt auf dem Sofa, in den Gesich-
tern Schmerz und Sehnsucht. Ihre Beine
zeigen nach links, seine nach rechts, als woll-
ten sie voreinander weglaufen. Die Frau sagt:

»Ich möchte mal so richtig geliebt werden.«
Der Mann erwidert: »Ich auch.« Das Wort
»geliebt« ließe sich ohne Weiteres durch das
Wort »begeistert« austauschen, der Sinn
bliebe derselbe. »Wenn der eine Begeisterung
zeigt«, sagt Schmidbauer, »dann ist die Wahr-
scheinlichkeit hoch, dass der andere mit Be-
geisterung reagiert.« Es geht also, auch hier,
ums Anfangen, Aufraffen, Machen.
Was also habe ich gelernt auf meiner
Reise? Erstens: Wer sich neu begeistern will,
muss sich selbst in den Hintern treten. Zwei-
tens: Begeisterung entsteht immer da, wo
wir Beziehung spüren, Liebe und Hingabe.
Drittens: Begeisterung ist authentisch, man
kann sie nicht simulieren. Viertens: Begeis-
terung ist individuell. Es gibt nicht den einen
Weg. Für jeden ist sie etwas anderes.
Eva Wlodarek hat das sehr schön zu-
sammengefasst: »Wir können nur dann be-
geistert sein, wenn wir uns trauen und etwas
riskieren. Wenn wir das Leben wagen.«
Vielleicht ist das größte Wagnis von
allen, ein neues Leben in die Welt zu setzen.
In der Beziehung zu den eigenen Kindern
steckt alles, was Begeisterung ausmacht:
Natürlichkeit und Angst, Zuversicht und
Scheitern, Mut und Verzagtheit, Vergangen-
heit und Zukunft.
Jedes Mal, wenn ich mich nachmittags
der Schule meines Sohnes nähere, sehe ich
Emil schon von Weitem. Er sieht aus, wie
ich damals aussah. Fast immer steht er im
Fußballtor. Ich bleibe dann stets ein paar
Minuten am Zaun stehen und beobachte
ihn dabei, wie er sich voller Hingabe in den
staubigen Boden wirft, um die Schüsse der
anderen abzuwehren. Wenn ich dann am
Fußballplatz ankomme, lächelt er mich kurz
an und verdreht die Augen. Papa, jetzt noch
nicht, ich hab hier eine Aufgabe.
Zurück zu Hause, dauert es keine zehn
Sekunden, bis er seinen Tornister in die Ecke
geworfen und den Ball aus dem Kinder-
zimmer geholt hat. Los, Papa, komm! Er
rennt in den Innenhof. Mein Tor ist die
Durchgangstür zum Vorderhaus, seines sind
zwei Mülltonnen, das Spiel muss immer
weitergehen. Und wenn ich höre, wie er
jauchzt, wenn er einen Zweikampf gewinnt,
wie er kiekst, wenn ihm ein Tor gelingt, wie
er manchmal weint vor Wut, dass er einen
meiner Schüsse nicht abwehren konnte,
dann fühlt es sich so an wie damals in mei-
nem Kinderzimmer. Ich habe mir jetzt einen
Tennisball gekauft. —
 
DER ZEIT WISSEN

CHECK
Welches Hobby passt zu mir?
Text Filipa Lessing

Escape-Rooms
1
12
Feuerpoi
Couchsurfing Hula-Hoop

Hier finden Sie 85 Hobbys.

Groundhopping
Musical/
Bäume Wandern Sie ein bisschen Mehr Bewegung Improtheater
auf dieser Karte herum, und
Traktoren
lesen Sie die Erklärungen dazu
Groß Slacklining
auf den folgenden Seiten.
Vielleicht entdecken Sie ganz Geocaching

neue Leidenschaften! SPIELEN

Gewinnspiele/
Preisausschreiben

11 Zaubern/
Kartentricks
Bierdeckel 2
SAMMELN »Pen & Paper«- 3
Blechspielzeug/ Rollenspiele
Zinnfiguren Videospiele

Lockpicking Weniger Bewegung Doppelkopf

Steine/Muscheln Klein Comics
START
START
Poetry-Slams
Elektrische Marionetten
Käfer/Schmetterlinge spielen/herstellen Musizieren/
Herzschrittmacher Wein
Als DJ auflegen
 4 Im Altenheim
Kinder- vorlesen 14
feriencamp Auf Demos
gehen GESTALTEN BEWEGEN Agility
begleiten

Politisches Paddeln/ Kaninchenzucht

Ehrenamt Sozial Quidditch
Rudern
Materiell
Deutschunterricht Freiwillige Brieftauben Mit Tieren
für Geflüchtete Feuerwehr Akrobatik Mit anderen
Umweltschutz

Swamp-
Speedminton/ Soccer Wander-
Tennis reiten
Kerzen
5 ziehen
Nähen Allein
Bonsai- Pralinen Rock ’n’ Roll
schneiden Kreativ BEOBACHTEN Rennrad/
machen 13 Einrad
6
Modellbau Casemodding Schmieden
Poledance
Origami Cosplay 15
Akribisch
Graffitikunst Le Parkour

Trabis 7
Klettern/ Ohne Tiere
reparieren Wikipedia- Bierbrauen Bouldern
Artikel schreiben
Natur
Krav Maga
10 Drachen-
Tagebuch führen fliegen/Segel-
Sterne fliegen
Rollschuh
Fitnessstudio Mich selbst fahren

Ohne Beute Aquarium Plane-

Instagram/Blogs spotting
Schminken/
Vögel Mode
Contouring

Obstbäume Imkern Wolken

veredeln Drohnen Stadt
Gärtnern 8
Mit Beute
Street-
Terrarium Cineastischer Photography
Marmelade Jagen (Schlange/Schildkröte) Zirkel
einkochen
9
Angeln Hühner Flohmarkt

Die ZEIT WISSEN-
Hobbyprofile
Ist das Hobby teuer? Zeitaufwendig?
Welche Menschen treffe ich?
Brauche ich Mut? Oder Geduld?
15 Experten erklären ihre Passion:
SPIELEN
1 FEUERPOI
Jakob Lessing, Heftig Deftig Heiß
Was: Poi spielen kombiniert Elemente aus Jonglage
und Tanz. Man bewegt an jeder Hand ein kleines
Gewicht an kurzen Ketten oder Schnüren. Feuerpoi
ist das Gleiche – nur dass die Gewichte brennen.
Wer: Das Hobby ist in Deutschland noch recht neu,
daher trifft man vor allem jüngere und alternativ
eingestellte Menschen.
Wie: Beweglichkeit und Koordination schaden nicht.
Ansonsten braucht man nur zwei Arme. Und keine
Angst vor Feuer, wenn man später brennende Pois
verwenden will.
Wie teuer: Als Übungspois reichen ein Paar Knie-
strümpfe mit Jonglierbällen drin. Feuerpois kosten je
nach Material und Größe zwischen 40 und 200 Euro.
Zusätzlich benötigt man Behälter zum Tränken,
Lampenöl und eine Löschmöglichkeit.
Warum: Man hört auf, über andere Dinge nachzu-
denken, und ist nur noch mit den Feuerbällen um
sich herum beschäftigt. Das ist atemberaubend.
Verwandte Hobbys: Alle Arten des Jonglierens und
natürlich Feuerspucken. Auch Akrobatik ist ähnlich.
2 »PEN & PAPER«-ROLLENSPIELE
Christoph Till, Rollenspielgilde Paderborn
Was: Drei bis sechs Leute sitzen am Tisch. Einer ist
der Spielleiter und gibt Handlung und Ausgangslage
vor. Ab dann beeinflussen aber alle Spieler das Ge-
schehen und oft auch die Würfel, zum Beispiel ob ein
Sprung über die Schlucht gelingt oder nicht.
Wer: Von jung bis alt. Manchen Spielern geht es
mehr um Taktik und Regeln. Andere wollen dramati-
sche Hoch- und Tiefpunkte in der Handlung erzeu-
gen oder die Psyche ihrer Figuren ergründen.
Wie: Man muss sich auf diese Art zu spielen einlassen
können und auch den anderen Raum für ihre Figuren
geben. Es ist ein soziales Hobby.
Wie teuer: Viele Regelwerke gibt es kostenlos im
Netz oder für 20 bis 50 Euro (pro Gruppe) zu kaufen.
Würfel, Stift und Papier kosten nicht viel. Es gibt aber
auch Sammler, die viel Geld investieren.
Warum: Ein großes Thema ist die Immersion, also
sich in die eigene Figur reinzudenken und hineinzu-
fühlen. Die Emotionen, die dabei entstehen können,
sind sehr vielfältig – und natürlich echt: Spannung,
Grusel, Trauer, Freude.
Verwandte Hobbys: Das Spiel »Dungeons & Dra-
gons« ist sehr ähnlich. LARP (Live Action Role Play-
ing) hebt das Rollenspiel vom Spieltisch in die reale
Welt mit Kostümen und mehr Schauspiel. Ums Kno-
beln geht es beim Krimi-Dinner und im Escape-Room.
3 VIDEOSPIELE SPIELEN
Florian Allerkamp, Beef Hannover
Was: In Videospielen erlebt man Geschichten und
kann sie aktiv mitgestalten, muss Probleme oder Rät-
sel lösen und begibt sich in fantastische Welten. Das
erfordert Denken und Reagieren.
Wer: Schüler, Berufstätige, Rentner – die Menschen
sind so vielfältig wie das Medium.
Wie: Je nach Spiel braucht man Geschicklichkeit und
eine gute Hand-Augen-Koordination, oft muss man
um die Ecke decken. Die Eingabegeräte sind anfangs
ungewohnt, aber das ist alles Übungssache.
Wie teuer: Viele Spiele laufen kostenlos auf dem
Smartphone. Man kann aber auch viel Geld für Kon-
solen, PC-Zubehör und die Spiele selbst ausgeben.
Warum: Wegen der Glücksgefühle nach gemeisterten
Herausforderungen, der Spannung, wenn man gegen
andere Spieler spielt – und all der anderen Erlebnisse
in diesen verschiedenen Welten und Geschichten.
Verwandte Hobbys: Brettspiele, Lesen oder Filme
schauen. Erhöhtes Adrenalin, Stresshormone, Glücks-
gefühle und den Flow findet man auch beim Sport.

GESTALTEN
4 KINDERFERIENCAMP
Samia Felloussa, Zeltlager des BDKJ Bremerhaven
Was: Als Gruppenleiterin fahre ich jeden Sommer für
zwei Wochen mit 120 Kindern ins Grüne. Wir ge-
nießen Natur, Abenteuer und gemeinschaftliches
Zusammensein – ohne Fernseher oder Internet.
Wer: Manche sind schon als Kind mitgefahren, andere
sind zum ersten Mal dabei. Man sollte sich natürlich
zutrauen, mit Kindern zu arbeiten. Vorerfahrung ist
aber kein Muss, durch Gruppenreflexion und feste
Ansprechpartner lernt man schnell.
Wie: Unterschiedliche Erfahrungen machen das
Team erst so toll – und alle sind immer sofort von der
Magie verzaubert.
Wie teuer: Die Jugendleitercard und ein Erste-Hilfe-
Kurs sind Pflicht. Dann braucht man natürlich eine
Campingausstattung: Schlafsack, Isomatte, wetter-
feste Kleidung, Taschenlampe und so.
Warum: Man ist ein essenzieller und wertgeschätzter
Teil einer Gruppe, das gibt viel Sicherheit und Moti-
vation. Die positiven Rückmeldungen der Kinder,
die immer neuen Herausforderungen, die Freund-
schaften: Das ist unbeschreiblich.
Verwandte Hobbys: Eine Trainertätigkeit bei einer
Sportmannschaft oder in einem Sportferienlager,
Pfadfindertum oder Jugendtreffs haben Parallelen.
5 NÄHEN
Meike und Markus Korstian,
nähen-für-anfänger.de
Was: Eigene Kleidung designen oder den Schnitt von
vorhandenen Stücken verändern, Accessoires und
Deko herstellen. Die verschiedenen Stoffe, Material-
mixe und Schnitte ergeben schier unendliche gestalte-
rische Möglichkeiten.
Wer: Menschen über alle Altersklassen hinweg, vor
allem Frauen. Viele Ältere, die in der Schule noch
Handarbeit hatten, aber auch zunehmend Junge, die
ihre Garderobe aufpeppen wollen. Die meisten sind
kontaktfreudig und zeigen gern ihre Werke.
Wie: Ein Grundmaß an Geschicklichkeit und Ge-
duld ist nötig. Kreativität schadet nicht, aber es gibt
im Internet genug Schnittmuster zum Nachnähen.
Wie teuer: Eine Nähmaschine fängt bei 140 Euro an.
Scheren, Garn, Nadeln und so gibt es im Set ab 50
Euro. Das meiste kosten sicherlich die Stoffe.
Warum: Nähen bedeutet abschalten. Sich nur einer
Sache widmen und die Welt um sich herum vergessen.
Es ist auch sehr befriedigend, etwas zu schaffen, was
nützlich ist und was man anfassen kann.
Verwandte Hobbys: Plotten, also das Übertragen von
Motiven aus verschiedenen Materialien auf Gruß-
karten oder Kleidungsstücke. Stricken, Filzen und
Weben. Neuer (und rechtlich umstritten) ist Urban
Knitting: das Umhäkeln öffentlicher Gegenstände.
6 MODELLBAU
Hans-Georg Mundschenk, 1. Modellbauclub Mainz
Was: Zum einen geht es um das Bauen, zum anderen
um das Wissen über all die Modelle: deren Geschichte,
Konstruktionsweise und Technik, aber auch die his-
torischen Umstände. Die Vielfalt ist sehr groß.
Wer: Tüftler mit technischer Begabung und künstle-
rischen Ambitionen. Es fällt auf, dass sich deutlich
mehr Männer als Frauen dafür interessieren.
Wie: Geduld, Geduld, Geduld. Und Konzentration.
Eine ruhige Gelassenheit also. Dazu ein bisschen
Kreativität und technisches Geschick.
Wie teuer: Für ferngesteuerte Modelle braucht man
oft eine Drehbank und viel Werkzeug. Für Plastik-
modelle sind Pinzetten, Pinsel, Skalpelle, Klebstoff,
Schleifpapier und eine kleine Bohrmaschine nötig.
Das fängt bei 200 Euro an und ist nach oben offen.
Warum: Für das Erfolgserlebnis, ein kompliziertes
Modell oder eine aufwendige Landschaft naturgetreu
erstellt zu haben. Man ist stolz auf das Geschaffene.
Verwandte Hobbys: Alles Künstlerische wie Töpfern,
Malerei, Buddelschiffe, Fischertechnik und so weiter.
7 BIER BRAUEN
Yannick Hettich, Podcast »Craft Beer & Friends«
Was: Bier wird meist aus Gerstenmalz und Hopfen
hergestellt, vergoren mit Bierhefe. Aber man kann in
den Rohstoffen und in den Prozessen sehr kreativ sein
und so das Endprodukt beeinflussen.
Wer: Die meisten Brauer sind Genussmenschen, de-
nen Qualität sehr wichtig ist. Viele sind sehr kontakt-
freudig und tauschen sich über das Brauen aus. Bisher
sind es mehr Männer als Frauen.
Wie: Man sollte Bier lieben, und Geduld ist auch sehr
wichtig: Ein Braugang dauert bis zu zehn Stunden,
das Bier ist frühestens nach drei Wochen trinkbar.
Wie teuer: Theoretisch könnte man Bier in einer
Thermoskanne brauen, aber richtig lohnt es sich
erst ab einem Zehn-Liter-Topf. Die ersten Zutaten
und die Werkzeuge – eine Bierspindel, um Zucker-
und Alkoholgehalt zu messen, ein Thermometer und
Leergut – bekommt man schon ab 100 Euro.
Warum: Brauen ist sehr entspannend, fast meditativ.
Toll ist auch, wenn man das Ergebnis Wochen später
zum ersten Mal testen kann.
Verwandte Hobbys: Alle, die sich mit Lebensmitteln
auseinandersetzen. (Früher waren Bäcker und Brauer
oft dieselbe Person.) Grillen.
BEOBACHTEN
8 STREET-PHOTOGRAPHY
Torsten Köster, Teekay-Fotografie
Was: Ich fotografiere alltägliche Dinge im urbanen
Raum: Menschen, Gegenstände, Formen, Farben –
vor allem Motive, die nicht auf den ersten Blick ins
Auge springen. Mein Stil ist dokumentarisch, ästhe-
tisch, manchmal abstrakt oder auch humorvoll.
Wer: Gesellige und offene Menschen, die Spaß an der
Fotografie haben.
Wie: Es braucht eine gesunde Portion Neugier und
Lust, auf Unerwartetes zu treffen. Man sollte gut zu
Fuß sein. Vor allem braucht man aber etwas Mut, um
fremde Menschen anzusprechen und abzulichten.
Wie teuer: Die modernen Smartphones machen gute
Bilder. Wer mehr will: eine kleine, unauffällige Sys-
temkamera, eventuell mit Objektiven. Ich habe für
meine Ausrüstung knapp 1000 Euro bezahlt.
Warum: Weil man sich ziel- und planlos, aber mit
offenen Augen durch die Straßen treiben lässt, um die
kurzen Momente festzuhalten. Danach die schönen
Bilder anzuschauen ist auch sehr befriedigend.
Verwandte Hobbys: Alles, was sich mit der Alltags-
wirklichkeit auseinandersetzt: jede Art der Fotografie,
aber auch malen oder Karikaturen zeichnen.
9 JAGEN
Reinhart Stichweh, Deutscher Jagdverband
Was: Zum Jagen gehören neben dem Schießen und
der Waffenkunde auch das Ausnehmen und Abziehen
der Tiere und natürlich Tierkunde über die Wild-
arten und Rechtskunde in allen Fragen.
Wer: Ein Drittel Angeber und Trophäenjäger, ein
Drittel normale und ein Drittel hoch motivierte Jäger,
die nichts anderes tun. Hauptsächlich Männer.
Wie: Handwerkliches Geschick ist nützlich, etwa
wenn man einen Hochsitz baut. Außerdem Geduld.
Und man sollte robust sein im Umgang mit »Unge-
mütlichkeiten« wie Kälte oder Blut.
Wie teuer: Die Ausbildung für den Jagdschein kostet
etwa 3000 Euro. Ein gutes Gewehr mit Optik kostet
neu bis zu 10.000 Euro, gebraucht etwa 2000 Euro.
Fernglas, Kleidung, Schuhwerk kommen noch dazu.
Warum: Neben der Tradition spielen Naturverbun-
denheit und Fleischerwerb eine wichtige Rolle. Man
kann aber auch einfach die Tiere beobachten, hat
seine Ruhe und kann seinen Gedanken nachhängen.
Verwandte Hobbys: Wandern, Angeln, Imkern. Jede
Art der Selbstversorgung. Und natürlich Schießen.
10 STERNE BEOBACHTEN
Urs Flükiger, Privatsternwarte Loberg
in Ersigen, Schweiz
Was: Himmelskörper und das Weltall beobachten
und erforschen – mit bloßem Auge, Fernglas oder
Teleskop. Fotografien, Zeichnungen oder Beobach-
tungsberichte gehören auch dazu.
Wer: Die Jungen interessieren sich oft für den Mond
und für Planeten, Ältere für Galaxien, Nebel und Ob-
jekte außerhalb unseres Sonnensystems. Alle sind na-
turinteressiert und -fasziniert.
Wie: Nicht nur schauen, sondern auch sehen! Die
Liebe zum Detail ist wichtig. Man muss durchwachte
Nächte einplanen, weil man oft lange braucht, um
aus den lichtverschmutzten Städten rauszukommen.
Wie teuer: Ein Fernglas ist ein günstiger Einstieg. Ein
gutes Teleskop gibt es für wenige Hundert Euro. Aber
richtige Astronomiekameras kosten schnell mal meh-
rere Tausend Euro.
Warum: Der Stolz auf die tollen Bilder, aber auch die


Befriedigung, etwas Einzigartiges gesehen zu haben.
Die Erkundung einer gigantischen Welt.
Verwandte Hobbys: Mikroskopie, Amateurfunk,
Langzeitaufnahmen mit der Kamera und auch die
Drohnenfotografie.
SAMMELN
11 BIERDECKEL SAMMELN
Ulrich Schneider, Internationaler
Brauereikultur-Verband e. V.
Was: Regionaler und internationaler Austausch mit
anderen Sammlern von Brauereiartikeln, die Beschäf-
tigung mit Brauereigeschichte, das Tauschen von Sam-
melobjekten und die Suche nach fehlenden Stücken.
Wer: Die Sammler von Brauerei(werbe)artikeln sind
in der Regel gesellige Menschen, die gern mit anderen
Sammlern diskutieren oder sich mit ihnen treffen.
Wie: Im Zentrum stehen die Freude am Bewahren
und der Wunsch, ein Sammelgebiet zu komplettieren.
Ein gutes visuelles Gedächtnis ist hilfreich.
Wie teuer: Bierdeckel werden von den Brauereien
meistens kostenlos abgegeben. Kartons zur lichtge-
schützten Aufbewahrung kosten wenig. Reisekosten
zu Brauereien und Tauschtreffen sind individuell.
Viel Geld kann man bei eBay ausgeben, wenn man
ganz bestimmte Sammlerstücke ergattern will.
Warum: Für mich steht die Vernetzung mit anderen
Sammlern im Vordergrund. Die Dokumentation der
Brauereigeschichte und die Suche nach fehlenden
Stücken einer Serie sind aber auch reizvoll.
Verwandte Hobbys: Sammeln, egal was. Kultur- und
Industriegeschichte.
12 COUCHSURFING
Chiara-Nunziata Thies, Hannover
Was: Beim Couchsurfing lässt man Reisende aus der
ganzen Welt bei sich übernachten und übernachtet
selbst bei anderen, manchmal unternehmen Gäste
und Gastgeber etwas miteinander. Referenzen anderer
Mitglieder schützen vor bösen Überraschungen.
Wer: Jeder vom Partygänger bis zum Mittelalter-Fan:
Die meisten Couchsurfer sind offen und interessiert.
Wie: Ehrlichkeit ist wichtig, sich selbst gegenüber,
aber auch zwischen Gast und Gastgeber, sonst kön-
nen unterschiedliche Erwartungen zu Konflikten
führen. Offenheit und Neugier erleichtern vieles.
Wie teuer: Außer einem Internetzugang braucht man
nichts, die Übernachtungen sind kostenlos, Websites
wie BeWelcome oder Couchsurfing auch.
Warum: Couchsurfing gibt den Glauben an das Gute
zurück: Die meisten wollen Fremden helfen und nette
Leute kennenlernen. Immer wieder werden die Web-
sites aber auch als Dating-Plattform missbraucht.
Verwandte Hobbys: Die Welt bereisen. Durch die
vielen Begegnungen lernt man auch verschiedenste
Hobbys kennen: Bergsteigen, Kochen, Porträtmalerei,
einfach wirklich alles.
BEWEGEN
13 ROCK ’N’ ROLL
Ellen Starke, 1. RRC Gießen e. V.
Was: Man unterscheidet zwischen dem Boogie-Woogie
der 50er-Jahre mit viel Fußarbeit und ohne einstu-
diertes Programm und dem Rock ’n’ Roll der heuti-
gen Zeit mit akrobatischen Elementen.
Wer: Unsere Mitglieder sind zwischen 20 und 70
Jahre alt. Beim Rock ’n’ Roll sind sie eher jünger we-
gen der Akrobatik, meist mit einem festen Partner.
Wie: Erforderlich sind Spaß und Freude an der Musik
und am Tanzen. Alles andere kommt von allein.
Wie teuer: Man braucht Sportbekleidung und ent-
sprechende Schuhe – kein großer Kostenfaktor.
Warum: Tanzen ist generationsübergreifend! Außer-
dem ist es toll, seinen Körper so bewegen zu können.
Verwandte Hobbys: Swing und Lindy Hop sind sehr
ähnlich. Andere Tanzstile: klassischer oder lateiname-
rikanischer Paartanz, Polka, Modern Dance, Hip-
Hop. Oder Ballett. Es gibt unendlich viele Stile.
14 AGILITY
Tabea Bänfer, Hundesportclub Augsburg e. V.
Was: Bei Agility muss der Hund einen Parcours aus
Hindernissen möglichst schnell bewältigen. Das
Herrchen/Frauchen leitet ihn.
Wer: Menschen aus sämtlichen Schichten und ganz
verschiedenen Berufsgruppen – oft erfährt man erst

Jahre später, was die Person eigentlich arbeitet.
Wie: Erfahrung im Hundetraining ist nicht schlecht,
aber ein guter Trainer bringt einem alles bei. Für Tur-
niere muss man die Begleithundeprüfung bestehen.
Wie teuer: Das Wichtigste ist ein gesunder Hund.
Außerdem Leckerli und ein Spielzeug des Hundes,
das er gern mag. Auf Turnieren werden Meldege-
bühren erhoben, aber die fallen meistens niedrig aus.
Die Kosten für das Agilitytraining variieren.
Warum: Es ist ein tolles Gefühl, mit seinem Hund im
Team zu arbeiten – man lernt sich gegenseitig sehr gut
kennen. Hinzu kommen Action, Nervenkitzel (beim
Turnier), Lebensfreude und viel Spaß.
Verwandte Hobbys: Bei Hoopers-Agility wird mehr
Wert auf Slalomlauf und das Führen aus der Distanz
gelegt. Obedience ist ein Gehorsamkeitstraining.
15 LE PARKOUR
Daniel Stang, ParkourLernen
Was: Rollen, springen, klettern, schwingen im urbanen
Raum. Le Parkour ist eine Bewegungskunst, bei der
man Hindernisse jeglicher Art kreativ überwindet,
nutzt und auch umfunktioniert.
Wer: Manche kommen vom Turnen oder aus der
Akrobatik. Die meisten machen Le Parkour, weil es
eine coole Art ist, sich zu bewegen, besonders in der
Stadt. Und es bringt einfach Spaß.
Wie: Offenheit, Disziplin und eine gute Selbstein-
schätzung sind wichtig. Alter oder Fitness sind zweit-
rangig, aber man sollte ehrlich zu sich selbst sein, um
Verletzungen zu vermeiden.
Wie teuer: Mit bequemen Sportklamotten und gut
sitzenden, nicht zu stark gedämpften Schuhen kann es
direkt losgehen.
Warum: Man darf wieder Kind sein und sich dabei
ausprobieren und so viel bewegen, wie man möchte.
Außerdem gibt es einem ein unglaubliches Gefühl
von Freiheit, seinen Körper kontrollieren zu können
und – wenn man fortgeschritten ist – Hindernisse in-
stinktiv und kreativ zu meistern.
Verwandte Hobbys: Alles Akrobatische: Turnen hat
ein eher strengeres Regelwerk. Breakdance ist tänzeri-
scher. Und Capoeira, eine brasilianische Kampfkunst.
 GLOSSAR
Bäume sammeln: Samen und Setzlin-
ge aus der ganzen Welt sammeln und
zu einem Park heranwachsen lassen –
ein wahrhaft langfristiges Hobby.
Bonsaischneiden: Einen Miniatur-
baum durch wenig Dünger, Schneiden
und Verdrahten gestalten – eine Mi-
schung aus Gärtnern und Kunst.
Bouldern: Klettern ohne Seil oder
Gurt an natürlichen oder künstlichen
Felsen in Absprunghöhe.
Casemodding: PC-Gehäuse optisch
bearbeiten und aufwerten, etwa mit
Plexiglas-Fenstern oder LEDs. Es gibt
sogar Kreativwettbewerbe.
Cineastischer Zirkel: Regelmäßige
Film- oder Theaterbesuche mit an-
schließender Besprechung des Gese-
henen – ähnlich einem Lektürekreis.
Contouring: Hervorheben, Verändern,
ja Modellieren der Gesichtszüge mit
Schminke – Profis können ihr Gesicht
zu dem von Angelina Jolie schminken.
Cosplay: Möglichst originalgetreue
Darstellung von Film-, Videospiel-
oder Comicfiguren durch selbst
Woher weißt Du das?
Wir haben zwei Prozent Neandertaler-Gene in uns. Was machen die?
Und wie kamen sich Neandertaler und moderner Mensch näher?
Aufklärung gibt es im aktuellen ZEIT WISSEN-Podcast.
www.zeit.de/zw-podcast
gemachte Kostüme, Accessoires,
Perücken, Make-up und Gestik.
Doppelkopf: Kartenspiel für vier Per-
sonen, das ähnlich wie Skat Strategie,
Teamarbeit und Kartenglück vereint.
Drohnen: Unbemannter fliegender
Roboter, der seine Film-Aufnahmen
live aufs Mobiltelefon streamen kann.
Elektrische Herzschrittmacher: Es
gibt wohl nichts, was nicht gesammelt
wird: Bananenaufkleber, Kotztüten,
Knöpfe oder eben Schrittmacher.
Escape-Room: Zusammen mit einigen
Mitspielern hat man eine Stunde Zeit,
einem verschlossenen Raum durch
das Lösen von mechanischen oder
logischen Rätseln zu entkommen.
Geocaching: Moderne Schnitzeljagd
– das Finden von Schätzen aus der
realen Welt mittels GPS-Empfängern
und Koordinaten aus dem Internet.
Groundhopping: Das Besuchen von
Fußballspielen in möglichst vielen
verschiedenen Stadien weltweit.
Hula-Hoop: Das Schwingen eines Rei-
fens um Hüfte und andere Körperteile.
Improtheater: Improvisation auf der
Theaterbühne – ganz ohne Skript,
meist geleitet durch Publikumszurufe.
Instagram-Blog: Täglich Fotos und
Videos über den eigenen Alltag, über
Mode, Essen etc. auf der Social-Me-
dia-Plattform Instagram posten.
Krav Maga: Eine Kampftechnik zur
reinen Selbstverteidigung – durch
Schläge und Tritte, mit bestimmten
Griffen, Hebeln und Bodenkampf.
Lockpicking: Das Aufsperren von
Schlössern ohne den passenden
Schlüssel und ohne das Schloss zu
beschädigen, bei Wettbewerben in
möglichst kurzer Zeit.
Origami: Eine aus Japan stammende
Papierfalttechnik, durch die zwei-
oder dreidimensionale Tiere oder
Figuren entstehen.
Planespotting: Beobachten und meist
auch Fotografieren von Flugzeugen in
der Nähe von Flughäfen.
Poetry-Slam: Bei diesem literarischen
Vortragswettbewerb lesen die
Teilnehmer in einer begrenzten Zeit
Jetzt
anhören
selbst geschriebene Texte vor – das
Publikum kürt den Sieger.
Poledance: Tanzsport und Artistik an
einer vertikalen Stange – bekannt ge-
worden durch Zirkus und Stripclubs.
Quidditch: Durch die Romanreihe
»Harry Potter« motivierter Fantasy-
Teamsport mit Bällen und einem Be-
senstiel zwischen den Beinen.
Rollschuhfahren: Im Gegensatz zu
Inlineskates sind die vier Rollen an
zwei Achsen befestigt – perfekt für
enge Kurven, Tricks und zum Tanzen.
Slacklining: Balancieren auf einem
gespannten Gurtband. Auch Sprünge
und Tricks sind möglich.
Speedminton: Ein sehr schneller Ball-
sport mit Schlägern, eine Mischung
aus Badminton, Tennis und Squash.
Swamp-Soccer: Beim Sumpffußball
stecken die Fußballspieler bis zu den
Knöcheln oder den Knien im
Schlamm. Wer stehen bleibt, versinkt.
Wanderreiten: Mehrtägige Wande-
rungen auf dem Pferderücken – durch
die Natur oder durch ferne Länder.
Illustration: Lea Dohle


STIMMT SO!
Wofür genau gibt man Trinkgeld?
Mit welchen Erwartungen? Und
mit welchem Resultat? Aufklärung
eines zwielichtigen Geschäfts

Text Niels Boeing Fotos Stefan Fähler


D
ie Abendgesellschaft hat
hervorragend gespeist, der
abschließende Espresso ist
getrunken, die Stimmung
gehoben. Als die Kellnerin
die Rechnung über knapp
240 Euro bringt, legen alle ihre Scheine in
die Mitte des Tisches. »Wie hoch ist die
Rechnung?«, fragt ein Gast am Ende des
Tisches. »20 Euro Trinkgeld sollten es
schon sein«, sagt ein weiterer. »Das ist zu
wenig«, sagt eine Dritte und legt noch ei-
nen Fünf-Euro-Schein dazu, »die Frau war
supernett.« Dann blicken alle erwartungs-
voll die Kellnerin an, als sie das Geld nimmt
und lächelt. Lächelt sie wirklich? Freut sie
sich auch? Hätten es nicht doch 30 Euro
Trinkgeld sein sollen?
Szenen wie diese spielen sich allabend-
lich ab. Es sind Szenen aus einer Ökonomie,
in der sich kaum jemand trittfest fühlt. Die
Gäste nicht, weil immer die Frage nagt, wie
hoch ein angemessenes Trinkgeld wirklich
ist. Die Ökonomen nicht, weil sie das Phä-
nomen seit hundert Jahren mit ihren Theo-
rien nicht zu fassen bekommen. Selbst den-
jenigen, die Trinkgeld bekommen, macht es
zuweilen Kopfzerbrechen, denn auch ein
viel zu hohes Trinkgeld kann peinlich sein.
Ja geradezu ein Affront. Was ist das über-
haupt für ein Spiel, an dem sich alle betei-
ligen, das aber kaum jemand mag?
»Trinkgeld ist älter als die Lohnarbeit
des Industriezeitalters«, sagt der Historiker
Winfried Speitkamp. Der Präsident der
Bauhaus Universität Weimar hat sich mit
der Geschichte des Trinkgelds so gründlich
beschäftigt wie kaum jemand sonst. Dessen
Besonderheit: »Es muss immer neu ausge-
handelt werden, es gibt keinen Vertrag.«
Tatsächlich ist Trinkgeld ein Relikt aus
dem Feudalzeitalter. In ihm mischen sich
huldvolle Gesten der Macht, Bestechung
und Bettelei, garniert mit psychologischen
Tricks. Eines ist es ganz sicher nicht: eine
ordentliche Entlohnung für geleistete Ar-
beit, in der sich beide Parteien auf Augen-
höhe begegnen. Umso erstaunlicher, dass es
selbst Karl Marx, einem genauen Beobachter
des Industriekapitalismus, entging.
Der Begriff »Trinkgeld« taucht im
Deutschen zum ersten Mal im 14. Jahr-
hundert auf. Zunächst ist es wohl ein gele-
gentliches Almosen gewesen, das Adlige
dem einen oder anderen Leibeigenen zu-
kommen ließen. Für die Ökonomie des
späten Mittelalters blieb das Trinkgeld je-
doch ohne Bedeutung. Seit dem 16. Jahr-
hundert entwickelt sich dann ein Netz von
Reiserouten, auf dem Adlige, Pilger, Ange-
hörige von Zünften und Kaufleuten in
ersten Herbergen und Schenken absteigen.
Anfangs ist die Übernachtung in diesen
ständisch geprägten Unterkünften noch
kostenlos. Jeder Stand bleibt ja unter sich.
Doch je mehr sich der Reiseverkehr in
ein Transportnetz aus Postkutschen aus-
weitet, desto mehr Dienstleistungen müssen
die Wirte anbieten. Die eigene Familie kann
dies nicht allein stemmen, Dienstpersonal
muss her und irgendwie unterhalten wer-
den. Die Reisenden, die längst nicht mehr
allesamt als Vertreter ihres Standes unter-
wegs sind, müssen zunehmend Taler sprin-
gen lassen, wenn sie ein trockenes Bett, eine
warme Mahlzeit und vielleicht sogar ein
frisches Pferd haben wollen. Das ist noch
Im 17. Jahrhundert
haftet dem Trinkgeld
bald der Ruch von
Liederlichkeit und
Prostitution an
nicht alles, was die Wirte zu bieten haben:
Die Dienstmagd kann der Gast mit aufs
Zimmer nehmen, wenn er noch ein paar
Taler drauflegt. Und schon bald haftet dem
Trinkgeld der Ruch von Liederlichkeit und
Prostitution an.
Eine erste Wendung zu seiner heutigen
Funktion nimmt das Trinkgeld wohl im
London des 16. Jahrhunderts. In manchen
Gaststätten »soll es Schalen mit der Auf-
schrift to insure promptitude gegeben haben,
in die man vorab Münzen hineinlegte«,
schreibt Winfried Speitkamp in seiner Kul-
turgeschichte des Trinkgelds. To insure
promptitude bedeutet: sich einer schnellen
Bedienung versichern – die Anfangsbuch-
staben könnten der Ursprung des englischen
Begriffs »tip« gewesen sein.
Als dann von Anfang des 18. Jahrhun-
derts an immer mehr Menschen Reisen und
Ausflüge unternehmen, verbreitet sich das
Zahlen von Trinkgeld explosionsartig in
Europa. Nicht nur im Gastgewerbe. Auch in

anderen Schichten ist das Zauberwort bald
bekannt, das das eigene Auskommen verbes-
sern kann, wie etwa der Schriftsteller Victor
Hugo 1837 bei der Besichtigung einer Kir-
che in Köln erleben muss.
Als ihn der Küster zu einem Gemälde
führt, ist es verhängt. Hugo fragt, von wem
das Bild sei. Von Rubens, antwortet der
Küster. »Ich möchte es sehen«, sagt Hugo.
Der Küster holt den Kustos, der mit einer
bedeutenden Geste den Vorhang entfernt.
»Haben Sie es gesehen, so schließt sich der
Vorhang, und der Kustos macht Ihnen ein
bezeichnendes Kompliment. Trinkgeld«,
schreibt Hugo in einem Brief an einen
Freund. Bis hinauf zum Kirchturm wird
Hugo am Ende sieben Personen Trinkgeld
gegeben haben, die letzte ist der Junge, der
die Glocke für ihn läutet.
Während das neue Industrieproletariat
des 19. Jahrhunderts am Ende der Woche
seine Lohntüte erhält, jagen die dienstleis-
tenden Teile der Unterschicht dem Trink-
geld nach, um ihren Unterhalt zu bestreiten.
Hausdiener, Kellner, selbst Straßenbahn-
schaffner sind dringend darauf angewiesen.
Das Bürgertum indes machte es dem Adel
nach. »In Umfang und Form des Trinkgeld-
gebens eingeweiht, konnte nun auch der
Kleinbürger öffentlich repräsentieren, dass
er sich von der Schicht der Trinkgeldemp-
fänger abhob«, schreibt Speitkamp.
Nicht allen Bürgern war wohl dabei.
Der Jurist Rudolf von Jhering hielt Trink-
gelder für »eine durch die Sitte organisierte
Art der Bettelei«. Die Bediensteten jener
Tage hätten ihn ausgelacht. Kellnerinnen
etwa bekamen ein paar Mark Monatslohn,
während sie es auf bis zu fünf Mark Trink-
geld am Tag bringen konnten. Die Wirte
wussten das und nutzten es weidlich aus.
Um 1900 tobte in Deutschland denn auch
eine heftige Debatte um Sitte und Unsitte
des Trinkgelds. In Hamburg wurde gar eine
»Anti-Trinkgeld-Liga« gegründet. Die Fron-
ten waren indes unübersichtlich. Unter
denjenigen, die das Trinkgeld beibehalten
wollten, waren dieselben Milieus vertreten,
die vehement die Abschaffung dieser scham-
losen Ausbeutung forderten. Der Riss ging
quer durch Bedienstete, Wirte und Bürger
gleichermaßen.
So ist es bis heute geblieben – nur dass
diese Debatte nun in Nordamerika geführt
wird. Während die US-Amerikaner noch
gegen Ende des 19. Jahrhunderts Trinkgeld

als »unamerikanisch«, als wider den Geist
der Verfassung von 1776 empfanden, schlich
sich die Sitte allmählich auch dort ein.
»Europa-Reisende brachten sie damals in
die USA zurück«, sagt Michael Lynn, Öko-
nom an der Cornell University und einer
der führenden Trinkgeldforscher weltweit.
Auch die Einwanderungswellen aus Europa
verstärkten die Verbreitung des Trinkgelds
in den Weiten zwischen New York und San
Francisco. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts
verkehrte sich die Lage diesseits und jenseits
des Atlantiks in ihr jeweiliges Gegenteil.
In Europa wurde die Auseinanderset-
zung beendet, als nach dem Zweiten Welt-
krieg die Kosten für Service per Gesetz in die
Preise der Gastronomie eingeschlossen wer-
den mussten. Arbeitsverträge, in denen die
Entlohnung explizit auch auf Trinkgeld
beruht, sind seitdem verboten. So ist Trink-
geld hierzulande eher ein Zeichen des guten
Willens der Kunden geworden.
In den USA und in Kanada hingegen
ist das Personal in manchen Dienstleistungs-
branchen, allen voran in der Gastronomie,
essenziell darauf angewiesen. Dort dürfen
Wirte in manchen Bundesstaaten den ge-
setzlichen Mindestlohn umgehen, wenn sie
vertraglich das Trinkgeld dem Personal
überlassen. 21 Milliarden Dollar wechseln
in den USA jährlich als Trinkgeld den Be-
sitzer. Forscher wie Michael Lynn haben
diese exzessive Trinkgeldkultur in den ver-
gangenen 20, 30 Jahren gründlich unter-
sucht – und dabei überraschende Erkennt-
nisse gewonnen.
Lange hatten Ökonomen verschiedene
Ansätze diskutiert, wie sich Trinkgeld er-
klären lässt. Die einen sahen eine Form von
Altruismus desjenigen am Werk, der Trink-
geld gibt. Andere hielten es für eine ge-
schickte Variante des Egoismus der Trink-
geldgeber. Rational erschien es keiner der
beiden Fraktionen. Warum sollte sich je-
mand mittels nachträglich bezahlten Trink-
gelds einen besseren Service erkaufen, wenn
er von dieser Person sehr wahrscheinlich nie
wieder bedient würde?
Inzwischen spricht viel dafür, dass es
sich um eine soziale Norm handelt, die von
verschiedenen Mythen aufrechterhalten
wird. Der erste Mythos: Trinkgeld verbessert
den Service – und umgekehrt. Michael Lynn
findet dies zweifelhaft. »Empirisch ist der
Zusammenhang zwischen Servicequalität
und Trinkgeld schwach«, sagt Lynn.
In den USA werden 20 Prozent der Rech-
nung als Trinkgeld erwartet. Manchmal
zahlen die Gäste auch mehr, selten weniger.
Grund ist nicht die Servicequalität. Die
Unterschiede erklären sich zum größten
Teil aus der Höhe der Rechnung selbst.
Größere Gruppen geben weniger Trinkgeld
als kleine. Wer mit Kreditkarte zahlt, ist
weniger großzügig als Barzahler. Ob eine
Kellnerin besser bedient als eine andere,
spielt nach den Untersuchungen von Lynn
und anderen nur eine nachrangige Rolle.
Das bestätigen auch die Dienstleis-
tenden selbst. »Ich schaue mir das Trinkgeld
eigentlich erst am Ende des Abends an«,
zitiert der US-Gastronom Jay Porter aus San
Diego eine seiner Kellnerinnen. »Im Grun-
de gleicht sich das aus, ein Tisch zahlt weni-
ger, einer mehr.« Mit anderen Worten: Ge-
rade weil Trinkgeld eine soziale Norm ist,
können sich die Empfänger darauf verlassen,
Trinkgeld verbessert
den Service – und
umgekehrt, heißt es.
Inzwischen ist klar:
Das ist ein Mythos
dass im Durchschnitt genug dabei herum-
kommt – ganz gleich, ob sie in ihrem Job
brillieren oder nicht. »Trinkgeld entfernt für
schlechte Bedienungen den Anreiz, besser zu
werden«, ist sich Porter sicher.
Sein Restaurant The Linkery war über
sieben Jahre Schauplatz eines ungewöhnli-
chen Live-Experiments: 2006 beschloss er,
Trinkgeld abzuschaffen und stattdessen eine
18-prozentige Servicegebühr auf die Rech-
nung zu schlagen. Gästen, die Trinkgeld
geben wollten, wurde beschieden, dass man
es nicht annehme, notfalls aber einem wohl-
tätigen Zweck spenden werde. Unerhört für
die USA der Gegenwart.
Porter stellte fest, dass der Zusammen-
halt seines Teams besser wurde. Denn die
Köche und das restliche Küchenpersonal,
die gesetzlich nicht am Trinkgeld beteiligt
werden dürfen, gingen dank der umverteil-
ten Servicegebühr mit mehr Geld nach
Hause. Die Küche musste nun nicht mehr
mit kleinen Bestechungen der Kellnerinnen
versuchen, etwas von deren Trinkgeld zu
ergattern, was zu Reibungsverlusten im Ar-
beitsablauf geführt hatte. Auch deshalb
habe sich die Gesamtqualität des Restau-
rants deutlich verbessert, so Porter – und
damit der Umsatz.
Zudem entdeckte Porter, wie stark ein
anderer amerikanischer Mythos beim Trink-
geldgeben wirkt: die Kellnerin als Objekt
sexueller Fantasien. Es waren vor allem
Männer mittleren Alters, die sich lautstark
in The Linkery beschwerten, als ihr Trink-
geld abgelehnt wurde. Für nicht wenige
Männer ist die trinkgeldlose Gastronomie
eine Bedrohung, vermutet Porter. Denn sie
gehen davon aus, dass Kellnerinnen mit
Aussicht auf ein großzügiges Trinkgeld gefü-
giger würden. »Die Vorstellung, mit unseren
Kellnerinnen zu schlafen, ist Amerikanern
wichtig«, sagt Porter.
Allerdings spielen nicht nur Kunden
mit dem Personal ihre Spielchen. Dasselbe
findet auch umgekehrt statt. Verschiedene
Experimente zeigen, wie etwa Kellnerinnen
und Kellner die Gäste hin zu mehr Groß-
zügigkeit manipulieren können. Solche, die
sich bei einer Versuchsanordnung in New
York namentlich bei den Gästen vorstellten,
verdienten zwei Dollar mehr Trinkgeld pro
Tisch als diejenigen, die es nicht taten und
anonym blieben. Lächeln, die Kunden für
das Essen loben, das sie gewählt haben, die
Farbe der Kleidung, sanfte, beiläufige Be-
rührungen am Oberarm – allerdings nicht
beim je anderen Geschlecht! – lassen das
Trinkgeld nachweislich steigen.
Überhaupt ist es nicht allein der Kunde,
der den Dienstleister taxiert – auch diese
Beziehung findet in der umgekehrten Rich-
tung statt. In einer umfangreichen Befra-
gung mit rund tausend Gastro-Beschäftig-
ten fand Michael Lynn heraus, was viele in
der Branche bestätigen: Natürlich sortieren
sie den Gast schon beim Hereinkommen in
eine Trinkgeldklasse ein. In den USA sind
Teenager, Ausländer, Afroamerikaner die
Schlusslichter, während schwule Männer,
Paare beim Rendezvous oder allein essende
Männer als Spitzen-Trinkgeldgeber einge-
ordnet werden. Folge: Das Personal richtet
seinen Service an seinen Erwartungen aus.
»Trinkgeld unterstützt Diskriminierung«,
sagt Bruce McAdams, der 20 Jahre in der
Gastronomie gearbeitet hat und heute an
der kanadischen University of Guelph lehrt.
McAdams ist ebenso wie Jay Porter dafür, zu

einem System überzugehen, in dem wie in
Europa der Service schon im Preis enthalten
ist, oder eine Servicegebühr aufzuschlagen.
In den letzten Jahren sind bereits einige
weitere Restaurants in den USA dazu über-
gegangen, Trinkgeld ganz abzulehnen. Lei-
der ist es aber so einfach nicht.
Lynns Befragung zeigte nämlich auch,
dass 22 Prozent des Servicepersonals unbe-
dingt am bisherigen Trinkgeld festhalten
wollen. Und auch in Europa ist das Trink-
geld schließlich nicht ausgestorben. Tat-
sächlich hat es sich in manchen Ländern als
freundliche Geste erhalten und als weitere
Schicht auf den bereits eingerechneten Ser-
vice gelegt. Offenbar ist den Menschen der
Moderne das Bedürfnis, Trinkgeld zu geben
oder anzunehmen, nicht auszutreiben.
Kommunisten, Anarchisten, aber auch
die italienischen Faschisten unter Mussolini
– sie alle haben versucht, es abzuschaffen.
Vergeblich. George Orwell etwa notierte in
Mein Katalonien, in dem er seine Zeit in der
spanischen Republik 1936/37 beschreibt,
dass im anarchistischen Barcelona bei seiner
Ankunft Trinkgeld plötzlich verpönt war.
Als er einige Monate später von der Bürger-
kriegsfront zurückkehrte, wurden bereits
wieder fröhlich Trinkgelder gezahlt.
Zwar gibt es auch heute noch Länder,
in denen Trinkgeld unüblich ist. Japan,
China und Island gehören dazu. Doch die
Sitte breitet sich mit der Globalisierung
langsam, aber sicher aus. »Im asiatischen
Raum hat der Tourismus regelrechte Trink-
geldschneisen geschlagen«, sagt Winfried
Speitkamp. Es scheint, als müssten wir uns
damit abfinden, dass dieses Phänomen bis
auf Weiteres nicht verschwindet.
Ist das Knäuel an Motiven und Unge-
rechtigkeiten schon irritierend, wird es noch
unübersichtlicher bei der Frage, warum
eigentlich nicht in allen Dienstleistungs-
berufen Trinkgeld gegeben wird. Lynns
Forschungsgruppe ist auch dieser Frage
nachgegangen. Sie untersuchte vor zwei

Die Kellnerin als
Objekt sexueller
Fantasien: Vor allem
Männer mittleren
Alters beschwerten
sich lautstark, als
ein Restaurant in
San Diego das
Trinkgeld abschaffte
Jahren 122 verschiedene Berufe. Dabei stell-
ten sie einerseits fest, dass die Trinkgeldnei-
gung geringer und nicht etwa größer wird,
je enger der Kontakt zwischen Kunde und
Dienstleister ist und je länger er dauert.
Lynn findet dieses Ergebnis »verwirrend«.
Andererseits werden Dienstleistungen, die
vor aller Augen in der Öffentlichkeit aus-
geübt werden, mehr anerkannt. Schlecht für
Klempner, die eine Stunde in der Küche
unter der Spüle klemmen, gut für Kellner,
die auf der Sommerterrasse bedienen.
Überlegen Sie, liebe Leserin, lieber
Leser, nun bitte einmal selbst: Wenn ich
Ihnen diesen Artikel frisch gedruckt per-
sönlich nach Hause bringen würde – wäre
Ihnen das ein Trinkgeld wert? —
Niels Boeing lernte die Vorzüge des Trinkgelds
als Taxifahrer im Berlin der frühen 1990er
schätzen. Heute findet er jedoch, dass Trinkgeld
besser abgeschafft werden sollte – es steht einer
egalitären Gesellschaft nicht gut zu Gesicht.

DAS ZEIT WISSEN GESPRÄCH

Kann man
an der
Kleidung den
Zustand der
Welt ablesen?
Zum Beispiel die Tatsache,
dass künstliche Intelligenz uns
die Arbeit wegnimmt?
Ziehen Sie sich warm an für
ein Gespräch mit der berühmten
Trendforscherin Li Edelkoort

Interview Andreas Lebert und Max Rauner Foto Shin Noguchi


S
ie hat im Münchner Hotel Vier
Jahreszeiten dasselbe Zimmer wie
immer reserviert. So schaffe sie
sich ein Stück Heimat, sagt Lide-
wij Edelkoort, Spitzname »Li«.
Sie leitet in Paris eine Firma, un-
terrichtet an Universitäten in Poznań und
New York, hat einen Landsitz in der Norman-
die und führt eine platonische Liebe in Ams-
terdam. Am folgenden Tag wird sie auf der
Münchner Stoffmesse eine Art Zukunftsschau
abhalten und über Modetrends vortragen. Wir
setzen uns in eine Ecke des plüschigen Hotel-
foyers. Am Ende des zweistündigen Gesprächs
wird sie einen doppelten Wodka bestellen.
Frau Professor Edelkoort, wir möchten
gern Ihr Urteil als Mode-Orakel wissen:
Was sehen Sie in uns anhand der Klei-
dung, die wir tragen?
Max trägt ein Hemd, Andreas ein T-Shirt,
das sind auch heute noch wichtige Codes.
Es gibt ein Comeback der Hemden. Aber
das trifft auf Widerstand, weil wir seit Jahr-
zehnten an T-Shirts und Sweatshirts ge-
wöhnt sind.
Max liegt also mehr im Trend?
Nur wenn er das neue Hemd tragen würde.
Das eine andere Farbe hat?
Es kann schon weiß sein, aber müsste ver-
waschener und gewöhnlicher aussehen. Die
neuen Hemden sind weicher und geschmei-
diger, sie haben keinen verstärkten Kragen.
Das Hemd versucht, ein T-Shirt zu sein.
Außerdem tragen viele Männer es über der
Hose. (Sie schaut unter den Tisch) Tut mir
leid, aber ihr seid nicht modisch angezogen.
Ihr tragt keine Shorts.
Shorts?!
Genau. Vor allem junge Männer tragen die
den ganzen Sommer über. Vor Kurzem war
ich in Seattle, einer sehr progressiven Stadt,
und mir fiel auf, dass die Männer dort keine
langen Hosen mehr tragen. Sogar die Ob-
dachlosen tragen Shorts. Männer wollen
Bein zeigen. Den größten gesellschaftlichen
Wandel sehen wir übrigens in den Män-
nern. Die emanzipieren sich.
Frau Edelkoort, Sie sind berühmt für Ihre
Trendvorhersagen. Unternehmen zahlen
viel Geld für Ihre Trendbücher.
Meine wichtigste Publikation kostet um die
2400 Euro in limitierter Edition. Das klingt
vielleicht teuer, wenn man an ein Buch aus
Papier denkt, aber darin finden sich auch
jede Menge Stoffe und andere Materialien.
Textilien, die ich überall auf der Welt ent-
decke. Die Firmen, die meine Bücher kau-
fen, Mercedes-Benz, Max Mara, Marks &
Spencer oder weniger bekannte, finden alle
etwas darin. Wenn Designer Tuch einkau-
fen, um es zu kopieren, ist das viel teurer.
Verraten Sie uns Ihre Prognose für die
kommenden zwei Jahre?
Vor Kurzem habe ich meine neue Trendvor-
hersage publiziert, und ich nehme Folklore
als Metapher: um zu zeigen, dass das
menschliche Gehirn und die menschliche
Hand in allen Ecken der Welt ähnliche
Dinge hervorbringen. Das Sticken und
Steppen, Falten und Färben, die Fransen
und Bommeln an Decken und Ponchos,
jeder macht das Gleiche. Die berühmte ru-
mänische Bluse, gemalt von Matisse, wird
auch in Mexiko hergestellt, in Albanien,
auch in Marokko. Den langen Rock, das
quadratische Tuch, den lockeren Umhang,
das gibt es in allen Ländern der Welt. Der
quadratische Schnitt ist mit Südamerika
assoziiert, aber es gibt ihn auch in Afrika.
Soll das heißen, diese Mode ist für die
Menschheit universell?
Absolut. Es gibt eine Webtechnik namens
Ikat, damit macht man verschwommene,
bewegte Motive. Man bedruckt das Garn
vor dem Weben, alles sehr aufwendig, wie
höhere Mathematik. Das gibt es in Asien,
in Südamerika, in Teilen Afrikas. Die Tech-
nik ist sehr alt. Unsere Gehirne sind so ver-
drahtet, dass wir nach den gleichen Farben
und Mustern verlangen und dann auch die
gleichen Pigmente nutzen. Es ist auch kein
Zufall, dass alle Länder der Welt weben.
Das klingt etwas mystisch.
Ich glaube fest an eine spirituelle Verbin-
dung, aber diese ist auch eine materielle,
zutiefst menschliche Verbindung. Deshalb
habe ich große Hoffnung, dass die mensch-
liche Spezies überleben wird. Weil wir klug
sind. Ich glaube an die Kraft des Animis-
mus. Einmal habe ich in Singapur ein eth-
nologisches Museum besucht, dort gab es
für jede Insel einen Raum. Jede Insel hatte
andere Ausgangsbedingungen, aber am
Ende fanden sie einen Weg, um zu weben,
Kleidung herzustellen, zu töpfern, Unter-
künfte zu bauen. Mit den Materialien ihrer
jeweiligen Heimat. Es ist so bewegend zu
sehen, wie smart der Homo sapiens von
Anfang an war. Die Archäologie ist gerade
eine meiner wichtigsten Inspirationsquellen.
Wir werden ihren Einfluss in der Mode
sehen, aber auch in der Kunst und im De-
sign. Es ist der Moment, wenn du stolz und
glücklich bist, ein Mensch zu sein.
In Mexiko beklagen indigene Völker, ihre
traditionellen Motive würden von interna-
tionalen Modekonzernen plagiiert.
Das ist der große Streit um kulturelle Ent-
eignung. Es ist in der Tat skandalös, wie res-
pektlos diese Motive aus dem Internet ge-
klaut werden, ohne dass jemand diese
Menschen besucht oder ihre Arbeit aner-
kennt. Oft werden die Muster auf Polyester
gedruckt. Einige junge Menschen sind da
sehr sensibel: Als sich eine Studentin für
Halloween als Pocahontas verkleidet hatte,
warfen sich andere Frauen in hysterischem
Protest auf den Boden. Die University of
Toronto musste ein Yoga-Seminar strei-
chen, weil Yoga seinen Ursprung in Indien
hat. Aber wenn man das konsequent weiter-
denkt, dürften wir keinen Tee trinken,
keine Kiwi oder Banane essen, keine Kar-
toffeln, es wäre das Ende aller Kultur. Eine
gefährliche Entwicklung.
Wem gehören die Motive der mexikani-
schen Stämme?
Ich meine, dass man keine Motive besitzen
kann. Auch deshalb habe ich die Folklore
für meine jüngste Studie ausgewählt: um zu
zeigen, wie sehr sich das Handwerk rund
um den Globus gleicht. Ich wette mit je-
dem, dass ich woanders ähnliche Muster
finden kann. Diese Symbole sind universell.
Allerdings erwarte ich von unseren soge-
nannten kreativen Industrien – die in
schwierigen Zeiten sind, weil sie vor lauter
Geldscheffeln keine Zeit mehr haben,
kreativ zu sein –, andere Kulturen zu res-
pektieren und zu verstehen. Dann können
sie ihre eigene Interpretation anstellen. Du
kannst nicht einfach kopieren und nachah-
men. Aber das gilt eigentlich für alle Dinge.
Die neuen Taschen von Louis Vuitton mit
Motiven klassischer Meister, signiert von
Jeff Koons, sind eine Schande.
Wo sehen Sie Folklore als Trend?
Schon im letzten Sommer sah man an der
Foto Matthieu Salvaing / OTTO Archive
Kleidung von Frauen viele folkloristische
Details, auch wenn niemand sie so genannt
hat. Lange Röcke, Schuhe und Textilien
mit Stickereien und Fantasy. Wir sehen
Blusen, die an Landarbeiterinnen erinnern,
und große Ohrringe. Auf dem amerikani-
schen Cover der Vogue sieht man Kopf-
schmuck wie von Frida Kahlo, sehr mexika-
nisch. Aber noch mal, diese Dinge sieht
 

Li Edelkoort, geboren 1950 im

niederländischen Wageningen,
ist eine der bekanntesten
Trendforscherinnen. Seit mehr
als 40 Jahren berät sie mit
ihrer Firma Trend Union die
Modeindustrie, später dann
auch Konzerne wie Coca-Cola,
Nissan, Time Warner und
Siemens sowie Städte und
Gemeinden. »Time« zählte
Edelkoort zu den 25 einfluss-
reichsten Menschen in der
Modebranche. Sie wurde mit
dem französischen Orden der
Künste und der Literatur, dem
Orden von Oranien-Nassau und
vielen Preisen ausgezeichnet.

man überall. Sogar als Stirnband aus Plastik
bei der Fußball-WM in Russland. Wir ha-
ben schon mehrere Saisons daran gearbei-
tet, aber jetzt nehme ich Folklore als Haupt-
richtung in mein Trendbuch auf.
Menschen, die mit Ihnen zusammenar-
beiten, loben Ihre Intuition. Was machen
Sie genau?
Ich sammle nur auf, was schon da ist. All
diese Puzzlesteine an Informationen sind
schon da draußen, man muss nur zuhören
und sehen und fühlen und seine Intuition
anwenden. Die Intuition dient bekanntlich
dazu, uns in Gefahrensituationen zu helfen,
aber sie ist auch ein super Werkzeug, denn
sie zaudert nie. Ich habe endlich verstan-
den, dass das, was wir Intuition nennen,
nicht uns gehört. Intuition ist ein bisschen
von allen anderen in dir. Und du darfst
dieses Werkzeug nutzen. Wenn du ihm
Aufmerksamkeit schenkst und es pflegst,
funktioniert es von Tag zu Tag besser.
Und daraus entsteht dann also ein Buch?
Meine Art zu arbeiten hat sich geändert.
Meine Bücher handeln nicht mehr nur von
Trends, sondern von Anthropologie, sozia-
len Bewegungen, Philosophie. Was ich hier
auf der Münchner Stoffmesse zeige, sind
Wegweiser für den Winter nächsten Jahres,
und diese Arbeit nenne ich »Erleuchtung«.
Es geht um den Einfluss der Spiritualität
auf die Mode. Bevor alle wie Mönche rum-
laufen, muss noch etwas Zeit ins Land ge-
hen. Vielleicht will auch nicht jeder wie ein
Mönch aussehen, selbst wenn die Hoodies
diesen Eindruck erwecken. Meine Wegwei-
ser richten sich jedenfalls an Hersteller und
Designer, damit sie neue Stoffe, Farben und
Schnitte verstehen, die neue Philosophie,
die neue Richtung.
Wenn Sie versuchen vorherzusagen, wel-
che Farbe kommt, filtern Sie also die Ein-
drücke Ihres Alltags, und dann wachen Sie
eines Tages auf und sagen: Die Zukunft
wird braun oder gelb oder pink.
Exakt, sie wird braun.
Braun?
Das ist die erste Farbe die sie erwähnt ha-
ben, das ist Ihre Intuition. Es ist verrückt,
weil wir Braun ein Vierteljahrhundert nicht
gesehen haben, und jetzt kommt es wieder.
Hoffentlich nicht das Braun der Rechts-
extremen.
Alle Sorten von Braun. Beige gehört auch
zu dieser warmen Familie. Und Sand- und
Erdtöne. Es wird aber nicht die einzige
Farbe sein, weil wir in dieser multipolaren
Welt leben. Es gibt vieles auf einmal. Pink
zum Beispiel wächst seit mehr als 20 Jahren.
Mit Pink wurden Sie berühmt, oder?
Ja, dafür, dass ich Pink sehr früh gesehen
habe. Die Farbe sieht gut an Männern aus.
Mein Partner, zehn Jahre älter als ich, trägt
Pink sehr oft. Vichy-Shorts und pinkes Po-
loshirt, passt super zu weißem Haar. Und
jetzt haben australische Forscher auch noch
herausgefunden, dass Pink die älteste Farbe
der Welt ist. Dinosaurier-Pink.
Wie hat sich das Trendscouting über die
Jahre verändert?
Früher hatten wir vier oder fünf Strömungen
in der Modeindustrie, eine romantische,
»Deine
Intuition
gehört nicht
dir. Sie ist
ein Teil aller
Menschen«
eine aktive, eine zukunftsorientierte, eine
ethnische. Es war leicht vorherzusagen. In-
nerhalb von zwei Jahren sickerten die Sa-
chen von den Designern in den Main-
stream. Es gab nicht so viel Inspiration wie
heute, nicht so eine Überstimulation. Die
Leute blieben auf ihrem Pfad.
Über welche Zeit reden Sie?
Die Siebziger, Achtziger, Anfang der Neun-
ziger. Heute befinden wir uns im Turm von
Babylon. Keiner versteht mehr eine andere
Sprache, die Menschen können nicht mehr
miteinander kommunizieren. Es gibt viele
parallele Strömungen, die aber nicht zum
Ende kommen, weil es so viele Stile zur
Auswahl gibt. Es gibt keinen Überdruss,
alles bleibt. Es ist wie ein Riesensandwich
mit vielen Lagen.
Anything goes?
Das stimmt nicht ganz, weil es selbst in
diesem Chaos Trends gibt, zum Beispiel das
Hemd versus das T-Shirt oder die weite
Palazzohose, die die enge Hose ersetzen
wird. Es gibt also Momente, in denen das
Sandwich sich verändert, und diese kleinen
Dinge kann ich vorhersagen.
Lassen Sie uns als Beispiel die zerschlisse-
ne Jeans nehmen. Sie ist überall.
Das ist noch so ein Teil, dessen Zeit abläuft.
Jetzt sehe ich die in Marokko und in der
Normandie, und wenn sie auf diesen Märk-
ten auftauchen, weiß ich, dass das Ende
naht. Die Leute haben jetzt dunklere Jeans
aus schwerem Stoff, nicht so verwaschen,
mit mehr Volumen, weg vom Slim Fit. Das
ist nicht einfach, denn die junge Generation
wurde buchstäblich in eine durchlöcherte
Jeans hineingeboren. Sie hatte auch nie et-
was oberhalb der Hüfte. Die Jungen wussten
bis vor Kurzem nicht, wo ihre Taille sitzt.
Wenn sie eine Hose mit hoher Taille tru-
gen, fühlten sie sich eingesperrt. Und weil
die Menschen unbeschwert leben wollen,
werden einige Ideen nur auf Modefotos zu
sehen sein, aber keine Früchte tragen.
Würden wir eine Jeans kaufen, lautet Ihre
Empfehlung also: dunkel und schwer.
Außerdem sollte sie lang sein, damit man
sie umschlagen kann. So hat die Tochter
auch noch etwas davon, denn der männli-
che Schnitt ist heute wichtig für Mädchen.
Sie kaufen also eine Familienjeans.
Stimmt es, dass die Rocklänge mit dem
Bruttoinlandsprodukt steht und fällt?
Nicht die Rocklänge, aber die Taille. In der
Großen Depression war es die niedrige Tail-
le der Tanzkleider, die den großen Crash
ankündigte. In der Finanzkrise von 2008
waren die Hosen auf einem Tiefstand.
Hohe Taille heißt florierende Wirtschaft.
Und die Breite der Krawatten ...
Ich glaube nicht mehr an dieses Zeug.
Was sagt uns die zerschlissene Jeans über
die Welt?
Die sieht so aus, als stammte sie vom Groß-
vater, der Schreiner war. Alles soll Vintage
sein und so wirken, als sei da Leben drin.
Die Menschen interessieren sich nicht so
sehr für Neues. Das Alte motiviert sie. Das
Alte ist das Neue. Es gibt ein tiefes Bedürf-
nis nach Erzählungen.
Seit wann?
Das fing damit an, wie die Bush-Regierung
mit 9/11 umgegangen ist. Anstatt die Em-
pathie der Welt anzunehmen, zettelte sie
einen Krieg an. Aus den falschen Gründen.
Seitdem durchschauen wir nicht mehr, wer
recht hat, wer falsch liegt, wer Feind ist, wer

Freund. Stattdessen wurde das Storytelling
wichtig, das Erzählen von Geschichten. Die
ganzen Marketingleute sagen nun: Die
Menschen wollen nicht einfach einkaufen
gehen, sie suchen Erfahrungen. Also müssen
wir ihnen Geschichten erzählen, um den
Dingen ein Leben einzuhauchen, das sie nie
gehabt haben.
Was kommt nach dem Erzählen?
Abstraktion. Die lauert im Hintergrund.
Was meinen Sie damit?
Es geht um eine Ästhetik, die nicht erzäh-
lerisch ist. Die Abstraktion wäre längst da,
wenn wir nicht in so einer chaotischen Epo-
che leben würden.
Was für eine Mode wäre das? Schlicht, re-
duziert, ohne Textur?
Nein, die neue Mode wird Textur haben.
Auch ein abstraktes Bild hat eine Textur,
einen Pinselstrich. Eine abstrakte Skulptur
füllt einen Raum aus, aber das bedeutet
nicht, dass dieser Raum uns an eine be-
stimmte Epoche erinnern muss. Ich spiele
die ganze Zeit mit der Idee der Abstraktion,
muss sie aber jedes Jahr wieder zurückstel-
len, weil die Zeit noch nicht reif ist. Ich bin
überzeugt, dass sie kommt, wenn wir in
besseren Zeiten leben.
Das Digitale ist auch etwas Abstraktes.
Ja, das ist ein weiterer Grund, warum wir
uns entfremdet fühlen. Und deshalb ist das
Fühlen, das Anfassen so wichtig geworden:
Je mehr Bildschirme in unserem Leben
sind, desto eher müssen wir berühren. Im-
mer mehr Dinge bekommen eine Struktur.
Selbst Seife, Plastikflaschen, sogar Papier
oder Salz sollen sich in unseren Fingern
angenehm anfühlen, ja uns verführen.
Mode ist immer von der Vergangenheit
beeinflusst worden. Es ist ein permanentes
Revival der Zwanziger, Dreißiger, Siebzi-
ger. Wo kommt da die Zukunft ins Spiel?
Das ist nur eine Erzählung der Journalisten,
die mit einer Krise der Modefotografie zu-
sammentrifft. Ein Fotograf kann heute eine
Karriere darauf aufbauen, ein altes Motiv
ständig neu zu arrangieren. Damit sta-
gniert die Kultur. Andererseits gibt es in
der Mode viele Sachen, die wir noch nie
zuvor gesehen haben.
Sie haben selbst gesagt, dass Mode keine
Avantgarde mehr ist.
Früher konnte ich blind darauf vertrauen,
dass die Mode mich auf neue gesellschaft-
liche Trends aufmerksam macht. Das
stimmt heute so nicht mehr.
Wann hat sich das geändert?
Vor sechs, sieben Jahren, vielleicht auch et-
was davor. Auf einmal war die Gesellschaft
der Mode voraus. Es gibt historisch eine
Wechselbeziehung zwischen Mode, Archi-
tektur und Musik. Die Kleider der Charles-
ton-Ära hatten ihr Design, weil emanzi-
pierte Mädchen wie Jungs aussehen, aber
weiterhin Kleider tragen wollten. Nicht
sehr lang, flacher Busen, Kurzhaarschnitt,
verrückte Schuhe. Die Mode spiegelte stets
die Gesellschaft wider. Ob wir wie arme
Leute aussehen wollten, minimalistisch,
gesund oder was auch gerade angesagt war,
Sie konnten das an der Mode ablesen. Jetzt
nicht mehr. Während meiner Zeit an der
»Die EU
müsste
Mindestpreise
für T-Shirts
und Bikinis
festsetzen«
Design-Akademie in Eindhoven haben mir
die Studenten beigebracht, dass sie Verän-
derung wollen. Sie wollten miteinander ar-
beiten, in Teams, nicht mehr für sich. Der
Individualismus verschwand. Aber die
Mode bildet das nicht ab. Es gibt Starde-
signer, die wie Fußballspieler bezahlt wer-
den, und es gibt die Sklaven in den Design-
studios, anonyme Gestalten hinter den
Kulissen. Mode wird altmodisch.
In Ihrem Anti-Fashion-Manifest von 2015
kritisieren Sie die Modeindustrie für ihren
Mangel an sozialer und an Umweltverant-
wortung. War die Textilindustrie nicht
immer in die Schattenseiten des Kapitalis-
mus verstrickt, vom Aufstand der Weber
bis zu den Konsumvideos auf YouTube?
Ich will nicht sagen, dass alles schlecht war.
Die Textilindustrie hat den Menschen Wär-
me, Schutz und Fürsorge gegeben. Sie hat
Menschen Noblesse verliehen, sie hat Men-
schen gehätschelt, ihnen Orientierung und

Persönlichkeit gegeben. Erst in den letzten
25 Jahren ist sie aus den Fugen geraten.
Aber ehrliche Herstellung, ehrliches Fli-
cken, ehrliches Färben, ehrliches Schaffen
werden immer eine Zukunft haben.
Müssen wir Verbraucher die Modeindus-
trie verändern? Oder der Staat?
Tatsächlich beide. Die EU müsste Mindest-
preise für Kleidung festsetzen. Für land-
wirtschaftliche Produkte haben sie das ja
auch getan, warum nicht auch für Bikinis
und T-Shirts? Die Öffentlichkeit ahnt
nicht, dass Baumwolle eine Saat ist, aus der
neue Pflanzen wachsen, dass die Ernte äu-
ßerst schmerzhaft ist, dass man Baumwolle
kämmen und zu Garn spinnen muss, das
dieses Garn dann gewoben oder gestrickt,
geschnitten, genäht und verziert werden
muss. Dann müssen Sie das Ganze waschen,
mit einem Etikett versehen, manchmal
wird die Kleidung außerdem bedruckt, an-
schließend verpackt und verschickt. Im Ge-
schäft muss jemand sie aus der Verpackung
nehmen, auf Bügel hängen und mithilfe
von Wasserdampf vorzeigbar machen. Wie
viele Schritte sind das, zwanzig vielleicht?
Und dann wird ein T-Shirt für den Preis
eines Sandwiches verkauft? Das ist ein Un-
ding! Leute verhungern dafür und werden
als Sklaven gehalten.
Was ist der Wert eines T-Shirts?
Ein schönes weißes T-Shirt kann aus je-
mandem eine Person machen.
Zu welchem Preis?
Ich bin kein Spezialist, deshalb weiß ich
nicht, wie hoch er sein müsste. Ich schätze,
25 bis 30 Euro müssten es mindestens sein.
So teuer wie ein Buch. Ebenso ein Bikini,
denn an dem muss viel genäht werden. Die
Jeans, über die wir gesprochen haben, eine
schwere Levi’s, die hat in den Achtzigern
100 D-Mark gekostet. Die Leute haben ihr
Geld nicht für andere Sachen ausgegeben,
weil sie dieses fantastische Markending ha-
ben wollten. Heute halten wir diesen gan-
zen billigen Kram für selbstverständlich.
Kein Gesetz besagt, dass Waren immer bil-
liger werden müssen.
Andererseits ist das eine Demokratisie-
rung von Mode. Die Leute können sich
ein Kleid für 20 Euro kaufen.
Als ich ein Kind war, in der Nachkriegszeit,
gab es fast keine Mode. Also kaufte ich mir
in der Abteilung für Herrenunterwäsche
ein Männer-T-Shirt. Ich färbte es, kaufte
Damenstrümpfe, die färbte ich genauso,

ZURÜCK
IN DIE
ZUKUNFT
Seit Jahrzehnten sagt Lidewij
Edelkoort die Trends von
morgen vorher. Ein Rückblick
Von der Fachpresse wird sie als Guru,
Stil-Meteorologin oder Prophetin
gefeiert. Niemand sage Trends so
zielsicher vorher wie Li Edelkoort.
Eine Auswahl: 1986 begegnet sie
allerorten Teddy-Motiven und prophe-
zeit eine neue Zärtlichkeit. Industrie-
und Elektrogeräte würden abgerun-
dete Ecken bekommen, Kleider
blumige Muster. 1995 rechnet sie für
die folgenden zehn Jahre mit einer
»eher egoistischen Phase«. Familie
und Vergnügen würden wichtiger,
Karriere nicht um jeden Preis. Außer-
dem würden mehr Menschen künftig
am Computer von zu Hause aus
arbeiten. 1997: Pink wird kommen.
1999 gibt sie die Parole für das neue
Jahrhundert aus: Zurück zur Natur.
Die Leute werden mehr gärtnern.
Mädchen werden Blau tragen, Jungs
Pink. 2001: Sie sieht urige Landhaus-
küchen mit Hightech-Geräten kom-
men. 2002: Das Design wird Nester
imitieren, zum Beispiel kleine Tische
unter großen, Materialien wie Korb,
Federn, Holz. 2003: »Kleidung aus den
Kampfsportarten wie Boxen, Fechten,
Karate wird Zukunft haben.« 2005:
Das Leben verlagere sich vom Wohn-
zimmer in Küche, Bad und Schlaf-
zimmer. 2007: Sie prophezeit den
Wellnesstrend und sieht alpenländi-
sche Idylle und regionale Produkte im
Kommen. »Kaufen Sie einen Bauern-
hof.« Ihre Vorhersage von 2009 für den
Winter 2011/12: Schuhe und Schals in
Knallfarben, Mäntel, die wie Morgen-
mäntel aussehen. 2015: Gelb, jetzt im
vierten Jahr, ist das neue Pink. 2015
verfasst Edelkoort auch ihr viel disku-
tiertes Anti-Fashion-Manifest. Darin
prangert sie den Starkult, die Arbeits-
bedingungen und die Ressourcenver-
schwendung in der Modeindustrie an.
und tat dasselbe mit kleinen Stiefeln, und
schon hatte ich ein einfarbiges Mini-Dress.
Ich sah super aus. Oder ich holte mir einen
schwarzen Overall, wie man ihn im Korea-
krieg trug, mit weißem Hemd und Filzhut
dazu, und dann ging ich in Paris ins Cou-
pole. Ich bekam Ovationen für meine Klei-
dung. Sie können sich mit allem, was sich
finden lässt, gut anziehen. Sie können Kla-
motten auf der Straße finden, sie ändern
oder reparieren. Weil wir so viel kaufen,
ziehen wir uns schlechter an, denn wir wis-
sen nicht mehr, was zusammenpasst. Stellen
Sie sich vor, Sie sind im Urlaub und haben
nur eine Tasche dabei. Dann kombinieren
Sie zwei alte Kleidungsstücke und denken:
Wow, ich habe ein neues Outfit. Wenn man
wenig hat, wird man kreativ. Viel zu haben
macht ideenlos, und wir sind total ideenlos
geworden. Leute bekommen beim Shoppen
Panikattacken, weil das Angebot zu groß
ist. Wir machen ja nicht mal mehr die Tü-
ten auf, wenn wir vom Einkaufen kommen.
Manche Kleidung wird nie getragen.
Überkonsum hat die Menschen in Zombies
verwandelt. Ich glaube, am meisten bereuen
sie, dass sie die Freude am Einkaufen ver-
loren haben, also das Glück von wohldo-
siertem Konsum. Ich bin überzeugt, dass
wir wieder dahin kommen können, wenn
wir die Maschine anhalten. Das ist genauso
wie mit Biolebensmitteln. Die sind etwas
teurer, also sage ich mir, ich kaufe weniger
Fleisch, mache mir stattdessen einen Salat.
So fängt man an, sein Verhalten zu ändern,
und man isst auch interessantere Sachen.
Das macht einen kreativer.
Online- und Offline-Shops bieten Un-
mengen Kleidung an. Wie kann man da
seinen eigenen Stil finden?
Jeder Mensch hat ein Lieblingsalter. Für ei-
nige ist es die Jugend, für andere sind es
spätere Lebensjahre. Mit einem Mal passt
alles zusammen. Die ganze Zeit hast du al-
les Mögliche ausprobiert, aber du spürst,
dass du noch nicht da bist, noch nicht ge-
reift. Und dann, eines Tages, probiert man
etwas aus, betrachtet sich im Spiegel und
sagt sich: Hier bin ich endlich. Das bin ich.
Und dann hält man für den Rest seines
Lebens daran fest.
Das geht auch noch mit 50 oder 60?
Klar. Du fühlst dich plötzlich wohl in dei-
ner Haut. Du machst dir keine Gedanken
mehr darüber, was die anderen denken. Du
hast die Menopause hinter dir, und plötz-
lich sprühst du vor Energie, du fühlst dich
ganz jung. Manch einer wird in der zweiten
Lebenshälfte eine ganz neue Person, mit
einer neuen Vision. Man entscheidet sich,
mehr Dinge zu tun, die einem gefallen, und
nicht die Dinge, von denen du glaubst,
man müsse sie tun.
Hatten Sie einen solchen Moment in Ih-
rem Leben?
Ja. Ich ziehe mich schon seit sehr langer
Zeit gleich an.
Wann fing das an?
In den Neunzigerjahren, glaube ich. Ich
habe die Neunziger geliebt, das war eine
spirituelle und ökologische Phase mit Kon-
zeptkleidung.
Wie hat die #MeToo-Debatte die Mode
verändert?
Ich habe gerade ein Buch über Kleidung,
die mit Aussagen verbunden ist, veröffent-
licht. Ich nenne sie Aktivismus-Kleidung.
Denn es geht darum, rauszugehen und zu
sagen, was zu sagen ist. Für mich gibt es
zwei Erzählungen über Emanzipation. Die
eine handelt von der Frau als starker Kämp-
ferin, als Boxerin, die lernt, sich zu verteidi-
gen, die zeigt, dass sie ein echter Gegner ist.
Die andere Emanzipation heißt: feminine
Farben, Lingerie, Spitzen, Vagina. Ich habe
dazu alle möglichen Bilder und Kunstwerke
gesammelt, die von unseren intimsten Stel-
len handeln. Ich sehe die Gefahr, dass die
Gesellschaft sagt: Wenn du nicht miss-
Foto Kopfschmuck »La Dormeuse de Nantes« (1860–1910), aus der Serie »Bretonnes« von Charles Fréger
braucht werden willst, kleide dich herme-
tisch. Das würde Nacktheit, körperliche
Unzulänglichkeiten und Sexyness aus der
Gleichung nehmen, und das fände ich sehr
unfair. Es gibt also diese Auseinanderset-
zung: Wie kann ich ganz weiblich bleiben
und stark zugleich sein? Wie gleicht man
diese beiden Aspekte aus? Wie werden wir
in Zukunft verführen? Männer und Frauen
müssen eine neue Sprache finden.
Sie sagten, die größte Veränderung in der
Gesellschaft passiere mit den Männern.
Vor etwa zwölf Jahren haben Männer plötz-
lich entdeckt, dass sie Väter sein wollen. Sie
wollen nicht nur den Samen geben, son-
dern sich um die Babys kümmern. Das ist
eine erstaunliche Veränderung. Vorher hat-
ten Frauen diese Last allein zu tragen. Jetzt
kümmern sich Männer um die Erziehung
und die medizinische Versorgung der Klei-
nen. Sie bekommen eine Vorstellung von
der Zukunft einer neuen Generation. Eine
Vorstellung vom Frieden. Vielleicht sorgen
 

Die Folklore kommt zurück,

sagt Li Edelkoort.
Hier eine traditionelle
Kopfbedeckung, wie sie in der
Bretagne getragen wird

sie sich um die Umweltzerstörung, die ihre
Kinder und Enkel gefährdet. Das macht sie
sanftmütiger. Auch die weiche Babyhaut,
der Geruch des Babys, die Intimität mit
dem Kind – das bricht das männliche
Selbstbild auf. Chanel bringt gerade eine
Make-up-Kollektion für Männer heraus.
Und was ist mit den Frauen?
Wir sind ratlos. Die Frauen wissen nicht,
wie sie sich zu diesen neuen Vätern positio-
nieren sollen. Insgeheim suchen sie immer
noch einen starken Mann. Mir tun die
Mädchen von heute sehr leid. Es gibt keine
richtige Beziehung mehr zwischen Män-
nern und Frauen. Vor drei Jahren habe ich
ein Geburtstagsdinner gegeben. Ich wusste
erst nicht, wie ich die Gäste platzieren soll-
te, es sind jedes Jahr dieselben Leute. Ich
entschied mich für eine radikale Variante:
in einem Raum der Frauentisch, in einem
anderen der Männertisch. Das Essen war
für alle das gleiche. Ich verriet niemandem
meinen Plan. Als sie kamen, ließ ich sie wie
jedes Jahr ihr Namensschild suchen. Als sie
dann alle saßen, begriffen sie, dass dieses
Dinner geschlechtsspezifisch war.
Was passierte dann?
Es war das erfolgreichste Dinner, das ich je
gegeben habe. Da war Erleichterung zu
spüren, dass man keinen beeindrucken
musste. Am Ende sind wir dann zusam-
mengekommen, haben Musik gehört und
das Dessert zusammen gegessen. Es war für
beide Seiten so eine Freude.
Es gibt den neuen Mann, es gibt aber auch
den »angry white man«.
Ja, die verzweifelten weißen Männer in den
USA. Es sind schwere Zeiten für sie, weil sie
Angst haben, ihre Macht als Spezies zu ver-
lieren. Deshalb tun sie sich mit Russland
zusammen, um neues weißes Blut hinein-
zubringen. Angst macht Menschen wütend.
Am Ende werden die Väter gewinnen, aber
sie müssen erst um ihre Zukunft kämpfen.
Warum beschäftigen Sie sich eigentlich
auch mit künstlicher Intelligenz?
Ich habe zwei Kunden in Japan verloren,
die alle ihre Designer gefeuert haben. Die
Kleider werden jetzt mit Computern und
künstlicher Intelligenz entworfen. Für mich
ist das die größte Bedrohung, größer als
der Klimawandel. Wenn wir eine Welt
ohne Arbeit schaffen, eine Welt, in der man
sich nicht verwirklichen kann, werden wir
damit nicht zurechtkommen. Nicht jeder
kann Chefkoch, Maler oder Gärtner sein,
Jobs, die gegen die Automatisierung im-
mun sein könnten. Ist es in Ordnung, dass
ein Prozent der Gesellschaft noch reicher
wird, weil es über Heerscharen von Robo-
tern verfügt, die sich niemals krankmelden
und nicht streiken? Wir müssen uns etwas
ganz anderes überlegen. Das Gute muss
über das Böse siegen, in einem radikal bib-
lischen Sinn. Ich setze meine Hoffnung da-
rauf, dass die nächste Generation sagt: Vie-
len Dank für das Chaos, das ihr in der Welt
angerichtet habt, aber wir bringen das in
Ordnung. Es gibt bereits Anzeichen bei den
Jüngeren, dass sie nicht mehr so viel besit-
zen wollen. Sie brauchen kein Einfamilien-
haus, keine Uhr, kein Auto. Wie sie sich
»Zwischen
Männern
und Frauen
gibt es keine
Beziehung
mehr«
gegen die Waffenlobby in den USA zur
Wehr gesetzt haben, hat mich ziemlich be-
eindruckt, 50 Jahre nach den Studenten-
protesten in Paris: Das war eine Art Echo.
Sie unterrichten an der Parsons School of
Design in New York. Was ist Ihre Mission?
Ich will Silicon Valley und Hudson Valley
zusammenbringen und daraus eine hybride
Gesellschaft schaffen.
Hudson Valley?
Hudson Valley liegt weiter nördlich im
Bundesstaat New York. Dort gibt es Schafe,
Naturgarn, Handwerk. Und das beeinflusst
die Designszene in New York. Auf der an-
deren Seite gibt es Hightech und Biotech
im Silicon Valley. Beiden Tälern geht es um
eine lebenswerte Welt, und ich glaube, dass
sie dafür einander brauchen. Wir brauchen
eine Fusion aus Hightech und langsamem
Handwerk. Ich habe einen Master-Textil-
Kurs konzipiert, weil ich glaube, dass Tex-
tilien das Material des 21. Jahrhunderts
sind. Wir werden damit Häuser, Brücken,
Flugzeuge bauen. Wir werden sie für die
Gesundheit einsetzen. Fast alle Industrien
werden mit Textilien arbeiten.
Ein Flugzeug aus Wolle?
Nein, ich meine aus Karbonfasern und an-
deren Materialien gewebte Flugzeuge.
Wolle wird wahrscheinlich im Häuserbau
eingesetzt werden.
Sie haben auch ein Comeback der Arbeits-
kleidung vorhergesagt. Warum?
Der Blaumann ist sehr beliebt. Hier wird
Mode wieder zur Prognose. Wir werden
Arbeitskleidung deshalb so lieben, weil un-
sere Arbeit an Roboter verloren geht. Auch
Schürzen sind wieder im Kommen. In zwei
Jahren möchte ich Prognosen für das Jahr
2050 veröffentlichen. Der Arbeitstitel des
Buchs lautet im Moment »Das Zeitalter des
Amateurs«. Ich glaube, dass der Amateur
die Leitfigur wird. Amateur bedeutet ja im
Französischen auch, dass man Dinge liebt.
Wenn man ein Instrument spielt, akrobati-
sche Sachen macht, schreibt, designt, Thea-
ter macht, ist man dabei ein Amateur.
Die Tragik der Amateure ist, dass sie für
ihre Leidenschaft nicht bezahlt werden.
Vielleicht finden wir dafür eine neue Lö-
sung. Amateure werden Geschichte schrei-
ben. Ich glaube ganz fest, dass wir uns vom
Kern her neu erfinden müssen. Das hat
mich auf das Konzept des Autodidakten
und des Amateurs gebracht. Die Zukunft
liegt in uns selbst.
Können Sie uns Ihre kühnste Prognose für
2050 nennen? Die werden wir dann auf-
heben und in 32 Jahren nachschauen, ob
Sie recht behalten haben.
Ich fange gerade erst mit der Arbeit daran
an. Das Zeitalter des Amateurs auszurufen,
finde ich schon ziemlich kühn. Ich bin aber
weniger optimistisch als früher, weil wir
wohl in die letzte Etappe der Menschheit
eintreten. Wir sind eine gefährdete Art.
Werden wir Menschen überleben oder
nicht? Überall Chaos, überall Angst, überall
geht die Umwelt zugrunde. Ich habe mich
aber schon entschieden, dass die Mensch-
lichkeit gewinnen wird. Ich kann nicht
glauben, dass wir uns selbst umbringen. —
Andreas Lebert und Max Rauner bereiten
sich eigentlich schon ihr Leben lang auf dieses
Gespräch vor. Der eine mit dem Entschluss,
niemals kurze Hosen zu tragen, der andere mit
den Strickpullis aus dem Wollladen seiner Oma.
 Prof. Dr. med. Dipl.-Päd.
Kerstin M. Oltmanns,
Universität zu Lübeck

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Die letzte Meile
In der Stadt stehen die Pakete im Stau.
Auf dem Land ist das Internet zu langsam.
Die beiden Probleme haben etwas gemein: Manchmal
entscheidet sich die Zukunft kurz vor dem Ziel.

Text Max Rauner Illustrationen Anthony Zinonos


D
ie Berliner haben etwas be-
stellt, Andreas Butzengeiger
bringt es ihnen. An einem
Dienstag im August sind es
Pakete von Tchibo, nie-
wiederbohren.de, baby-
walz, Bonprix, Amazon, Rebuy, Decathlon,
Zalando, O₂, Lidl und ein paar privaten
Absendern. Um neun Uhr morgens steht
Butzengeiger vor einem DHL-Container
im Prenzlauer Berg und legt die Pakete für
die Cantianstraße in sein Lastenrad, er sor-
tiert sie nach Hausnummern. Dann tauscht
er seine Lesebrille gegen die Sonnenbrille
und setzt sich den Fahrradhelm auf. Hand-
bremse lösen, Motorunterstützung ein-
schalten, ein leises Surren, schon gleitet der
DHL-Bote zurück in die Zukunft.
Cantianstraße 4. »Guten Tag, hier ist
DHL, ich habe ein Paket für Sie.«
Früher lieferte Andreas Butzengeiger
Pakete mit einem dieser gelben DHL-Trans-
porter aus. Er wurde angehupt und ange-
motzt, wenn er in zweiter Reihe parkte. Seit
Juni ist er nun mit dem Lastenrad unter-
wegs. Es ist ein ungewöhnliches Gefährt aus
schwedischer Produktion, ein Liegerad mit
Bremslicht und einer kühlschrankgroßen
Box hinter dem Fahrer. »Damit sind wir hier
die Stars«, sagt Butzengeiger. Die Menschen
meckern nicht mehr, sie fotografieren ihn.
»Das ist ein anderes Gefühl, als wenn man mit
dem Transporter ständig andere behindert.«
Auf dem breiten Gehweg der Cantianstraße
fährt er im Schritttempo von Haus zu Haus
wie sonst nur die Briefträger. Zwei Hand-
werker sprechen ihn an. »Dat is’n Anfang«,
sagt der eine. »Jeder Tropfen macht was. Ick
find dat jut.« Ein Trupp Kita-Kinder bleibt
stehen und glotzt.
Die Empfänger sehen es ihren Paketen
nicht an, aber das hier könnte der Beginn
von etwas Großem sein. Denn vom Paket-
depot im Prenzlauer Berg sind noch weitere
Radfahrer ausgeschwärmt: die von UPS,
DPD, Hermes und GLS. Die Konkurrenz
ist an diesem Ort zusammengerückt, weil
Deutschland gerade ein Problem mit den
Paketen hat: Die Menschen bestellen immer
mehr im Internet. Mehr Pakete gleich mehr
Verkehr, mehr Lärm, mehr Dreck. Außer-
dem gehen der Branche die Fahrer aus.
Die Paketdienste sind zwar nur ein
kleiner Teil des täglichen Chaos in den
Städten, aber sie sind der sichtbarste Teil. In
Berlin testen sie deshalb die Zustellung per
Lastenrad von einem »Mikrodepot« aus,
einem gemeinsam genutzten Gelände mit-
ten im Zustellbezirk. Jede Firma bringt ihre
Fracht morgens mit einem Lieferwagen und
verteilt sie anschließend mit eigenen Lasten-
rädern. Zur hoffnungsfrohen Eröffnung
kam sogar die Bundesumweltministerin.
Es geht um »die letzte Meile«. So nen-
nen Logistiker den Weg vom Paketzentrum
zum Endkunden. Das ist nicht wörtlich
gemeint, denn der Weg ist natürlich nicht
genau eine Meile lang, und in Meilen rechnet
hier sowieso niemand. Aber vielleicht ist es
kein Zufall, dass die letzte Meile in der
Logistik-Branche ebenso wie im Internet-
Ausbau zum geflügelten Wort geworden ist:
Beim Marathonlaufen ist die letzte Meile die
gefährlichste. Der Grund ist, dass die Läufer
am Ende noch mal ordentlich aufdrehen.
Nicht jeder ist dafür ausreichend trainiert.
Selbst wer 99 Meilen
lang alles richtig
macht, kann auf der
letzten Meile noch
alles versemmeln
Einer von 100.000 Marathonteilnehmern
stirbt an Herzversagen. Auf der letzten
Meile verzeichnet die Statistik knapp die
Hälfte dieser Todesfälle.
In amerikanischen Gefängnissen ist die
letzte Meile der Weg vom Todestrakt hin zu
jenem Raum, in dem der Staat Menschen
hinrichtet. Es sind nur wenige Schritte, aber
es ist der letzte Weg ihres Lebens.
Auf katholischen Wallfahrten gehen
Pilger die letzte Meile oft barfuß oder rut-
schen sogar auf Knien, schließlich musste
Jesus auf der letzten Meile sein Kreuz tragen.
Und die letzte Meile gibt es eben auch
in der Wirtschaft. Selbst wer 99 Meilen lang
alles richtig gemacht hat, kann auf der letzten
Meile noch alles versemmeln. Deutschland
hat auf der letzten Meile zwei Großbau-
stellen. An der einen stehen die Dinge im
Stau. An der anderen die Daten.
Erste Baustelle: Logistik. 75.000 Lap-
tops zum Beispiel verlassen jede Woche die
Fabriken von Chongqing in Richtung Eu-
ropa, verpackt in 144 Containern. So ein
Container reist per Bahn in dreieinhalb
Tagen nach Shenzhen, dann mit dem Schiff

in 22 Tagen nach Rotterdam, auf dem Lkw
in acht Stunden zum Amazon-Logistikzen-
trum in Leipzig. 20.750 Kilometer, alles
durchgetaktet, just in time. Man bestellt
einen Laptop im Internet, und schon am
nächsten Tag klingelt ein Bote von DHL
oder Hermes. Dann beginnt der Albtraum
der Paketdienste. Keiner öffnet. Auch die
Nachbarn sind nicht da. Der Bote nimmt
das Paket wieder mit. Er versucht es morgen
noch mal. Dann übermorgen. All das kostet
Geld. Die Hälfte der Zustellkosten entfällt
auf die letzte Meile, schätzt Hermes.
Zweite Baustelle: der Breitband-Aus-
bau. Alle reden davon, aber es geht nur
langsam voran. Vielerorts verzweifeln Frei-
berufler, wenn sie große Dateien uploaden
müssen. Serienstaffeln streamen nicht, son-
dern tröpfeln. Die ec-Karten-Autorisierung
dauert quälend lange. Touristen schimpfen
über das langsame Netz.
Es ist ja auch nicht so einfach. Die
Dinge und die Daten müssen in Deutsch-
land 40 Millionen Haushalte erreichen. Auf
der letzten Meile zerfasert das Land wie eine
Paketschnur, die am Ende in unzählige
winzige Fäden auseinanderribbelt. Die gute
Nachricht ist, dass die letzte Meile gerade
eine Menge Menschen anspornt, etwas
Neues auszuprobieren.
»Ist schon sehr geil«, sagt Sönke Stender,
nachdem er im Hamburger Stadtteil Wil-
helmsburg ein neues Gefährt für die letzte
Meile getestet hat. Stender ist Vorsitzender
eines Vereins für solidarische Landwirt-
schaft, der im Großraum Hamburg 500
Menschen mit Biogemüse versorgt. Er trägt
eine Schiebermütze, besitzt kein Auto und
fühlt sich der Umwelt verpflichtet. Aber ein-
mal in der Woche muss er mit einem Klein-
transporter über die Elbe fahren, um die
Hamburger mit Obst und Gemüse zu ver-
sorgen. Der Kleintransporter fährt mit
Diesel und ist ein Volkswagen. »Das macht
keinen Spaß«, sagt Stender. »Und wider-
spricht auch unserer Kernidee.«
Deshalb steht er jetzt mit einem Ver-
einskollegen vor dem Fahrradanhänger und
lächelt selig. So einen wollen sie vielleicht
kaufen, zumal die Bundesregierung gewerb-
liche Schwerlasträder gerade mit bis zu 2500
Euro subventioniert. Sören Stender und
sein Kollege lassen sich von der Ingenieurin
Natalia Tomiyama beraten, die das Fahr-
zeug mit dem Start-up Nüwiel in Harburg
entwickelt hat. In diesem Herbst beginnt die

Serienproduktion. Der Anhänger hat drei
Räder und kann an jedes Fahrrad gehängt
oder als Handwagen genutzt werden. Er ist
für 250 Kilo zugelassen, das sind eine Men-
ge Salatköpfe, Karotten und Kartoffeln. Im
vorderen Rad steckt ein Elektromotor, und
eine Steuerung in der Deichsel sorgt dafür,
dass der Anhänger dem Fahrrad folgt wie ein
Dackel. »Wir haben den einen Monat lang
mit Ikea in Altona getestet«, erklärt Tomiya-
ma den beiden Biodeutschen. Ikea hat dort
die erste Filiale weltweit in einer Fußgänger-
zone errichtet. »Die Leute haben sogar
Betten damit abtransportiert.« Auch UPS
hat den Anhänger ausprobiert.
Hamburg feiert sich gerne als Logistik-
Metropole, weil hier 7300 Logistik-Unter-
nehmen registriert sind und im Hafen jeden
Tag 25.000 Container umgeschlagen wer-
den. Stadt und Wirtschaft haben zusammen
eine Logistik-Initiative gegründet. Der
Mann für die letzte Meile ist Hans Stapel-
feldt. Er hat früher den Transport von See-
containern organisiert, nun versucht er den
Verkehrskollaps auf Land abzuwenden.
Stapelfeldt sitzt in Konferenzraum 911 eines
Büroblocks in der Innenstadt und sagt:
»Alle warten auf den großen Knall im Weih-
nachtsgeschäft. Das wird ein Ironman wer-
den, weil alles zusammenkommt.« Immer
mehr Pakete. Immer weniger Paketboten.
Immer höhere Ansprüche. Immer weniger
Zeit. Stapelfeldt erwartet, »dass viele online
bestellte Geschenke in diesem Jahr erst nach
dem 1. Januar eintreffen werden«. Zeitlimit
überschritten. Beim Ironman wird man
dafür disqualifiziert.
In diesem Jahr werden in Deutschland
3,5 Milliarden Sendungen transportiert,
schätzt der Branchenverband Paket und Ex-
presslogistik, im Durchschnitt elf Millionen
am Tag (die Zahl umfasst Pakete, Kurier-
und Expresssendungen). 61 Prozent der
Sendungen verschicken Unternehmen an
Privatkunden und retour: das sogenannte
Business-to-Consumer-Geschäft (B2C). 33
Prozent schicken Unternehmen an Unter-
nehmen (B2B); sechs Prozent gehen zwischen
Privatleuten hin und her (C2C).
Weil die Menschen immer mehr im
Internet bestellen, wächst das B2C-Geschäft
am stärksten, im vergangenen Jahr um
10 Prozent. Und jetzt kommt auch noch
E-Food hinzu, also Lebensmittel, online
bestellt. In München, Berlin, Potsdam und
Hamburg liefert AmazonFresh mithilfe von
DHL aus. Tiefkühlware kommt auf Tro-
ckeneis, Käse auf Kühlpacks, es fällt viel
Müll an. Rewe liefert im eigenen Kühltrans-
porter, DHL betreibt den Online-Super-
markt AllyouneedFresh.
Die Städte sind am Limit, und die
Paketdienste sind es auch. Bei DHL und
Hermes, die am Endkundengeschäft zu-
sammen einen Anteil von 90 Prozent halten,
wurden Vorstandsmitglieder entlassen, weil
die Profitabilität sinkt. Was tun?
Die letzte Meile wird gerade zur Spiel-
straße für Erfinder und Ingenieure. Ein ba-
discher Tüftler möchte am Straßenrand
Masten aufstellen, um Container für Lasten-
räder daran emporzuziehen. Darüber kann
auch Hans Stapelfeldt nur müde lächeln.
Realistischer ist das Projekt von Volkswagen
und DHL, Pakete in den Kofferraum von
Privatautos zu liefern. 300 Berliner durften
Wer überbrückt in
Zukunft das letzte
Stück Weg: Drohnen,
Roboter, E-Fahrräder,
kluge Sackkarren?
das ausprobieren. Man parkt das Auto in der
Umgebung der Lieferadresse, und der Paket-
bote erhält einen Code, mit dem er den
Kofferraum einmalig öffnen kann, alles per
App. Geliefert wird in einem wählbaren
Zwei-Stunden-Zeitfenster. Ist es genial oder
absurd, dass Geländewagen nun auch des-
halb in die Stadt fahren, weil sie die größeren
Paketboxen sind?
Dann gibt es die nette Idee, Pakete mit
Drohnen auszuliefern. Doch um etwa alle
Haushalte in Berlin auf diesem Weg zu ver-
sorgen, wären täglich 240.000 Flüge nötig.
Eine Luftbrücke 2.0: unrealistisch. Droh-
nen werden Arzneimittel auf Inseln fliegen,
aber nicht die Massen versorgen.
Schließlich die Roboter: Hermes hat in
einem Pilotversuch autonome Fahrzeuge
über Hamburgs Gehsteige geschickt, Mini-
container auf sechs Rädern, entwickelt in
Estland, 600 Fahrten, 3500 Kilometer. Die
Stadt hatte vorgeschrieben, dass ein Auf-
passer mitläuft. Auf den wird man zwar ei-
nes Tages verzichten können. Als Problem
erwies sich jedoch die Erreichbarkeit der
Roboter mit schnellem Mobilfunk. Zu viele
Funklöcher. In Estland ging das besser. Den-
noch: Transportroboter könnten hierzulan-
de nach Schätzung des Fraunhofer-Instituts
für Logistik 400 Millionen Sendungen pro
Jahr zustellen, zehnmal mehr als Drohnen.
Man kann das alles für Wahnsinn hal-
ten. Was für Städte werden das sein, in denen
die Menschen nicht mehr aus dem Haus
gehen, um Milch zu kaufen, während drau-
ßen unterbezahlte Kuriere mit Robotern um
die Wette hetzen und an jeder zweiten Ecke
eine Paketstation steht?
Andererseits gibt es auch Szenarios wie
dieses: Geschäftsstraßen und Innenstädte
werden für Privatautos gesperrt, weil die
Menschen ihre Autos nicht mehr für den
Transport brauchen. Sie fahren in Zukunft
mit dem Rad oder der U-Bahn in die Ein-
kaufsmeile und lassen sich ihre Sachen am
Abend nach Hause bringen. Das gab es so
ähnlich schon mal: Um das Jahr 1900 be-
lieferten Bier-, Milch- und Kohlehändler,
Bäcker und Fleischer ihre Kunden mit Pfer-
degespannen. Same-Day-Delivery sagt man
heute dazu. Auch kleine Geschäfte könnten
davon profitieren. In Heilbronn, Pfaffenho-
fen, Wolfenbüttel, Wuppertal und anderen
Städten haben sich Einzelhändler zusam-
mengetan und bieten über atalanda.de eine
Lieferung am selben Tag an. Innenstadtge-
schäfte verwandeln sich in »Showrooms mit
Onlineshop«, schreiben die Fraunhofer-
Logistiker in ihrer Zukunftsstudie. »Das
›Prinzip Pizzabote‹ wird dabei auf beliebige
Handelssegmente übertragen.«
Die große Frage ist: Was plant Amazon?
Der Konzern hat einen Marktanteil von 30
Prozent am Online-Handel in Deutschland
und begibt sich nun selbst auf die letzte
Meile. Bisher verschickt Amazon seine Pake-
te mit DHL und anderen, aber in München,
Berlin, Frankfurt, Mannheim und im Ruhr-
gebiet liefern bereits 35 Subunternehmer
mit rund 2000 Fahrern für Amazon direkt
aus. Auch die können nicht über Staus
fliegen. Technik soll helfen: Eine Routen-
planungs-Software lernt im Laufe der Zeit,
wann ein Kunde sein Paket wo in Empfang
nehmen möchte, welche Nachbarn zu Hau-
se sind, welche Büros wann geöffnet sind.
Der Empfänger kann den Fahrer über eine
App verfolgen und anrufen: Bitte stellen Sie
das Paket schon mal vor die Tür, ich bin
gleich zu Hause.
Eine Stadt ist eine einzige letzte Meile.
Wie sie sich verändert, hängt nicht nur davon
 

Auf der letzten Meile

zerfasert das Land
wie eine Paketschnur,
die am Ende völlig
auseinanderribbelt

ab, wo ihre Bewohner in Zukunft die Ein-
käufe erledigen. Sondern auch von den
Spielregeln, die die Stadt aufstellt. Im japa-
nischen Yokohama müssen alle Sendungen
für das Einkaufsviertel Motomachi an einen
zentralen Umschlagplatz gebracht werden.
Von dort werden sie durch einen kooperativ
finanzierten Dienstleister mit Erdgasfahr-
zeugen an 500 Geschäfte und 850 Privat-
kunden verteilt. Die Stadt weist Lieferzonen
am Straßenrand aus. Der Zustellverkehr im
Viertel reduzierte sich um 70 Prozent.
Es gibt viele gute Ideen, aber es gibt
keinen, der sie zusammenführt. Die deut-
schen Städte sollten Beauftragte für City-
Logistik ernennen, sagen Logistik-Forscher.
Besser heute als morgen, denn der nächste
Trend im Online-Shopping hat gerade be-
gonnen: Möbel im Internet bestellen.
Die Probleme der letzten Meile sind
ungleich verteilt: Viele Städte haben ver-
stopfte Straßen, aber schnelles Internet. Auf
dem Land dagegen fließt der Verkehr, dafür
stehen hier die Dateien im Stau. Thea Timm
hat sich deshalb eine Nähmaschine neben
den Computer gestellt.
Die Timms wohnen neben ihrem ei-
genen Maisfeld in Haale, Schleswig-Hol-
stein, einem 500-Einwohner-Dorf. Sechs
Megabit pro Sekunde ist das Netz langsam.
Wer bei diesem Tempo die Datenmenge
einer DVD lädt, muss sich fast zwei Stunden
gedulden. Thea Timm, 76, näht zwischen-
durch, wenn ein Film aus der Mediathek
mal wieder länger lädt. »Ich hab ja Zeit«, sagt
sie. Den Bauernhof führt ihr Sohn. Aber der
braucht ein schnelles Netz, weil er den
Melkstand für die 250 Kühe digitalisieren
will. Bis jetzt läuft Torben Timm jeden Tag
mit einem USB-Stick zum Stall. Auch die
Solarzellen auf der Scheune sollen via Inter-
net gewartet werden. Deshalb stehen jetzt
vier Bauarbeiter von WirliebenKabel.de im
Garten und heben einen Schacht aus. Das
Rosenbeet haben sie freundlicherweise mit
einer Erdrakete durchtunnelt.
Ein paar Tage zuvor hat Angela Merkel
den Digitalrat berufen, der Deutschlands
Digitalisierung vorantreiben soll. Die
Timms sind schon ganz vorne: Sie gehören
zu den 94 Prozent im Dorf, die einen Vertrag
für einen Glasfaseranschluss abgeschlossen
haben, und das ist eine kleine Sensation.
Denn ausgerechnet das ländliche Schleswig-
Holstein hat auf der letzten Internet-Meile
alle anderen abgehängt. Seit 2013 setzt das
Bundesland konsequent auf die schnellste
Übertragungstechnik: Glasfaser bis ins
Haus. Mindestens 100 Megabit pro Sekunde
können so übertragen werden, genug für
Omas Serien, die Games der Enkel und die
Fitnesswerte der Kühe. Eine DVD-Ladung
Daten flutscht in sechs Minuten durch die
Leitung. Ein Drittel der Haushalte in
Schleswig-Holstein kann heute schon so
einen Anschluss nutzen, bis 2020 soll es die
Hälfte sein. Der Bundesdurchschnitt liegt
nur bei sieben Prozent, denn die meisten
Haushalte hängen noch an Kupferkabeln
der Deutschen Telekom, ein Erbe aus der
Zeit, als die Post noch dem Staat gehörte.
Zwar kann auch eine Kupferleitung
theoretisch 100 MBit pro Sekunde über-
tragen. Die Technik, VDSL und »Vecto-
ring«, wird von der Telekom gerne als zu-
kunftsfähig angepriesen. Aber wenn man
Ausgerechnet das
ländliche Schleswig-
Holstein hat auf der
letzten Internet-Meile
alle abgehängt
einen Telekom-Techniker auf der Straße
anspricht, stellt sich Ernüchterung ein.
»Wer hier wohnt, hat die Arschkarte«, sagt
der Mann in einem Hamburger Wohnge-
biet. Das Problem: Die Glasfaser mit dem
schnellen Internet endet 400 Meter entfernt
in einem der grauen Multifunktionsgehäuse,
die gerade überall aufgestellt werden. Da-
nach kommt Kupfer, und je weiter der Weg
zum Haus, desto langsamer die Übertra-
gungsrate. Und wenn man schnelles Inter-
net braucht? »Neubau«, empfiehlt der Tech-
niker, »da ist Glasfaser drin.« Dann widmet
er sich wieder der Betriebsstörung.
Das schnelle Internet zählt zu Deutsch-
lands größten Infrastruktur-Baustellen. Es
passiert schließlich nicht oft, dass Häuser
eine neue Nabelschnur bekommen. Unter
den Rosen von Familie Timm liegen Rohre
für Strom, Telefon, Fernsehen und Wasser.
Für ein neues Kabel wurde der Rasen schon
lange nicht mehr aufgemacht. Nun ist es
wieder so weit. Endlich.
Die letzte Bundesregierung versprach
im Koalitionsvertrag: 50 Megabit pro Se-
kunde für alle bis zum Jahr 2018. Hat nicht
geklappt. Vielleicht schafft Deutschland
mithilfe von Kupferkabeln und Vectoring-
Technik flächendeckend 30 MBit pro Se-
kunde bis 2020, schätzt der Europäische
Rechnungshof in einem Sonderbericht zum
Breitbandausbau. Aber: »Die Technologie
hat ihre Grenzen. Je mehr Nutzer verbunden
sind, desto geringer ist die Geschwindig-
keit.« Außerdem sei Vectoring nur eine
Zwischenlösung: »Die Zielsetzungen der
Gigabit-Gesellschaft für 2025, mit den ge-
forderten Geschwindigkeiten von 1 Gbit/s,
werden mit dieser Technologie wahrschein-
lich nicht zu verwirklichen sein.«
Glasfaser ist besser. Die Ironie ist, dass
Schleswig-Holstein gerade deshalb so weit
vorne ist, weil der Kapitalismus um Dörfer
wie Haale einen Bogen macht. Der Ausbau
der letzten Meile lohnt sich hier für Unter-
nehmen wie die Telekom nicht. In den EU-
Regeln ist dann von »Marktversagen« die
Rede. In solchen Fällen darf die Kommune
einspringen. In Schleswig-Holstein gründe-
ten sich Zweckverbände in öffentlicher
Trägerschaft – und die setzten auf Glasfaser.
Ein Haus auf dem Dorf ans Netz anzu-
schließen kostet 4000 bis 6000 Euro. Der
Zweckverband übernimmt die Kosten und
verpachtet das Netz. Nach 25 bis 30 Jahren
hat sich die Investition rentiert, schätzt das
Breitband-Kompetenzzentrum in Kiel. Aus-
gerechnet Kiel und Lübeck, wo der Wett-
bewerb regiert, gelten nun als weiße Flecken
der Zukunft. Zu viel Kupfer.
Um 14.45 Uhr hat sich die letzte Inter-
net-Meile bei der Familie Timm auf 46
Zentimeter verkürzt. So dick ist die Haus-
wand. Die Nähmaschine wird zur Seite ge-
rückt, zum Vorschein kommt die Telefon-
dose aus der alten Bundesrepublik. Opa
Heinrich beobachtet die Wand von der
Couch aus, Enkel Torge lauert auf dem
Boden, Papa Torben steht. Dann ertönt ein
Rattern, und ein paar Sekunden später sticht
der Bohrer durch die grüne Tapete. Wirlie-
benKabel schiebt die orangene Glasfaser-
hülle durch die Wand. »Wenn man sich das
mal überlegt«, sagt Torben Timm, der den
Bauernhof in zehnter Generation führt. »Vor
80 Jahren sind hier noch Kutschen gefahren.
Und jetzt haben wir schnelles Internet.« —
Max Rauner hat für diese Recherche auch Paket-
boten von UPS begleitet. Warum Hamburg für
den Weltkonzern zum Vorbild wird, hören Sie im
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 DER TIERFREUND

Die Hoffnung des Fuchses

Der kleine Wildhund hat zwei große Feinde:
Wolf und Mensch machen Jagd auf ihn
Text Peter Wohlleben Illustration Andreas Lie

O
b sich der Fuchs wohl
freut, dass der Wolf in
Deutschland wieder Ein-
zug gehalten hat? Wohl
eher nicht, immerhin
steht er auf dem Speise-
plan seines größeren Vetters. Doch darauf
komme ich gegen Ende des Textes noch
einmal zu sprechen – denn der Wolf ist das
kleinste Problem des Fuchses. Über ein
Jahrhundert lang war der Fuchs in vielen
Gegenden das größte verbliebene Raubtier.
Und Raubtiere sind traditionell das Objekt
menschlicher Sorgen und Nöte, härter aus-
gedrückt: unseres Hasses. Bär, Wolf und
Luchs waren irgendwann erfolgreich aus-
gerottet, doch der kleine Fuchs widersetzte
sich zumindest insgesamt als Art erfolgreich
seiner Verfolgung durch uns Menschen.
Füchse mögen Vögel, je größer, desto
besser. Das habe ich selber leidvoll erfahren
müssen, denn wir halten im Garten des alten
Forsthauses Hühner. Eines Morgens im
März schaute ich verschlafen aus dem Fens-
ter und sagte zu meiner Frau: »Ich glaube, es
hat noch einmal geschneit.« Auf den zwei-
ten Blick sah ich, dass es nicht Schnee war,
sondern dass weiße Federn die Wiese be-
deckten. Unsere Leghornhennen waren aus
ihrem Gehege verschwunden, und im Ma-
schendraht klaffte ein großes Loch. Was für
uns bloß eine weitere Anekdote unseres
Lebens im Wald gewesen ist, hätte früher für
Kleinbauern eine existenzielle Katastrophe
bedeutet, war doch der Eierverkauf ein
wichtiges Zubrot und brachte Bargeld ein.
Dass Füchsen in der Vergangenheit wenig
Sympathie entgegengebracht wurde, wun-
dert mich also nicht.
Doch der Hass auf Füchse hält sich bis
heute und offenbart sich in den Bejagungs-
oder besser gesagt in den Bekämpfungs-
methoden. Weil der Fuchs lange Zeit der
Hauptüberträger der Tollwut war, galt jedes
Mittel, ihn zu töten, als rechtens. Die Tiere
wurden im Bau vergast, die Jungen ausge-
graben und erschlagen oder von Hunden
zerrissen. Heute noch wird die Jagd mit

Fangeisen ausgeübt, was oftmals einen qual-
vollen Tod für das Tier bedeutet. Die Tollwut
ist seit Jahren ausgerottet, nun hat der
Fuchsbandwurm ihre Rolle übernommen.
So ist die Natur: Wird eine den Bestand re-
gulierende Krankheit beseitigt (und das war
die Tollwut für die Fuchspopulation), tritt
die nächste an ihre Stelle.
Der Fuchsbandwurm hat die unange-
nehme Eigenschaft, sich heimlich in unser
Leben zu schleichen. Während man den Biss
eines tollwütigen Tieres mit Sicherheit regis-
triert, bergen Beeren mit anhaftenden
Mikroeiern zunächst nicht spürbare und
außerdem größere Gesundheitsgefahren.
Realistisch ist dieses Bedrohungsgefühl
trotzdem nicht, denn das viel höhere Risiko,
sich Bandwürmer einzufangen, geht von
Haustieren aus. Nicht entwurmte Hunde
können Frauchen und Herrchen schon
beim Streicheln mit den staubfeinen Kügel-
chen infizieren und gelten deshalb hierzu-
lande als Hauptansteckungsquelle. Wald-
erdbeeren und Brombeeren dagegen können
völlig ohne Bedenken gepflückt und auch
direkt verzehrt werden, da es sehr unwahr-
scheinlich ist, dass Eier des Fuchsband-
wurms auf diese Früchte gelangen.
Trotzdem hat sich in vielen Köpfen die
angebliche Bedrohung durch den Fuchs-
bandwurm festgesetzt und mit ihr auch das
Bild vom bösen tierischen Überträger. Da-
her gibt es bis heute wenig Proteste gegen
die harte Bejagung des Wildhundes. Wild-
hund? Ja, der Fuchs ist ein Hund, und viel-
leicht kann die Verwendung dieser Bezeich-
nung zumindest bei Hundehaltern eine
veränderte Haltung bewirken und für mehr
Sympathie sorgen. Denn Sympathie hat der
Fuchs wirklich verdient.
Füchse gelten eigentlich als Einzel-
gänger. Doch in Städten oder an den Stadt-
rändern kann man beobachten, dass sie eine
Art Rudelstruktur bilden, die derjenigen von
Wölfen ähnlich ist und in der es sogar Leit-
fähen gibt. Das sorgt dafür, dass sich diese
Bestände nicht zu sehr vergrößern: Rang-
niedere Tiere kommen nämlich gar nicht
erst in Paarungsstimmung, sodass nur ein
Wurf pro Rudel das Licht der Welt erblickt.
In Berlin konnte ich am äußersten
Foto Hartmut Nägele
Rand des Tiergartens, ganz in der Nähe des
Brandenburger Tores, einen Fuchs beob-
achten, der seelenruhig eine Currywurst ver-
speiste. Dabei ließ er mich bis auf zehn
Meter herankommen. Viele Menschen
DIE ZEIT WISSEN-KOLUMNE VON
PETER WOHLLEBEN
Der Förster aus der Eifel wollte schon
als Kind Naturschützer werden. Seine
Vorstellung vom natürlichen Wald
verwirklichte er in seinem Forstrevier,
schrieb darüber mehrere Bestseller;
zuletzt erschien von ihm »Das geheime
Netzwerk der Natur« (Ludwig). Bei uns
macht er sich über das Tier im Menschen
Gedanken. Und den Menschen im Tier.
ängstigt es, wenn sich wilde Tiere wie der
Fuchs so nah an uns Menschen und mitten
in die Stadt wagen. Sie fürchten ansteckende
Krankheiten (siehe Tollwut und Band-
wurm), die ein Fuchs, der seine Scheu ver-
loren hat, verbreiten könnte. Doch Füchse
sind einfach sehr intelligent: Sie haben ge-
lernt, dass sie in den Städten nicht gejagt
werden, dass Menschen demnach harmlos
sind und zudem ein reiches Nahrungsange-
bot bereitstellen – und den kleinen Wild-
hunden schmeckt praktisch alles. Neben
Obst und anderer pflanzlicher Nahrung
sind das Fleisch und Wurst sowie Mäuse, vor
allem jedoch Regenwürmer. Von ihnen gibt
es viele Tonnen pro Quadratkilometer, auch
in städtischen Beeten und Parks, und sie
lassen sich einfach erbeuten.
Füchse sind sehr neugierig, vor allem
die jungen Tiere, und so durchstreifen sie
gern die Vorgärten der Siedlungen, um zu
schauen, was es dort alles zu entdecken gibt.
Auf gar keinen Fall sollte man die Tiere
anfüttern: Füchse sind wild lebende Ge-
schöpfe. Und auch wenn sie uns tolerieren,
sollten wir sie nicht zu einer Art exotischem
Haustier degradieren; dazu eignen sie sich
nicht, und erlaubt ist es ohnehin nicht.

Die Zukunft des Fuchses? In Jagdkreisen
kann er sein Image als Bösewicht offenbar
nicht so schnell ablegen. Jährlich werden
immer noch rund eine halbe Million Füchse
geschossen; eine Verwertung im Sinne von
Pelzen findet meist nicht statt. Ich habe
selbst schon gesehen, wie die toten Tiere
achtlos ins nächste Gebüsch geworfen wur-
den. Die Jagd auf Füchse bleibt also reine
Schädlingsbekämpfung, auch weil man
zum Beispiel Bodenbrütern helfen will.
Dabei gibt es schon seit einhundert Jahren
Berichte darüber, dass gerade in Gebieten
mit vielen Füchsen auch viele Vögel wie
Birkhühner leben. Ein Widerspruch?
Nein, denn auch Füchse gehören zu
einem intakten Ökosystem, sie zeigen ein
solches geradezu an. Der Rückgang seltener
Vogelarten hat ganz andere Gründe: Er ist
eher auf die Vernichtung von Ökosystemen
zurückzuführen, nämlich auf extensiv be-
wirtschaftete Agrarlandschaften – wie schon
das Insektensterben gezeigt hat. Statt also
bei der Nahrungspyramide die Spitze zu
beseitigen, sollten wir lieber deren Basis
stärken. Doch es geschieht gerade etwas
anderes: Der Wolf tritt in die Fußstapfen des
Fuchses. Er ist der neue Bösewicht – das
neue Hassobjekt der Menschen, seine eigent-
lich erwünschte Rückkehr macht vielen
Angst. Das Problem: Wir haben die Wölfe zu
nah an uns herangelassen, dabei sind es
Raubtiere, die wir auf Abstand halten sollten.
Doch vielleicht könnte sich die Situa-
tion für alle Beutegreifer, wie Fuchs und
Wolf es sind, bald etwas entspannen, denn
unser Verhältnis zu Raubtieren wird aktuell
intensiv öffentlich diskutiert. Immer mehr
Menschen treten nun für den Schutz der
Wölfe ein. Mehr Wölfe bedeuten aber we-
niger Füchse: Dort, wo der Wolf auftritt,
reduziert er die Population seiner kleineren
Brüder, wie Studien aus Skandinavien zeigen.
Denn Wölfe töten Füchse. Das wird so lange
andauern, bis Füchse diese neue Gefahr er-
kannt haben. Danach wird ihre Zahl wieder
steigen. Denn Füchse sind Zweitverwerter.
Sie vertilgen die Kadaver großer Pflanzen-
fresser, die die Wölfe übrig lassen. Mehr
Wölfe bedeuten also auch mehr Fressen für
die Füchse. Ob wir Menschen dieses freie
Spiel der Natur zulassen können?
Das hängt davon ab, ob wir unsere in
Märchen und Mythen verhafteten Ängste
über Bord werfen können. Fuchs und Wolf
wäre es auf alle Fälle zu gönnen. —
 

Was ist schön?

Was ist feige?
Was ist gerecht?
Sokrates konnte mit seiner Fragerei ganz schön nerven.
Dabei wollte er damit den Staat stabilisieren. Denn die
Demokratie war in der Krise. Kommt Ihnen bekannt vor?

Text Tobias Hürter Collagen Julia Ossko, Eugen Schulz

E
ines Abends im Jahr 399 vor
Christus in Athen. Der Philo-
soph Sokrates, 70 Jahre alt und
laut einem Spruch des Orakels
von Delphi der Weiseste unter
den Griechen, erwartet seine
Hinrichtung. Die Sonne senkt sich schon
hinter die Berge. Sokrates hat gebadet und
sich von Frau und Kindern verabschiedet.
Ein Diener trägt den Giftbecher herbei.
Sokrates nimmt den Becher, setzt ihn an
und trinkt ihn »wohlgemut und ruhig« aus,
so berichtet es später ein Freund. Während
Sokrates auf die Wirkung des Gifts wartet,
spricht er ein letztes Gebet. Die Freunde
können die Tränen nicht mehr zurück-
halten. »Wie stellt ihr euch an, ihr Toren«,
mahnt Sokrates sie. »Ich habe doch die
Weiber ebendeshalb weggeschickt, damit
sie mir nicht eine solche Szene aufführten.
Denn man muss in andächtigem Schweigen
von hinnen scheiden, so ist mir kundge-
worden. Also schweiget, und haltet an
euch.« Dann verkündet Sokrates, er spüre
nun die lähmende Wirkung des Gifts in
seinen Gliedern. Als sie sein Herz und seine
Atemmuskulatur erreicht, stirbt er.
Sokrates’ Tod muss für viele Athener
ein traumatisches Ereignis gewesen sein.
Über Jahrzehnte hinweg war er eine der
faszinierendsten Figuren des Stadtlebens
gewesen, viel geliebt, viel gehasst. Der Komö-
diendichter Aristophanes schrieb im Jahr
328 vor Christus eigens ein Theaterstück,
um Sokrates vor der versammelten Athener
Bürgerschaft zu verspotten.
Was hatte Sokrates angestellt, dass man
ihn verhöhnte und sogar nach dem Leben
trachtete? Auf den ersten Blick lächerlich
wenig. Er verbrachte seine Tage damit, auf
der Agora, dem Athener Marktplatz, herum-
zuspazieren, sich in Gespräche einzumi-
schen und lästige Fragen zu stellen. »Woher
wisst ihr eigentlich, was ihr da redet?«,
fragte er die Leute. Er diskutierte mit einem
Priester über Frömmigkeit. Über Liebe mit
einem Playboy. Über Gerechtigkeit mit
einem Staatsmann. Über Tapferkeit mit
einem Feldherrn. Am Ende mussten die
vermeintlichen Fachleute einräumen, viel
weniger zu wissen, als sie vorgaben.
Manchen Mächtigen ging Sokrates’
Stichelei allmählich auf die Nerven. Maß-
geblich für die Anklage soll Anytus gewesen
sein, ein einflussreicher Athener Politiker,
Verfechter der Demokratie und General im
Peloponnesischen Krieg. Vielleicht hatte er

SOKRATES:
Geburtshelfer der Weisheit
Er wurde im Jahr 470 vor Christus im
Demos (so hießen die kleinsten Verwal-
tungseinheiten des Stadtstaats) Alôpekê
geboren, rund zwei Kilometer südöstlich
der damaligen Ringmauer um Athen. Der
Vater war Steinmetz, und auch Sokrates
lernte dieses Handwerk, übte es aber nie
aus. Er sah sich eher in die Fußstapfen
seiner Mutter treten, die eine Hebamme
gewesen sein soll. »Maieutik« (Hebam-
menkunst) nannte Sokrates seine Methode
der gesprächigen Wahrheitssuche. Wie
eine Hebamme nicht eigene Kinder zur
Welt bringt, sondern bei der Geburt frem-
der Kinder hilft, so ging es Sokrates nicht
vor allem darum, eigene Weisheit hervor-
zubringen, sondern anderen zu ihrer
Weisheit zu verhelfen.
Eine schöne Erscheinung war Sokrates
der Überlieferung zufolge nicht. Platon
und Xenophon beschreiben übereinstim-
mend seine Glupschaugen und Wulst-
lippen, seine breite Nase und seinen
dicken Bauch. Dennoch prägte Sokrates
ein Schönheitsideal: innere Schönheit.
Sokrates hatte drei Söhne und war ver-
heiratet mit Xanthippe, von der so gut
wie nichts bekannt ist, die aber mit ihrem
Namen für die sprichwörtliche zeternde
Ehefrau herhalten muss. Sie hätte aller-
dings gute Gründe gehabt, manchmal
ungehalten zu sein. Ihr Gemahl weigerte
sich, die Rolle des Versorgers zu über-
nehmen. Sokrates, Xanthippe und ihre
Familie lebten von Zuwendungen von
Freunden. Aber auch deren Gefälligkeiten
nahm Sokrates nur an, wenn es nicht an-
ders ging. Armut war kein Problem für
ihn, er wählte sie als Lebensweise. »Ich
schlug also nicht den Weg ein, auf wel-
chem ich nicht in der Lage gewesen wäre,
euch oder mir irgendwie nützlich zu sein«,
sagte er in seiner Verteidigungsrede vor
der Athener Bürgerschaft, »sondern ich
ging den Weg, auf dem ich meiner Meinung
nach jedem Einzelnen privat die größte
Wohltat erweisen könnte.«
Als Sokrates sich mal wieder zum Athener
Marktplatz aufmachte, statt Geld zu ver-
dienen, soll Xanthippe ihn laut beschimpft
und ihm einen Eimer Wasser über den
Kopf gegossen haben. »Sagte ich nicht,
dass Xanthippe, wenn sie donnert, auch
Regen macht?«, antwortete Sokrates.
die unaufhörliche Kritik satt, die Sokrates an
der von ihm geführten Regierung übte.
Vielleicht hatte er es Sokrates übel genom-
men, dass auch Kritias zu dessen Schülern
zählte, der als Oligarch ein politischer Gegner
Anytus’ war und im vorangegangenen Krieg
auf der »falschen« Seite gestanden hatte.
Vielleicht glaubte Anytus auch, eine per-
sönliche Rechnung mit Sokrates offen zu
haben: Sein Sohn hatte sich Sokrates ange-
schlossen, statt eine solide Karriere zu ver-
folgen. Dazu kam auch noch ein mutmaß-
liches Eifersuchtsdrama unter Männern:
Anytus hatte eine Schwäche für den jungen
Alkibiades, einen legendären Politiker, Krie-
ger und Lebemann. Der aber verschmähte
ihn und himmelte Sokrates an.
Die Anklage war eine Farce: »Sokrates
tut unrecht, weil er nicht an die Götter
glaubt, denen die Stadt ihren Kult erweist,
vielmehr andere neue Götter einführt. Fer-
ner tut er unrecht, weil er die jungen Men-
schen verdirbt. Antrag: Todesstrafe.« Das
war ziemlich unverhohlen den in Athen
kursierenden Gerüchten und der Spottko-
mödie Aristophanes’ entnommen. In seiner
Verteidigungsrede erklärte Sokrates, keinem
Menschen absichtlich unrecht getan zu
haben, und beantragte die Umwandlung der
Todesstrafe in eine Geldstrafe. Die Richter
lehnten den Antrag ab.
Sokrates hätte dem Tod immer noch
entgehen können. Es war üblich, dass Delin-
quenten mit einflussreichen Freunden, wie
auch Sokrates sie hatte, aus dem Gefängnis
flohen und ins Exil gingen. Aber Sokrates
blieb. Er habe stets die Gesetze geachtet.
Dabei wolle er auch im Angesicht des Todes
bleiben. Unrecht zu erleiden sei immer noch
besser, als Unrecht zu begehen.
Sokrates’ Tod war einer der großen
Justizskandale der Antike – und die Geburts-
stunde der Philosophie, wie wir sie heute
verstehen. Seine Anhänger, allen voran der
damals 31-jährige Platon, begannen bald
nach seinem Tod, sein Wirken in Schriften
festzuhalten. Diese Schriften werden noch
heute weithin benutzt, um Menschen an die
Philosophie heranzuführen. »Die sicherste
allgemeine Charakterisierung der philoso-
phischen Tradition Europas lautet, dass sie
aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon
besteht«, schrieb der britische Philosoph
Alfred North Whitehead – und in sämtlichen
Werken Platons außer seinem allerletzten
spielt Sokrates die Hauptrolle.
Man könnte glauben, Sokrates’ Welt sei viel
zu weit von unserer heutigen entfernt, um
etwas von diesem Philosophen lernen zu
können. Wir leben in einer hoch techni-
sierten, global vernetzten Welt. Sokrates
lebte in einem Stadtstaat, an dessen Grenzen
auch der Denkhorizont der meisten Bürger
endete. Ein Haushalt im antiken Athen be-
saß üblicherweise mehrere Sklaven. Frauen
wurden stark diskriminiert, die hygieni-
schen und medizinischen Standards waren
nach heutigen Maßstäben erbärmlich.
Dabei gibt es bemerkenswerte Parallelen
zwischen einst und jetzt. Wie wir heute er-
lebte Sokrates eine tiefe Krise der Demokra-
tie. Ein großer Teil seines Lebens war be-
stimmt durch den Peloponnesischen Krieg
zwischen Athen und Sparta, in dem er auch
als Soldat kämpfte. Athen verlor den Krieg,
und damit auch seine Rolle als Weltmacht
und seine demokratische Ordnung. Die
Herrschaftsform schwankte zwischen De-
mokratie und Diktatur. Der Historiker
Thukydides beschrieb die Atmosphäre der
Orientierungslosigkeit in Hellas nach dem
Krieg so: Ȇberall entstand Zwiespalt. Auch
änderte man die gewohnte Bedeutung der
Worte je nach der Lage nach eigenem Gut-
dünken. Tollkühnheit galt jetzt für dienst-
fertige Tapferkeit, kluges Zaudern für klug
verschleierte Furcht, ein weises Betragen für
einen Vorwand der Feigheit. Alle Parteien
machten ihre Leidenschaften zur Richt-
schnur ihres Verhaltens.« Diese Sätze könnte
auch ein heutiger Historiker über Europa
und Amerika zum Ende der zweiten Dekade
des 21. Jahrhunderts schreiben, über die
Welt der Fake-News, der Populisten und der
gefühlten Wahrheit.
In jener Zeit der Verunsicherung wollte
Sokrates einen Weg zu neuer Stabilität wei-
sen. Da er überzeugt war, dass die Stabilität
eines Staats auf der Integrität der Bürger
gründe, wollte er die Menschen dazu bringen,
über sich nachzudenken: »Dabei unternahm
ich es, jeden von euch zu überzeugen, sich
einerseits nicht eher um seine Einkünfte zu
kümmern, bevor er sich nicht um sich selbst
gekümmert habe, dass er so gut und ver-
nünftig wie möglich werde, andererseits sich
auch nicht um die Einkünfte der Stadt zu
kümmern, bevor er sich nicht um die Stadt
selbst gekümmert habe, und in allem anderen
ebenso«, sagte er in seiner Verteidigungs-
rede. Nur wenn der Einzelne gesunde, so
gesunde auch das Gemeinwesen.
Sokrates war der Ansicht, die Demokratie im antiken Athen stecke in einer tiefen Krise.
Doch er zog daraus einen ganz anderen Schluss als sein Schüler Platon.
Jahre später stellte sein Schüler Platon eine
ähnliche Diagnose wie Sokrates: Die Demo-
kratie sei invalide. Doch Platon zog ganz
andere Schlussfolgerungen als sein Lehr-
meister. Die Demokratie funktioniere
nicht, argumentierte er, weil sie die Ent-
scheidung über die Machtverhältnisse
Amateuren überlasse: den Bürgern. Dann
müsse man ihnen eben zu mehr Weisheit
verhelfen, meinte Sokrates, also das Reflexi-
onsvermögen und die Kritikfähigkeit der
Bürger stärken. Platon hingegen plädierte
für die Abschaffung der Demokratie und
eine Einschränkung der Redefreiheit und
forderte eine Diktatur der Intellektuellen.
Vielleicht ist das auch die Lage, in der
wir uns heute sehen: Die Rettung der De-
mokratie beginnt mit der Stärkung der
einzelnen Menschen. Wer über die Macht
mitentscheidet, muss wahr und falsch, gut
und schlecht, wichtig und unwichtig unter-
scheiden können. Eine Gesellschaft, der
diese Fähigkeiten abhandenkommen, driftet
in den Totalitarismus. »Wir beobachten
heute, dass die Gier nach autoritären Ge-
stalten um sich greift, nach Leuten, die be-
haupten, das Wissen zu haben«, sagt der
Philosophiehistoriker und Sokrates-Forscher
Klaus Döring. »Da kann es sinnvoll sein,
meine ich, als Gegenposition die sokratische
Haltung stark zu machen.«
Mit seiner Art des Fragens und Suchens
nach dem Wissen und seinen Grenzen er-
fand Sokrates die Philosophie von Grund
auf neu. Frühere Denker wie Thales, Heraklit
und Pythagoras, die heute »Vorsokratiker«
genannt werden, forschten nach den Grund-
gesetzen des Kosmos. Aus heutiger Sicht
waren sie eher Naturwissenschaftler als Phi-
losophen. Sokrates rebellierte gegen diese
Tradition. Er fand, dass es eine wichtigere
Frage gibt als die nach den Naturgesetzen.
Die Frage: Wie sollen wir leben?
Philosophieren war für Sokrates nicht
nur eine intellektuelle Übung, sondern eine
Lebensform. Er ging fast jeden Tag auf die
Agora und suchte das Gespräch mit seinen
Mitmenschen. Worum es in diesen Gesprä-
chen ging, beschreibt sein Schüler Xenophon,
der später als Feldherr Karriere machte, so:
»Sokrates hätte sich gern immerfort über die
menschlichen Dinge unterhalten, indem er
untersuchte, was fromm, was gottlos, was
schön, was schimpflich, was gerecht, was
ungerecht sei, worin die Besonnenheit und
Tollheit, die Tapferkeit und die Feigheit be-
stehe, und anderes derart, was nach seiner

Überzeugung jeden, der es weiß, zu einem
guten und edlen Menschen macht.« Sokra-
tes wollte herausfinden, worin genau diese
Tugenden bestehen. Denn nur wer sie ver-
steht, so glaubte er, kann auch gut handeln.
Deshalb stellte er immer wieder die »Was
ist ...?«-Frage. Was bedeutet Gerechtigkeit
überhaupt? Was meinen wir mit Besonnen-
heit? Was verstehen wir unter Tapferkeit?
Was ist eigentlich Frömmigkeit? Es ging
Sokrates also darum, wichtige Begriffe zu
klären, sie in ihrer Bedeutung zu schärfen.
Seit Sokrates in seinen Gesprächen auf
der Agora damit begann, ist Begriffsklärung
das Kerngeschäft der Philosophie. Verändert
hat sich allerdings das Ziel. Sokrates wollte
die Menschen »gut und edel« machen. Phi-
losophen von heute haben diesen Anspruch
längst aufgegeben.
Was die Menschen damals tief beein-
druckte, war die Art und Weise, wie Sokrates
seine Gespräche führte. Er wollte nicht
lehren, sondern lernen – so verstand er Phi-
losophie. Er versuchte nicht, seinen Ge-
sprächspartnern sein Wissen und seine An-
sichten aufzudrängen. Er wollte umgekehrt
von ihnen etwas erfahren. Allerdings mit
wenig sichtbarem Erfolg. »Die Gespräche
endeten oft in einer Aporie«, sagt der
Schweizer Philosoph Rafael Ferber, der an
der Universität Zürich lehrt (und aus dessen
Übersetzung von Platons Apologie die Zitate
in diesem Artikel entnommen sind). Sokrates
brachte mit seiner hartnäckigen Fragerei
kein Wissen ans Licht, sondern eher Nicht-
wissen. Die Gesprächspartner gerieten im-
mer wieder in Argumentationsnöte und
mussten einräumen, doch keine gute Ant-
wort zu haben. Keineswegs alle von ihnen
zeigten sich dankbar für die Erkenntnis des
eigenen Nichtwissens, zu der er ihnen ver-
half. Manche fühlten sich bloßgestellt und
wehrten sich. Sokrates wurde ausgelacht
und beschimpft, manchmal sogar körper-
lich bedrängt. Er ließ es gelassen über sich
ergehen. Als er einmal einen Rempler ab-
bekam und sich jemand darüber wunderte,
dass er sich das gefallen ließ, soll er gesagt
haben: »Hätte mich ein Esel getreten, hätte
ich den doch auch nicht belangt.«
Da Sokrates beteuerte, auch nicht
mehr zu wissen als seine Gesprächspartner,
blieben die »Was ist ...«-Fragen meist offen.
Sokrates trumpfte nicht zum Schluss mit des
Rätsels Lösung auf, er hielt es aus, selbst
auch keine zu haben. Die Ratlosigkeit hatte
Methode. Sokrates wollte kein Rezept zum
guten Leben liefern, er wollte die Menschen
dazu bringen, selbst über sich und ihr Leben
nachzudenken. Nur ein geprüftes, bewusst
geführtes Leben sei lebenswert. Wer einfach
so dahinlebt, verplempert das Geschenk
seines Daseins. Diese Mahnung zum Selber-
denken ist Sokrates’ Botschaft.
Die Einsicht in die Grenzen des eige-
nen Wissens war aus seiner Sicht also kein
Misserfolg, sondern Zweck der Übung.
DIE SERIE IN ZEIT WISSEN
DIE GROSSEN
DENKSCHULEN
1. TEIL: RICHTIG ODER FALSCH?
Abwägen und argumentieren wie Kant
(nachbestellen unter zeit.de/zw-archiv)
2. TEIL: WAS WILL ICH?
Von Sokrates lernen, sich selbst
die richtigen Fragen zu stellen
(in dieser Ausgabe)
3. TEIL: WER BIN ICH?
Wie Freud denken und Motive
erkennen – bei sich und anderen
(erscheint am 11. Dezember 2018)
Seinen berühmtesten Spruch »Ich weiß, dass
ich nichts weiß« hat er allerdings wohl nie
gesagt. Erst fünf Jahrhunderte später legte
ihm der Philosophiehistoriker Diogenes
Laertios diese Worte in den Mund. Sokrates
wusste zweifellos so viel wie jeder andere
freie und gebildete Athener damals auch.
Aber er hielt den Wert seines Wissens für
gering und warf den Gelehrten, den Red-
nern, den Staatsmännern, Generalen und
anderen, die sich für Experten hielten, vor:
»Dadurch, dass sie eine Kunst gut ausübten,
glaubt jeder von ihnen, zusätzlich hinsicht-
lich der wichtigsten Dinge überaus weise zu
sein. Diese Anmaßung ihrerseits, so schien
mir, verdunkelte jenes Wissen.« Mit den
»wichtigsten Dingen« meinte Sokrates jene,
die wirklich gut und wertvoll sind: die »Tu-
genden«, wie er sie nannte, die dem Leben
seinen Sinn geben.
Heute, da wir noch viel mehr zu wissen
glauben als Sokrates’ Zeitgenossen, ist auch
die Gefahr der Verdunklung der »wichtigs-
ten Dinge« weiter gewachsen. Im Internet
gedeiht das Scheinwissen. In Talkshows,
Wahlkämpfen, Parlamentsdebatten und
sozialen Netzwerken treten Besserwisser
gegeneinander an, die für alles eine Lösung
haben. Das Eingeständnis, etwas nicht zu
wissen, ist selten zu hören. Es ist wieder Zeit
für eine sokratische Entrümpelungsaktion.
»Die Unwissenheit über die wichtigsten
Dinge kann sicher auch ein Mensch des
21. Jahrhunderts von Sokrates lernen«, sagt
Rafael Ferber, »ungeachtet der Überfülle des
vorhandenen ›Wissens‹ ist uns die Unwis-
senheit über die wesentlichen Fragen oft
nicht bewusst. Man kann gleichzeitig Nobel-
preisträger, aber über die wichtigsten Dinge
völlig im Ungewissen sein.«
Es ist völlig okay, auch mal zu suchen
und zu rätseln. Es ist keine Schande, seine
Ratlosigkeit sich und anderen einzugeste-
hen. Man muss nicht immer auf jede Frage
gleich eine Antwort parat haben. Die Demut
vor den menschlichen Möglichkeiten führt
nicht nur zu einem gesünderen Verhältnis zu
sich selbst, sondern auch zu einem besseren
Umgang miteinander: »Wenn man sich
seine eigene Begrenztheit eingesteht und
davon ausgeht, dass die Möglichkeiten an-
derer genauso begrenzt sind, dann wird man
anders mit den anderen umgehen, als wenn
man glaubte, immer das bessere Wissen zu
haben«, sagt Klaus Döring.
Ein Beispiel für diese Haltung gab der
österreichisch-britische Philosoph und So-
krates-Fan Karl Popper im Jahr 1985, als er
zu Beginn eines Vortrags seine Zuhörer
mahnte: »Glauben Sie mir bitte kein Wort!
Ich weiß, das ist zu viel verlangt, denn ich
will ja nur die Wahrheit sagen, so gut ich sie
kenne. Aber ich warne Sie: Ich weiß nichts;
oder fast nichts. Wir alle wissen nichts oder
fast nichts. Das ist, wie ich vermute, die
Grundtatsache unseres Lebens.«
Sohn eines Handwerkers, hinterließ
kein einziges geschriebenes Wort, sprach
über Liebe, Tod und Unsterblichkeit, starb
für seine Überzeugung – die Geschichte
kennt man doch. Die biografische Ähnlich-
keit zwischen Sokrates und Jesus von Naza-
reth ist kaum zu übersehen, und sie ist auch
kein Zufall. In ihrer Wirkung sind die bei-
den großen Figuren der Geistesgeschichte
schon früh zusammengeflossen. Bereits die
Kirchenväter zogen Parallelen zwischen ih-
nen, als sie vor der Frage standen: Wenn
 

Jesus Christus die Menschen erlöst hat, was
ist mit den Menschen vor ihm? Müssen die
nun ewig unerlöst in der Hölle braten? Ein
Ausweg war der Gedanke, dass es schon
vorher »anonyme Christen« gegeben haben
muss, die ein christliches Leben führten,
ohne von Christus gewusst zu haben. Sokra-
tes, der es aus der inneren Konsequenz heraus
in Kauf nahm, überall in der Gesellschaft
anzuecken und schließlich durch ein äußerst
ungerechtes Urteil hingerichtet zu werden,
war das Paradebeispiel.
Wer Sokrates kennenlernen will, steht
vor ähnlichen Schwierigkeiten wie bei Jesus.
Abbildungen Immanuel Kant, Gemälde von Foto: Science Source / akg-images; Jacobi, Artothek, befindet sich in der Sammlung des Freien Deutschen Hochstifts/Frankfurter Goethe-Museums
Von Jesus gibt es immerhin die sogenannten
Logien: jene Worte, die nach Ansicht von
Theologen getreu aus seinem Mund bis zu
uns überliefert sind. Von Sokrates gibt es
nichts dergleichen. Zwar etablierte sich das
»sokratische Gespräch« schon bald nach
seinem Tod als neues literarisches Genre,
aber es diente meist nicht der Überlieferung,
sondern der Untermauerung der Thesen des
jeweiligen Verfassers mit der Autorität des
Sokrates. So war es auch bei Sokrates’ bril-
lantem Schüler Platon, der seinen Meister in
seinen Dialogen unsterblich machte. Über
die sogenannte sokratische Frage, ob Platons
immer mehr von seinem Lehrer. Aus dem
Wahrheitssucher Sokrates wird in Platons
Schriften zunehmend ein Wahrheitsver-
künder, und manche Thesen, die Platon
ihm in den Mund legte, hätte Sokrates sich
vermutlich verbeten.
Warum hinterließ Sokrates nichts
Schriftliches? Vielleicht war er so mit seinen
Gesprächen beschäftigt, dass er schlicht
keine Zeit zum Schreiben hatte. Wahr-
scheinlicher aber ist, dass er mit Schriften
nicht das zu erreichen glaubte, was er be-
absichtigte. Mit ihnen lassen sich zwar Ge-
danken von einem Kopf in einen anderen

Um ihn rankt sich ein Kult, wie er sonst den
Begründern von Religionen – Jesus, Buddha,
Konfuzius oder Mohammed – vorbehalten
ist und hinter dem der Mensch, um den es
geht, fast ganz verschwunden ist. Die Lite-
ratur über ihn ist gewaltig. Unzählige phi-
losophische Denkschulen, teils mit kon-
trären Positionen, berufen sich auf ihn. Es
gibt mehrere Opern über ihn und in der
bildenden Kunst ein eigenes Genre der
Sokrates-Darstellungen.
Dabei ist Sokrates in mancher Hinsicht
sogar noch schwerer erreichbar als Jesus.
Sokrates jener ist, der wirklich gelebt hat,
oder eher eine literarische Kunstfigur, strei-
ten Philosophiehistoriker und Philologen
seit Jahrhunderten.
Manches spricht dafür, dass immerhin
die Apologie, also die von Platon niederge-
schriebene Verteidigungsrede Sokrates’ (die
Platon mit eigenen Ohren gehört hatte),
und die frühen Dialoge Platons, die er bald
nach dem Tod seines großen Lehrers schrieb,
dem historischen Sokrates nahekommen,
zumindest dem Sinn nach. In den späteren
Dialogen hingegen entfernt sich Platon
pflanzen, aber Sokrates wollte mehr: in den
Köpfen einen Prozess anstoßen. »Die Ein-
sicht in die Grenzen der eigenen Möglich-
keiten weckt das Bedürfnis, immer weiter
hinzuzulernen und falsche Einsichten durch
bessere zu ersetzen«, sagt Klaus Döring. »Das
einzige Medium dazu ist das Gespräch.« —
Tobias Hürter würde Sokrates gerne fragen, ob
der von ihm überlieferte Ausspruch »Das nicht
überprüfte Leben ist nicht lebenswert für einen
Menschen« nicht etwas übertrieben ist. Muss denn
jeder Mensch ein Philosoph sein?

KORREKTUR

Kant und Jacobi:

Zwei Bilder, ein Irrtum
Wir haben einen Fehler gemacht: Für die
ZEIT WISSEN-Ausgabe 05/18 haben wir
als Vorlage für Illustrationen von Kant
unter anderem die beiden rechts gezeigten
Porträts genutzt. Aber nur das linke zeigt
Immanuel Kant. Auf dem rechten ist der
Philosoph Friedrich Heinrich Jacobi (1743–
1819) zu sehen. Im Internet und von Bild-
agenturen wird das Jacobi-Bild vielfach als
Kant-Porträt ausgewiesen. Die beiden
sehen sich zwar ähnlich, waren aber Gegner.
»Die Jacobische Grille ist keine ernstliche«,
urteilte Kant, »sondern nur eine affectirte
Genieschwärmerey.« Das rechts gezeigte
Jacobi-Porträt befindet sich in der Samm-
lung des Frankfurter Goethe-Museums und
stammt von Carl Wingender, der wiederum
eine Vorlage von Johann Christian von
Mannlich genutzt hat.


Himmel noch mal,

diese Buchstaben! ZEIT Wissen-Redakteurin Katrin Zeug ist
Legasthenikerin. Hier erzählt sie die Geschichte ihrer
26 Feinde. Und versucht, keine Fehler zu machen
Text Katrin Zeug Fotos Lisa Rienermann

I
n meiner Familie gab es ein Buch, von uns in die Schule kam, es war immer
das verehrt wurde wie in anderen das Gleiche: Das Lesen funktionierte nicht
Familien die Bibel. Es war grau und und das Schreiben auch nicht. Wenn wir
hatte ein paar verdrehte Buchstaben unsere Aufsatzhefte zurückbekamen, waren
auf dem Umschlag. Der Autor: ein sie rot von all den angestrichenen Buchsta-
amerikanischer Legastheniker. Ich ben: den zu vielen, den verdrehten, den fal-
war 16 Jahre alt, als das Buch zu uns kam schen, den fehlenden. So rot, dass man
und mein Denken für immer prägte. kaum noch etwas vom Rest sehen konnte.
Ronald Dell Davis schrieb darin, zusam- Allein die acht Buchstaben des Wortes »Box-
mengefasst: Wahre Genies erkenne man kampf« lassen sich auf 40.320 Arten anord-
daran, dass sie ein Problem mit Buchstaben nen, und nur eine einzige davon ist richtig.
haben. Ich hatte eins, mein Bruder und Ronald Dell Davis schrieb in seinem
mein Vater auch sowie ein paar Onkel und Buch, manche Menschen hätten die Gabe
Cousins. Egal in welcher Generation einer der Desorientierung. Sie hätten früh gelernt,

lange vor dem Lesen und Schreiben, sich
Dinge vorzustellen, die sie nicht kannten
oder nicht verstanden – und diese Vorstel-
lungen dann im Kopf zu drehen und zu
wenden, bis sie auf eine Lösung kamen. Oft
seien solche Perspektivwechsel und eine
große Vorstellungskraft sinnvoll, schreibt er.
Wenn man sich einen Baum vorstellt, bevor
man ihn hochklettert. Oder die Kurve, be-
vor man sie fährt. Eine Figur, bevor man sie
zeichnet. Eine Glühbirne. Oder die Relativi-
tätstheorie. So wie Albert Einstein oder
Thomas Edison, Walt Disney oder Jackie
Stewart. Alles Menschen, die angeblich Pro-
bleme mit Buchstaben hatten. Denn genau
da, bei einem Buchstaben oder Wort, helfe
es nicht, wenn man von allen Seiten drauf-
schaut. Es verwirrt noch mehr. Meinem
Vater gefiel diese Erklärung sehr, und er
testete sie an uns: Mein Bruder und ich
mussten uns ein Tortenstück vorstellen und
es von allen Seiten beschreiben. Wir konnten
es! Wir hatten die Gabe der Verwirrung!
Buchstaben sind wichtig. Sie besiegeln
Geschäfte, Ehen und Friedensverträge. Tol-
stois Werk ist aus ihnen zusammengefügt,
genau wie die Bibel und die Bild-Zeitung.
Alles, was die Menschheit bisher gesagt hat,
und alles, was jemals noch gesagt werden
wird, selbst wenn die Wörter dafür erst noch
erfunden werden müssen, können diese
Zeichen ausdrücken. Sie verkünden Gebur-
ten, Todesfälle oder Urlaubsgrüße, werden
zu Einkaufslisten, Gedichten, Wohngeld-
anträgen und Doktorarbeiten. In den ver-
schiedensten Sprachen. Die Wahrheit ist:
Gerade die Unbegrenztheit, in der man
diese Zeichen kombinieren kann, ist das
Grandiose an dieser Erfindung.
Für mich waren Buchstaben immer
etwas für Pedanten und Besserwisser. Buch-
staben, das waren kleine Scheißer, die einem
das Leben schwer machen. Ob da »Bäcker«
oder »Becker« steht oder wie jetzt genau
»Wahrheit« geschrieben wird, war – mir per-
sönlich – nicht wichtig. Über das Straßen-
schild »Gas weg!« habe ich Jahre meiner
Kindheit gegrübelt. Jedes Mal, wenn ich
daran vorbeikam, wusste ich wieder nicht,
warum da Gassweg getrennt geschrieben
wird. Die Verwirrung war so groß, dass es
erschreckend lange dauerte, bis mir bewusst
wurde, dass das Schild neben der Schule mit
Geschwindigkeit zu tun hat.

Geschrieben habe ich trotzdem immer.
Strotzend vor Rechtschreibfehlern, aber
schon in der ersten Klasse vom kleinen Igel
Tirium beim Picknick. Dann von Löwen
und Monstern, später Mördern und Kriegs-
witwen. Weil ich Geschichten erzählen woll-
te, trieb es mich durch die Aufsätze in der
Grundschule, den Deutsch-Leistungskurs,
die Journalistenschule. Die Buchstaben wa-
ren irgendwie immer dabei, klar, aber ich
dachte, die Beschäftigung mit ihrer genauen
Reihenfolge sei etwas für Menschen, denen
Formalitäten wichtiger sind als der Inhalt.
Bis ich ihre schöne Geschichte erfuhr.
Nach Orly Goldwasser, Ägyptologin
an der Hebräischen Universität in Jerusa-
lem, waren es ungebildete Steinbrucharbei-
ter im Sinai, die ungefähr 1800 vor Christus
unsere Buchstaben erfanden. Es waren No-
maden, Seemänner und Eseltreiber, die aus
Armut in die Wüste gezogen waren, um dort
für die Ägypter Türkis, Kupfer und Malachit
abzubauen. Sie schufteten hart in den Mi-
nen. Um sie herum waren nur Geröll und
einsame Weite. Die Ägypter hatten sich einen
Tempel in dieser kargen Gegend gebaut, um
zu beten. Orly Goldwasser vermutet, dass
die Arbeiter sie dabei beobachteten, wie sie
kleine Zeichen in die Mauern schabten:
Bilder von Menschen, Tieren, Szenen, und
erkannten, dass das deren Form war, mit
Gott in Kontakt zu treten. Das wollten sie
auch! Nur: Sie kannten die Zeichen nicht.
Die Ägypter hatten über Jahrtausende meh-
rere Hundert Bilder entwickelt, alle stark
religiös aufgeladen. Einige standen für Laute,
andere für ganze Wörter und manche auch
für beides, je nach Kontext. Nur hohe Be-
amte, Gelehrte und Priester beherrschten sie.
Die Steinbrucharbeiter kannten weder
die Sprache noch die Zeichen. Aus der Not

heraus, so schreibt Goldwasser, suchten sie
sich aus den vielen Zeichen der Ägypter 30
aus und belegten sie mit eigenen Begriffen:
Sie wählten einen Ochsenkopf für Ochse.
Ein Viereck für Haus. Einen Höcker/ge-
knickten Strich für Kamel. Die einzige Regel:
Das Bild steht nur für einen Laut, nämlich
den ersten des Wortes, das es anzeigt. So
konnten sie ihren Namen und den ihrer
eigenen Gottheit Baalat zusammensetzen,
neben den Ägyptern in die Tempelwände
ritzen und sich ebenfalls verewigen. Ihre
ersten drei Buchstaben: Aleph, Bet, Gimel.
Das war der Ursprung des Alphabets.
Bis diese Buchstaben zur Schrift der
gesamten westlichen Welt wurden, dauerte
es mehr als tausend Jahre. Lange fristeten sie
ein Schattendasein unter den Nomaden und
Minenarbeitern, hingekritzelt, oft recht
eigensinnig, an trostlosen Orten in der
Wüste. Erst als die alten Hochkulturen
wankten und sich Macht und Völker neu
verteilten, fand das Alphabet seinen Weg in
die formale Welt. Die Buchstaben waren
flexibler als die alten Bild- und Keilschriften.
Neue oder fremde Wörter konnten daraus
besser zusammengesetzt werden. Händler
nahmen sie auf ihren Routen mit über das
Mittelmeer. Überall wurde an dem Zeichen-
satz herumgebastelt. Mal bog sich ein Strich,
mal verschwand einer, und mal bekam ein
Zeichen einen anderen Laut.
Die Griechen waren recht radikal. Sie
ersetzten gleich mehrere der Konsonanten,
die sie für ihre Sprache nicht brauchten, mit
Die zehn Zeichen des Wortes
»Buchstaben« lassen sich auch auf
3.628.879 andere Arten kombinieren. Für
die Bilder auf diesen Seiten haben wir die
einzige richtige Reihenfolge gewählt.
Vokalen. Aleph, das in der Sprache der
Steinbrucharbeiter für einen Knacklaut
steht, wurde zu Alpha für A. Schließlich
erreichten diese Buchstaben, ungefähr 700
Jahre vor Christus, ein unbedeutendes Völk-
chen in der Provinzstadt Rom. Die Latiner
gaben ihnen mehr oder weniger die Form,
die wir heute kennen, und machten sie später,
in ihrem riesigen Römischen Reich, zur vor-
herrschenden Schrift.
Wenn Kinder heute in die Schule
kommen, lernen sie einen Satz an Strichen,
Bögen und Punkten, der durch die ganze
Menschheitsgeschichte gereicht wurde. Die
verschiedenen Sprachgemeinschaften haben
ihn sich mit Pünktchen, Akzenten und un-
terschiedlichen Ausspracheregeln jeweils zu
eigen gemacht. Aber drehen Sie mal unser
Alles, was bisher
gesagt wurde, und alles,
was je gesagt werden
wird, können diese
Zeichen ausdrücken
großes A um! Dann können Sie noch den
Ochsenkopf sehen, mit seinen zwei Hörnern,
aus dem Steinbruch im Sinai.
An jedem Buchstaben hängen die
Schrammen und Spuren dieser langen Reise.
30 sind dabei für die deutsche Sprache he-
rausgekommen, inklusive des ß, das es sonst
nirgends gibt. Ein Zeichen kann für völlig
unterschiedliche Laute stehen – je nachdem,
wie es eingewoben wird. Es gibt Kombina-
tionen, die wie ein Buchstabe klingen, aber
aus mehreren bestehen. Regeln für das Deh-
nungs-h oder das Doppel-p, für die Groß-
und Kleinschreibung. Ich weiß das, ich habe
sie alle gelernt – oft vergebens.
Keine Schriftsprache der Welt hat bis
jetzt eine perfekte Korrelation von Laut und
Zeichen entwickelt. Am nächsten von allen
kommt das Finnische daran. Französisch ist
recht weit entfernt, Deutsch liegt irgendwo
in der Mitte. Man könnte sagen, das Pro-
blem, das meine Familie mit den Buchsta-
ben hat, ist eines, das die Menschheit seit
Jahrtausenden umtreibt: die Diskrepanz
zwischen Laut und Bild.
Um lesen und schreiben zu können,
muss man die Buchstaben und ihre Regeln
auswendig lernen. Ohne den Schlüssel offen-
bart sich ihr Code nicht. Dieser Buchstaben-
schlüssel hat einen Ort im Gehirn: Er liegt,
wenn er einmal gelernt wurde, im unteren
Hinterkopf. Dort ist das Netzwerk aus vi-
suellem und auditivem System. Bild und
Laut eines jeden Buchstabens werden darin,
in Form von elektrischen Signalen, mitein-
ander verknüpft abgespeichert. Nach ein
bisschen Übung speichert das Gehirn dort
nicht nur Buchstaben, sondern auch Silben
und ganze Wörter ab, die bei Bedarf blitz-
schnell abgerufen werden.
Den meisten Menschen gelingt das. Sie
üben ein bisschen, und dann klappt es. Auch
die weniger Schlauen schaffen es. Ob das
Lesen und Schreiben funktioniert, hängt an
vielem, aber so gut wie nie an der Intelligenz.
Auf der ganzen Welt, egal ob in Bild- oder
Buchstabenschrift geschrieben wird, ob von
rechts nach links oder andersrum, gibt es
allerdings ein paar, denen es schwerer fällt
als anderen, das Lesen und Schreiben zu
lernen. In Deutschland sind es ein bis zwei
Kinder pro Schulklasse.
Ich wusste nicht, ob ich das Buch noch
habe, das in meiner Familie so wichtig war.
Aber als ich danach suche, steht es in mei-
nem Bücherregal: Legasthenie als Talent-
signal. Plötzlich bin ich nicht mehr sicher,
ob ich es überhaupt gelesen habe. Ich habe
damals nicht viele Bücher ganz gelesen. Eine
Stelle, recht weit vorn, ist unterstrichen: Le-
gasthenie, steht da, sei »das Produkt des
Denkens und einer besonderen Art der Re-
aktion auf das Gefühl der Verwirrung«.
Das Buch ist damals ein Bestseller ge-
worden, es gibt seither auf der ganzen Welt
Institute, in denen Davis-Therapeuten mit
Legasthenikern arbeiten, um die 3000 Euro

für fünf Tage kostet das in Deutschland. Ich
habe mich für diesen Artikel mit einem dieser
Berater getroffen, er hat mir gezeigt, wie er
mit seinen Klienten die Wörter »weil« und
»der« knetet. Die Idee: Man lässt die per-
sönlichen Verwirrungsauslöser, also die
Wörter, zu Bildern werden und beherrscht
sie so für immer besser. Allerdings gibt es
keine einzige Studie, die eine langfristige
Wirkung belegt. Noch schlimmer für mich
ist aber, als ich rausfinde, dass die Genies, von
denen Davis schreibt, wahrscheinlich alle gar
kein Problem mit Buchstaben hatten. Es gibt
die etwas verzweifelte Erklärung der Familie
Disney, dass sie es zwar schön finde, wenn
Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwie-
rigkeiten durch die Geschichte Mut fassten,
bloß: Das mache sie leider auch nicht wahr.
Die bittere Wahrheit ist: Wer ein Problem
mit Buchstaben hat, ist kein Genie, sondern
hat eine leichte Entwicklungsstörung.
Forscher haben mehrere Gene gefun-
den, die dafür verantwortlich sind. Ein paar
anders sortierte Moleküle, die dafür sorgen,
dass sich die Großhirnrinde schon im Mut-
terleib an bestimmten Stellen am unteren
Hinterkopf etwas anders wölbt. Später führt
das dazu, dass der Buchstabenspeicher nicht
richtig funktioniert. Laut und Bild verknüp-
fen sich nicht so wie bei anderen und sind
daher auch nicht so schnell abrufbar. Weder
beim Lesen noch beim Schreiben. Man
bleibt dann beim Lernen sehr viel länger als
andere in der Phase, in der man Buchstabe
für Buchstabe entziffern muss, statt ganze
Wörter zu erfassen. Und schafft es, ein Wort
in einem Text dreimal auf unterschiedliche
Art und Weise falsch zu schreiben. Es fehlt
der Automatismus, der anderen ein Gespür
für Buchstaben und ihre Anordnung gibt.
Die UN-Behindertenkonvention gilt daher
auch für Menschen mit einer Lese- und
Rechtschreibstörung. Betroffene sind zu
einem Nachteilsausgleich berechtigt, sie
können zum Beispiel mehr Zeit und einen
ruhigen Raum für Prüfungen beantragen.
Renate Valtin, Professorin für Pädago-
gik, forscht seit 50 Jahren zu diesem Thema
und sagt: »Die Etikettierung von Kindern
als Legastheniker ist wenig hilfreich.« Die
Kinder dächten, sie könnten nichts an
ihrem Problem ändern, weil sie krank seien.
Valtin hat Grundschüler gefragt, welche
Ursache ihre Lese- und Rechtschreibschwie-
rigkeiten wohl haben könnte, und herzzer-
reißende Erklärungen bekommen. »Ich
glaube, ich habe Pilze im Gehirn.« – »Meine
Eltern hatten falschen Geschlechtsverkehr.«
– »Legasthenie kommt von Gott.«
Alle Kinder könnten lesen lernen, sagt
Valtin, wenn man sie individuell förderte.
Der Nachteilsausgleich privilegiere jedoch
diejenigen mit einer Diagnose. Dabei haben
noch viel mehr Kinder Probleme beim Lesen
und Schreiben, nur aus anderen Gründen:
weil ihre Eltern ihnen nicht vorgelesen haben.
Weil sie die deutsche Sprache noch nicht
beherrschen oder sich nicht konzentrieren
können. Ihnen würde zusätzliche Förderung
und Prüfungszeit auch helfen, sie bekom-
men sie aber nicht. Valtin sagt: »Das Etikett
der ›Legasthenie‹ nutzt nur Eltern, zumeist
der Oberschicht, die für ihre Kinder eine
Gymnasialempfehlung wünschen.«
Sowieso ist das Thema eines der Ober-
schicht. Denn auch wenn die Krankenkassen
die Diagnose noch bezahlen – um die Be-
handlung müssen sich die Eltern selbst
kümmern. Das ist nicht nur teuer, sondern

auch kompliziert, weil die Berufsbezeich-
nung Lerntherapeut nicht geschützt ist. Je-
der kann sich so bezeichnen. Dementspre-
chend groß ist der Markt. Den Kindern
werden mitunter zum Lesen bunte Brillen
aufgesetzt oder Sinustöne vorgespielt, damit
sie ihre Wahrnehmung schulen.
Gerd Schulte-Körne leitet die Kinder-
und Jugendpsychiatrie des Uni-Klinikums
in München und forscht seit Jahren zur
Lese- und Rechtschreibstörung. Für eine
große Metastudie untersuchte er 20 Me-
thoden, mit denen derzeit Betroffene be-
handelt werden. Nur eine einzige davon hat
sich als wirksam erwiesen: Dabei wird geübt,
Laute zu unterscheiden und sie Buchstaben
zuzuordnen; dann das Gleiche mit Silben
und später mit ganzen Wörtern. Ein Trai-
ning also, um den Automatismus herzu-
stellen, der sich bei den anderen von selbst
entwickelt. Wer ein Problem mit Wörtern
hat und will, dass es besser wird, muss in-
tensiv Lesen und Schreiben üben, so einfach
ist das. Auch wenn es schwerfällt.
Damit wäre die Behandlung geklärt,
aber es gibt da noch etwas. Schulte-Körne
sagt, das größte Problem bei dem ganzen
Thema sei nicht das mit der Rechtschrei-
bung oder mit dem Lesen selbst. Das größte
Problem sei das seelische.
Mein kleiner Bruder hatte Pech. Seine
Lehrerin interessierte sich nicht für seine
Ideen und Kombinationskünste. Sie sah
auch nicht, dass er versuchte, sich an Regeln
zu halten. Zum Beispiel, als er »luft« und
»wind« kleinschrieb und »Rot« groß, weil sie
ihm beigebracht hatte, dass nur das, was
man anfassen kann, großgeschrieben wird.
Er hatte zu Hause ein Rotesauto. Sie sagte,
er sei nicht dumm, aber faul. Sie ließ ihn sich
blamieren beim lauten Vorlesen. Und jedes
Mal, wenn sie ein Diktat zurückgab, musste
er sich seine Sechs vorn am Pult abholen.
»Hier wurde nicht gelernt«, sagte sie dann.
Drei Wochen dauerte es, bis er die Schule
hasste. Für immer.
Auch wenn das schon eine Weile her
ist, sieht die Statistik für schlechte Leser und
Schreiber nach wie vor düster aus: Sie gehen
häufiger auf die Hauptschule, und ihr Be-
rufsbildungsniveau ist niedriger als das
Gleichaltriger, die Arbeitslosenquote später
höher. Fast 70 Prozent der betroffenen Schü-
ler berichten von Versagensangst und Selbst-
zweifeln, sie schotten sich ab, sind extrem
schüchtern oder hyperaktiv. Jeder fünfte hat
körperliche Leiden wie Kopf- oder Bauch-
schmerzen, manche machen nachts ins Bett.
Ich hatte Glück. Ich weiß noch, wie
clever ich mir als Schülerin vorkam, weil ich
Lange fristete das
Alphabet ein
Schattendasein.
Hingekritzelt an
trostlosen Orten
mir das Lesen zu Hause sparte. Ich dachte:
Sieht ja keiner, ob ich gelesen habe. Irgend-
wie muss es meiner Lehrerin doch aufgefal-
len sein. Ich erinnere mich nicht an Stress,
aber sie sagte zu mir: »Denk dir Geschichten
aus, und schreib sie auf.« Wegen der hunds-
miserablen Form zog sie immer eine Note
ab, aber sprach mit mir über meine Wort-
wahl, meine Satzkonstruktionen, meine
Ideen. Sie gab mir in jedem Diktat eine
Sechs, klar. Aber sie ritt nicht darauf herum.
Ich brauchte immer länger als die an-
deren, um einen Text oder ein Buch zu lesen.
Und wenn es irgendwie ging, dann ließ ich
es sein. Aber meine Lehrer gaben mir Texte,
die mich lockten, gelesen zu werden, und
weckten Ideen, die ich aufschreiben wollte.
Ich mochte die Schule, bis zum Schluss.
In einer seiner Studien befragte Gerd
Schulte-Körne Erwachsene, die als Kinder
auf ein Internat gegangen waren, das sich
auf den Umgang mit Legasthenie speziali-
siert hatte. Die Kinder hatten dort extra
Übungseinheiten zum Lesen und Schreiben
gehabt, das Wichtigste aber war, dass sie

nicht als Außenseiter behandelt wurden.
Das Ergebnis: Ihre Rechtschreibung war
auch 20 Jahre später schwächer als beim
Durchschnitt und als es bei ihrem jeweiligen
IQ zu erwarten gewesen wäre. Aber abge-
sehen davon hatten diese Menschen eine
hohe Lebenszufriedenheit und waren in
Berufen, die von anderen angesehen und
von ihnen selbst gemocht wurden.
»Die Forschungsdaten zu den Stärken
von Legasthenikern sind mau«, sagt Schulte-
Körne. Aber die Biografien, von denen er in
seinem Berufsleben erfahren hat, zeigten:
Die, die nicht daran zerbrechen, werden
stark. Man kann daran lernen, mit Frust
umzugehen und durchzuhalten, auch wenn
der Erfolg nicht in Sicht ist. Eigene Lösun-
gen zu finden, weil die der anderen für einen
selbst nicht funktionieren. Zu kämpfen.
Klarzukommen. Und Effektivität, in diesem
Fall: wenig lesen, viel daraus machen.
Mein Bruder war zehn Jahre alt, als das
Buch von Ronald Davis zu uns kam und
unser Selbstbewusstsein stärkte. Mein Vater
brachte meinen Bruder zur Untersuchung,
die Diagnose hieß Legasthenie bei einem
hohen IQ. Er fand später selbst einen Stoff,
der ihn zum Lesen lockte: Harry Potter.
Seine Prüfungsangst hat er behalten, er ver-
ließ die Schule nach der zehnten Klasse –
ohne Abschluss. Aber heute hat auch er einen
Job, den er mag.
In diesem Herbst ist mein Sohn in die
Schule gekommen. Er liebt Buchstaben.
Wenn wir durch die Straßen laufen, sam-
melt er keine Stöcke oder Steine, sondern
Buchstaben. Auf Plakaten, Hauswänden
und Nummernschildern. Er liest sie, er
schreibt sie, er verziert sie, und er singt sie.
Wenn ich zu ihm sage, mal doch mal ein
Bild, dann schreibt er seinen Namen. —

DAS EXPERIMENT

Unverwundbar sein
Psychologen ergründen das menschliche Wesen mit ungewöhnlichen
Versuchsanordnungen. Diesmal: Machen Helme mutiger?

Text Claudia Wüstenhagen Illustration Jean-Michel Tixier

U
m die Macht der Kleidung
weiß jeder: dass High Heels
einem die Welt zu Füßen
legen können und ein gutes
Sakko Autorität verleiht.
Und erst der Arztkittel! Vor
Jahren zeigten Psychologen, dass Menschen
in Aufmerksamkeitstests besser abschnei-
den, wenn sie dabei einen Arztkittel tragen.
Die physische Erfahrung, so heißt es, akti-
viere bestimmte Assoziationen und wirke
auf das Denken und Fühlen ein. Studien
haben das vielfach bestätigt. Aber über die
heimliche Macht des Fahrradhelms wusste
die Wissenschaft lange nichts.
Die britischen Psychologen Tim Gam-
ble und Ian Walker wollten die Lücke schlie-
ßen und analysierten das Verhalten von
Helmträgern. Jedoch nicht im Straßenver-
kehr, sondern bei einer Tätigkeit, die viel
über Menschen verrät: Luftballonaufblasen.
Luftballons sind nichts für schwache
Nerven. Sie werden praller und praller, doch
wenn die Vernunft nicht rechtzeitig obsiegt:
Peng! In Internetforen tauschen sich zahl-
reiche Leute über ihre panische Angst vor
platzenden Ballons aus. Kein Wunder also,
dass der Ballon wunderbar als psychologi-
sches Untersuchungsinstrument taugt.
Die Probanden in der Studie mussten
zwar nur am Computer virtuelle Luftballons
aufpumpen, dafür bekamen sie aber Punkte:
Je praller der Ballon am Ende war, desto
mehr. Wer zu gierig war und den Ballon
platzen ließ, ging leer aus. 30 virtuelle Bal-
lons mussten die Probanden per Mausklick
aufblasen. Dabei trugen sie entweder eine
Baseballcap oder einen Fahrradhelm. Die
Kopfbedeckung sollte angeblich nur dazu
dienen, ein kleines Kameragestell zu halten.
Denn die Forscher behaupteten, Zweck der
Studie sei es, Augenbewegungen zu messen.
Ein Schwindel: In Wahrheit war die Kopf-
bedeckung der Kern des Experiments.
Nun kann ein Fahrradhelm im Stra-
ßenverkehr ja sogar Leben retten, doch vor
platzenden Luftballons schützt er natürlich
nicht. Seltsamerweise schienen die Proban-
den aber genau diesen Eindruck zu haben.
Denn jene, die das Experiment mit Helm
absolvierten, gingen ein deutlich höheres
Wagnis ein: Sie bliesen ihre Ballons praller
auf und riskierten so, alle Punkte zu verlie-
ren. Der Helm vermittelte ihnen offenbar
ein so umfassendes Gefühl von Sicherheit,
dass sie ein größeres Risiko in Kauf nahmen.
Verleiten Helme also zu riskantem Ver-
halten? Machen sie Radfahrer zu Verkehrs-
rowdys? Gegner der Helmpflicht könnten
das Ergebnis so deuten. Und die Gegner von
Radfahrern sowieso. Diesen Schluss lässt die
Studie aber nicht zu. Auf dem Rad saß ja
keiner. Tatsächlich ergab eine andere Studie
aus Norwegen, dass Radler nicht grund-
sätzlich schneller fahren, sobald sie einen
Helm aufsetzen. Sie zeigte nur, dass Rad-
fahrer, die im Alltag stets Helm tragen, lang-
samer fahren, wenn man ihnen den Helm
abnimmt. Bewiesen ist damit aber nichts.
Doch gerade weil die britische Studie
das Verhalten abseits der Straßen testete, er-
geben sich wunderbare Gedankenspiele.
Vielleicht sind Fahrradhelme – ob sie nun
aussehen wie Wassermelonen oder Tour-de-
France-Equipment – ein Mittel gegen die
allgemeine Verzagtheit. Wer sagt denn, dass
man sie zum Flirten absetzen muss? Dass
man nicht behelmt im Keller Spinnen jagen,
in überfüllte Busse steigen oder Kinderge-
burtstage ausrichten kann? Vor allem, wenn
dort mit Luftballons hantiert wird. —
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DIE ZUMUTUNG


Manches Wissen wächst in verdammt hohen Gebieten.

Trotzdem sollte man sich hin und wieder dorthin aufmachen,
auch wenn es richtig anstrengend wird.
Willkommen auf dem Pfad der Astronomie.

Das Weltall hat

zwei neue Fenster
Neutrinos und Gravitationswellen lassen
uns bis zum Urknall zurückschauen – und
verändern den Blick in die Zukunft

Text Max Rauner



Basislager
Gehen Sie erst los, wenn Sie
die folgenden Grundlagen in Ihren
Rucksack gepackt haben

Z
ur Orientierung ein Blick auf die Karte.
Woher kommen wir, wohin gehen wir?
Die Wissenschaft vom Universum, die
Kosmologie, hat in diesen Fragen einige
Serpentinen hinter sich. Die letzte Kehre
liegt erst 20 Jahre zurück. Zuvor hatten
Kosmologen vermutet, das Universum dehne sich seit
dem Urknall immer langsamer aus und werde eines
Tages wieder in sich zusammenfallen. Big Crunch heißt
dieses Szenario, großes Knirschen. Doch seit 1998 ge-
hen die Forscher davon aus, dass das Universum sich
immer schneller ausdehnt. Big Freeze nennen sie dieses
Schicksal, großes Erstarren, weil das Universum im
Laufe der Jahrmilliarden immer kälter wird.
Wie kommen die darauf? Durch die Analyse von
unterschiedlich weit entfernten Sternexplosionen. Ihr
Aufleuchten dient als kosmischer Maßstab für die Evo-
lution des Universums. Das ist nur einer der vielen Weg-
weiser auf dem Pfad der Erkenntnis. Mit ihren Tele-
skopen spähen Astronomen heute auf allen möglichen
Kanälen ins All. Sie empfangen einerseits elektroma-
gnetische Wellen, also UV- und Infrarotstrahlen, Radio-
und Mikrowellen, Gamma- und Röntgenstrahlen sowie
sichtbares Licht. Andererseits messen sie kosmische
Teilchen, vor allem Protonen und Elektronen. Einige
dieser Teilchen wurden von kollidierenden Sternen auf
die Reise geschickt und zeugen von den gewaltigen
Energien, die im All freigesetzt werden können.
Es ist so, als würden die Astronomen durch unter-
schiedliche Fenster ins All schauen. Optische Teleskope
zoomen heran, was mit bloßem Auge nicht zu sehen ist.
Radioteleskope gewähren Einblick in den Mikrowellen-
himmel und das »Echo des Urknalls«. Durch das Rönt-
genfenster blickt man in die Umgebung von Schwarzen
Löchern, wo Röntgenstrahlung entsteht.
Die Beobachtungen passen so gut zusammen, dass
von einem Goldenen Zeitalter der Kosmologie die Rede
ist. Die naturwissenschaftliche Schöpfungsgeschichte
ist inzwischen erstaunlich schlüssig, zumindest die Ka-
pitel von kurz nach dem Urknall bis heute. Rätselhaft
bleibt: Wie sind die schweren Atome entstanden, Ele-
mente wie Gold, Blei, Uran? Woraus besteht die
»Dunkle Materie«, die sich nur indirekt bemerkbar
macht? Welche Kraft beschleunigt die Ausdehnung des
Alls? Selbst der Big Freeze steht wieder zur Diskussion.
Gut, dass die Astronomie zwei neue Fenster geöffnet
hat. Durch das eine sieht man Gravitationswellen, durch
das andere Neutrinos. Die Aussicht ist atemberaubend.

Erster Anstieg
Los geht’s! Auf leichten Anhöhen
begegnen Sie Erkenntnissen, die Sie
ins Schwitzen bringen können

U
m das Universum zu verstehen, steigt
der Mensch normalerweise in die Höhe.
Da oben ist die Sicht besser. Europas
Astronomen haben ihre großen opti-
schen Teleskope auf den Bergen der
Atacamawüste in Chile installiert. Doch
die Beobachtung von Gravitationswellen und Neutrinos
hat mit der klassischen Astronomie nichts mehr gemein.
Man bleibt im Flachland. Oder geht in die Tiefe.
Am 17. August 2017 registrieren drei Detektoren in
den US-Bundesstaaten Louisiana und Washington
sowie in Italien eine Gravitationswelle, die mit Licht-
geschwindigkeit die Erde durchquert. Die Welle be-
kommt den Namen GW170817, und ihre Quelle
verorten die Forscher im Sternbild der Wasserschlange.
Gut einen Monat später schlägt das Neutrinoteleskop
IceCube in der Antarktis Alarm. Dort haben Forscher
ihre Messgeräte im Eis versenkt. Am 22. September
 

detektieren sie ein energiereiches Neutrino aus dem (Louisiana) und Hanford (Washington). Dort werden
Sternbild Orion, das als IceCube-170922A in die Fach- Laserstrahlen zwischen vier Kilometer entfernten Spiegeln
literatur eingeht. hin und her geschickt, um winzige Längenänderungen zu
Die beiden Ereignisse markieren den Beginn einer messen. Die Anlagen sind 3000 Kilometer voneinander
neuen Ära der Astronomie. Das Besondere ist weniger entfernt und gehören zum Laser Interferometer Gravita-
der Nachweis selbst, auch wenn zuvor erst gut 100 Neu- tional-Wave Observatory (Ligo). Empfangen beide kurz
trinos mit derart hoher Energie sowie fünf Gravitations- nacheinander ein identisches Signal, könnte dies eine
wellen registriert wurden. Das Besondere ist das, was in Gravitationswelle sein. Die ersten Signale stammten von
den Stunden danach passiert: Es beginnt jeweils eine ineinander spiralisierenden Schwarzen Löchern, wie
groß angelegte Fahndung nach den Quellen. Im Ver- Simulationen bestätigten. Doch die Welle, die am
dacht stehen: kollidierende Sterne, Feuer speiende 17. August um 14.41 Uhr eintrifft, ist anders: Statt
Galaxienkerne, Sternexplosionen. wenige Sekunden zittern die Spiegel der Detektoren fast
Automatisch alarmiert, richten Dutzende For- zwei Minuten lang.
schungsgruppen ihre Teleskope auf die verdächtige Das Rapid Response Team von Ligo scheucht
Himmelsregion, am 17. August in Richtung Wasser- umgehend Hunderte Astronomen und Astrophysiker in
schlange, am 22. September in Richtung Orion. Rönt- aller Welt auf, darunter ein junger Mann von der Uni-
gen, Infrarot, Gammastrahlung, Licht, Mikrowellen: versity of Florida, der Physikprofessor Imre Bartos. Er
Alle Fenster werden aufgerissen. macht gerade Urlaub bei seinen
Die Ära, die an diesen Tagen be- Eltern in Ungarn, als sein Smart-
ginnt, ist die der »Multi-Messenger- 400 Jahre lang hat phone quengelt. Eine befreundete
Astronomie«: Man versucht, von man das All beim Familie ist zu Besuch, Babys an-
spektakulären Himmelserschei- Schlafen beobachtet, schauen. Bartos lässt Baby, Frau,
nungen so viele Boten (Messenger) Freunde und Eltern im Garten sit-
jetzt will man seine
wie möglich abzufangen. Statt zen und verzieht sich vor den Com-
kontinuierlich leuchtende Sterne Wutausbrüche sehen puter. Er ist das Scharnier zwischen
zu beobachten, wie es die Astrono- Gravitations- und Neutrinofenster,
mie seit 400 Jahren tut, lenken die Forscher ihre kollek- er gehört beiden Forschungsgruppen an. In den folgen-
tive Aufmerksamkeit zunehmend auf dynamische, kurz- den Tagen wird er wenig Schlaf bekommen.
zeitige Phänomene wie Kollisionen und Explosionen. Das Signal im Ligo-Detektor, das sieht Bartos nun
400 Jahre lang haben sie dem Universum beim Schlafen in den Messdaten, wurde innerhalb von 100 Sekunden
zugeschaut, jetzt will man seine Wutausbrüche sehen. immer stärker und endete dann abrupt. Zwei Sekunden
Diese Ereignisse sind für die Physik besonders interessant, später registrierte das Fermi-Weltraumteleskop einen
weil derartige Extrembedingungen auch kurz nach dem Gammastrahlen-Blitz aus der Galaxie NGC 4993 im
Urknall herrschten. Man bräuchte Teilchenbeschleuniger Sternbild der Wasserschlange (Gammastrahlen sind ver-
von der Größe der Milchstraße, um diese Energien zu gleichbar mit Röntgenstrahlen, haben aber noch mehr
erzeugen. Im All gibt es sie kostenlos. Energie). Aus dieser Richtung scheint auch die Gravita-
Gravitationswellen werden ausgesandt, wenn tionswelle zu kommen. Stammen Gammastrahlen und
Masse in Bewegung ist, zum Beispiel zwei Sterne oder Gravitationswelle aus derselben Quelle?
zwei Schwarze Löcher, die einander umkreisen wie Paare Während Hunderte Forscher auf Bildschirme star-
beim Eiskunstlauf. Diese Wellen durchqueren mit ren und Skype-Konferenzen schalten, nimmt ein Tele-
Lichtgeschwindigkeit das All. Treffen sie auf die Erde, skop nach dem anderen die Galaxie NGC 4993 ins
stauchen und dehnen sie den Raum und alles, was sich Visier. Es ist ein bisschen wie im James-Bond-Film, nur
darin befindet: Menschen, Häuser, Kontinente – aber ohne Schurken. Als in Chile die Sonne untergegangen
nur um Bruchteile eines Atomkern-Durchmessers, des- ist, öffnen die großen Teleskope in der Atacamawüste
halb sind sie extrem schwer nachzuweisen. Zum ersten ihre Augen. Die Galaxie NGC 4993 ist 130 Millionen
Mal gelang dies 2015 mit den Detektoren in Livingston Lichtjahre von der Erde entfernt. Das Signal, das die

Unsere Bergführer:
Die Gemeinde der Neutrinoforscher traf
sich in diesem Jahr zu ihrer Weltkonferenz
in Heidelberg. Dort schwänzte Imre Bartos
von der University of Florida einen Nach-
mittag, um uns die neuen Pfade der Multi-
Messenger-Astronomie zu beschreiben.
Am Albert-Einstein-Institut in Potsdam
und Hannover arbeiten die Spezialisten
für Gravitationswellen. Wir danken
Alessandra Buonanno, Bruce Allen, Karsten
Danzmann, Masaru Shibata, Alex Nitz, Ian
Harry und Frank Ohme für Orientierungs-
hilfe. Drei Reiseführer: Das Geheimnis
der Gravitationswellen (Kosmos), recht
nüchtern und aus erster Hand. Einsteins
Ahnung (Piper) hat mehr Drama.
Gravity’s Shadow von 2004 blickt auf
900 Seiten weit in die Historie zurück.

Forscher elektrisiert, ist also vor 130 Millionen Jahren
ausgesandt worden, als auf der Erde noch Dinosaurier
lebten. Was ist damals da draußen passiert?
Elf Stunden nach der Ankunft der Gravitations-
welle entdeckt das erste optische Teleskop von Chile aus
ein starkes Lichtsignal aus der Galaxie. Dutzende andere
ziehen nach. Sie messen ein blau-ultraviolettes Auf-
leuchten, das im Laufe mehrerer Tage ins Infrarote
wechselt. Elf Tage später erreichen Radiowellen und
Röntgenstrahlen die Erde. Ein Dutzend Fachartikel
werden vorbereitet, einen koordiniert Imre Bartos. »Es
war die Hölle«, sagt er. Mehr als 70 Teleskope, 1800
Forscher, zurück nach Florida, dort Hurrikan, tagelang
kein Strom, und dann fällt auch noch ein Baum auf sein
Auto. »Es war das Aufregendste, was ich je erlebt habe.«
Bartos meint die Physik.
Die Analyse wird auf 59 Seiten publiziert, davon
allein 24 für die Namen der Autoren und ihrer Institute.
Fazit: Die unterschiedlichen Signale stammen von zwei
verschmelzenden Neutronensternen. Das sind ausge-
brannte Sterne, die nur noch aus Neutronen bestehen,
also jenen neutralen Teilchen, die in Atomkernen die
Am Steilhang
Atmen Sie tief durch: Es ist alles
ganz anders, als Sie dachten –
aber Sie schaffen das
W
enn der Mount Everest der Gipfel
des Alpinismus ist, dann ist das
Neutrinoteleskop am Südpol der
Gipfel wissenschaftlicher Tollkühn-
heit: Physiker haben mit heißem
Wasser 86 Löcher ins Eis gebohrt
und 5000 Lichtsensoren versenkt, 1,5 bis 2,5 Kilometer
tief. Die Sensoren stecken in Glaskugeln von der Größe
eines Basketballs. Sie halten nach Lichtblitzen Ausschau,
die von unten kommen. Warum? Weil die winzigsten
Elementarteilchen des Universums, Neutrinos, die aus
den Tiefen des Alls auf die Nordhalbkugel der Erde
treffen, durch den Planeten durchfliegen, als wäre er
aus Luft, und dann im glasklaren Südpoleis ab und zu
mit einem Wassermolekül zusammenstoßen und einen
bläulichen Lichtkegel verursachen. Würden Sie 280
Millionen Dollar spendieren, wenn Ihnen die Physiker
so eine Harry-Potter-Geschichte erzählen?
Die Amerikaner glaubten an die Idee und finan-
zierten einen Großteil der Anlage, auch Deutschland
beteiligte sich. Und sie funktioniert: Seit 2010 hat der
Protonen zusammenhalten. Neutronensterne sind un-
vorstellbar dicht: so klein wie München und zugleich
schwerer als unsere Sonne. Ein Esslöffel Neutronenstern
wiegt ungefähr so viel wie alle Autos der Erde.
Zwei dieser Exemplare kreiselten in Galaxie NGC
4993 kurz vor der Verschmelzung mit unfassbaren 30
Prozent der Lichtgeschwindigkeit ineinander. Durch
den Crash, Astronomen sprechen von einer Kilonova,
wurden Neutronen in die Umgebung katapultiert, wo
sie mit Atomen kollidierten. Lange vermutet, jetzt be-
stätigt: Auf diese Weise entstanden schwere Elemente
wie Silber und Gold. Die Hälfte aller schweren Atome
im Universum, schätzt Masaru Shibata vom Albert-Ein-
stein-Institut in Potsdam, stammt aus solchen Neu-
tronenstern-Verschmelzungen. Das gilt auch für die
Rohstoffe von Eheringen: made in neutron stars. Außer-
dem brachte die Verschmelzung radioaktiv strahlende
Materie hervor, die noch tagelang strahlte. Dieses Nach-
glühen registrierten die Teleskope. Bei aller Euphorie
gab es für Imre Bartos am 17. August aber auch eine
Enttäuschung: Das Neutrinoteleskop in der Antarktis
empfing an diesem Tag keine Signale von NGC 4993.
IceCube-Detektor mehr als 100 Neutrinos nachgewiesen,
die nicht aus der Sonne kamen. Bis zum 22. September
2017 konnte man aber keinem dieser Neutrinos eine
kosmische Quelle zuordnen.
Neutrinos sind als Botschafter des Kosmos interes-
sant, weil sie über Jahrmillionen schnurstracks durch
alles hindurchfliegen und nur ganz selten mit einem
Atomkern zusammenstoßen. Lichtstrahlen dagegen
werden auf ihrer Reise von Staub und Gas abgeschwächt.
Auch die Sonne, die Erdkruste und Atomkraftwerke
senden Neutrinos aus, aber die haben viel weniger
Energie. Die IceCube-Physiker interessieren sich vor
allem für hochenergetische Neutrinos von außerhalb
unserer Galaxis. Das Neutrino, das der IceCube-Detek-
tor am 22. September aus Richtung des Orion erspähte,
war so ein Fall. Es hatte mehr als 20-mal so viel Energie
wie die Teilchen im weltgrößten Beschleunigerring am
Cern in Genf. Auch das Fermi-Weltraumteleskop schlug
Alarm: Es registrierte im selben Himmelsausschnitt
Gammastrahlung. Die Multi-Messenger-Astronomie
hatte ihren zweiten großen Auftritt.

Hochenergetische Neutrinos können die Bewegungs-
energie eines Tennisballs haben, der von Serena Williams
übers Netz gedroschen wird, konzentriert in einem ultra-
leichten, annähernd lichtschnellen Teilchen. Das Rätsel
lautet: Welche kosmischen Beschleuniger können sol-
che extremen Energien erzeugen? Hypothese der Theo-
retiker: Superschwere Schwarze Löcher im Zentrum von
Galaxien sind die Quelle, sogenannte Aktive Galaxien-
kerne (kurz: AGN). Diese Monster sind millionen- bis
milliardenmal so schwer wie unsere Sonne und so kom-
pakt wie unser Sonnensystem. »Aktiv« bedeutet, dass
sie von einer Scheibe aus Gas und Staub umgeben sind,
aus der sie sich fortwährend Materie einverleiben wie in
einem gigantischen Strudel. Ein Teil der Materie wird
dabei durch Magnetfelder abgelenkt und schießt ins All
hinaus, auch elektromagnetische Strahlung entsteht.
Auf zum Gipfel
Jetzt wird es zugig: Diese Theorie
müssen Sie meistern, um auf
der Höhe der Zeit anzukommen
W
as liegt hinter uns? Der Urknall vor
13,8 Milliarden Jahren. Was liegt
vor uns? Ein expandierendes Uni-
versum, das sich immer schneller
ausdehnt und in Kälte erstarrt. Vie-
les jedoch liegt im Dunkeln. Die
Hoffnung ist, dass die Multi-Messenger-Astronomie
Aufklärung bringt. Und zwar nicht nur darüber, wie
die schweren Elemente, Schwarze Löcher und Galaxien
entstanden sind, sondern auch über die letzten Fragen:
Wie hat alles begonnen? Wie wird alles enden?
Nach dem Urknall war das Weltall zunächst ein
heißer, undurchsichtiger Nebel aus subatomaren Teil-
chen und Strahlung. Nach 380.000 Jahren war es so weit
abgekühlt, dass sich Atome bildeten. Lichtstrahlen
breiteten sich nun ungehindert aus. Astronomen emp-
fangen sie heute als Mikrowellenstrahlung: das »Echo
des Urknalls«. Was in den ersten 380.000 Jahren ge-
schah, müssen sie mithilfe der Theorie extrapolieren.
Ihr großer Traum ist, aus dieser frühen Epoche
Signale zu empfangen. Denn Kosmologen spekulieren,
dass sich das Universum innerhalb der ersten Sekunde
schlagartig aufblähte, die Phase der Inflation, um an-
schließend gemächlicher zu expandieren. Während der
Aufblähung müssten Gravitationswellen entstanden
sein. Die Suche nach ihnen dient also dazu, die Theorie
zu überprüfen. Aber diese Signale sind extrem schwach.

Man vermutet, dass 85 Prozent der Gammastrahlung
im Weltall aus AGN stammen.
Doch niemand weiß genau, was in diesen AGN-
Monstern vor sich geht. Sie könnten für die Entstehung
von Galaxien verantwortlich sein, weil sie große Mengen
Materie in ihren Bann ziehen. Auch im Zentrum unserer
Milchstraße befindet sich ein AGN. Und die Signale
vom 22. September deuten darauf hin, dass die Gamma-
strahlen und das hochenergetische Neutrino ebenfalls
von einem AGN stammen könnten: In der Richtung,
aus der sie kamen, befindet sich die Galaxie TXS
0506+056. Für Heureka-Geschrei ist es allerdings noch
zu früh. Die Physiker müssen erst noch mehr Neutrinos
für eine bessere Statistik sammeln. Dann erst können sie
das Innenleben von Galaxien besser verstehen und deren
Geburt nachvollziehen.
Erst ein Detektor im Weltall könnte sie aufspüren. Viel-
leicht. Die Europäische Raumfahrtagentur will im Jahr
2034 ein erstes Satellitengespann in den Orbit schießen.
Auch Neutrinos sollten die Geburt des Universums
dokumentieren. Eine Sekunde nach dem Big Bang sind
sie losgeflogen und müssten heute allgegenwärtig sein.
Diese Exemplare haben aber zu wenig Energie, um sie
mit IceCube beobachten zu können.
Realistischer ist es, dass erst mal das Schicksal des
Universums genauer erforscht wird. Da gibt es neuer-
dings eine Unstimmigkeit: Das Szenario des Big Freeze
lässt sich auf zweierlei Wegen berechnen, einerseits aus
dem Muster der Mikrowellen-Hintergrundstrahlung,
andererseits mithilfe von Sternexplosionen in den Tiefen
des Alls, sogenannten Standardkerzen. Und diese beiden
Methoden liefern widersprüchliche Ergebnisse. Die
Hoffnung ist nun, dass Gravitationswellen von unter-
schiedlich weit entfernten Sternpaaren sich als neuer kos-
mischer Maßstab etablieren. Nicht ausgeschlossen, dass
das Ende der Geschichte dann radikal umgeschrieben
werden muss. Mal wieder. Vielleicht bleibt der Gipfel
der Erkenntnis für immer ein Sehnsuchtsort. —
Max Rauner hat mit Forschern am Albert-Einstein-Institut
die Ereignisse vom 17. August 2017 rekonstruiert, als die Gra-
vitationswelle die Erde erreichte. Die dramatische Entdeckungs-
geschichte hören Sie unter www.zeit.de/zeitwissen-podcast.


Gebrauchsanweisung für
ein Gefühl: NERVOSITÄT
Das Herz klopft wie wild, die Hände werden feucht,
die Gedanken blockieren: Nervosität kann ganz schön
lästig sein. Unnötig ist sie trotzdem nicht.
Text Filipa Lessing Illustration Nishant Choksi
1. Merkmale
Jeder kennt das: weiche Knie, zitternde Hände, die
Stimme versagt – immer genau dann, wenn man es am
wenigsten gebrauchen kann. Weil man geprüft wird,
einem viele Menschen zuhören oder der eine, der
Wichtigste von allen, gleich um die Ecke kommt. Ner-
vosität bedeutet innere Unruhe, bei der die natürliche
Gelassenheit verloren geht – und das zeigt sich zu allem
Überfluss auch noch körperlich: Die Stimme wird höher,
das Sprechen schneller, die Augenlider fangen an zu
zucken. Auch Schwindel, Benommenheit und Konzen-
trationsschwäche sind keine Seltenheit. Emotionen
und körperliche Reaktionen können sich gegenseitig
hochschaukeln: Die Nervosität beschleunigt den Puls,
was das Hirn beunruhigt, also wird die Herzfrequenz
gesteigert, was wiederum das Hirn in Panik versetzt
und so weiter. Die Grenzen zu dem Gefühl von Angst
und von Stress sind fließend – sogar die ausgeschütteten
Hormone sind fast dieselben.
Macht uns eine Situation nervös, springt die
Amygdala, der Mandelkern, im Gehirn an – eine Art
Filterfunktion, die meldet, dass da etwas plötzlich nicht
eingeordnet werden kann. Sie gehört zum limbischen
System, das für die Emotionen zuständig ist. Die Amyg-
dala wird vom präfrontalen Cortex kontrolliert, der
kognitiven Funktionseinheit. Kommt von diesem keine
Entwarnung, werden weiter Stresshormone ausge-
schüttet. Verantwortlich dafür ist der Hypothalamus im
Zwischenhirn. Er kontrolliert das vegetative Nerven-
system, das unbewusste Vorgänge wie Atmung, Herz-
frequenz und Blutdruck steuert – und lässt in Stresssi-
tuationen alle drei ansteigen. Dennoch: »Akute
Nervosität ist harmlos«, sagt Rainer Rupprecht, Leiter
des Lehrstuhls für Psychiatrie und Psychotherapie der
Universität Regensburg, »die ist ja gleich wieder weg.«

2. Vorkommen
Nervosität erlebte Ende des 19. Jahrhunderts ihre
Hochkonjunktur. 1869 beschrieb der New Yorker
Neurologe George M. Beard als Erster das Erschöpfungs-
syndrom Neurasthenie. In einer Zeit, in der die Städte
chaotisch wuchsen, Telefone die Menschen über viele
Kilometer verbanden und das elektrische Licht die Nacht
zum Tag machte, war Neurasthenie die am häufigsten
gestellte Diagnose im Deutschen Kaiserreich. Angesichts
der vielen außen- und innenpolitischen Probleme galt
gar das ganze Reich als »nervöse Großmacht«.
Dieses Krankheitsbild gibt es heute nicht mehr,
erklärt Rainer Rupprecht: »Nervosität ist eher ein Ober-
begriff.« Sie kann ein Symptom sein, etwa von De-
pressionen, ADHS oder Unterzuckerung. Sie kann bei
zu viel Alkohol auftreten oder bei einem Drogenentzug,
bei zu viel Koffein, zu wenig Sport, Schlafmangel oder
beständigem Lärm. Und natürlich vor Prüfungen, Vor-
stellungsgesprächen, Vorträgen oder einer bevorstehen-
den Trennung. Es gibt auch positive Nervosität, vor
einem Date oder einer Reise. Selbst Nahrungsmittel
können nervös machen: der Farbstoff E 120 in Gummi-
bärchen etwa oder Oxalsäure im schwarzen Tee. Die
prominenteste Form der Nervosität findet indes auf der
Bühne statt: das Lampenfieber. Selbst Adele, eine der
berühmtesten Sängerinnen des 21. Jahrhunderts, sagt:
»Ich habe Angst vor dem Publikum.«
3. Zweck
Zu Neandertaler-Zeiten hatte Nervosität eine lebens-
erhaltende Funktion. Denn nervös und ängstlich macht
alles, was theoretisch für den Menschen bedrohlich sein
kann. Dann schaltet der Körper auf Autopilot: Das
Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt – der Körper


bereitet sich auf Höchstleistungen vor, auf Kampf oder

Flucht. Heute reagiert unser Körper auf eine bevor-
stehende Prüfung noch immer so, als würde ihm ein
gefährlicher Tiger im Nacken sitzen. Das Signal zeigt
nicht mehr die Gefahr, sondern den Wert an, den die
Situation hat. Rainer Rupprecht erklärt: »Bei einer
Prüfung weiß ich: Ich habe etwas zu verlieren. Der
Grad der Nervosität steigt mit der Bedeutung, die ich
dem Ergebnis beimesse. Anders bei einem Vortrag: Da
geht es um die soziale Angst, etwas falsch zu machen
und nicht genügend Wertschätzung zu erfahren.«
Vor allem Profimusiker kennen diese Angst: Eine
australische Studie schätzt den Anteil der krankhaften
Nervösen unter Orchestermusikern auf über 30 Prozent.
Konzertpianistin und Psychotherapeutin Irmtraud Tarr
ist sich dennoch sicher: »Für einen guten Auftritt
braucht man Adrenalin. In der richtigen Dosis macht es
wach und konzentriert«. Bereits seit Beginn des 20. Jahr-
hunderts gibt es eine entsprechende Angst-Leistungs-
Kurve. Der zufolge ist nicht nur zu viel, sondern auch
zu wenig Angst leistungsmindernd.

4. Nebenwirkungen
Über die Nervenstärke entscheidet eine Mischung aus
erblicher Veranlagung, erlerntem Verhalten, frühkind-
Greift die Nervosität um sich, kann es sein, dass ein
licher Sozialisation und persönlicher Entwicklung. Wer
Areal im Gehirn ein anderes blockiert – zum Beispiel
das des rationalen Denkens
als Kind stabile Bindungen erlebt hat, ist weniger
schnell aus der Ruhe zu bringen. Doch selbst die robus-
testen Nerven werden überreizt, wenn nach der Belas-
tung auf Dauer keine Erholungspause folgt. Oft stehen
Zweifel an der eigenen Person dahinter – denn gerade
in einer schnelllebigen Gesellschaft fürchten viele
Menschen, den Erwartungen und Anforderungen nicht
gerecht zu werden. »Bei einer länger andauernden
Nervosität kommt es zu chronischer Unruhe und An-
spannung«, sagt Rupprecht. Dauerstress schwächt das
Immunsystem. Appetitverlust, Kopfschmerzen, Herz-
Kreislauf-Probleme, Magen-Darm-Beschwerden oder
sexuelle Dysfunktionen sind die Folge – alles Bereiche,
die vom vegetativen Nervensystem gesteuert werden.
Nicht umsonst sagt der Volksmund: »Das schlägt mir
auf den Magen.« Wenn die Nervosität so stark ausge-
prägt ist, dass der Betroffene unter bestimmten Situa-
tionen leidet und auf sie viel zu heftig oder zu lange
reagiert, sprechen Mediziner von krankhaften Zustän-
den. Meist ist die Nervosität dann Symptom einer psy-
chischen Erkrankung – etwa von Schizophrenie, De-
pressionen, Angststörungen oder post-traumatischen
Belastungsstörungen.
Aber auch nur akut nervöse Menschen sind schneller
gereizt, sie hören kaum zu oder verpatzen wichtige
Dinge. Unter Stress sollten daher keine wichtigen Ent-
scheidungen getroffen werden – gestresste Menschen
konzentrieren sich auf die Vorteile eines möglichen
Ergebnisses und vernachlässigen negative Folgen. Das

könnte erklären, warum Menschen unter Stress ihre
Triebe schlechter kontrollieren – und leichter schnellen
Lösungen anheimfallen. Robbie Williams etwa be-
kämpfte sein Lampenfieber früher mit Alkohol und
Drogen. Metal-Sänger Ozzy Osbourne ertränkte die
Nervosität in Alkohol und brauchte 20 Versuche, um
den Führerschein zu bestehen. Bei klassischen Musikern
sind Betablocker beliebter: Das Blutdruckmittel dämpft
die Stresshormone. Laut einer amerikanischen Studie
schlucken ein Viertel der Profimusiker die Tabletten.
5. Therapie
Tabletten und Drogen nehmen dem Gehirn die Erfah-
rung, die Nervosität von allein zu bewältigen. Auch
eine komplette Vermeidung ist wenig hilfreich. Irgend-
wann kann allein die Vorstellung von der aufregenden
Situation eine Erwartungsangst erzeugen – eine Angst
vor der Angst. Irmtraud Tarr rät bei Lampenfieber, das
Publikum nicht als Feind, sondern als Gruppe zu sehen,
der man selbst angehört: »Manche schaffen das, indem
sie sich vorstellen, nicht nur die Bühne sei beleuchtet,
sondern auch der Zuschauerraum.« Auch hilft der Il-
lusion-der-Transparenz-Effekt: Sobald Vortragende
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
darüber aufgeklärt werden, dass ihre Nervosität und
ihre Gefühle gar nicht so erkennbar sind, wie sie dachten,
erhöht sich ihre Gelassenheit während des Vortrags.
Kurzfristig helfen ätherische Öle, Tees oder ein Vollbad
mit Baldrian, Melisse, Kamille oder Hopfen. Auch
mehr Schlaf, Sport oder Saunagänge können zur Linde-
rung beitragen. Langfristig bringen autogenes Training,
Entspannungs- oder Atemtechniken mehr. Ziel ist es,
das Gedankenkarussell, diese »Was wäre, wenn«-Kette,
zu durchbrechen. Dabei kann ein selbstwertstärkender
Satz helfen oder die Konzentration auf die eigentliche
Aufgabe statt auf die Wirkung.
Über den Umgang mit nervösen Menschen schreibt
Adolph Freiherr von Knigge übrigens: »Furchtsame gute
Menschen soll man ermuntern, nicht mit übertriebenem
Lob, sondern mit wahre Zuneigung verratenden Hand-
lungen.« Und nervösen Personen rät er: »Respektiere
dich selbst, wenn du willst, dass andere dich respektieren
sollen.« Wenn’s nur so einfach wär. —
Filipa Lessing musste schon als Kind auf die Musikschulbühne,
um Klavier zu spielen. Bei Vorträgen heute stellt sie sich vor,
ihr Publikum bestände immer noch aus wohlwollenden Musik-
lehrern. Aufgeregt ist sie trotzdem jedes Mal.
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

Kaputt, aber
nicht wertlos
Begann in diesem Auto eine Liebesgeschichte? Quengelten
Kinder auf der Rückbank? Das können wir nicht beantworten.
Was wir wissen: Wir brauchen mehr Schrott.
Text Hella Kemper Fotos Pasi Orrensalo
 

140
Kilogramm Aluminium
stecken in einem Auto:
Sie werden wieder-
verwertet. Etwa 95 Pro-
zent eines Altfahrzeugs
werden recycelt. Bei
Autos funktioniert die
ressourcenschonende
Kreislaufwirtschaft damit
schon sehr gut

 

650
Millionen Tonnen
Eisenschrott werden
jährlich weltweit in
Stahlwerken verarbeitet.
Für Mischschrott
bekommt man in
Deutschland 13 Cent
pro Kilogramm, für
vorsortiertes Messing
und Kupfer drei bis
fünf Euro pro Kilo


42
Millionen Tonnen
Stahl wurden 2016 in
Deutschland herge-
stellt. Gut ein Drittel
verbrauchte die Bau-
branche, ein Viertel
die Autoindustrie,
12 % Metallwaren,
11 % Maschinenbau,
9 % Rohre, 2 % Haus-
haltswaren
 

Der finnische Fotograf Pasi Orrensalo

zeigt, dass die Existenz der Dinge nicht
auf dem Schrottplatz endet: Autos,
Fahrräder und Staubsauger haben eine
Geschichte, und in recycelter Form
werden diese Geschichten weitergehen.
Indem Orrensalo die Güter unter blauem
Himmel zum Fliegen bringt, schenkt er
ihnen die Aufmerksamkeit, die ihnen
zukam, als sie für einen Menschen noch
eine Bedeutung hatten

Gold und Gift
In Schrott steckt jede Menge Zeug,
man muss es nur rauskriegen
Text Hella Kemper
D
er Schrottplatz ist ein
Friedhof der Dinge, hier
wird, was kaputt oder
funktionsuntüchtig ist, ge-
sammelt, sortiert, zerlegt,
demontiert. Autos, Com-
puter, Herde, Staubsauger, Leitern, Gieß-
kannen, Digicams, Dachrinnen, Kessel,
Pfannen. Doch ihre letzte Ruhe finden sie
hier nicht. Der Schrottplatz ist nur eine
Zwischenstation – die Reise geht weiter.
Stückweise. Das Wort Schrott ist die nie-
derländische Variante von Schrot, und
Schrot bedeutet im Althochdeutschen »ab-
geschnittenes Stück«, schroden oder schra-
den: »schneiden«. Schrot bezeichnete auch
das Gesamtgewicht von edelmetallhaltigen
Münzen. Hochsprachlich tauchte »Schrott«
zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf und
meinte nun Metallabfälle, später auch
Plunder und Gerümpel oder – abschätziger
– Schund, Ramsch und Lumpenzeug.
Wertlos. Weg damit.
Ein Irrtum. Denn heute steckt im
Schrott Geld. In Form von Kupfer, Silber,
Gold, Palladium, Aluminium – und Stahl.
Stahl besteht überwiegend aus Eisen, etwas
Kohlenstoff und noch ein paar anderen Ele-
menten zur Veredlung. Besteck und Wasser-
hahn: aus Stahl. Töpfe und Spülbecken: aus
Stahl. Fahrrad, Werkzeug, Grill: Stahl drin.
Ebenso in Hochhäusern und Brücken.
Ohne Stahl funktioniert keine moderne
Volkswirtschaft. Vor allem die Auto- und die
Baubranche sind auf ihn angewiesen. Doch
wer Rohstahl produzieren will, braucht dafür
in Stücke geschnittenes Altmetall. »Eigent-
lich gibt es keine moderne Stahlerzeugung Fotos Pasi Orrensalo courtesy Mirko Mayer Gallery
mehr ohne Einsatz von Schrotten«, sagt
Daniel Goldmann, Professor für Rohstoff-
aufbereitung und Recycling an der Techni-
schen Universität Clausthal.
Weltweit werden pro Jahr 650 Millionen
Tonnen Schrott zu Stahl (Stand 2017), das
ist ein Anteil von knapp 40 Prozent an der
Rohstahlproduktion. Dabei gibt es krasse
Unterschiede von Land zu Land: In China
hat Schrott einen Anteil von nur 10 Prozent

an der gesamten Rohstahlproduktion, in
den USA 72 Prozent, in Spanien 80, in Ita-
lien 89 Prozent. Der vermeintliche Recyc-
ling-Streber Deutschland deckt hingegen
nur 44 Prozent der Stahlproduktion mit
Schrott. Was ist da los?
Der Grund ist, dass je nach Land un-
terschiedliche Herstellungsverfahren domi-
nieren. Es gibt zwei Verfahren, Stahl zu er-
zeugen: Im Elektroofen wird ausschließlich
Stahlschrott eingeschmolzen. Im Hochofen
werden Eisenerze verarbeitet und Schrotte
nur zum Abkühlen dazugegeben, meist etwa
20 Prozent. Deutschland ist ein Hochofen-
land. Zwei Drittel des Rohstahls werden
hierzulande auf diese Weise erzeugt. Nicht
nachhaltig. Doch das Elektrostahlverfahren
wird wichtiger, sagt eine Studie des Fraun-
hofer-Instituts für Umwelt-, Sicherheits-
und Energietechnik voraus. Das bedeutet:
Wir brauchen in Zukunft mehr Schrott.
Der Schrotthandel ist das älteste Re-
cyclinggewerbe der Welt – schon die Römer
schmolzen ihre Bronzestatuen wieder ein,
um daraus neue Messer, Schalen, Waffen
und andere Gegenstände zu gießen. Das
Faszinierende daran: Stahl kann ohne Qua-
litätsverlust recycelt werden. Stahl ist eine
unendliche Geschichte – rund 70 Prozent
allen jemals produzierten Stahls sind noch
in Gebrauch. Das schont Ressourcen.
Und nicht nur das. Laut OECD ent-
fallen rund sieben Prozent der weltweiten
CO₂-Emissionen auf den Stahlsektor.
Schrott kann helfen, sie zu reduzieren: weil
beim Einschmelzen von Schrott weniger
Kohlendioxid anfällt als in der Verarbeitung
von Roherz. Pro Tonne Stahl werden im
Durchschnitt knapp zwei Tonnen CO₂ er-
zeugt. Jede Tonne Schrott reduziert den
CO₂-Ausstoß um eine Tonne.
Schrott ist aber nicht gleich Schrott:
Seine Qualität wird vor allem durch Legie-
rung und Sortenreinheit bestimmt. »Wenn
wir komplexe Produkte wie hochintegrierte
Fahrzeuge oder Elektrogeräte erzeugen wol-
len, müssen wir hochwertige Schrotte ge-
winnen, etwa solche mit geringerem Kupfer-
gehalt«, sagt Recycling-Experte Goldmann,
»dafür brauchen wir neue Aufbereitungs-
technologien.« Das heißt, Schrotte müssen
besser sortiert und vorbehandelt werden.
Viele Produkte bestehen aus unterschiedli-
chen Materiallagen, etwa Kunststoff und
Stahl. »Werden Schrotte als Massenware
durch große, ältere Schredderanlagen ge-
fahren, entsteht Stahl von einfacherer Qua-
lität«, warnt Goldmann. Der kann dann nur
noch als Baustahl benutzt werden.
Aus einem Schrotthandel im nord-
rhein-westfälischen Hilchenbach bei Siegen
stammt Birgit Guschall-Jaik. Ihr Vater hatte
ihn nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet.
Sogar der Sonntagsausflug der Familie führte
häufig zum Schrottplatz – Kontrollgang.
Der Vater ließ dann die vier Kinder die
Schrottberge in Tonnen schätzen und in
Kilogramm umrechnen. »Mein Vater hat
uns schon früh erklärt, wie wertvoll unser
Schrott für die Stahlwerke und Gießereien
ist. Ich wusste: Wir machen etwas Wichti-
ges!« Dass man mit Schrott Geld verdienen
kann, haben irgendwann auch die Kom-
munen gemerkt. Sie untersagten privaten
Stahl ist eine unend-
liche Geschichte: Er
kann ohne Qualitäts-
verlust immer wieder
recycelt werden
Schrotthändlern das Geschäft, um über
Wertstoffhöfe selbst Sekundärrohstoffe zu
sammeln und zu verkaufen. Das Kreislauf-
wirtschaftsgesetz schaffte dafür die rechtliche
Grundlage. »Damit verschwanden die legal
fahrenden Händler«, sagt Birgit Guschall-
Jaik, die heute Referentin für Metallschrott
beim Bundesverband für Sekundärrohstoffe
und Entsorgung ist.
Doch Schrott lässt sich nicht so leicht
sammeln wie Kunststoff oder Papier. Schrott
zu zerkleinern ist aufwendiger. Ein Auto
muss trockengelegt werden, Kühlwasser,
Öle und andere Flüssigkeiten müssen raus,
bevor Metalle, Glas und Kunststoffe demon-
tiert werden können. Auch Kühlschränke
brauchen eine Sonderbehandlung. Das
können die Privaten besser als die Kom-
munen, sagt die Schrottlobby.
Die Branche hat sich verändert. Kleine
Schrottplätze, oft in der Nähe von Bahn-
höfen oder an Kanälen gelegen, gibt es kaum
noch. Viele Schrott- und Recyclingplätze
gehören global tätigen Entsorgungsunter-
nehmen und sind zu Hochsicherheitstrakten
aufgerüstet. »Der Metalldiebstahl ist profes-
sionell organisiert«, sagt Birgit Guschall-
Jaik, »die Schrottunternehmen müssen sich

schützen.« Im großen Stil werden beispiels-
weise auch Schienen und Kupferkabel,
Klemmen und Handweichen der Bahn ge-
stohlen. Ebenso wertvoll: Elektroschrott.
Laut United Nations University landeten
2016 knapp 45 Millionen Tonnen Elektro-
schrott auf dem Müll, sechs Kilogramm pro
Kopf, mit einem theoretischen Recycling-
wert von 55 Milliarden Dollar.
Manche Experten behaupten nun, dass
hierzulande ein Drittel des Elektroschrotts
von Privatleuten nicht ins Recycling gelangt.
Weil ihn niemand mehr abholt. 120 Mil-
lionen alte Handys und Smartphones liegen
in Schubladen und Schränken, schätzen
Thomas Rau und Sabine Oberhuber in ih-
rem Buch Material Matters. In diesen 120
Millionen Handys würden knapp drei Ton-
nen Gold im Wert von 110 Millionen Euro
stecken. Eine Goldquelle, die nicht sprudelt.
Das neue Elektro- und Elektronikgerätege-
setz, das im August in Kraft getreten ist, soll
die Recyclingqoute erhöhen.
Doch im E-Schrott steckt nicht nur
Gold, sondern auch Gift: Arsen, Queck-
silber, Kadmium, Chrom. Laut Deutscher
Umwelthilfe werden pro Jahr schätzungs-
weise 400.000 Tonnen Elektroschrott aus
Deutschland illegal exportiert – auch an
einen der giftigsten Orte der Welt: auf die
Mülldeponie für Elektroschrott in Ghanas
Hauptstadt Accra, über die im Sommer der
Film Welcome to Sodom – Dein Smartphone
ist schon hier berichtete.
Ein Vorbild könnten die Japaner sein:
2020 werden in Tokio die Olympischen
Spiele stattfinden. Die Rohstoffe für die
5000 Medaillen sollen aus Digicams, Smart-
phones und Computern kommen. Alle Japa-
ner sind aufgerufen, ihren Elektroschrott zu
Sammelcontainern zu bringen. Die Idee hat
nur einen Schönheitfehler: Die Metalle
werden dem Kreislauf entzogen, weil wohl
kein Olympionike seine Medaillen zum
Wertstoffhof bringen wird.
Es gibt noch eine bessere Idee, aus
Schrott Gold zu machen: mit Kunst. Jean
Tinguely baute aus Altmetall bewegliche
Plastiken, die heute viel Geld wert sind. Jetzt
steht der Schrott im Museum. —
Hella Kemper hatte ein romantisches Bild
von Schrottplätzen – als Kind stromerte sie mit
ihrem Vater über die Müllkippe der westfälischen
Heimatstadt. In Hamburg musste sie lange suchen,
bis ein »Schrotti« sie endlich auf seinen Platz ließ.
Die Anfangstage: Aus der »Sommerfrische« des Bürgertums wird der Badeurlaub für alle

Die unerträgliche
Leichtigkeit TOURISMUS

des Reisens
Nachhaltigkeit
kompakt

Wir sind zu viele, die wir da ständig unsere Koffer

packen, klar. Wie kann man heute noch ein guter Tourist sein?

Text Niels Boeing Illustration Carsten Raffel

 Die Gegenwart: Überfüllte Strände, an denen so mancher Tourist die guten Manieren vergisst, sind der Normalfall geworden
Abbildungen »A Family Outing« von Edward Henry Potthast (1857–1927) / Bridgeman Image; Kalle Singer / Visum
E
s ist Sonntagmittag, als die E-Mail der Air-
line kommt: Der Flug nach Venedig am
nächsten Morgen ist gestrichen. Die Flug-
lotsen in Italien streiken. Die Reisenden
beratschlagen kurz, dann steht der Ent-
schluss fest: Wir fahren heute Nacht um
eins mit der Bahn. 15 Stunden. Ohne Schlafwagen. In
den ICE eingestiegen, nicken wir bald ein, schrecken
zwischendurch aus den Sesseln hoch, nicken wieder
ein. Doch mit jedem Umsteigen steigt die Stimmung.
Am Vormittag, der Brenner liegt hinter uns, fliegen
schon die Dolomiten rechts und links an den Fenstern
des Speisewagens vorbei. In Bologna lacht beim letzten
Umsteigen eine warme Oktobersonne, und eine gute
Stunde später treten wir aus der beeindruckenden
Halle des Bahnhofs Venezia Santa Lucia, die Treppen
hinunter geht es direkt auf den Canal Grande zu.
Endlich in Venedig! Ein großes Glücksgefühl über-
kommt uns. An nachhaltigen Tourismus denken wir da
keine Sekunde. Wie auch?
Den streikenden Fluglotsen ist zu verdanken, dass
jeder von uns auf der Fahrt »nur« 52 Kilogramm des
Treibhausgases CO₂ in die Atmosphäre entlassen hat.
Mit dem Flugzeug wären es 154 Kilogramm gewesen,
fast dreimal so viel. Millionen von Europäern jetten täg-
lich kreuz und quer über den Kontinent, um dem Alltag
zu entfliehen. Allein die Deutschen machen jedes Jahr
150 Millionen Reisen, die länger als fünf Tage dauern
und mehr als hundert Kilometer vom Heimatort weg-
führen – viele davon mit dem Flugzeug. Das belastet die
Umwelt mit Treibhausgasen und Schadstoffen.
Viele Airlines bieten inzwischen bei der Buchung
an, freiwillig geringfügige CO₂-Ausgleichszahlungen,
etwa für das Anpflanzen von Bäumen, anzukreuzen.
Studien zeigen, dass zwei Drittel der Deutschen nach-
haltiges Reisen wichtig finden und entsprechende
Lösungen befürworten. Die Realität sieht anders aus:
»Weniger als drei Prozent der Deutschen nutzen den
CO₂-Ausgleich beim Fliegen«, sagt Edgar Kreilkamp,
Tourismusforscher an der Leuphana Universität Lüne-
burg. Denn der Boom der Billigflieger trifft auf einen
»Preisvergleichswahnsinn«, den gerade die Deutschen
mit Leidenschaft betreiben. Gemeinsam mit den Briten
sind sie die größten Pfennigfuchser des Kontinents,

wenn es ums Reisen geht. Dass Europas Touristen von
selbst zur Einsicht kommen, glaubt Kreilkamp nicht.
»Sinnvoll wäre, dass Fluggesellschaften und Veranstalter
diese Ausgleichszahlungen gleich mit einpreisen«,
schlägt Kreilkamp vor. Das allerdings müsste idealer-
weise die EU vorschreiben – im harten Wettbewerb der
Fluglinien wird keine einen Alleingang wagen.
Die fünf oder zehn Euro extra würden wahrschein-
lich bei Flugpreisen von hundert Euro und weniger
kaum Menschen vom nächsten Kurztrip in eine der
angesagten Städte Europas abhalten. Was dem Klima-
schutz zugutekäme, würde den Städten aber noch nicht
helfen. Denn der Tourismus hat inzwischen nicht nur
ein Problem mit der ökologischen, sondern vor allem
auch mit der sozialen Nachhaltigkeit.
Wir Venedig-Reisenden, die nach einer ökologisch
korrekten Anreise in wohlverdienten Schlaf gefallen
sind, schrecken spätestens um sechs Uhr morgens hoch.
Eine Armada von Rollkoffern bewegt sich gut hörbar
über das Pflaster der venezianischen Gassen, um das
Vaporetto – so heißen in Venedig die Wasserbusse – zum
Flughafen Marco Polo zu erwischen. Leicht gerädert
verlassen wir später am Morgen das Hotel, um einen
Espresso zu trinken, und werden sogleich von einem
Touristenstrom eingesogen. Durch enge Gassen schieben
Die Zahl der Touristen weltweit hat seit 1950 dramatisch zugenommen
(Daten der World Tourism Organization)
wir uns Richtung Markusplatz, wo bereits Tausende
Tauben und Tausende Touristen vereint sind. Am
Abend werden wir Zeuge eines Gondelstaus in einem
Seitenkanal: Gondolieri, deren Boote sich blockieren,
beschimpfen sich, während hinten in der zwanzigsten
Gondel ein Gondoliere noch unverdrossen weitersingt.
In Venedig ist seit je die Zukunft des Tourismus
zu besichtigen gewesen. Schon im 17. Jahrhundert be-
gann Europas Adel in die Lagunenstadt zu reisen, um
sich einem ausschweifenden, monatelangen Karneval
hinzugeben, das Bürgertum folgte im 19. Jahrhundert
nach, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die italie-
nische Stadt dann zum Sehnsuchtsort der Massen.
Lebten in den Fünfzigerjahren noch 150.000 Venezianer
zwischen Piazzale Roma und Arsenale, sind es heute nur
55.000. Aus Tausenden von Wohnungen wurden Hotels
und Herbergen, die verbliebenen Wohnungen sind
heute für Menschen mit normalem Einkommen so gut
wie unbezahlbar. Bereits 1950 verzeichnete Venedig
stolze zwei Millionen Besucher im Jahr, heute sind es 30
Millionen, die sich zwischen Rialto-Brücke, Markus-
dom und Dogenpalast auf die Sandalen treten – und
die Einheimischen nerven.
Das Schicksal von Venedig ereilt immer mehr euro-
päische Städte – kleine ebenso wie große. »Overtourism«

nennen Forscher den neuen Ansturm auf Europas be-
liebteste und fotogenste Städte.
Im kleinen San Gimignano – einer italienischen
Hügelstadt in der Toskana, südwestlich von Florenz,
Einwohnerzahl: 7800 – locken die berühmten Ge-
schlechtertürme aus dem Hochmittelalter, mit die ersten
Hochhäuser der Weltgeschichte. »Aber innerhalb der
Stadtmauern gibt es keinen einzigen Metzger, keinen
Gemüsehändler, keinen echten Bäcker mehr«, stellt der
renommierte italienische Journalist Marco D’Eramo in
seinem aktuellen Buch Die Welt im Selfie fest. »Innerhalb
der Stadtmauern ist alles zu einem einzigen Set für einen
mittelalterlichen Kostümfilm geworden.«
Eine solche Entkernung der Innenstädte erreicht
inzwischen auch große Metropolen. Wohnungen werden
in Ferienwohnungen umgewandelt – durch Online-
Wohnungsbörsen wie Airbnb geht das heute rasend
schnell. 2016 übernachteten 1,2 Millionen Touristen in
Wohnungen, die auf Airbnb angeboten werden – und
in der Regel keine Lizenz als Herberge haben. Folge: Der
Wohnungsmarkt wird enger, die Mieten steigen. Pro
Woche werden in Barcelona derzeit fünf bis sechs Woh-
nungen zwangsgeräumt, weil die Mieter nicht mehr
zahlen können. Die linke Stadtregierung um die charis-
matische Bürgermeisterin Ada Colau hat gegen Airbnb
eine Strafzahlung von 600.000 Euro verhängt. Der
Druck wirkt: Airbnb hat 5000 Barcelona-Angebote ent-
fernt. Auch andere Städte in Europa gehen gegen diese
und ähnliche Plattformen vor. Barcelona gibt jedem
Touristen zudem die Chance, auf einem Online-Stadt-
plan nachzuschauen, ob eine Unterkunft bei der Stadt
registriert ist – und dann verantwortungsvoll zu buchen.
So engt sich für Barcelona-Besucher die Suche
nach einer bezahlbaren und genehmigten Unterkunft
schnell ein. Schließlich ist eine gefunden, nur zehn
Minuten zu Fuß von der Altstadt entfernt. Im Netz mit
vielversprechenden Fotos angepriesen, entpuppt sie sich
aber als bessere Jugendherberge. Und zwar an einer der
Haupteinfallstraßen in die Innenstadt, wie sich heraus-
stellt. Schon um fünf Uhr morgens werfen die Fassaden
der imposanten Altbauten das Dröhnen der Lkw-Motoren
und das Knattern der Motorräder hin und her, dass die
Scheiben wackeln. An Schlaf ist nicht mehr zu denken.
So fühlt sich eine Stadt an für diejenigen, die mit einem
schmalen Budget über die Runden kommen müssen.
Und wir malen uns aus, wie es sein muss, wenn man in
diesem allnächtlichen Lärm fit für den nächsten Tag in
einem schlecht bezahlten Dienstleistungsjob in der
Tourismusbranche werden muss.
Genau genommen ist das Wort »Tourismusbranche«
aber eine Verharmlosung. »In Wahrheit ist gerade der
Tourismus die schwerste, die wichtigste Industrie des
21. Jahrhunderts«, schreibt Marco D’Eramo. Sie erzeugt,
samt indirekten Dienstleistungen, mit Einnahmen von
7,9 Billionen Dollar ein Zehntel des Bruttoweltprodukts.
Weder Auto- noch Computerindustrie reichen da heran,

Tourismus ist die wichtigste Industrie des 21. Jahrhunderts
(Daten der World Tourism Organization)
von klassischen Industrien wie Stahl, Bergbau und
Schiffsbau ganz zu schweigen.
Doch was treibt eigentlich Jahr für Jahr immer
mehr Menschen in dieses neue Teilzeit-Nomadentum?
»Die Flut des Tourismus ist einzige Fluchtbewegung aus
der Wirklichkeit«, vermutete Hans-Magnus Enzens-
berger bereits 1958, als er eine erste Theorie des Tourismus
niederschrieb. Enzensberger sah in dieser Fluchtbewe-
gung zugleich eine unbewusste Kritik an der modernen
Gesellschaft. Die »Flut«, die er wahrnahm, war indes
nur der bescheidene Anfang des Reisebooms (siehe
Grafik auf Seite 92).
Harald Zeiss, Tourismusforscher an der Hoch-
schule Harz, erkennt im heutigen Tourismus vor allem
eine gewisse Atemlosigkeit. »In Zeiten von Instagram
reisen viele Leute zunehmend Traumwelten hinterher,
die sie zuerst im Netz kennenlernen. Weil sie glauben,
dass man die erlebt haben muss, machen sie an die be-
reisten Orte nur noch einen Haken.« Diesem Sog kann
man sich ergeben. Zeiss rät Touristen jedoch, in sich zu
gehen und sich zu fragen: Was will ich da eigentlich?
Muss ich wirklich auf den Eiffelturm? Reise ich nicht
einem Hype hinterher? Er wie auch die anderen Touris-
musexperten empfehlen, die Hotspots zu meiden, aus-
zuschwärmen, andere interessante Orte zu entdecken.
Aber man weiß, was aus solchen Entdeckungen
werden kann. Ich erinnere mich noch gut an meinen
ersten Besuch in Angkor, jener mystischen, 1000 Jahre
alten Tempelstadt, die einst das Zentrum des Khmer-
Reichs war. Zwei Jahre nach dem Ende des kambod-
schanischen Bürgerkriegs war ich im benachbarten
Siem Reap angekommen. Der Sonnenaufgang über den
zugewucherten Ruinen war schon da ein Muss für alle
Angkor-Besucher. Weil es fast alle im Morgengrauen zu
einem Tempel mit vielen Buddha-Gesichtern in der
steinernen Fassade zog, kletterte ich auf einen abseits

stehenden Ruinenhügel, Phnom Bakheng genannt. Mit
fünf anderen sah ich dort die Sonne über dem gewaltigen
Angkor Wat aufgehen. Fast 20 Jahre später ist der Zu-
gang zum Phnom Bakheng stark reglementiert, nach-
dem jedes Jahr mehr, zuletzt Hunderte von Besuchern
den Hügel erklommen hatten.
Verruchte Stadtteile, einsame Inseln, verlassene
Tempelstädte – bisher ist noch kein Ort verrucht, einsam
und verlassen geblieben, von dem irgendwann erste
Reisende begeistert zurückkamen und erzählten. Jene,
die sich selbst als Traveller bezeichneten, weil sie mit
einem Rucksack reisten. Die glaubten: Touristen sind
immer die anderen. Dieser Mythos ist nebenbei uralt.
Schon Stendhal schimpfte 1817 nach einem Florenz-
Besuch: »Florenz ist ein Museum voller Ausländer, die
ihre eigenen Gepflogenheiten dorthin verpflanzen.«
Wenn es voll wird, sind wir alle Touristen. Unsere Ge-
Kreuzfahrten sind maritimer Massentourismus geworden
(Daten von McKinsey, MPCC, »Traffic Infrastructure Review«)
pflogenheiten, unsere Erwartungen verändern die Orte,
die wir bereisen, nachhaltig. Aber in einem ganz ande-
ren Sinne. Ich erinnere mich an einen Abend in der
Altstadt von Barcelona. Ich suche ein kleines Restau-
rant mit katalanischer Küche und finde – Tapas-Bars.
Überall nur Tapas-Bars. Was einmal Appetithappen
zum Wein waren, gerne auch tagsüber gegessen, wird
nun als vollwertiges und ziemlich kostspieliges Dinner
angeboten. Und zwischen den Tapas-Bars? Befinden
sich Imbisse, Kioske und Souvenirläden. Nicht nur die
Metzger, Gemüsehändler und Bäcker weichen zuse-
hends den Angeboten an den Overtourism, auch die
traditionellen Restaurants, die ursprünglich Einheimi-
sche beköstigten, verschwinden.
Viele Städte und Ziele in der Ferne sind von dieser
Entwicklung überwältigt worden. Aber sie sind nicht
machtlos. »Overtourism ist ein Problem von Under-
management«, sagt Harald Zeiss nüchtern. Einige Kom-
munen haben das Problem erkannt – und reagieren.
Barcelona etwa hat, neben seiner strengen Airbnb-
Politik, bereits 2013 den berühmten Park Güell, vor
über hundert Jahren von dem spanischen Architekten
Antoni Gaudí angelegt, reguliert. Traten sich dort zuvor
neun Millionen Besucher auf die Füße, kann man den
Park nach neun Uhr morgens nur noch nach Anmeldung
besuchen. Zeitgleich dürfen nicht mehr als 400 Men-
schen sich an Gaudís Park ergötzen.
Dubrovnik hat beschlossen, die Zahl der Kreuz-
fahrtschiffe, die zur selben Zeit ankommen, zu begrenzen.
Seit die Altstadt des kroatischen Orts als Filmset für die
Kultserie Game of Thrones diente, wird sie geradezu
überrannt. Auch andere Häfen planen, den Landgang
des neuen maritimen Massentourismus einzudämmen
– zumal die Kreuzfahrtpassagiere nicht so viel Geld wie
erhofft in den Straßen ausgeben, zu deren Verstopfung
sie beitragen. Eine Erfahrung, die inzwischen viele Mittel-
meerhäfen gemacht haben.
Besonders drastische Maßnahmen hat 2017 Ams-
terdam beschlossen. In mehreren Innenstadtquartieren
will die niederländische Stadt nun aktiv in die Mischung
des Einzelhandels eingreifen und die Zahl der Souvenir-
läden, Eisdielen, Imbisse und Fahrradverleihe verringern.
Busse dürfen nicht mehr hineinfahren, sogenannte Bier-
Bikes sind im Stadtzentrum ganz verboten. Touristen-
ströme im Rotlichtbezirk De Wallen werden bei Über-
füllung durch städtische Angestellte zeitweilig in
Seitengassen umgeleitet. Und für Touristen, die Buß-
gelder für Regelverstöße bekommen haben, stellt Ams-
terdam sogar eigene Bezahlautomaten auf.
Kanalisieren, reglementieren, sanktionieren also.
»Es gibt keine Alternative zu einer Regulierung«, ist sich
Kurt Luger vom Institut für interdisziplinäre Tourismus-
forschung in Salzburg – einer weiteren vom Tourismus
gebeutelten Stadt – sicher. Für Städte und Orte, deren
Wirtschaft maßgeblich vom Tourismus abhängt, ist es
allerdings eine Gratwanderung. Wenn das Reisen die

Europäische Städte mit dem größten Touristenwachstum
(seit 2009, Daten von Mastercard)
große Freiheit vom Alltag verspricht, wenn Enzensbergers
einstige Vermutung von der »Fluchtbewegung« ein
Körnchen Wahrheit enthält, könnte diese Regulierungs-
strategie dazu führen, dass Touristen wegbleiben – und
Arbeitsplätze verloren gehen. Sozial nachhaltiger wäre
der Tourismus jedoch allemal, wenn nicht immer mehr
Menschen immer weiter und häufiger reisen würden.
Dass der Peak schon erreicht ist, glaubt Frank
Schaal, Tourismusforscher an der EBC Hochschule
Berlin, aber nicht: »Touristen aus der wachsenden Mittel-
schicht Chinas und Indiens werden die Zahl in den
kommenden Jahren wachsen lassen.« Aus beiden Ländern
könnten bis 2025 weitere 900 Millionen zusätzliche
Touristen ausschwärmen. Gerade auch nach Europa:
DRAUSSEN bin ich
kein anderer Mensch. Aber ich bin
GANZ BEI MIR.
DAS BEWEGT MICH!
PSYCHOLOGIE
HEUTE WWW.PSYCHOLOGIE-HEUTE.DE

Der alte Kontinent zieht bislang die Hälfte aller Tou-
risten weltweit an, fast dreimal so viel wie Nord- und
Südamerika zusammen. Die Frage »Muss ich wirklich
auf den Eiffelturm?« stellt sich wahrscheinlich in Mum-
bai, Delhi, Shanghai und Peking niemand, der es sich
demnächst leisten kann.
Was aber kann der Tourist tun, der kein Besucher
und kein Reisender mehr ist? Der keiner mehr sein
kann, weil er eben nie allein kommt, sondern immer als
Teil einer Masse? Geht das überhaupt: ein guter Tourist
zu werden?
Ludwig Ellenberg hat den Tourismus fünf Jahr-
zehnte untersucht, zuletzt als Geografie-Professor an der
Humboldt-Universität zu Berlin. Seit Langem geht ihm
ein nicht ganz ernst gemeinter Gedanke durch den
Kopf: einen »Numerus clausus« für Touristen einzu-
führen, gerade für Fernreisen. Der Reisende müsste sich
prüfen lassen: ob er sich mit der Geschichte des Reise-
ziels beschäftigt hat, ob er sein Ego bändigen kann, ob
er um die Besonderheiten des Gastlandes weiß, ob er
bereit ist, andere Verhältnisse hinsichtlich Sauberkeit,
Lärm, Unterkunft, Essen und Trinken zu akzeptieren.
»Und wer den Test nicht besteht, bekommt eine
neue Reise-Chance im nächsten Jahr!«, fügt Ellenberg
scherzhaft hinzu. Natürlich weiß er, dass das utopisch
ist. Einen Rat hat er dann aber doch. »Der Reisende
sollte lernen, auszuschwärmen, zu beobachten, inne-
zuhalten, gegenüber den kleinen Dingen aufmerksam
zu sein – und begreifen, dass eine Reise nicht vom
übrigen Leben abgetrennt ist.« —
Niels Boeing fuhr 2004/05 fünf Monate lang von Hamburg
nach Kapstadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln über Land.
Die CO₂-Bilanz dieser Reise war schlechter als ein Direktflug
Hamburg–Kapstadt. Das Abenteuer war jedoch unvergleichlich.
ALS
AUCH
AP P

CITIZEN-SCIENCE

Forschung, bei der jeder mitmachen kann:

Immer mehr wissenschaftliche Projekte vertrauen auf die Mitarbeit von Freiwilligen.
Die werten Daten aus, beobachten die Natur, sichten Dokumente oder steuern ihre
Fähigkeiten auf andere Weise bei. Citizen-Science ist in der Regel für alle
Interessierten offen, setzt weder Doktortitel, Immatrikulation oder Abitur voraus noch
das Beherrschen
von Fachchinesisch. Auf dieser Seite
Alles, was Sie stellt ZEIT WISSEN
brauchen, sind regelmäßig
Neugierde und Zeit. spannende
Und einen Citizen-Science-
Internetanschluss. Projekte vor

Text Ulf Schönert

Das Klopfen im Kopf

Zusammen finden Patienten vielleicht die Auslöser
von Migräne und Clusterkopfschmerzen

S
ind Luftverschmutzung, Medikamente
oder die Hormone schuld? Oder sind es
Schlafmangel und Reizüberflutung? Einige
verdächtigen Alkohol, chemische Zusatz-
stoffe, Stress und Verspannungen, andere zu
viel Fernsehen oder sogar das Erdmagnet-
feld. Bei der Fahndung nach den Auslösern von Mi-
gräne-Kopfschmerz kommen viele Ursachen in Be-
tracht: Studien geben vielerlei Hinweise, und fast jeder
Kranke hat seine persönliche Theorie. Trotzdem wissen
wir nicht, was Migräne verursacht. Darum probieren
Wissenschaftler der Hochschule Hof einen neuen Weg
aus: Sie lassen die betroffenen Patienten mitforschen.
Die Idee zu dem Projekt hatten aber nicht Mediziner,
ermöglichen, eine größere Menge an Daten zu sammeln
und auszuwerten, um Auffälligkeiten oder Trends besser
erkennen zu können.
Inzwischen gehört der Kopfschmerz-Radar mit
rund 6000 Teilnehmern zu den größten Citizen-Science-
Projekten in Deutschland. Die meisten von ihnen sind
Migräne-Patienten. Menschen mit Clusterkopfschmer-
zen können seit Kurzem ihre Daten an ein spezielles
Projekt für diese Form von Kopfschmerzen schicken:
Clusterkopfschmerzen sind der Migräne ähnlich, die
Anfälle treten seltener, dafür aber umso heftiger auf.
Um ihre Anfälle zu dokumentieren, nutzen die Teil-
nehmer entweder die Website kopfschmerz-radar.de
oder die Apps MiRa und CluRa.
Foto Frederic Cirou / Getty Images

sondern die Forschungsgruppe Analytische Informations-
systeme. Ihr Chef heißt Jörg Scheidt, er ist eigentlich
Physiker und kannte sich mit Kopfschmerzen zunächst
gar nicht aus. Aber er weiß, welche Kraft Daten haben
können. Zusammen mit seinen Kollegen entwickelte er
den Kopfschmerz-Radar. Die Idee: Anstatt wie bei einer
klinischen Studie das Verhalten weniger Betroffener in
den Blick zu nehmen, sollte der Kopfschmerz-Radar
Zunächst ist eine Registrierung mit Selbstauskunft
notwendig: Geburtsjahr, Geschlecht, Wohnort, Art der
Arbeit, Arbeitszeiten und natürlich die Art der Kopf-
schmerzen. Dann bewerten die Patienten ihren Anfall
auf einer Intensitätsskala zwischen eins und zehn. Sie
geben an, wie lange der Anfall anhielt, ob der Schmerz
stechend oder eher dumpf war. Sie beschreiben, wo
genau im Körper der Schmerz zuerst zu spüren war: im
 

Nacken? Im Hinterkopf? Betraf er beide Seiten? Fest-
gehalten wird auch, welche Medikamente in welcher
Dosierung eingenommen oder ob andere Maßnahmen
ergriffen wurden, um den Anfall einzudämmen, bei-
spielsweise Schlaf, Ruhe oder Verdunkelung.
Zehntausende Migräne-Anfälle wurden auf diese
Weise bereits in der Datenbank dokumentiert. Erste
statistische Auswertungen zeigen, dass sich bei einigen
Patienten die Anfälle am Wochenende häufen, andere
leiden dagegen öfter in der Wochenmitte, wieder ande-
re am Anfang der Woche. Kopfschmerzen werden selten
durch nur einen einzigen Faktor ausgelöst. Darum
wollen Jörg Scheidt und sein Team das vorhandene
Material mit weiteren Werten verknüpfen, zum Beispiel
mit Wetterinformationen, astronomischen Daten, mit
Feinstaubwerten und geomagnetischen Aktivitäten.
Mediziner sehen den Migräne-Radar eher skep-
tisch, wie oft bei bürgerwissenschaftlichen Ansätzen.
Anders als bei einer klinischen Studie stammt die Dia-
gnose bei den Teilnehmern nicht von einem Arzt, sondern
aus der Selbstauskunft. Ungesichert ist auch, ob die
Patienten alle Anfälle dokumentieren und ob sie das
genau genug tun. Überprüft werden die Angaben nicht,
und tatsächlich klaffen die Erkenntnisse des Migräne-
Radars und die medizinischer Studien auseinander. So
liegt der Anteil derer, die neben Kopfschmerzen be-
gleitende Sehstörungen haben, im Migräne-Radar bei
53 Prozent, klinische Studien ermittelten deutlich
niedrigere Werte von etwa 30 bis 35 Prozent.
Dennoch ist Scheidt vom Citizen-Science-Ansatz
überzeugt: »Je mehr Daten gesammelt werden, desto
weniger fallen falsche Angaben ins Gewicht.« Also ging
das Team mit ersten Ergebnissen an die Öffentlichkeit:
Das Wetter spielt offenbar eine geringere Rolle als viel-
fach angenommen. Nur bei etwa vier Prozent der Teil-
nehmer des Migräne-Radars konnten Wetteränderun-
gen als Trigger von Anfällen statistisch signifikant
nachgewiesen werden. Wenn Tief- und Hochdruck-
gebiete, Minusgrade und Gewitter den Kopf nicht
schmerzen lassen, muss die Suche also weitergehen. —

NOCH ZWEI CITIZEN-SCIENCE-PROJEKTE

Autos und Mäuse vermessen

1. Radfahrer leben gefährlich, weil Auto-
fahrer oft nicht den seitlichen Sicherheits-
abstand von 1,5 Metern einhalten. Deshalb
haben Techniker des Medieninnovations-
zentrums Brandenburg ein Gerät ent-
wickelt, das am Fahrradrahmen montiert
wird und den Abstand zum überholenden
Auto mit Ultraschall misst. Es werden nun
hundert Freiwillige in Berlin gesucht, die
das Gerät an ihr Fahrrad montieren und
bis Ende des Jahres durch die Stadt
fahren und damit Daten sammeln. Wer
mitmachen will, meldet sich unter
interaktiv.tagesspiegel.de/radmesser.
2. Als eine Ursache der Alzheimer-
Erkrankung wird ein reduzierter Blutfluss
im Gehirn vermutet. Um das nachzuweisen,
haben Forscher der US-Universitäten
Berkeley und Cornell Tausende mit einem
Mikroskop aufgenommene Filmsequenzen
ins Internet gestellt, die zeigen, wie das
Blut durch die Adern von Mäusegehirnen
pulsiert – oder an manchen Stellen der
Blutbahnen eben nicht. Helfer sollen diese
Stockungen im Blutfluss finden und am
Bildschirm markieren. Wie das geht,
zeigt ein einminütiger Erklärfilm. Mehr
als 10.000 Freiwillige machen bereits auf
der Seite stallcatchers.com mit.

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 BÜCHER


»In dem, was Sie für

einen Wald halten,
liegt das Geheimnis
des Geistes«

»Jemand kann an
364 Tagen im Jahr
gesetzestreu sein und
am 365. Tag einen
Mord begehen«
Wenn wir nur noch eine
blasse Erinnerung sind
Roland Schulz: »So sterben wir«
Wie viel Zeit bleibt mir? Je jünger man ist,
desto seltener stellt man sich diese Frage, je
älter man wird, desto drängender wird sie.
Wer sie einem Arzt stellt, hat keine gute
Diagnose. Eine Antwort gibt es nicht. Sicher
ist nur: Ich sterbe vielleicht später, als ich
glaube, aber früher, als ich es mir wünsche.
Der Journalist Roland Schulz hat ein radi-
kal ehrliches Buch über das Sterben und
den Tod geschrieben. Er versetzt seine Leser
in die Situation des Abschiednehmens: das
letzte Mal am Meer, das letzte Mal Äpfel
pflücken. Der Tod überschattet alles und
»lässt die Schönheit des Lebens ans Licht
treten«, so Schulz. Er beschreibt, wie wir
und 57 Millionen andere Menschen welt-
weit jedes Jahr sterben. Wie unser Körper
verfällt, überschüssige Flüssigkeit sich in die
Lunge legt und den Atem rasseln lässt. Der
Puls langsamer, der Urin weniger wird. Der
Körper Botenstoffe ausschüttet und so die
Schmerzen dämpft. Dem klinischen folgt
der biologische Tod und dann eine Fülle
von Gesetzen, Aufgaben und Ritualen bis
zur Bestattung. Was in diesem Zeitraum ge-
schieht und geschehen muss, ist erstaunlich,
Schulz hat es bis ins Detail recherchiert:
Wie wasche ich eine Leiche, wie schließe
ich die Augen, wie näht der Bestatter den
Mund eines Leichnams zu? Wann muss er
verbrannt werden, was darf in den Sarg,
wer gräbt das Grab? Schulz bringt uns den
Tod nah, denn Sterben ist nicht schön, aber
es ist Teil des Lebens. Hella Kemper
Piper, 240 S., 20 Euro
Mörder sind auch Menschen
Julia Shaw: »Böse«
Wer erwartet, dass es in Julia Shaws neuem
Buch Böse darum geht, dem ultimativ Ge-
meinen, Schlechten, Verbrecherischen auf
die Spur zu kommen, liegt daneben. Der
Psychologin geht es viel eher darum, das
Böse als Begriff abzuschaffen – und statt-
dessen genauer hinzusehen: Was sind die
Motivationen derer, die wir als böse be-
zeichnen? Was bewegt sie? Und meinen wir
mit »böse« nicht allzu oft: Die sind anders
als wir, die sind »nicht normal«, und was
normal ist, bestimmen wir? »Bei unseren
eigenen Entscheidungen sehen wir die
Nuancen, die Umstände, die Schwierigkei-
ten«, schreibt Shaw, »bei anderen sehen wir
oft nur das Ergebnis ihrer Entscheidungen.«
Kurz: Wer 50 Jahre unbescholten gelebt
und dann jemanden umgebracht hat, ist für
uns nicht mehr als ein Mörder – sein ge-
samtes Leben schnurrt zusammen auf den
Moment der Tat. Shaw macht es sich und
ihren Lesern nicht leicht auf ihrer Gedan-
kenreise zu Sadisten, Pädophilen und Serien-
mördern, zu Mobbern und Terroristen.
ALLERGIE?
Weil immer mehr klar wird: Ihre Ausflüge
sind vor allem Expeditionen zu und in uns
selbst. Indem wir andere entmenschlichen
oder ihnen ihre Individualität nehmen,
stoßen wir den Gedanken von uns fort, dass „ICH WILL EIN GARANTIERT
auch in uns Fantasien lauern, vor denen wir GESUNDES HAUS, IN DEM
bewusst oder unbewusst Angst haben. ICH ENDLICH WIEDER
»Dieses Buch möchte informieren und er- FREI DURCHATMEN KANN.“
mächtigen. Wenn wir verstehen, was zu
Leid führt, können wir beginnen, dagegen
anzukämpfen«, schreibt Shaw. Zwei Jahre,
nachdem sie darüber berichtet hat, wie unser
Gehirn Erinnerungen fälscht, ist ihr ein
zweiter großer Wurf gelungen. Eine Psycho-
logie unserer Abgründe. Sven Stillich
Hanser Verlag, 320 S., 22 Euro
Reise ins Zentrum unseres Daseins
Farinella, Roš: »Das Gehirn«
Der Neurowissenschaftler und Zeichner NACHWEISLICH
UNERREICHTE WOHN-
Matteo Farinella unternimmt mit seiner GESUNDHEIT UND PREIS-
Kollegin Hana Roš einen Ausflug in die Ge- GEKRÖNTES DESIGN – DAS
schichte ihrer Wissenschaft – genauer: Die KANN NUR BAUFRITZ.
beiden schlüpfen in ihrer Graphic Novel in
www.baufritz-dz.de
das Gehirn eines Menschen und treffen
dort bedeutende Forscher. Santiago Ramón
y Cajal etwa – einer der Begründer der
Neurowissenschaft – erklärt den Aufbau des
Gehirns, der Neurologe Hans Berger be-
schreibt, wie er erstmals Gehirnwellen beob-
achtet hat, und Eric Kandel erzählt etwas

über die Speicherung von Erinnerungen.
Der Ausflug in die Windungen der Wissen-
schaftsgeschichte ist handwerklich solide
illustriert und betextet, wobei der Fokus
auf Wissensvermittlung liegt und nicht auf
dem künstlerischen Potenzial einer Graphic
Novel. Auf diese Weise aber verlässt der
Leser das gezeichnete Gehirn immerhin mit
einem klügeren eigenen Kopf. Sven Stillich
Kunstmann, 136 S., 20 Euro
Ein aufregendes Leben
bleibt nie unversehrt
Elisabeth von Thadden: »Die berührungslose
Gesellschaft«
Wir spätmodernen Menschen leben in einer
berührungsarmen Zeit, so die Diagnose der
ZEIT-Redakteurin Elisabeth von Thadden.
Wir sehnen uns intensiv nach Berührung
und wollen doch nicht verletzt werden. Ihr
Buch umzirkelt die Paradoxien dieser Sehn-
sucht und Abwehr. Dazu begibt sich die
Autorin auf eine tastende Suche durch
Kultur-, Wissenschafts- und auch Zeitge-
schichte. Das stärkste Bild: Der spätmoder-
ne Mensch lebe abgedichtet wie mit einer
Siegfriedhaut und verschanzt in seine digita-
le Einsamkeit. Die Berührung des Displays
löse Nähe und direkten Kontakt ab. Die
Folge: ein Mangel an Gespürtem in einer
glatten Welt.
Von Thadden gelingt ein vor Gelehrsamkeit
strotzender, grandioser Parforceritt: Me-
Too-Debatte (unfreiwilliges Berühren),
städtische Reizdichte und digitalisiertes
Wohnen (berührungsarmer Singlehaus-
halt), Pflegedebatte und historische Unter-
jochung der Frau in der Ehe (alles Berüh-
rungsprobleme) – alles findet begründet
und anschaulich dargestellt Erwähnung.
Dieses schwindelerregende Panorama wird
mit Beispielen aus Weltliteratur, Film und
Songtexten als seelenhistorischen Quellen
untermalt. Zusätzlich holt von Thadden die
Expertise eines Tastsinnforschers, einer
Masseurin und eines Psychoanalytikers ein.
Das ist brillant. Doch irgendwann drängt
sich bei der erschlagenden Wissensfülle ein
Gedanke auf: Intellektualisierung ist nach
Sigmund Freud eine Strategie, sich Dinge
auf Abstand zu halten, eine, die Mitschwin-
gen und Nähe verhindert. Und dennoch:
Hier fühlt eine Denkerin intensiv dem Phä-
nomen der Berührungslosigkeit nach. Da-
bei wird klar: Berührbarkeit ist nur mit
dem Risiko von Verletzbarkeit zu haben.
Ein aufregendes Leben – in der digitalen
wie in der analogen Welt – bleibt nie unver-
sehrt. Resonanz, der »vibrierende Draht«
nach draußen, führt raus. Ein Plädoyer für
Kontakt – mit Takt. Stefanie Maeck
C. H. Beck, 206 S., 16,95 Euro
Hört nicht auf, euch Sorgen
zu machen!
Yuval Noah Harari: »21 Lektionen für
das 21. Jahrhundert«
Er steht längst auf der persönlichen Leseliste
von Barack Obama und Bill Gates: Der is-
raelische Historiker und Bestsellerautor
Yuval Noah Harari begab sich mit seinem
Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit
DAS LESEN
NOBELPREISTRÄGER
Tim Hunt,
Medizin-Nobelpreis 2001
Philippe Sands:
»Rückkehr nach Lemberg«
»Letzten Sommer besuchte ich Auschwitz
mit einem Freund, der selbst in einem
Konzentrationslager inhaftiert gewesen
war. Das Buch ›Rückkehr nach Lemberg‹
handelt von den Nürnberger Prozessen
und ist absolut lesenswert.«
S. Fischer, 590 S., 26 Euro
in die Vergangenheit und mit Homo Deus in
die Zukunft der Menschen. Jetzt fokussiert
er die Gegenwart, lenkt den Blick auf die
drängenden Probleme unserer Zeit: Wovor
fürchten wir uns? Wie besiegen wir unsere
Ängste? Indem wir nicht aufhören, uns zu
sorgen, schreibt Harari. 21 Lektionen für das
21. Jahrhundert ist, wie der Titel andeutet,
eine lose Sammlung von Themenessays,
von denen viele auf Artikeln für die New
York Times, Bloomberg und für andere Me-
dien aufbauen. Darin geht es: um einfach
alles. Wofür steht der Aufstieg von Donald
Trump? Warum steckt die liberale Demo-
kratie in der Krise? Welche Zivilisation be-
herrscht die Welt? Stehen wir vor einem
neuen Weltkrieg? Sollte Europa seine
Grenzen für Zuwanderer offen halten? Na-
tionalismus, Klimawandel, Ungleichheit,
Big Data, MeToo. Die Essays zeigen einmal
mehr Hararis Fähigkeit, unerwartete Ideen
in schillernde Betrachtungen zu verwan-
deln. Manchmal gibt es aber auch unerhörte
Fragen (Warum fürchten wir den Terroris-
mus mehr als Zucker?) und allzu banale
Antworten (Terrorismus ist nicht so lecker).
Und manchmal klingt der Historiker wie
ein Prophet, aber einer, der witzig sein
kann. Ein-Satz-Lektionen hat er dagegen
nicht parat, aber häufig bewusstseinserwei-
ternde. In einer überkomplexen Welt, die
ständig von Informationen geflutet wird,
sorgt Harari für etwas mehr Durchblick.
Seine Bücher nutzen Geschichte, Psycho-
logie und Intellekt als Selbsthilfe für den
Menschen, der Schwierigkeiten hat, sich
durch diese sich selbst überschlagende Welt
zu navigieren. Silke Weber
C. H. Beck, 459 S., 24,95 Euro
Seine Haut zu Markte tragen
Nassim Taleb: »Das Risiko und sein Preis«
Was haben Experten für Außenpolitik,
Journalisten und der aufklärerisch-prophe-
tische Harvard-Professor Steven Pinker ge-
meinsam? Nassim Taleb kann sie nicht lei-
den. Und das macht der Ökonom in seinem
Buch Das Risiko und sein Preis sehr deutlich.
Schon im Prolog schlägt er einen scharfen
Ton an, der sich über 380 Seiten durch-
zieht. Sein Vorwurf: All diese Leute ver-
treten Meinungen, fällen Urteile und treffen
Entscheidungen, ohne dabei etwas zu ris-
kieren, ohne die Gefahr, den Kopf dafür
hinhalten zu müssen, ohne »Skin in the
Game« – wie auch der Untertitel des Buches
heißt – zu haben. Dieses elementare Konzept
des Risikomanagements, das der Finanz-
mathematiker Taleb von Investmentstrate-
gien kennt, überträgt er auf die Gesell-
schaft. Eine zentrale Lehre ist, dass
Entscheidungen nicht von Menschen ge-
troffen werden sollten, die nichts verlieren,
wenn der Plan am Ende schiefgeht. Dass
Foto Antonio Olmos / Intertopics/ ddp
unser System aber genau so nicht organi-
siert ist, zeigen Beispiele der jüngeren Ge-
schichte, etwa die Lehman-Brothers-Pleite
oder die US-Invasion im Irak. Taleb bei
seinen anspruchsvollen Gedankengängen
zu folgen ist eine Herausforderung. Taleb
denkt ungewöhnlich, beschreibt schnell
und urteilt scharf. Dass er manchmal übers

Ziel hinausschießt – geschenkt, so ist das
eben, wenn einer etwas wagt und sich damit
hinstellt. So viele überraschende und span-
nende Gedanken wie bei Taleb findet man
selten in einem Buch. Man erwischt sich in
den Tagen nach der Lektüre dabei, Freunden
von den erhellenden Erkenntnissen erzählen
zu wollen. Ob sie es hören mögen? Egal,
manche Gedanken sind so faszinierend, dass
man sie einfach teilen muss. Fritz Habekuß
Penguin Verlag, 384 S., 26 Euro
Der digitale Beelzebub
Raimund Minichbauer: »Facebook
entkommen«
Was Bill Gates in den 1990ern war, ist heute
Mark Zuckerberg: der digitale Beelzebub.
Sein Netzwerk Facebook analysiert unab-
lässig die 1,3 Milliarden Nutzer, führt an
ihnen algorithmische Experimente in Echt-
zeit durch und verkauft deren Daten. Gibt
es ein Entkommen aus Facebook? Ratgeber
empfehlen eine Facebook-Diät oder gar den
totalen Ausstieg. Der österreichische Medien-
ZEIT LEO
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testen!
Die Welt, in der Kinder groß werden, steckt voller Rätsel
und Geheimnisse. ZEIT LEO gibt Antworten. Sichern Sie
sich jetzt die aktuelle Ausgabe gratis! Einfach
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theoretiker Raimund Minichbauer geht dif-
ferenzierter vor. Sein Einleitungsessay und
fünf Interviews mit Datenaktivisten aus
Europa entwerfen komplexere Strategien.
Ihnen geht es darum, wie soziale Bewegun-
gen Netzwerke selbstbestimmt, souverän
und auch subversiv nutzen können. Das
bedeutet: Facebook kann Teil des Spiels
sein. »Ich glaube auch nicht, dass es heute,
im Jahr 2018, möglich ist, kommerzielle
Plattformen zu meiden«, sagt Stefania
Milan. Sie und Florencio Caballo zeigen
Beispiele für eine »Föderation sozialer
Netzwerke«, in die Datenschutz und
Privatsphäre eingebaut sind und die eines
Tages größer als Facebook sein könnte. Und
Facebook selbst, das verdeutlicht Vladan
Joler am Beispiel des gescheiterten Netz-
werks Friendster, könnte noch zusammen-
brechen. Die Texte reflektieren zugleich
auch die Geschichte des widerständigen
Cyberspace seit den 1990ern und bieten
Verweise auf interessante Projekte. Absolut
lesenswert für alle, die sich abseits alarmis-
MARKTPLATZ
Fasten
Dr.Buchinger + Vegan-Basisch
mit Wandern/Yoga/Stressabbau
www.fasteninfos.de
Garten
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Möbel
Möbel aus aller Welt
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Sprachen
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
tischer Parolen und zu simpler Rezepte
gründlicher mit den sozialen Medien von
heute beschäftigen wollen. Niels Boeing
Transversal Texts, 184 S., 12 Euro
Die Rezensenten
Niels Boeing liest Sebastian Haffners
Reflexionen deutscher Geschichte. Ein Muss,
um derzeit den Überblick nicht zu verlieren.
Fritz Habekuß liebt das neue Album des
amerikanischen Sängers Ezra Furman und
hofft auf die Abschaffung der Sommerzeit.
Hella Kemper hat sich mit »Eine wildere
Zeit« von William E. Glassley in die Fels-
und Tundralandschaft Grönlands gebeamt.
Stefanie Maeck reitet seit Kurzem Sornett,
eine Stute mit Charakter und Kuschelfaktor.
Deshalb studiert sie derzeit Reiterfibeln.
Sven Stillich hat sich mit seinen guten
und bösen Taten beschäftigt. Im November
erscheint sein Buch »Was von uns übrig
bleibt« bei Rowohlt.
Silke Weber mag auch »Homo Deus« und
»Eine kurze Geschichte der Menschheit«.
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

DIE BESTE ERKLÄRUNG IMPRESSUM

ZEIT Wissen-Leser erklären einen schwierigen Sachverhalt Herausgeber Verlagsleitung

Sandra Kreft
in knappen Worten. Diesmal: Die Elo-Zahl Andreas Sentker
Objektleitung
Chefredakteur
Die Elo-Zahl ist das Ergebnis einer mathematischen Malte Riken
Andreas Lebert
Formel, die zur Berechnung der Stärke von Spielern Geschäftsführung
Art-Direktion Dr. Rainer Esser
in bestimmten kompetitiven Spielen, aber meist im Wiebke Hansen Vertrieb
Schach, verwendet wird. Das Prinzip der Berechnung Nils von der Kall
Redaktion
ist, dass die Spieler nicht allein nach Sieg oder Niederlage Hella Kemper,
Marketing
René Beck
bewertet werden, sondern auch die Spielstärke des Dr. Max Rauner,
Unternehmenskommunikation
Gegners und damit das erwartete Partieergebnis ein- Katrin Zeug und Veranstaltungen
Silvie Rundel
berechnet wird. So verliert ein Spieler mit einer deutlich Bildredaktion
Herstellung und Schlussgrafik
höheren Elo-Zahl als sein Gegner mehr Punkte bei Lisa Morgenstern
Torsten Bastian (verantw.),
einer Niederlage, als wenn er gegen jemanden mit einem Layout Stefanie Fricke, Oliver Nagel,
Tim Paulsen
vergleichbar hohen Wert verliert. Andersherum erhält Christoph Lehner
Gesamtanzeigenleitung
der Gegner mit einer niedrigen Elo-Zahl bei einem Sieg Autoren Matthias Weidling
Niels Boeing, Sven Stillich
besonders viele Punkte. Die Elo-Punkte werden also Anzeigenleitung Magazine
Maren Henke (verantw.)
unter den beteiligten Spielern lediglich Mitarbeiter dieser Ausgabe
Annina Arnold, Tobias Empfehlungsanzeigen
umverteilt.
100
Bug, Linda Fischer, Fritz iq media marketing GmbH
Gesamtanzeigenleitung:
Habekuß, Paul Hildebrandt,
Michael Zehentmeier
WÖRTER Tobias Hürter, Filipa Lessing, Anzeigenleitung: Anja Väterlein
Leon Fischer gewinnt damit die
Dr. Stefanie Maeck, Daniel Anzeigenpreise:
achtbändige »ZEIT-Bibliothek des Wissens«,
ZEIT Wissen-Preisliste Nr. 14
herzlichen Glückwunsch! Müller, Anna von Münch-
vom 1. Januar 2018
hausen, Ulf Schönert, Silke
Unsere nächste Herausforderung: Wer erklärt Nihilismus in Weber, Peter Wohlleben, Abonnement
100 Wörtern? Den Text schicken Sie bitte bis zum 11. November 2018 an Jahresabonnement (6 Hefte)
Claudia Wüstenhagen 39 Euro,
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Jochen Wegner (verantw.) auf Anfrage;
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Das nächste ZEIT Wissen erscheint am 11. Dezember 2018 Fax 040/42 23 70 90,
Thomas Worthmann
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(verantw.), Rüdiger Frank,
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Christoph Kirchner, Antje
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alle drei Wochen den ZEIT Wissen- unter facebook.com/zeitwissen, Karen Schmidt, Oliver Voß,
Podcast »Woher weißt Du das?« mit auf Twitter unter @zeitwissen. Repro
Astrid Wiedemann 4mat media, Hamburg
Hintergrundinformationen, Inter-
RECHERCHEQUELLEN Diese Ausgabe enthält in einer
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ihn auf www. ZEIT Wissen legt seine Recherche- Unternehmen: ZEIT Wissen
Plan International Deutschland,
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20095 Hamburg
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soundcloud. die unsere Autoren bei der Walbusch Walter Busch GmbH, Telefon 040/32 80-0
com/zeitwissen. Recherche zurate gezogen haben. 42655 Solingen. Fax 040/32 80-553

»Die Natur ist in
der Sprache
der Mathematik
geschrieben«
Galileo Galilei
Stand: 10. 9. 2018. IAK = In-App-Käufe möglich. Sie kennen gelungene Wissen-Apps? Wir freuen uns über Vorschläge: redaktion@zeit-wissen.de
1!Damit muss
man rechnen
In diesem Mathespiel gibt
ein Taschenrechner ein
Ergebnis und eine Startzahl
vor, und der Spieler muss
den dazugehörigen Rechen-
weg erknobeln. Calculator
beginnt leicht, wird aber
schnell zur Prüfung.
»Calculator the Game«,
iOS, Android (gratis, IAK)
2!Wertvolle Gäste
Der Stein von Rosetta im
Wohnzimmer? Eine Rodin-
Statue auf dem Küchen-
tisch? Diese App der BBC
beamt per Augmented
Reality 3-D-gescannte Arte-
fakte aus britischen Museen
ins Zuhause und erklärt sie.
Nie war Kunst so nah.
»Civilisations AR«, iOS,
Android (gratis, englisch)
APPS
4 3
7 Viele Kinder erleben zu Hause
3!Abgehoben
Wo darf ich mit meiner
Drohne fliegen? Die App
der Deutschen Flugsiche-
rung zeigt gesperrte Zonen,
führt ein Logbuch und be-
handelt rechtliche Fragen.
»DFS-DrohnenApp«,
iOS, Android (gratis)
4!Für mehr Teilhabe
Irmgard hilft Jugendlichen
und auch Erwachsenen,
Lesen und Schreiben zu
lernen. Die nach einer
Lehrerin benannte App
schlägt die Brücke zwischen
Lauten, Buchstaben und
Wörtern und motiviert,
nicht aufzugeben.
»Irmgard«, Android (gratis)
5!Gegen Müll
Mit Replace Plastic kann man
Firmen darauf hinweisen,

D E R BU N D E S W E I TE
VOR LESE TAG
Eine Initiative von DIE ZEIT, STIFTUNG LESEN und DEUTSCHE BAHN STIFTUNG
16. November 2018
DEIN Engagement zählt:
Mach mit und lies vor!
5
nicht, wie schön Vorlesen ist.
Teile deine Freude am Lesen mit
ihnen und melde dich jetzt für den
Bundesweiten Vorlesetag an. Mit
dass sie zu viel Plastik etwas Glück wirst du in der ZEIT
verwenden: einfach den vom 15. November genannt.
Barcode eines Produkts
scannen – und ein Verein
gibt die Kritik an den je-
weiligen Hersteller weiter.
»Replace Plastic«,
Melde dich jetzt unter
iOS, Android (gratis) www.vorlesetag.de an
und schenke Kindern
6!Leichter atmen
Respirate ist eine Sammlung
von Übungen für Menschen, eine Geschichte!
die an der Lungenkrankheit
COPD leiden.
»Respirate«, Android (gratis)
7!Das war wild Initiatoren:
Wer ein totes Wildtier
findet, kann es mit dieser
App des Deutschen Jagd-
verbands melden. So sollen
zum Beispiel Unfallbrenn-
punkte identifiziert werden.
»Tierfund-Kataster«,
Partner:
iOS, Android (gratis)
 KANN MAN DAS NOCH

Der Mensch sei ein
Mängelwesen, schrieb
der Philosoph Arnold
Gehlen 1940. Darin
scheint der Fortschritts-
mythos zu gründen: Weil
seine in der Evolution
entwickelten Organe zu
schwach sind, versucht
der Mensch diesen
Mangel mittels Technik
auszugleichen. Dumm
nur: Zahlreiche Probleme,
denen er sich gegen-
übersieht, hat der
Mensch sich selbst ein-
gebrockt. Also setzt er
seine technische Fantasie
in Bewegung, um ein
Ding zu erfinden, das es
besser kann als er. Und
immer nagt der Zweifel
weiter: Ist das schon gut
genug, oder kann man
das noch besser machen?
Zum Beispiel:
DIE WASCH-
MASCHINE
Text Niels Boeing Illustration Joe Rohrer
Das Problem
Vor rund 8000 Jahren half die Erfindung des Gewichts-
webstuhls, Textilien effizienter als je zuvor zu weben.
Doch jede Erfindung schafft ein neues Problem: Die
Textilien, zu Kleidung oder Tüchern verarbeitet, nehmen
Schmutz an. Den herauszuwaschen war über Jahrtau-
sende der Knochenjob der Frauen. Sie schleppten Wasser
herbei, erhitzten es vielleicht, weichten die Stoffe darin
ein, schlugen sie auf Steine, schrubbten sie mit Bürsten,
später auch über ein Waschbrett und wrangen am Ende
das Waschwasser heraus. Ein typischer Waschtag konnte
um zwei Uhr in der Früh beginnen und bis in den
Abend dauern. Im späten 17. Jahrhundert waren es
Engländer, die nach einer Maschine suchten, die zu-
mindest das mühsame und anstrengende Schlagen und
Schrubben ersetzen könnte. Die 1752 erstmals erwähnte
»Yorkshire Maiden« sollte genau das tun: In einem
Holzbottich drehte eine handbetriebene Scheibe mit
Holzzapfen die nasse Wäsche hin und her.
Ist das schon gut genug?
Weil die Zapfen den Stoff angriffen, ersetzte Henry
Sidgier sie 1782 durch einen sanfteren Rührstab, aus
dem Rippen herausragten. Andere Tüftler versuchten
es mit sich gegeneinander bewegenden Waschbrettern
im Bottich. Das anstrengende Auswringen jedoch
blieb, bis 1843 der Kanadier John Turnbull über einer
dieser Holzwaschmaschinen eine kleine Mangel, den
»Wringer«, anbrachte. Die Wäsche konnte nun direkt
aus dem Bottich durch zwei rotierende Zylinder ge-
zogen werden, während das Wasser zurücktropfte. In
Wäschereien trieben bald Dampfmaschinen die Dreh-
bewegungen großer Waschmaschinen an, und ab 1900
übernahmen Elektromotoren diese Arbeit. Die Stufen-
leiter vieler Erfindungen: Handbetrieb, Dampfantrieb,
Elektroantrieb. Karl Louis Krauß erfand 1902 die
Waschtrommel mit Löchern, die in einem wasserdichten
Zylinder sitzt. Vorteil: Das Waschwasser wird durch die
Löcher während der Drehbewegung nach oben trans-
portiert und rieselt dort wieder herunter. Die Wasch-
maschine hat jetzt ihre bekannte Grundform. Ein
Massenprodukt ist sie noch nicht: Die Miele Nr. 50
kostete das Monatsgehalt eines Arbeiters, und in Berlin
etwa hatte 1925 überhaupt nur ein Viertel der Haus-
halte Strom. Zudem mussten die Waschgänge immer
noch einzeln in Gang gesetzt werden.
 BESSER MACHEN?


Ist es jetzt gut genug?

Das änderte sich nach dem Produktionsstillstand im
Zweiten Weltkrieg: Von 1947 an brachten amerikani-
sche Firmen wie Whirlpool und General Electric die
ersten Vollautomaten auf den Markt. Die verschiedenen
Drehbewegungen für Waschen, Spülen und Schleudern
wurden nacheinander über eine elektromechanische
Zeitschaltung mit Zahnrädern und Zylindern ausge-
löst. Die Hausfrau – Männersache war Waschen noch
lange nicht – musste das Waschprogramm nur noch
über ein Drehrad auswählen und starten. Den Rest er-
ledigte dann die Maschine. Die Begeisterung für dieses
technische Wunder schwappte zunächst nur verhalten
nach Deutschland, wo traditionell einmal wöchentlich
Waschtag war. Noch 1961 trugen Männer hierzulande
ihr Hemd und ihre Unterhose durchschnittlich eine
ganze Woche! Lohnte sich da diese wunderbare Ma-
schine überhaupt, die doch eine Stange Geld kostete?
Die Werbung der Waschmaschinenhersteller half mit,
die Hygienevorstellungen zu verändern. Hinzu kam
dank wachsenden Wohlstands ein zunehmender Mode-
konsum. Das Ergebnis: Bald war täglicher Wäsche-
wechsel angesagt, und der Waschvollautomat eroberte
auch deutsche Haushalte.

Und nun? Endlich fertig?

Von den Siebzigerjahren an folgten nur noch Verfeine-
rungen. Elektronische Schaltungen ersetzten die elek-
tromechanische Automatik. Ventile sorgten für Über-
laufschutz. Verschmutzungssensoren regelten den
Wasserverbrauch herunter. Die Maschinen wurden
stromsparender. Zuletzt kamen die unvermeidlichen
Digitaldisplays dazu. Das neue Problem ist indes der
Waschboom selbst, in der Geschichte ohne Vorläufer:
Er produziert enorme Abwassermengen mit Wasch-
mittelrückständen. Eine Antwort kommt, wieder ein-
mal, aus England. Forscher der Universität Leeds haben Nylon statt Wasser:
2010 ein Verfahren entwickelt, das den Schmutz mit Xeros Technology
winzigen abgerundeten Nylonteilchen löst, Exorbs ge- lässt unzählige
nannt, und nur noch ein Fünftel der üblichen Wasser- Nylonteilchen, jedes
vier Millimeter lang,
menge benötigt. In ersten Großgeräten kommen für
den Schmutz lösen.
25 Kilogramm Wäsche 1,5 Millionen wiederverwend- Sie werden aus
bare Exorbs zum Einsatz. Die Firma Xeros Technology einem Reservoir
arbeitet nun daran, wie man Haushaltsmaschinen auf unter der Trommel
Exorbs umrüsten kann. Nylon statt Wasser – vielleicht zum Einlasstrichter
sieht so die Zukunft des Waschens aus. — oben transportiert

DIE WELT
AUS DER
SICHT EINES
! KORKENS
Immer dreht sich alles um den
Menschen. Höchste Zeit,
die Perspektive zu wechseln
Text Anna von Münchhausen Illustration Martin Haake
J
eder hört es gern, das volltönende,
fette »Plopp«, immer dann, wenn
ich eine Weinflasche verlasse.
Klingt es nicht einzigartig – nach
leichtem Leben, nach Genuss?
Kaum bin ich aus meinem Stamm-
platz herausgesprungen, treffe ich schon auf
Nasen. Neugierige Nasen, die an mir
schnuppern. Noch bevor der Gaumen den
ersten Schluck kennenlernt, soll ich der
Nase erzählen, was von dem Wein zu er-
warten ist. Von einem Wein, den ich be-
schützt habe, jahrelang, tief im Flaschen-
hals. Egal, ob Sie jetzt einen Rheingauer
Riesling oder einen Sauvignon blanc ein-
schenken – verlassen Sie sich drauf, ich
habe auf den Inhalt dieser Flasche aufge-
passt. Ich habe ihn atmen lassen, habe die
Aromen, den Duft von Zimt oder Johannis-
beeren oder was auch immer in Ruhe reifen
lassen. Wohldosierte Luft ist es, die dafür
sorgt, dass die spezielle Feinoxidierung in
Gang kommt, die für Spitzenweine so cha-
rakteristisch ist.
Fühlen Sie mal, wie glatt und fest ich
bin – und wie leicht. Zu 90 Prozent bestehe
ich tatsächlich aus Luft. 40 Millionen Luft-
kissen umschließe ich wabenartig, auf nur
einem einzigen Kubikzentimeter. Das macht
mich zu einem perfekten Isoliermaterial. Ab
dem Moment, in dem mich der Winzer mit
Unterdruck auf die Flasche bringt.
Sie ahnen es schon, ich bin eben ein
echter Naturbursche. Gewachsen in Portu-
gals oder Spaniens knorrigen alten Korkwäl-
dern. Die Korkeiche, Quercus suber, bildet
unfassbar dicke Rinden, dazu braucht sie
Zeit, mindestens neun Jahre. Dann wird
geschält, sehr umsichtig, das will gelernt
sein, denn damit ich später widerstandsfähig
bin, ist bei der Ernte Feingefühl nötig.
Was Sie womöglich nicht ahnen, ist,
wie übel mir schon mitgespielt wurde. Die
gesamte Weinbranche habe ich gespalten,
sozusagen. Völlig überflüssigerweise, wenn
Sie mich fragen. Immerhin war ich jahr-
zehnte-, ach, beinahe jahrhundertelang un-
entbehrlich. Habe dicht gehalten, Füße im
Nassen, Kopf in der Luft, als die zuverläs-
sigste Verschlusssache überhaupt.
Doch plötzlich hieß es, ich sei zu teuer.
Bitte, wie lächerlich ist das denn? Wir reden
von ungefähr 50 Cent pro Stück. Pah.
Schraubverschlüsse seien günstiger und
würden außerdem den Korkenzieher sparen,
behaupteten Oberschlaue. Ich sei überholt.
Das Schlimmste aber – und das kränkte
mich besonders – war der Vorwurf, ich sei
unzuverlässig, würde den Wein verderben
durch die chemische Verbindung Trichlor-
anisol. »Der Wein korkt!«, sei also irgendwie
muffig. Es heißt, dieser Stoff kann schon am
Baum entstehen und genügt in winzigen
Mengen, um den Geschmack zu verändern.
Für Weinkenner ein Todesurteil.
Aber so einfach ist es eben nicht. Habe
mich totgelacht, als sich herumsprach, dass
Gäste eines Gourmet-Restaurants tadelten,
der Spitzenwein schmecke »nach Kork«.
Woraufhin der Kellner ihnen die Flasche
präsentierte. Sie war mit einem Schraubver-
schluss versehen gewesen. —
Audi Vorsprung durch Technik

Wir haben Elektromobilität

hinterfragt.
Das ist die Antwort.
Der rein elektrische Audi e-tron kommt.
Jetzt reservieren und als einer der Ersten fahren:
audi.de/e-tron-reservieren