NEUGIERIG AUF MORGEN

P. M .
04/2024

ELEFANTEN Warum die Dickhäuter

viel sensibler sind als gedacht
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WELTRAUMWETTER Wenn
Sonnenstürme unseren Planeten bedrohen
P.M.

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sagenumwobene Schwerter erforschen
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INNOVATION
auf dem LAND
04

4 190584 405202

PIONIERE in den DÖRFERN: Wie FORTSCHRITT auch jenseits der

Städte gelingt – mit Neugier, Mut und Kreativität
I DIE WELT ERKUNDEN,
WISSEN VERTIEFEN
MÄRZ 2024
NAT IONA L GEO GR A PH IC

Tüpfelhyänen Tiefsee
Wo die Weibchen Organismen der
das Sagen haben Dämmerzone

+MAYA-
ARCHÄOLOGIE:
M ÄRZ 2024

MEGA-
SIEDLUNGEN
IM URWALD
ENTDECKT
L E B E N M I T D E M E N Z • M AYA- S I E DLU NGE N • T Ü P F E L H YÄ N E N • T I E F S E E-F I S C H E

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FOTOS: ANDREAS PUFAL, NASA
Christiane Löll,
Redaktionsleitung
Der Nasa-Helikopter »Ingenuity«
drehte 72-mal seine Runden auf
dem Mars, nun ist seine Mission beendet
Am Puls
der Forschung
Liebe Leserin, lieber Leser,
wer wie wir den Anspruch hat, am Puls
von Forschung und Wissenschaft zu sein,
der erlebt auch mit, wenn etwas schief-
geht. So geschehen im Fall des kleinen
Mars-Helikopters »Ingenuity«, über des-
sen Misson wir in P.M. 03/24 ausführlich
berichtet haben. Doch kaum war das Heft
im Druck, vermeldete die Nasa Ende
Januar, dass »Ginny«, so der Spitzname,
nicht mehr fliegen kann.
Von Scheitern konnte nicht die Rede
sein, denn das Fluggerät hatte alle Erwar-
tungen der US-Raumfahrtbehörde über-
troffen. Mit mehr als 70 Flügen seit der
Landung auf dem roten Planeten am
18. Februar 2021 hatte niemand gerech-
net, so hatte es unser Autor berichtet.
Dennoch: Wir bei P.M. waren von der
Aktualität überholt worden, die Welt hat-
te sich verändert – und unser Monatsma-
gazin war schon auf dem Weg zu Ihnen
nach Hause oder an den Kiosk. Und da wir
gerade noch kräftig im Hintergrund in
Sachen Website und Social Media wer-
keln, entschieden wir uns, keine überar-
beitete Fassung des Artikels über Raum-
fahrt-Helikopter in diesen schnelleren
Medien zu bringen.
Was mich dazu führt, Sie ein wenig
über die Entwicklungen der Marke P.M.
zu informieren. Vielleicht gehören Sie zu
den Fans der Fernsehsendung »P.M.
­Wissen« auf ServusTV. Der Astrophysiker
Gernot Grömer moderiert sie seit dem
EDITORIAL
4. Oktober 2018 mit viel En­ga­gement. Das
wird er auch weiterhin tun, doch vom
21. März 2024 an firmiert die Sendung
unter einem anderen Namen. Die Koope-
ration mit ServusTV endet (mehr Infos in
der Rubrik »Alpha«). Die gemeinsam be-
triebene Website pm-wissen.com wird
umgestaltet, und darüber werden Sie in
den nächsten Monaten noch mehr von
uns erfahren.
Mir bleibt, mich im Namen der
Print-Redaktion bei den TV-Kollegen und
Kolleginnen der Filmproduktion Bilder-
fest und im Sender für mehr als fünf tolle
Jahre Zusammenarbeit zu bedanken. Es
war ein Fest zu erleben, wie die Herzen in
Hamburg, München und Salzburg im
Gleichtakt für Wissenschaftsjournalis-
mus schlagen.
Und was erwartet Sie in dieser Ausga-
be? Nun, wir wagen wieder einen Ausflug
ins Weltall mit einem Artikel zu innovati-
ven Flugobjekten. Diesmal geht es um
Schlepper, die Satelliten dahin bringen
sollen, wo sie hingehören (S. 34). Ihnen
viel Freude beim Lesen!
Mit herzlichen Grüßen
Christiane Löll
04/2024 P.M. 3
 APRIL 2024

16
T I T E LT H E M A .
DÖRFER GEHEN MIT NEUEN IDEEN VORAN
Lange galt das Leben auf dem Lande vielen als rückständig.
Doch im Gegenteil: Ob Verkehr, Ökostrom oder Digitales –
mehr und mehr kleinere Ortschaften machen vor, wie Proble-
me gelöst werden können

60
Unterschätzter Lebensraum: die Pfütze

28
34
Die Zahl von Mini-Satelliten steigt. Damit sie
präzise auf ihre Umlaufbahn kommen, entwickeln
Warum uns kurze Begegnungen guttun Ingenieure unbemannte Raumschlepper

4 P.M. 04/2024
 INHALT

F O T O S U N D I L L U S T R AT I O N E N D I E S E S E I T E : I M A G O I M A G E S , E XO L A U N C H , F 1 O N L I N E , A X E L H I N D E M I T H / C C , G E T T Y I M A G E S ( 2 ) , M A U R I T I U S I M A G E S , D I E H L D E F E N S E
ALPHA

8 DAS BESTE VON HEUTE UND MORGEN

Neues aus den Laboren der Welt · Wissen in
einer Minute · Faktencheck: Richtig oder
falsch? · Psycho-Test: Wie tickt der Mensch?

TECHNIK & FORSCHUNG

28 KURZE GESPRÄCHE, GUTE GEFÜHLE

Eine Forscherin erklärt, weshalb »Mikro-Ver-
bindungen« wichtig sind für die Gesundheit
34 WER BAUT DEN BESTEN RAUMSCHLEPPER?
Raumfahrt-Unternehmen tüfteln an Transpor-
tern – und liefern sich ein Wettrennen
40 DIE GEHEIMEN SIGNALE DER ELEFANTEN
Warum die Dickhäuter weitaus sensibler und
emotionaler sind als lange gedacht
66 DAS MYSTERIUM ALTER METALLE
Fast vergessene Techniken und chemisches
Wissen von Schmieden aus alter Zeit
C O V E R I L L U S T R AT I O N : P . M . ; K I G E N E R I E R T E S B I L D / M I D J O U R N E Y / A N D R E A S P U F A L

VISIONEN & IDEEN

80
16 FORTSCHRITT AUF DEM LAND
Energiewende, Mobilität, Digitalisierung: Pio-
niere in ländlichen Regionen machen Zukunft
50 SO FUNKTIONIERT DER »IRON DOME«
Ob in Israel oder in der Ukraine: Komplexe
Nur als Polarlicht schön: Teilchenstürme der Waffensysteme wehren Angriffe aus der Luft ab
Sonne können uns auch gefährlich werden.
Forschende verbessern deshalb die Prognosen GRENZBEREICHE & GEHEIMNISSE

60 WARUM WIR MEHR PFÜTZEN BRAUCHEN

Die kleinen Gewässer werden seltener. Dabei
sind sie hilfreich für Tiere – und Menschen!
80 SCHUTZ VOR SONNENSTÜRMEN
Wie Forschende versuchen, die Erde besser vor
den extremen Eruptionen zu beschützen
40
Wie Elefanten fühlen
RUBRIKEN
3 Editorial
6 Zitate
7 Zuschriften
48 Wie jetzt? Mehr Wissen mit »Schneller schlau«
78 Neue Games
79 Neue Bücher
92 Bükers Testgelände: Jupitersonde Galileo

66 50 94
96
Rätsel
Vorschau/Impressum
Sagenumwobene Schwerter Die Technik der Flugabwehr 98 P.M. Tierleben: Juchtenkäfer
Alle Coverthemen sind rot markiert.

04/2024 P.M. 5
 ZITATE

»Der Mensch kennt »Wenn du

sich selbst nicht Gott zum Lachen
genügend, wenn er bringen willst,
nichts über seine erzähle ihm von
Vergangenheit weiß.« deinen Plänen.«
Karl Hörmann, österreichischer Blaise Pascal, französischer Mathematiker
Theologe, 1915–2004 und Philosoph, 1623–1662
Eingesandt von Peter Haubenwallner, München Eingesandt von Wolfgang Fuchs, per E-Mail

Isaac Asimov

Gewalt
ist die letzte Zuflucht
der Unfähigen. Isaac Asimov 1920– 1992,
russisch-amerikanischer Biochemiker und
Science-Fiction-Autor
Unbekannte(r) Einsender:in
»Die Welt lässt sich nicht »Wer arbeitet,
verbessern, wenn alle blind der macht Fehler. Wer
Mehrheit folgen. Es braucht
Menschen, die den Mut haben, viel arbeitet,
scheinbar Unumstößliches »Das Denken der macht mehr Fehler.
infrage zu stellen, die sich Zukunft muss
Wer die Hände in
trauen, Autoritäten anzuzwei- Kriege unmöglich
feln und ihren eigenen den Schoß legt, macht
machen.«
Verstand zu gebrauchen.« gar keine Fehler.«
Albert Einstein,
Mahatma Gandhi, indischer Rechtsanwalt theoretischer Physiker und Nobel- Alfred Krupp, deutscher Erfinder
und Publizist, 1869–1948 (ermordet) preisträger, 1879–1955 und Industrieller, 1812–1887
Eingesandt von Peer Briddigkeit, per E-Mail Eingesandt von Reinhard Witzlau, Gransee Eingesandt von Paul-Hermann Mackes, per E-Mail
FOTO: BETTMANN/GETTY IMAGES

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6 P.M. 04/2024

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P.M. 3/2024
Titelgeschichte/Geheimnisse
Eine unheimliche
Erfindung
Der Artikel selbst ist un-
glaublich umfangreich und
interessant und beleuchtet
sehr viele Facetten, die ich im
Zusammenhang mit der 0 so
nicht erwartet hätte. Zum
Kasten auf Seite 25 »Darf
man durch die Null teilen?«
habe ich eine Anmerkung:
Natürlich darf man durch die
0 teilen, es kommt einfach
nur ∞ heraus. Die Erwäh-
nung des ∞ an dieser Stelle
wäre angebrachter gewesen,
als das Verbot, durch 0 zu
teilen. Schließlich kann man
in der höheren Mathematik
auch die Wurzel aus –1 zie-
hen. Alles in allem: Machen
Sie weiter so, ich liebe Ihr
Magazin und warte jeden
Monat sehnsüchtig auf den
Brief- äh, Zeitschriftenträger.
Torsten Pohling, Haigerloch
Auf Seite 18 wird vom
Schwarzen Loch als Sinnbild
des Nichts geschrieben.
Kommen Sie in Kontakt mit der Redaktion:
P.M. Magazin, Virchowstaße 65b, 22767 Hamburg
pm-redaktion@verlagshaus.de
facebook.com/PMOnline
In Anbetracht der Tatsache,
dass es sich um ein extrem
massereiches Objekt handelt,
passt diese Aussage über-
haupt nicht dazu.
Georg Klinkmüller, Stahnsdorf
P.M. 2/2024
Ideen/Strom aus dem Körper
Kraftwerk Mensch
1. Übergewicht und ver-
mehrte Kalorienzufuhr
lassen sich mit dieser Me-
thode definitiv nicht behan-
deln, da der Körper dann
die »abgezweigten« Kalorien
durch noch mehr Zufuhr
sogar überkompensieren
würde. Der Körper »will« ja
gerade die Kalorien aus
einem biologischen Grund
zuführen. Der gegenteilige
Effekt träte ein.
2. Diabetiker können gar
nicht »besonders« durch
mehr Insulinfreisetzung
profitieren, da das Kennzei-
chen eines Typ-2-Diabetikers
(mit 90 Prozent die häufigste
Diabetes-Form) eben nicht zu
wenig Insulin ist, sondern,
dass das pathologisch über-
Alle Themen bis 2023 finden Sie
in unseren P.M. Jahresregistern:
www.pm-wissen.com/
p-m-jahresregister
ZUSCHRIFTEN
mäßig produzierte Insulin
nicht korrekt wirkt (sog.
Insulinresistenz). Außerdem
führt Insulin zu negativen
Stoffwechselfolgen (u. a.
Übergewicht), die das eigent-
liche Therapieziel beim
Typ-2-Diabetes, nämlich
Gewichtsabnahme, konter-
karieren würden.
Dr. Robert Brandt, Facharzt für
Innere Medizin, Loffenau
Lieber Dr. Brandt, haben Sie
Dank für die medizinischen
Präzisierungen. Das schätzen
wir sehr!
Die Redaktion
P.M. 12/2023
Technik/Ernährung
Käse ohne Kühe
Sehr interessante Biotechno-
logie! Nur in industriellem
Maßstab werden acht Milliar-
den Menschen oder mehr
mit Nahrung versorgt werden
können. Mit biologischer
Landwirtschaft wird das
nicht gehen. Putzig aber ist
der Schlussgedanke: Glückli-
che Kühe und Hühner, die
frei und ungebunden durch
die Gegend laufen, wird es
leider nicht geben. Diese
Arten werden praktisch
aussterben, weil sie eben
nicht mehr gebraucht wer-
den. Das sollte man als
Veganer einmal bedenken.
Axel Jacobs, per E-Mail
Die Redaktion behält sich vor,
­Zuschriften zu kürzen.
04/2024 P.M. 7
 Mit dem Ball ins All
WELTRAUMTOURISMUS »Neptune« heißt diese kugelrun-
de Konstruktion, die Passagieren extreme Höhenflüge
ermöglichen soll: Rund 30 500 Meter weit will das US-Un-
ternehmen Space Perspective darin Menschen vom
Erdboden aus nach oben befördern – nach geophysikali-
schen Maßen an den Rand des Alls. Von hier aus lässt sich
die Krümmung der Erde ebenso sehen wie das unendliche
Schwarz des Weltraums (oben). In die Höhe getragen ­wird
»Neptune« von einem gigantischen Heißluftballon. Dieser
»SpaceBalloon« fasst mehr als 500 000 Kubikmeter
Wasserstoff und soll mit bis zu 20 Kilometern pro Stunde
aufsteigen. Sechs Stunden dauert dann die Reise: Jeweils
zwei Stunden für Auf- und Abstieg, zwei Stunden bleiben
für Sightseeing. Acht Personen finden in der Kapsel Platz.
Noch in diesem Jahr soll die Konstruktion erstmals auf
Reisen gehen – mit Druckausgleich, aber zunächst un­
bemannt. Verläuft der Testflug reibungslos, sollen noch
später in diesem Jahr erste kommerzielle Einsätze stattfin-
den – zu Ticketpreisen von 125 000 US-Dollar pro Person.

ALPHA F O T O S : S PA C E P E R S P E C T I V E ( 2 )

8 P.M. 04/2024
 Bereit für den
Höhenflug:
»Neptune« soll
Ballonfahrer bis
an den Rand
des Weltraums
bringen

04/2024 P.M. 9
 ALPHA

Anderes Format
Wissen bei ServusTV
gibt es künftig unter
neuem Namen (Öster-
reich, Donnerstag,
20.15 Uhr): Aus »P.M.
Wissen« wird »Terra
Mater Wissen«.
Astrophysiker Gernot
Grömer wird seine
Zuschauer am 21.03.24
erstmals im neuen
Ackerbau mit kosmischer Unterstützung Studiodesign begrü-
ßen. Alte TV-Beiträge
von P.M. Wissen finden
PHYSIK Partikelschauer aus dem All könnten geworfen. Außer in einem Fall: Stoßen sie auf Sie unter servustv.
zukünftig helfen, den Wassergehalt in Böden Wasserstoffatome von Wassermolekülen, com/mediathek
zu messen: An dieser Methode arbeitet der bleiben sie quasi im Boden stecken. Denn das
Astrophysiker Martin Schrön vom Helm- Wasserstoffatom ist genauso leicht wie ein
holtz-Zentrum für Umweltforschung in Neutron. Beim Aufprall gibt das Neutron seine
Leipzig. Er untersucht die kosmische Strah- Energie dann wie eine Billardkugel an den
lung: Dieser stete Schwall aus hochenergeti- Wasserstoff ab und bleibt liegen. Misst man
schen Protonen und ionisierten Atomen also die Differenz zwischen der Menge der
prasselt permanent aus allen Richtungen auf Neutronen, die von oben zum Boden herabfal-
die Erde, kollidiert mit Luftpartikeln und len, und der Menge, die sich vom Boden aus
produziert dabei jede Menge Neutronen, die zurück nach oben bewegt, kann man auf
auf die Erdoberfläche niedergehen. die Menge Wasser im Boden schließen.
Prallen diese Neutronen am Erdboden auf Entsprechende Detektoren können dann
andere Atome, werden sie in die Luft zurück- Echtzeit-Daten zur Bodenfeuchte liefern.

Moderator Gernot Grömer

Biomarker für Long Covid im Blut F O T O S : D PA P I C T U R E - A L L I A N C E , F L O R I A N V O G -

GENEDER, GETTY IMAGES, JOHN MURILLO

MEDIZIN Manche Covid-Erkrankte sind völlig verschieden. Nun konnte ein

leiden noch Monate oder Jahre nach der
Infektion anhaltend unter Kurzatmig-
keit, Erschöpfung oder Konzentrations-
störungen. Long Covid wird das diffuse
Krankheitsbild genannt. Fachleuten fällt
die Diagnose oft schwer: Mitunter be­-
scheiden sie Betroffenen Erkrankungen
wie Depressionen oder Burn-out. Ein
großes Problem, denn die Behandlungen
internationales Forschungsteam Verän-
derungen im Blut finden, die eindeutig
Long Covid anzeigen. Betroffen sind
Proteine, die bei Entzündungsprozessen
eine Rolle spielen, bei der Blutgerinnung
und der angeborenen Immunabwehr.
Long-Covid-Erkrankte können mit ihnen
sicher identifiziert werden – und die
richtigen Behandlungen erhalten.

10 P.M. 04/2024
Halb Männchen, halb Weibchen
BIOLOGIE Die Geschlechter des Kappennaschvogels sind leicht zu
unterscheiden: Weibchen sind grasgrün, Männchen wasserblau. Der
WISSEN
in e
­ iner Minute
Hobbyornithologe John Murillo staunte daher nicht schlecht, als er an FOLGE 103: SATB2
einem Futterspender bei einer Farm in der kolumbianischen Gemeinde
Caldas dieses zweifarbige Exemplar entdeckte. Zwischen Oktober 2021
und Juni 2023 tauchte der besondere Vogel mehrmals an dem Ort auf. IST DAS EIN NEUER TV-SENDER?
Bald schon beobachtete ihn Murillo gemeinsam mit anderen Vogel- Nein: SATB2 ist die Bezeichnung
fans – denn so ein Exemplar ist extrem selten: Gynandromorphismus heißt eines Proteins. Forschende unter
das Phänomen, wenn männliche und weibliche Merkmale in einem der Leitung eines Teams der
Individuum auftreten. Es entsteht, wenn ein Weibchen eine Eizelle mit Universität Innsbruck stellten fest, dass es
zwei Zellkernen produziert, die verschiedene Geschlechtschromosomen in direktem Zusammenhang mit unserem
tragen. Wird so eine Eizelle auch noch von zwei weiblichen Spermien Denkvermögen und der Intelligenz steht.
befruchtet, entwickelt sich ein Individuum mit zweigeschlechtlichen
Merkmalen. Ob der hier beobachtete Vogel auch männliche und weibliche ABER INTELLIGENZ HAT DOCH VIELE
Organe trug, konnten die Forschenden allerdings nicht feststellen: Sie FAKTOREN?
fingen das Tier nicht ein, sondern beobachteten es nur. Ja, allerdings scheint SATB2 für
ihre Entwicklung entscheidend zu
sein. Mithilfe von Mäuseversuchen,
Ein Vogel, zwei menschlichen Gendaten und Computer-
Geschlechter: modellen zeigten die Forschenden: Wenn
Ein so gefärbter
Kappennasch- das Protein verändert ist und seine
vogel wurde Funktion nicht ausüben kann, sinkt der IQ
zuletzt vor 100 einer Person auf weniger als 40.
Jahren gesichtet
WIESO HAT ES EINE SOLCHE
SCHLÜSSELROLLE?
Erbgut liegt im Zellkern immer als
verknäuelter DNA-Strang vor.
SATB2 wirkt darin als eine Art
Genom-Organisator: Solche Proteine
binden sich an bestimmte Stellen in dem
Knäuel und legen fest, welche Abschnitte
des Erbguts abgelesen und wiederum in
andere Proteine übersetzt werden. SATB2
organisiert so Abschnitte, die beim
Denken aktiviert werden müssen. Fehlt es,
kann das Gehirn nicht richtig arbeiten.

WERDEN WIR JETZT ALLE SCHLAUER?

Zumindest bietet dieses Wissen
neue Ansätze für die Behandlung
kognitiver Störungen. Solche
Therapien zielen bisher auf Neurotrans-
mitter und Synapsen ab, der Zellkern und
das Genom geraten erst neuerdings in
den Fokus. Die Funktion von SATB2 könnte
auch erklären, weshalb sich manche
kognitive Störungen vererben.

04/2024 P.M. 11
 ALPHA

Rätselhaftes
Objekt im All

I L L U S T R AT I O N E N : © M P I F R ; D A N I Ë L L E F U T S E L A A R / A R T S O U R C E . N L , K A R E N C A R R / S M I T H S O N I A N ;
ASTRONOMIE Es ist etwa 2,5-
mal so schwer wie die Sonne,
kreiselt um den 40 000 Licht-
jahre entfernten Pulsar PSR
J0514−4002E und passt in kei-
ne Kategorie bislang bekann-
ter Himmelskörper. Der Ver-

F O T O S : , S H U T T E R S T O C K , PAT R I C K P O L L M E I E R / KÖ R B E R S T I F T U N G
dacht der Forschenden, die
das Objekt mithilfe des Meer-
kat-Radioteleskops aufspür-
ten: Es handelt sich um die
Reste der Kollision zweier
leichter Neutronensterne. Was
dabei entstand, ist noch un-
klar: Es könnte ein extrem
schwerer Neutronenstern sein,
das leichteste bislang bekann-
te Schwarze Loch (r.) – oder
irgendetwas dazwischen.

Muss ich den kennen?

NIKITA HANIKEL,
CHEMIKER
WER IST DAS?
Nikita Hanikel erforscht
schwammartige Materialien,
mit denen man Wasser aus
der Luft ernten kann. Er
WOLLE VOM HUND arbeitet am Institute for Pro­-
Nordamerikas Indigene woben einst Hundehaar in tein Design der University of
Kleidung und Teppiche. Genanalysen zeigen die Washington.
sorgfältige Zucht einer ausgestorbenen Woll-Rasse,
bis Kolonialisten die Tradition unterdrückten.
WAS SIND DAS FÜR
MATERIALIEN?
Hanikel konstruiert und
optimiert metallorganische
Gerüstverbindungen. Solche
hochporösen, kristallinen
Materialien etwa aus Alumi-
niumoxiden können beacht­
liche Mengen von Gasen und
Dämpfen, etwa Wasser, in
ihre nanometergroßen Poren

12 P.M. 04/2024
 Richtig oder falsch?
MÖWEN TRINKEN SALZWASSER
› RICHTIG Auch Vögel müssen regelmä-
ßig Wasser zu sich nehmen. Möwen und
andere Wasservögel fliegen oft über dem
Meer – was läge da näher, als auf diese
Quelle zurückzugreifen? Für Menschen
wäre das unvorstellbar: Weil Meerwasser
so viel Salz enthält, würden wir unseren
Körper damit sogar entwässern und ihm
schaden. Meeresvögel wie Möwen verfü-
gen jedoch über eine körpereigene
Entsalzungsanlage. Ihr Verdauungstrakt
trennt Salz von Wasser, ersteres wird
über die Blutbahn zu Salzdrüsen geleitet.
Die sitzen oberhalb der Augen und
Blinden: Denn unsere Wahrnehmung im
Raum wird nicht nur durch optische
Reize gesteuert, sondern auch durch die
Propriozeption. So heißt jener Sinn, der
unsere Lage und Haltung im Raum
vermittelt. Steht man also auf festem
Boden, der gleichzeitig wie auf einem
Schiff stark schwankt, bringt das die
Sinne durcheinander – und auch Men-
schen ohne Sehsinn werden seekrank.
MIT DER HAND ZU SCHREIBEN IST GUT
FÜR DAS GEHIRN
›RICHTIG Wort ist nicht gleich Wort:
Der besänf-
Studien zeigen, dass man sich besser an

tigende Duft
produzieren ein Sekret, das zu 95 Prozent Inhalte erinnert, die per Hand und nicht
aus Salz besteht. Über die Nasenlöcher per Tastatur geschrieben werden. Denn

der Tränen
im Schnabel wird es ausgeschieden. handschriftliches Schreiben fordert ­
den Körper viel mehr, wie norwegische
BLINDE WERDEN NICHT SEEKRANK Forschende feststellten: Im Gehirn
› FALSCH Seekrankheit oder »Motion werden dann Areale für Sehen und PHYSIOLOGIE Weinen
Sickness« entsteht, wenn der Körper Erkennen, Sprachbildung und Bewegung reinigt die Augen – und gibt
seine Wahrnehmung im Raum mit dem gleichzeitig aktiviert. Für längere Texte soziale Signale ab, wie
Gleichgewichtssinn im Innenohr nicht ist die Tastatur zwar demnach geeignet – Studien zeigen. Nun entdeck-
mehr übereinbringen kann. Gehörlose geht es um Lerninhalte, sollte dagegen ten israelisch-US-amerika­
Menschen, deren Innenohr beeinträch- unbedingt der Stift gezückt werden. Ob nische Forschende bei der
tigt ist, können daher tatsächlich nicht man damit dann auf Papier oder dem Analyse der Bestandteile
seekrank werden. Anders ist es bei Tablet schreibt, ist egal. menschlicher, weiblicher
Tränen einen Duftstoff, der
bei Männern die Produktion
von Testosteron verringert
und damit deren Aggression
dämpft.
aufnehmen und speichern – WO SOLL DIE TECHNIK Die Forschenden sam-
wie winzige Schwämme. EINGESETZT WERDEN? melten zunächst Tränen von
Es gibt erste Prototypen und Frauen und hielten sie
WIE VIEL WASSER LÄSST Start-ups, die sie kommerzia- anschließend im Wechsel mit
SICH SO GEWINNEN? lisieren wollen. Gedacht ist Kochsalzlösung Männern
Je nach Luftfeuchte bindet die Technik vor allem für unter die Nase, die ein provo-
ein Quadratmeter des wasserarme Gebiete ohne zierendes Computerspiel
Materials mehrere Liter pro Möglichkeit zur Meerwasser­ spielten. Tränen und
Tag. Wenn man das Material entsalzung. Je nach molekula- Kochsalzlösung waren in
dann kontrolliert erhitzt, rer Zusammensetzung kön- Geruch und Aussehen nicht
verdampft das Wasser, man nen die Gerüste auch andere unterscheidbar. Handelte ­
lässt es wieder kondensieren Substanzen – etwa Schad- es sich aber um Tränen,
und kann es so abschöpfen. stoffe – herausfiltern. reduzierte sich das aggressive
Verhalten der Männer um
knapp 44 Prozent.

04/2024 P.M. 13
 ALPHA

Wie tickt der Mensch?

P.M. stellt Experimente der Psychologie vor.
Bevor Sie die Lösung lesen: Überlegen Sie selbst –
und testen Sie Ihren Menschenverstand
FOLGE 80 Denken wir schlecht von Singles, die online Partner suchen?

Urteile über andere Menschen sind
schnell gefällt. Ältere Studien
haben sich zum Beispiel mit dem
Phänomen befasst, dass wir
Menschen tendenziell abwerten,
wenn sie ihren Partner online
suchen. Wir halten sie demnach für
unattraktiv, verzweifelt oder
irgendwie seltsam. Allerdings
Finden Sie die richtige Antwort:
A Nein, früher hatte man mit
Online-Dating ein Problem, aber
das ist heute vorbei.
B Ja, wir urteilen immer noch
negativ über Menschen, die online
nach der großen Liebe suchen.
C Die Sache hat sich sogar gedreht:
Wer heute noch altmodisch ohne

Fingerzeig
erledigen wir immer mehr Dinge Internet sucht, gilt als spießig und
über das Internet. Existieren die ungebildet. Online-Dating ist der
Vorurteile noch immer? neue Standard.
FORENSIK Jeder Fingerabdruck ist ein-
DIE LÖSUNG Bei uns suchen heute weit mehr als die Hälfte der Menschen unter zigartig? Von wegen! US-Forschende
49 ihre neue Liebe im Internet. Hat sich unser Bild dadurch verändert? Das haben konnten zeigen, dass sich Abdrücke von
jetzt Forschende aus Kanada mit einer Fragebogen-Studie untersucht. Die mehr ­ verschiedenen Fingern einer Person stär-
als 200 Teilnehmenden fanden Menschen attraktiver, die ihre Suche dem Offline- ker ähneln als die von unterschiedlichen
Leben überließen: ihrem Job, ihrem Hobby, einem Clubbesuch am Wochenende Menschen. Sie fütterten eine KI mit
oder einfach dem Zufall. Wer dagegen online suchte, wirkte im Schnitt bedürftiger 60 000 Abdruck-Paaren. Sie erkannte
und weniger anziehend. Der Effekt war auch bei jenen messbar, die selbst schon mit 77-prozentiger Sicherheit, ob sie von
einmal Online-Dating betrieben hatten. Antwort B ist also korrekt. nur einer oder zwei Personen stammten.
Juristisch ist das nicht belastbar – kann

F O T O S : G A B E G U O / C O L U M B I A E N G I N E E R I N G C A PA S S O L A B / H A R VA R D S E A S ( 2 )
aber neue Hinweise auf Täter geben.

Flache Linse, große Wirkung

PHYSIK Metalinsen gelten als Bausteine einer neuen Optik:
Sie sind dünn, günstig und leicht. Allerdings erreichen sie
bisher nur maximal 30 Millimeter Durchmesser. Denn ihre
Herstellung ist aufwendig: Per Nano-Lithografie wird ihre 1 μm
Oberfläche gezielt verändert. Forschenden der Universität Metalinsen (links) haben
Harvard gelang es nun erstmals, Metalinsen mit einem ­keine gekrümmten Flächen,
Durchmesser von zehn Zentimetern herzustellen. ihre Besonderheit lässt sich
Dafür ätzten sie 18,7 Milliarden Säulen im Nanometer­ ma­kroskopisch nur erahnen.
Erst unter dem Rasterelek­
bereich in die Oberfläche der Linsen ein. Ihre Vergrößerung tronenmikroskop erkennt
gleicht der gängiger Teleskoplinsen, ähnlich robust sind sie man die winzigen Säulen
auch. Künftig könnten sie etwa im Weltall eingesetzt werden. (oben) auf ihrer Oberfläche

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IDEEN | LANDLEBEN

PIONIERGEIST IN
DER PROVINZ

FOTO: IMAGO
 Wildpoldsried im
Allgäu ist ein echtes
Zukunftsdorf: Es
produziert achtmal so
viel Strom aus erneu-
erbaren Energien, wie
es verbrauchen kann

Auf dem Dorf wird die

Zukunft verschlafen, inno­
vativ sind nur die Städte?
Von wegen! Forscher
machen einen Trend zur
Glokalisierung aus: lokal
handeln, global denken.
Fünf Orte machen vor, wie
das gehen kann – mit Ein­
fallsreichtum und Neugier
auf neue Technologien
TEXT: JOSHUA KOCHER

04/2024 P.M. 17
IDEEN | LANDLEBEN

S
ländlichen Räumen sagt: »Der ländliche Raum ist
zum Teil hochgradig innovativ, nur blieb das der
großen Masse bislang verborgen.«
Fünf Dörfer haben sich bei der Suche nach Lö-
sungen mit besonders innovativen Konzepten her-
vorgetan: Wildpoldsried, Hiddenhausen, Wede-
mark, Wörlitz und Spiegelau. Sie bieten Inspiration
dafür, wie die Zukunft auf dem Land auch andern-
orts aussehen könnte. Mit Pioniergeist, Einfalls-
reichtum und Neugier auf neue Technologien.

chon mal von Oberschneiding gehört? Von
Sanitz? Oder Neuenstein? Das sind alles Dörfer in
der tiefsten Provinz: in Bayern, Mecklenburg-Vor-
pommern und Hessen. Das Verrückte ist: Sie zählen
zu den größten Wanderungsgewinnern in Deutsch-
land. Bezogen auf die Einwohnerzahl erlebten die
Orte einen stärkeren Zuzug aus dem Inland als Ber-
lin, Hamburg oder München. Eine neue Landlust
erfasst das Land, so schreibt es das gemeinnützige
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
I. ENERGIE
Gemeinde Wildpoldsried, Bayern,
2600 Einwohner
Die Energiewende wird auf dem Land gemacht. Hier
ist Platz für Windräder und für Solarparks, für Bio-
gasanlagen und Wirtschaftswälder. Allerdings
bremsen vielerorts Bürokratie und Bürgerinnen
den Ausbau der erneuerbaren Energien. Nicht so in
Wildpoldsried. Unweit der Allgäuer Alpen hat sich
in den vergangenen Jahrzehnten geradezu ein Wun-

Getrieben durch hohe Mietpreise, ziehen inzwi-
schen mehr junge Familien aus den Großstädten
aufs Land als andersherum.
Dieser Trend zur sogenannten Suburbanisie-
rung habe schon 2017 begonnen und sei durch die
Corona-Pandemie verstärkt worden, analysiert das
Leibniz Institut für Landes- und Stadtentwicklungs-
forschung. Und er hält bis heute an: 2023 verzeich-
neten zwei von drei Gemeinden im ländlichen
Raum Wanderungsgewinne — zehn Jahre zuvor galt
das nur für jede vierte Gemeinde. Das Dorf, so
scheint es, ist als Wohnort so beliebt wie lange nicht.
Nicht überall, keine Frage, aber vielerorts.
F O T O S : I M A G O ( 2 ) , D PA P I C T U R E - A L L I A N C E
der ereignet. Wildpoldsried, ein Dorf mit 2600 Men-
schen, produziert heute achtmal so viel Strom, wie
es selbst verbrauchen kann. Wie geht das? Das will
Thomas Pfluger, der für die Freien Wähler im Ge-
meinderat sitzt, bei einem Rundgang zeigen.
Auf seinem Weg durch das Dorf führt Pfluger zu
einer Pelletheizung und zu einem der drei Block-
heizkraftwerke, die fast zwei Drittel der Haushalte
mit regenerativer Wärme versorgen. Zum Kinder-
garten, der auf dem Dach so viele Solarzellen hat,

46 W
eit draußen zu wohnen muss kein Nachteil
mehr sein: Dank der Digitalisierung ist
man trotzdem mit der Welt verbunden.
»Glokalisierung« nennen Zukunftsforscher dieses
Prozent Phänomen. Dabei können Dörfer das Beste aus bei-
des Bruttosozial­ den Welten vereinen: global denken, lokal handeln.
produkts wird in Doch zur Wahrheit gehört auch, dass viele Heraus-
Deutschland auf dem forderungen des ländlichen Raumes trotz des Zu-
Land erwirtschaftet. zugs nicht verschwinden: das dünne ÖPNV-Netz, die
Weltmarktführer und Überalterung, die Netzabdeckung. In der ganzen
erfolgreiche Mittel­ Republik suchen Politiker, Forscherinnen und Bür-
ständler haben ihren ger deshalb nach Ideen, wie sie diese Probleme lösen
Sitz in der Provinz können. Dabei beweisen sie, dass Fortschritt nicht
und sorgen für allein von den Städten ausgeht. Ann Hipp vom Thü-
Arbeitsplätze nen-Institut für Innovation und Wertschöpfung in

18 P.M. 04/2024
 1

WILDPOLDSRIED
1 Elf Windräder mit
21,6 Megawatt Leis-
tung kreiseln nahe des
dass er mehr Strom erzeugt, als die Kinder und Er- bayerischen Dorfes Gemeinde vor fast 20 Jahren eine Photovoltaikanla-
zieherinnen verbrauchen können. Und er deutet zu 2 40 Prozent der Dä- ge mit einer Leistung von 147 Kilowatt Peak instal-
den Windrädern, die auf einem Hügel hinter dem cher sind mit Solar- lieren lassen. Mit dem Geld, das die Anlage jährlich
Dorf im Nebel kreiseln. Auf die Tausende Solarpa- zellen bedeckt 3 Der abwarf, bezahlte die Gemeinde die Investitionskos-
deutsche Marktführer
nels, die auf den Dächern unter dem Schnee ruhen. für Batteriespeicher ten ab. Die Panels wandelten allerdings so viele Son-
Wie all das gelingen konnte, das wird jedoch erst in hat seinen Sitz nenstrahlen in Energie und später in Geld um, dass
der Sporthalle klar. Auf dem Dach der Halle hat die am Ortsrand jedes Jahr zwischen 30 000 und 40 000 Euro übrig-
blieben.

D
ieses Geld ging weder an einen Investor noch
2 3 an die Gemeinde — sondern an den Sportver-
ein, dem die Halle gehört. Dieser konnte da-
mit den Betrieb seiner Sportanlagen finanzieren.
Auch der Tennisverein, der Schützenverein und die
Feuerwehr bekamen eine eigene PV-Anlage. Jeder
Verein sollte von der Energiewende profitieren.
»Das hat hier im Dorf ungemeine Akzeptanz ge-
schaffen«, sagt Pfluger. Parallel gründete ein

DIE ENERGIEWENDE
WIRD AUF DEM
LAND GEMACHT
 HIDDENHAUSEN
In der nordrhein-west-
fälischen Kleinstadt
vermittelt das Rathaus
seit mehr als 15 Jahren
alte Häuser an Eltern
und ihre Kinder, etwa
Familie Laker (Foto).
Dadurch konnte es die
Überalterung stoppen

IN LÄNDLICHEN Weil das Modell so gut funktioniert, führt Thoms

REGIONEN SCHREITET Pfluger jedes Jahr gut 50 Besuchergruppen durch
Wildpoldsried. Er hatte schon Gäste aus Korea da,
DER DEMOGRAFISCHE aus Brasilien und Ungarn. »Was hier geht«, sagt er
zum Abschluss, »das geht überall, das ist kein He-
WANDEL BESONDERS xenwerk. Es braucht nur ein paar Idealisten, die sich
SCHNELL VORAN was trauen, und ein Geschäftsmodell, das den Rest
überzeugt.«

Landwirt aus dem Ort eine Gesellschaft, in die 30
Bürgerinnen und Bürger Geld einbrachten. Damit
bauten sie zwei Windräder. Weil diese jährlich eine
Rendite von bis zu zehn Prozent abwarfen, hatten
die Investoren nach zehn Jahren ihr Geld wieder
drin — und verdienten im Anschluss an dem Wind-
strom. So seien viele Kritiker der Windkraft besänf-
tigt worden, sagt Thomas Pfluger. Heute stehen elf
II. WOHNEN
Gemeinde Hiddenhausen,
Nordrhein-Westfalen, 20 000 Einwohner
Die Zahlen waren erschreckend. Als der damalige
Bürgermeister Ulrich Rolfsmeyer 2004 einen Al-
tersatlas für Hiddenhausen erstellen ließ, zeigten
die Prognosen, dass die Zahl der über 75-Jährigen im
Dorf zwischen 1998 und 2020 um 51 Prozent anstei-
gen würde. Die der 30- bis 50-Jährigen sänke hin-

F O T O S ; S I LV I A R E I M A N N ; I N F O G R A F I K : P . M . / Q U E L L E : S TAT I S TA
Windräder in Wildpoldsried, mehr als 400 Bürge- gegen um 19,6 Prozent, und die der 6- bis 10-Jähri-
rinnen und Bürger haben gemeinsam mit der Ge- gen sei sogar 31,2 Prozent niedriger. Der 20 000

1,7
meinde etwa 50 Millionen Euro investiert. »Viele
Menschen haben verstanden, dass erneuerbare
Energien sehr lukrativ sein können«, sagt Pfluger.
Millionen Der Wildpoldsrieder Weg ist so banal wie genial:
Wohnungen sollen in Dem Dorf ist es gelungen, aus dem Strom aus Wind
Deutschland leer und Sonne ein Geschäftsmodell zu entwickeln, von
stehen, oft in Altbau­ dem die Menschen vor Ort profitieren. So kann
ten auf dem Land. Wildpoldsried, in dessen Gemeinderat kein einziger
Zugleich verschwin­ Grüner sitzt, als Bilanz vorweisen: 400 PV-Anlagen
den jeden Tag 55 auf den Dächern, elf Windräder, vier Biogasanlagen,
Hektar Boden unter drei Wasserkraftwerke. Gemeinsam haben sie den
Beton und Asphalt, Wildpoldsrieder Bürgern 2020 Einnahmen von sie-
auch für Neubauten ben Millionen Euro beschert.
Einwohner großen Gemeinde in Nordrhein-Westfa-
len drohte eine massive Überalterung.
Das Phänomen kennen Statistiker in der ganzen
Republik. Weil weniger Kinder geboren werden als
früher und die Alten immer länger leben, steigt der
Altersschnitt. In ländlichen Regionen schreitet der
demografische Wandel besonders stark voran. Dort
soll die Bevölkerung langfristig schrumpfen, da Jahr
für Jahr mehr Menschen sterben als geboren wer-
den und die Zuwanderung aus dem Ausland bislang
fast ausschließlich den Städten zugutekommt. Hid-
denhausen lief Gefahr, in einen Teufelskreis zu ge-
raten: Sollte es tatsächlich schrumpfen, würde es

20 P.M. 04/2024
 IDEEN | LANDLEBEN

immer weniger Zuschüsse vom Bund erhalten. Es
würde immer schwieriger werden, die Supermärk-
te, Bäcker und Grundschulen in den Ortsteilen zu
erhalten. Und es würden immer mehr alte Häuser
leer stehen. Denn wie in vielen anderen Gemeinden
entschieden sich junge Leute, wenn sie denn blie-
ben, eher für einen Neubau auf der grünen Wiese als
für das verwinkelte Haus ihrer Eltern oder Großel-
tern. So standen 2007 bereits 91 Häuser in Hidden-
hausen leer. Auch das ist ein bundesweites Problem:
Experten schätzen die Zahl der leer stehenden Woh-
nungen auf etwas mehr als 1,7 Millionen, auf dem
Land ist die Quote deutlich höher als in den Städten.
hold, Leiter des Amtes für Gemeindeentwicklung,
sagt: »Es hat sich schnell herumgesprochen.«
Bis heute haben 1509 Erwachsene mit 1043 Kin-
dern das Angebot in Anspruch genommen. 810 Alt-
bauten konnten vor dem Leerstand bewahrt wer-
den. Die Gemeinde kostete das bislang 3,6 Millionen
Euro. Dafür musste sie seit 2011 kein einziges Neu-
baugebiet mehr planen, keine Straßen mehr bauen,
keine Kanäle oder Leitungen legen – und spart somit
eine Menge Geld. Es sei eine Win-win-Situation,
sagt Westerhold. Spiel des Jahres
»Jung kauft Alt« gilt als Erfolgsgeschichte, bis Städter aufgepasst:
heute gehen jährlich 50 Anträge im Hiddenhauser Wer sich dem Land­
Rathaus ein. »Die Überalterung konnten wir stop- leben erst mal spie­

D
ie Antwort aus Hiddenhausen heißt: »Jung pen«, sagt Westerhold. Und geschrumpft ist die Ge- lerisch nähern will,
kauft Alt«. Gemeinsam mit Bankern, Makle- meinde auch nicht. Sie hat immer noch 20 000 Ein- kann das mit »Dorf­
rinnen, Planern und Architektinnen erfand wohner. Fast 1500 mehr als prognostiziert. romantik« tun, dem
die Gemeinde ein Förderprojekt, das bis heute dut- höchst erfolgreichen
zendfach nachgeahmt wurde. In Steinfurt zum Bei- III. VERKEHR Spiel des Jahres
spiel, in Lingen oder Vlotho. Die Idee: Junge Fami- Gemeinde Wedemark, Niedersachsen, 2023. Dabei baut
lien erhalten bis zu 9000 Euro Unterstützung, wenn 30 000 Einwohner man Stück für Stück
sie eine mindestens 25 Jahre alte Immobilie im Ort ein Dorf auf – Ver­
kaufen. Angesichts der explodierenden Baukosten Der »Sprinti«, so niedlich der Name klingt, soll in lierer sehen die Spiel­
wirkt diese Finanzspritze mickrig. Doch Jan Wester- Wedemark bei Hannover Großes erreichen: Seit regeln nicht vor

Viele Deutsche verlassen die Großstädte

SUBURBANISIERUNG Ende der 1990er- und Anfang der
2000er-Jahre machten Statistiker hierzulande noch einen Trend
zur Urbanisierung aus: Viele Menschen verließen eher dünn
besiedelte Regionen und zogen in großstädtische Gebiete.
Mittlerweile ist ein Trend zur sogenannten Suburbanisierung zu
erkennen: Die Zahl der Fortzüge aus den Metropolen nimmt zu,
die Wanderung in kleinere Städte und ländlichere Gebiete
wächst in der Tendenz. Die Stadtflucht betrifft vor allem Familien.
Mögliche Gründe sind etwa veränderte Vorlieben, Wohnungs­
knappheit und hohe Wohnungspreise.

+0,6

+0,4
der Stadt- und Landkreise

+0,2
Nettowanderungsrate

in Deutschland (in %)

0,0

-0,2

-0,4
Kreisfreie Großstädte
-0,6 Städtische Kreise
Ländliche Kreise, die sich verdichten
1991 ´93 ´95 ´97 ´99 ´01 ´03 ´05 ´07 ´09 ´11 ´13 ´15 ´17 ´19 ´21 Dünn besiedelte Kreise

Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung

04/2024 P.M. 21
IDEEN | LANDLEBEN
2021 versucht der Rufbus die Dominanz des Autos zu
bekämpfen. Die ist im ländlichen Raum ungebro-
chen: Bis zu 70 Prozent aller Wege werden damit zu-
rückgelegt, jeder dritte Haushalt besitzt zwei oder
mehr Autos. Das ist kein Wunder, denn mehr als die
Hälfte der Landbevölkerung muss länger
als 15 Minuten zur nächsten Haltestelle des ÖPNV
laufen. Vor allem auf der »letzten Meile«, also der
Lücke zwischen abgelegenen Dörfern und dem
nächsten S-Bahnhof, lohnt sich der Betrieb für viele
Verkehrsunternehmen nicht.
D
ie Idee, hier einen flexibel fahrenden Rufbus
einzusetzen, ist weder neu noch selten. Schon
Ende der 1970er-Jahre fuhr ein solcher Bus
am Bodensee. Heute gibt es mehr als 80 Projekte die-
ser Art in Deutschland. Der »Sprinti«, ein Kleinbus,
der Wedemark mit elf anderen Kommunen im
Raum Hannover verbindet, ist dennoch in vielerlei
Hinsicht besonders. Zum einen funktioniert er
komplett digital. Die Nutzerinnen und Nutzer be-
stellen ihn per App, ein Algorithmus berechnet die
Route des Shuttlebusses, sodass er möglichst viele
Menschen einsammelt und alle ihren Anschluss er-
reichen. Außerdem ist der Bus sehr fix: Höchstens
20 Minuten nach der Bestellung steht er an einem
maximal 150 Meter entfernten Haltepunkt und
bringt einen zum gewünschten Ziel. Und: Er kostet
nichts extra. Das Angebot ist Teil des örtlichen Ver-
kehrsverbunds. Wedemark ist eine der drei Pilotge-
meinden, in welchen die Region Hannover das An-
gebot dreieinhalb Jahre lang testet. Betrieben wird
der »Sprinti« von einem Unternehmen aus den USA,
das bereits in New York, Amsterdam und Berlin Er-
fahrung mit On-Demand-Diensten sammeln konn-
te. Die Kosten von rund 20 Millionen Euro pro Jahr
übernimmt zu einem Drittel der Bund. Ersparnisse
erhofft man sich in Zukunft durch autonom fahren-
de Fahrzeuge. Spätestens Ende 2024, wenn die Bun-
EIN ALGORITHMUS
BERECHNET DIE ROUTE
DES SHUTTLEBUSSES
22 P.M. 04/2024
WEDEMARK
In der Pilotgemeinde
testet die Region
Hannover den voll
digitalisierten Rufbus
»Sprinti«. Mit Erfolg:
Im Schnitt stiegen
zuletzt täglich 1500
Fahrgäste ein, das
Angebot wird
ausgeweitet
desförderung ausläuft, soll eine tragende Finanzie-
rung stehen. Victoria Reichow, Mobilitätsforscherin
am Deutschen Institut für Urbanistik, begleitet das
Projekt wissenschaftlich. Sie interessiert vor allem,
wie viele Autofahrten das Angebot tatsächlich erset-
zen kann. Das Ergebnis: 40 Prozent der Sprinti-
Fahrgäste wären sonst mit dem Auto gefahren. »Die-
ser Wert ist deutlich höher als in Städten, wo die
Shuttledienste oft die Fahrten mit der S- oder U-
F O T O S : D PA P I C T U R E - A L L I A N C E ( 2 ) , G E T T Y I M A G E S , D PA / E U R O L U F T B I L D
Bahn ersetzen, was kein CO₂ einspart.« Überrascht
habe sie, wie gut das Angebot von den Bürgerinnen
und Bürgern angenommen wurde. Zuletzt wurden
jeden Monat fast 50 000 Fahrten gelöst.
Im vergangenen Herbst beschlossen die Verant-
wortlichen, das Angebot auf neun weitere Gemein-
den auszuweiten. Mit einer Flotte von 120 Fahrzeu-
gen und einem potenziellen Nutzerkreis von 360 000
Menschen gilt der »Sprinti« nun als größtes On-De-
mand-ÖPNV-System in Deutschland.
IV. EINKAUFEN
Ortsteil Wörlitz, Sachsen-Anhalt,
1500 Einwohner
Vor drei Jahren, da hatte Wörlitz in Sachsen-Anhalt
mit seinem malerischen Gartenreich zwar ein
 Unesco-Welterbe im Ort, aber keinen Supermarkt
mehr. Das 150 Quadratmeter große Gebäude, in
dem bis zur Wende der Konsum seine Waren ver-
kaufte und dann Edeka, stand plötzlich leer. »Ich
habe wirklich sehr, sehr viele Supermarktketten an-
gefragt, ob sie nicht dort reinwollen«, sagt die Orts-
bürgermeisterin Erika Miertsch. Doch allen sei der
gut 1500 Einwohner zählende Ort zu klein und zu
unbedeutend gewesen.

D
ann fand Erika Miertsch »Tante Enso«. So
nennt das Bremer Unternehmen Enso eCom-
merce sein 2019 gestartetes Einzelhandels-
konzept. Dabei handelt es sich um einen Mini-Su-
permarkt, der rund um die Uhr zugänglich ist,
obwohl nur für wenige Stunden des Tages Personal
vor Ort ist. Die Kundinnen und Kunden öffnen die
Tür mit einer Karte, scannen ihren Einkauf selbst
und zahlen mit der Karte an der Kasse. Ein digitaler
Selbstbedienungsladen.
Durch die geringe Ladenfläche spare die Betrei-
berfirma an der Miete und durch die digitale An-
WÖRLITZ wendung an Personalkosten, erklärt deren Presse-
Supermärkte haben es
selbst in größeren sprecherin Jessica Renziehausen. Dadurch soll sich
Ortschaften schwer. das Modell auch in kleinen Dörfern mit weniger als
Doch als in Wörlitz 3000 Einwohnern tragen — so wie in Wörlitz.
(rechts) der Edeka Für die klassischen Supermarktketten rentiert
schloss (unten), tat
sich eine Möglichkeit sich ihr Geschäft nur noch in Gemeinden mit
auf: ein immer
geöffneter Markt, fast
ohne Personal

04/2024 P.M. 23
IDEEN | LANDLEBEN

e­ inem Einzugsbereich von etwa 5000 Menschen.

Zwischen 1990 und 2020 hat sich die Zahl der Ein-
kaufsläden in Deutschland deshalb mehr als hal-
biert. Zwei Drittel aller Menschen im ländlichen
Raum wohnen inzwischen mindestens 15 Minuten
zu Fuß vom nächsten Lebensmittelgeschäft entfernt
— vor allem für ältere Menschen ist das ein Problem.
Digitale Supermärkte wie »Tante Enso« versu-
chen, diese Lücke zu füllen. In Hessen probiert sich Die Kundschaft scannt
Tegut an einem ähnlichen Konzept, der Rewe-Kon- bei »Tante Enso« die
zern testet eine »Nahkauf-Box« und in Süddeutsch- Ware selbst, Sortiment
und Preise sind markt-
land verbreitet sich zunehmend »Tante-m«. einmal bewerben. Denn die Betreiberfirma stellt üblich (oben). Das
Wörlitz in Sachsen-Anhalt entschied sich für drei Bedingungen an die potenziellen Standorte: Sie Konzept bewährt sich
»Tante Enso«. Dafür musste sich der Ort aber erst müssen zwischen 1000 und 3000 Einwohner haben, an vielen Orten, auch in
der nächste Supermarkt muss mindestens fünf Brekendorf in Schles-
wig-Holstein (unten)
­Kilometer entfernt sein, und es müssen sich 300
Bürgerinnen und Bürger mit Anteilen von je 100
Euro an der Finanzierung beteiligen, ähnlich wie in
WÖRLITZ HATTE einer Genossenschaft. »So wollen wir sicherstellen,

ZWAR EIN UNESCO-

WELTERBE, ABER KEINEN
SUPERMARKT MEHR

24 P.M. 04/2024
 dass wir wirklich willkommen im Ort sind«, sagt
Renziehausen.
Ortsbürgermeisterin Erika Miertsch schrieb
Briefe an die Einwohner von Wörlitz und berief eine
Bürgerversammlung ein, um Mitstreiter zu finden.
»Mir war es wichtig, dass wir die Grundversorgung
wieder im Ort haben«, sagt sie. »Viele ältere Mitbür-
ger waren es leid, ständig ihren Kindern die Ein-
kaufszettel mitzugeben, die wollten mal wieder
selbst einkaufen gehen.« Am Ende fanden sich 400
Teilhaber.

S
o eröffnete am 20. April 2023 tatsächlich wie-
der ein Einkaufsladen in Wörlitz. »Wir freuen
uns alle«, sagte eine der Teilhaberinnen der
Lokalzeitung. »Es ist nicht nur ein Tante-Emma-La- Urbanität im Landleben
den, sondern ein bisschen was Größeres.« Mit sei-
nem Sortiment von etwa 3000 Artikeln sei »Tante NEUES WOHNEN Etwas außerhalb von Wiesenburg, einer
Enso« ähnlich ausgestattet wie ein durchschnittli- Gemeinde mit 4300 Einwohnern in Brandenburg, bauen
cher Supermarkt, heißt es vom Betreiber. Es gibt Frederik Fischer und Patric Meier mit Gleichgesinnten ein
Obst, Gemüse, sogar Backwaren, und wenn etwas »KoDorf«. Dieses soll das Beste aus beiden Welten
fehlt, könne man es auf eine Tafel am Eingang vereinen: die Ruhe des Dorfes und die Infrastruktur einer
schreiben. Auch die Preisen seien normal hoch. Bis- Stadt. Auf dem Gelände eines in den 1990er-Jahren
F O T O S : TA N T E E N S O ( 2 ) , R O D E R I C K A I C H I N G E R / S Z S C A L A ; I L L U S TA R T I O N : , A G M M / A R C H I T E K T E N U N D S TA D T P L A N E R

lang werde der Markt sehr gut angenommen, sagt
Bürgermeisterin Miertsch. Besonders für ihre älte-
ren Mitbürger sei der Laden ein richtiger Treffpunkt
geworden: »Man hört ein Schwätzchen hier, ein
Schwätzchen da.«
V. DIGITALISIERUNG
Gemeinde Spiegelau, Bayern,
3800 Einwohner
Als der damals 33-jährige Karlheinz Roth 2014 zum
Bürgermeister von Spiegelau gewählt wurde, tief im
Bayerischen Wald, da arbeiteten seine Kolleginnen
und Kollegen im Rathaus teilweise noch mit der
Schreibmaschine. Heute, zehn Jahre später, sagt er,
liefen alle rechtlich möglichen Prozesse digital, zum
Beispiel die Bauanträge oder die Ummeldung des
Wohnsitzes. Wie hat Roth das geschafft?
Nach seinem Amtsantritt entwarf er ein Bild, wie
sein Dorf 2040 aussehen soll. Unter anderem solle
die Verwaltung so weit wie möglich digital arbeiten,
jedes Haus über einen guten Internetzugang verfü-
gen und der Ort über einen guten Handyempfang.
Ideen hatte er viele, bloß fehlte noch das Geld. Schon
als Kreisvorsitzender der Jungen Union sei es Roth
Jahre zuvor gelungen, eine landesweite Förderung
für den Breitbandausbau durchzusetzen, erzählt er.
Auch in Spiegelau begann er, sich auf Förderpro-
stillgelegten Sägewerks entstehen 40 Gebäude: kleine
Holzhäuser, Gemeinschaftsflächen, ein Co-Working-Space,
eine Küche mit langer Tafel, Werkstätten, Veranstaltungs­
räume und eine Kita oder ein Hofladen. Bezugsfertig soll das
Areal spätestens 2026 sein, gebaut wird das Projekt von
einer Genossenschaft. Einen Prototypen gibt es bereits: Im
»Feriendorf Meerleben« an der Ostsee können Interessen­
ten Probe wohnen. Auch an anderen Standorten sollen
solche Mini-Dörfer entstehen, unter anderem in Erndte­
brück in Südwestfalen. Ein anderes Projekt: In der Kleinstadt
Wittenberge konnten 27 Menschen aus der digitalen Szene
von Großstädten wie Berlin, Hamburg oder Zürich ein Jahr
lang das Leben testen – 15 davon sind geblieben oder
schauen regelmäßig vorbei.
Tief im bayerischen
Wald ruht Spiegelau,
eines der digitalsten
Dörfer des Landes

04/2024 P.M. 25
 IDEEN | LANDLEBEN

Schüler bekamen in jedes Klassenzimmer einen

Urbanisierung der Welt
DEMOGRAFIE Mag sich bei uns der Trend zum Stadtleben
verlangsamen, so zeigt sich weltweit ein anderes Bild: Von
Jahr zu Jahr leben mehr Menschen in städtischen Gebieten
statt auf dem Land. Besonders schnell schreitet die
Beamer, einen Laptop, eine Dokumentenkamera
sowie einen WLAN-Hotspot. Programmierer des
Technologie Campus Grafenau entwarfen eine App,
mit der die Schulverwaltung mit den Lehrern und
Eltern kommunizieren kann.

A
Urbanisierung in Schwellen- und Entwicklungsländern voran. uch die Gemeindeverwaltung wurde digita-
ler. Der Papierverbrauch habe sich im Ver-
Anteil der Weltbevölkerung, der in

gleich zu 2014 um 90 Prozent reduziert, sagt

städtischen Gebieten lebt (in %)*

Roth. Ȇberall, wo es das Gesetz erlaubt, arbeiten

80% wir heute papierlos.« Zusätzlich erprobte die Ge-
56 , 2 68,4
meinde die Telemedizin. Sie schulten eine Kran-
60% kenpflegerin darin, ohne den Hausarzt zu Patienten
29,6 zu fahren und den Arzt via Tablet zuzuschalten. Ein
40% Weg, um noch mehr Patienten erreichen zu können.
»Wir haben gezeigt, dass das geht«, sagt Roth. Einer
20% der beiden Hausärzte im Ort biete bis heute eine Vi-
Prognose- deosprechstunde an.
zeitraum
0% Dazu kamen: ein digitaler Schaukasten am Rat-
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030 2040 2050 haus, eine voll digitalisierte Gemeindebibliothek
und eine Dorf-App, in der sich Vereine und Bürger
Wachstum der städtische n Bevölke rung 2020 ggü. 2 0 1 9 vernetzen können. Parallel gelang es der Gemeinde,
1 Uganda 5,7 %
2 Burundi 5,6 %
3 Tansania 5,0 %
...
186 Deutschland 0,3 %

*Städtische Bevölkerung nach den jeweiligen Definitionen der nationalen Statistikämter

Quelle: UN, World Bank

jekte zu bewerben. So auch für das Programm »Di-

gitales Dorf« der bayerischen Staatsregierung.
Roth schrieb mit seinem Kollegen aus dem
Nachbarort eine gemeinsame Bewerbung und be-
kam den Zuschlag: Über vier Jahre bekam Spiegelau
280 000 Euro. Das sollte den digitalen Durchbruch
bringen. Mit dem Geld ließ Karlheinz Roth die
Grundschule mit Glasfaser verkabeln und die kom-
plette Ausstattung erneuern. Die Schülerinnen und

BÜRGERMEISTER
KARLHEINZ ROTH ENTWARF
EIN BILD, WIE SEIN DORF
2040 AUSSEHEN SOLL

26 P.M. 04/2024
 SPIEGELAU
Moderner Lernort statt
analoger Dorfschule:
An der Grundschule
alle 33 Ortsteile mit Glasfaser auszustatten. Spiege- erzählt: Wenn ein Dorf erst einmal einen Ruf erlangt sorgt Lydia Macht für
lau wurde so digital wie kaum ein anderes Dorf in hat, sich der Zukunft mit Neugier zu stellen, dann Tablets, Laptops und
F O T O S : R O D E R I C K A I C H I N G E R ( 3 ) ; I N F O G R A F I K : P . M . / Q U E L L E : S TAT I S TA

Deutschland.
Was zeigen nun diese fünf Beispiele? Zuerst einmal, dass
jeder kleinere Ort seine ganz eigenen Herausforde-
rungen hat, für die er Lösungen finden muss. Kein
Ort gleicht dem anderen. Und trotzdem kann auch
im Schwarzwald gelingen, was schon in der Ucker-
mark geklappt hat. Tante Enso zum Beispiel, der
­Mini-Supermarkt aus Wörlitz, hat inzwischen 34
Standorte in fast allen Bundesländern. Dann, dass
es Idealisten braucht, die sich trauen, neue Konzep-
te auszuprobieren. So wie den Landwirt aus Wild-
poldsried, der inzwischen vielmehr ein Energiewirt
ist. Aber um die breite Masse mitzunehmen, müs-
sen die Konzepte auch lohnend sein.
Und dann gibt es da noch diese Erkenntnis, von
der der digital-affine Bürgermeister aus Spiegelau
gelingt es danach fast wie von selbst, Fördergelder Beamer. Eltern melden
ihre Kinder über eine
und Menschen anzuziehen. Schul-App krank
Vielleicht ist die wichtigste Erkenntnis aber die,
welche schon der Geograf Gerhard Henkel, der lan-
ge an der Universität Duisburg-Essen forschte und
lehrte, in seinem Buch »Rettet das Dorf!« geschrie-
ben hat: Das Dorf hat seine beste Zeit noch vor sich.
· Wneregen der hohen Wohnkosten in den Städten und sei­
Nähe zur Natur wird das Dorf wieder beliebter.
· Vbleiben
iele der alltäglichen Probleme des ländlichen Raumes
aber trotz der Beliebtheit: mangelnde Anbin­
Joshua Kocher
Der Journalist, Spezial­
dung, schlechtes Handynetz, alternde Bevölkerung. gebiet Wissenschaft,
lebt in der Breisgaume­
· Igeldern
mmer mehr Orte zeigen: Mit digitaler Technik, Förder­
und Erfindergeist können sie gelöst werden.
tropole Freiburg. Noch.
Denn bald will er zurück
aufs Dorf ziehen.

04/2024 P.M. 27
 HAL
FREMD
Seit mehr als zehn Jahren erforscht die kanadische
Psychologin Gillian Sandstrom, wie sich flüchtige
Begegnungen auf unsere mentale Gesundheit auswirken.
Denn oft unterschätzen wir den Nutzen der
sogenannten Mikro-Verbindungen
INTERVIEW: JOCHEN METZGER
FOTOS: GETTY IMAGES, MAURITIUS IMAGES

28 P.M. 04/2024
 FORSCHUNG | PSYCHOLOGIE

LO P.M.: Frau Dr. Sandstrom, Sie interessieren

sich als Forscherin für Zufallsgespräche

DER!
zwischen Unbekannten. Sind Sie besonders
extrovertiert?
GILLIAN SANDSTROM: Im Gegenteil, ich bin sogar
extrem introvertiert. Es waren Zufälle, die mich zu
meinem Forschungsthema gebracht haben. Zum
Beispiel mein Vater, der andauernd fremde Men-
schen auf der Straße angesprochen hat. Ich fand
das als Kind immer unangenehm und peinlich. In
meinem Masterstudiengang hatte ich dann ein
merkwürdiges Erlebnis. Ich war damals zehn Jahre
älter als meine Mitstudierenden und fühlte mich
ziemlich isoliert. Aber auf dem Campus meiner
Uni gab es diesen kleinen Hotdog-Stand; jeden Tag
winkte und lächelte ich der Verkäuferin zu, und
sie winkte und lächelte zurück. Und ich merkte
irgendwann, dass es mir danach immer ein biss-
chen besser ging.
Wie kam es von diesem Erlebnis zu Ihrer
­ersten Studie?
Ich hatte in derselben Zeit ein Zufallsgespräch mit
einer Unbekannten, die einen ganz wundervollen
Cupcake in einer Plastikschale mit sich trug. Ich
sprach sie darauf an, und es entwickelte sich ein
längeres Gespräch. Am Ende erzählte sie mir, dass
man auf einem Vogelstrauß reiten könne, was ich
bis dahin nicht gewusst hatte. Auch das fühlte sich
toll an. Als ich mir als Doktorandin dann ein The-
­ma für eine Studie ausdenken sollte, dachte ich
mir: Ich will rauskriegen, ob das nur bei mir so ist,
dass solche kurzen, zufälligen Begegnungen, die in
der Psychologie Mikro-Verbindungen genannt
werden, etwas mit unserer Stimmung machen.
Wie haben Sie das genau untersucht?
Wir haben unsere Studienteilnehmenden in einen
Laden geschickt mit dem Auftrag, sich dort einen
Kaffee zum Mitnehmen zu bestellen und danach
wieder zu gehen. Die Hälfte der Probanden sollte
sich zusätzlich mit der Bedienung unterhalten. Sie
sollten so tun, als wäre das eine Bekannte, mit

04/2024 P.M. 29
 »Und ich merkte
irgendwann, dass es
mir danach immer ein
bisschen besser ging«

aus Chicago hat später entdeckt, dass wir aus

Zur Person
Die kanadische
Psychologin Gillian
Sandstrom forscht der man eben ein kurzes Gespräch führt. Und
und lehrt an der siehe da: Wer dieses kurze Alltagsgespräch im
University of Sussex Coffeeshop erlebt hatte, dessen Laune war hinter-
in Großbritannien. her messbar besser und der fühlte außerdem eine
Dort ist sie Mitgrün- größere soziale Verbundenheit.
derin eines Zentrums Ihre Studie ist 2014 erschienen. Fast gleich­
zur Erforschung von zeitig hat ein Team der University of Chicago
Freundlichkeit einen ähnlichen Versuch gemacht.
Stimmt. Dort hat man dasselbe mit Pendlern in
der Großstadt gemacht, die so ein Zufallsgespräch
im Bus oder in der Bahn führen sollten. Und auch
dort zeigte sich derselbe Effekt: bessere Stimmung,
mehr Wohlbefinden, ein Gefühl, mit anderen
Menschen stärker verbunden zu sein. Das Team
solchen Gesprächen auch viel mehr Neues lernen,
als wir allgemein vermuten. Das finde ich faszinie-
rend. Man denkt ja: Was soll bei so ein bisschen
Smalltalk schon herauskommen? Aber wir lernen
wirklich etwas – über uns selbst, über unser Ge-
genüber und über die Welt.
Unterhalten wir uns zu selten mit Fremden?
Ja. Wir sollten häufiger mit Fremden reden, es ist
gut für unser soziales Wohlbefinden. Es gibt inzwi-
schen auch viele Studien, die zeigen, wie sehr wir
danebenliegen mit dem, was wir oft über solche
Unterhaltungen denken. Einmal habe ich eine Art
Schnitzeljagd entwickelt. Probanden sollten in der
Stadt zum Beispiel nach jemandem suchen, der
einen Hut trägt, und dann den Hut zum Anlass
nehmen für ein kleines Gespräch. Davor habe ich
gefragt: Wird sich diese Person auf so ein Gespräch
einlassen? Mehr als die Hälfte der Probanden
hatte Angst, abgelehnt zu werden. Tatsächlich lag
die Erfolgsquote dann bei mehr als 90 Prozent.

Gillian Sandstroms
erste Studie über
­Mi­kro-Verbindungen
begann beim Coffee to
go: Die Teilnehmenden
redeten dabei einfach
mit der Thekenkraft

30 P.M. 04/2024
 FORSCHUNG | PSYCHOLOGIE

Welche Irrtümer gibt es noch über Gespräche

mit Fremden?
Wir haben zum Beispiel gefragt: »Wie sehr wirst
du es mögen, dich mit einem fremden Menschen
zu unterhalten?« Und da sieht man, dass solche
Begegnungen im Durchschnitt viel, viel besser
funktionieren und mehr Spaß machen, als die
Leu­te vorher glauben. Dasselbe stellen wir fest,
wenn wir fragen: »Wie gut wirst du darin sein, so

»Bessere Stimmung,
mehr Wohlbefinden,
ein Gefühl, mit anderen
Menschen stärker
verbunden zu sein«

ein Gespräch zu führen?« Auch das gelingt den

allermeisten viel besser, als sie vermuten.
Woran liegt das? Unterschätzen wir unsere
sozialen Fähigkeiten?
Das tun wir ganz sicher! Es gibt eine Studie dazu,
für die Probanden eine Liste von Fähigkeiten
erhielten und beantworten sollten: »Wie gut
kannst du das im Vergleich zu deinen Mitmen-
schen?« In fast allen Kategorien findet man dabei
F O T O S : P R I VAT , G E T T Y I M A G E S , A C H I M M U LT H A U P T / L A I F , B R I T TA P E D E R S E N / D PA

einen »better-than-average-effect«: Wir halten Einladung zum Gespräch

uns für überdurchschnittlich gut – auch wenn wir
das gar nicht sind. Mit Fremden reden war dabei
eine der ganz wenigen Ausnahmen. Da unter-
schätzen wir systematisch, wie gut wir das können,
und übrigens auch, wie sympathisch unser Gegen-
über uns finden wird. Zu diesem »liking gap« gibt
es mehrere Studien, die Daten sind ziemlich klar:
Unser Gegenüber findet uns in solchen Gesprä-
chen fast immer sympathischer, als wir glauben.
Stimmt es, dass Sie inzwischen eine Art Hobby
daraus gemacht haben, mit Fremden ins
Gespräch zu kommen?
Ja, ich gehe mit meinem Mann häufig wandern,
und dabei ergeben sich eigentlich immer Gesprä-
che mit Fremden. Das hat mich verändert, ich
denke heute viel besser über Menschen als noch
vor ein paar Jahren. Und wir sehen diese Ergeb-
nisse auch in unseren Studien: Wer regelmäßig
ZUHÖRBÄNKE »Plauderbank« steht in großen Buchstaben auf
der Rückenlehne: Es ist eine Einladung, gegen Einsamkeit
anzukämpfen. Solche Bänke wie hier in Berlin, auch »Zuhörbänke«
genannt, gibt es inzwischen vielerorts. Manch einer entwickelt
die Idee weiter: In Hamburg etwa gibt es inmitten einer U-Bahn-­
Station einen »Zuhörkiosk« (Bild oben). Es sind Orte, an denen es
einem leicht gemacht werden soll, mit Fremden ins Gespräch zu
kommen. Die Grundidee dazu stammt aus Simbabwe. Im Jahr
2006 stand der Psychiater Dixon Chibanda dort vor einer
Herausforderung: Viele Menschen hatten psychische Probleme –
aber niemanden, mit dem sie darüber reden konnten. Also schulte
Dixon Chibanda ehrenamtliche Helferinnen (»Großmütter«) im
guten Zuhören und ließ auf den Grundstücken mehrerer Kliniken
sogenannte »Friendship Benches« aufstellen. Viele Studien haben
inzwischen belegt: Menschen, die sich auf einer der Freund-
schaftsbänke aussprechen konnten, litten danach seltener unter
Depressionen und anderen psychischen Krankheiten.

04/2024 P.M. 31
FORSCHUNG | PSYCHOLOGIE
»Wir sollten häufiger
mit Fremden reden,
es ist gut für unser
Heilsame Mikro-Ver-
soziales Wohlbefinden«
bindungen entstehen
durch Worte – oder
durch Blickkontakt, ein
Lächeln oder ein
Winken auf die
andere Straßenseite

Gelegenheiten für Mikro-Verbindungen im Alltag
schafft, neigt dazu, anderen Menschen mehr zu
vertrauen.
Wie wichtig ist die Qualität des einzelnen
Gesprächs für unsere Psyche?
Zwischen Freunden ist die Qualität des Gesprächs
ganz entscheidend. Wenn eine Freundin mit mir
nur noch übers Wetter redet, ist sie bald keine
Freundin mehr, sondern nur noch eine Bekannte.
Da erwarten wir einfach mehr. Aber bei Fremden
ist Smalltalk völlig okay. Wenn ich eine Gewohn-
heit daraus mache, werden auch solche eher
freuen sich aber die meisten über ein Kompli-
ment, und man kommt gut damit in ein Gespräch.
Können Unterhaltungen mit Fremden sogar
ein gutes Mittel gegen Einsamkeit sein?
Das ist ein bisschen kompliziert. Denn Einsamkeit
kann vielfältige Ursachen haben. Brauchen wir
schlicht mehr Gelegenheiten, andere Menschen zu
treffen? Müssen wir die Sozialkompetenz trainie-
ren? Oder gegen Sorgen anarbeiten, was andere
wohl über uns denken? Ich glaube, Gespräche mit
Fremden können uns in all diesen Dingen ein
bisschen besser machen und etwas in Bewegung

3
flachen Gespräche positive Wirkungen haben und bringen, das in die richtige Richtung geht.
mein Vertrauen in Menschen und mein Gefühl der Wie lange braucht man, bis es einem leichter
Verbundenheit stärken. fällt, Fremde anzusprechen?
Mal länger, Das Problem ist ja meist, den Anfang zu ma­ Wir haben auch dazu eine Studie durchgeführt.
als viele erwarten, chen. Was empfehlen Sie? Sollte man gleich Dabei haben die Probanden jeden Tag eine Haus-
dauern spontane mit einem Kompliment beginnen? aufgabe bekommen, und zwar eine Woche lang.
Gespräche mit Frem- Das kann sehr gut funktionieren. Vor allem, wenn Am Ende ist ihnen das Ansprechen viel leichter
FOTOS: GETTY IMAGES (2)

den im Durchschnitt. das Kompliment ehrlich gemeint und angemessen gefallen. Und der Effekt war auch eine Woche nach
In fast allen Fällen ist. Wenn Sie zum Beispiel sagen: Ich mag deine dem Training noch nachweisbar. Man braucht
haben wir einander Schuhe, deine Ohrringe, dein Tattoo, dein T-Shirt. offenbar nicht besonders lange, um daraus eine
einfach mehr zu Auch da wissen wir aus Studien: Die meisten Gewohnheit zu machen.
erzählen, als wir glauben, dass so etwas merkwürdig rüberkommt, Was hält uns davon ab, jemanden auf der
glauben irgendwie offensichtlich aufgesetzt. In Wahrheit Straße anzusprechen? Sie haben vorhin die

32 P.M. 04/2024

»Wenn ich eine
Gewohnheit daraus
mache, werden auch
solche eher flachen
Gespräche positive
Wirkungen haben«
Furcht vor Ablehnung erwähnt. Was gibt es
da noch?
Man weiß aus verschiedenen Untersuchungen,
dass viele Angst davor haben, das Gespräch könnte
ins Stocken geraten, vor allem, wenn die Unter­
haltung länger dauert. Dann steht man blöd da
und weiß nicht weiter. Im wirklichen Leben pas-
siert das aber viel seltener, als die Leute vermu-
ten – und es fühlt sich dann auch meist weniger
schlimm an als befürchtet.
Und dann ist da natürlich noch die Angst, ­
kein gutes Ende zu finden. Irgendwann wird
es unangenehm, und man beginnt, sich fast
etwas schuldig zu fühlen. Was kann man da
machen?
Mein Kollege Adam Mastroianni hat herausgefun-
den, dass so gut wie keine Unterhaltung genau
zum richtigen Zeitpunkt endet. Gespräche sind
praktisch immer zu kurz oder zu lang. Aber das
macht nichts. Am Ende bleibt in der Regel trotz-
dem ein gutes Gefühl. Wenn ich persönlich ein
Gespräch beenden möchte, etwa auf einer Party,
finde ich einfach jemanden, dem ich meinen
Gesprächspartner vorstelle. Oder ich spreche
direkt an, dass ich das Gespräch beenden möchte –
möglichst klar und freundlich: »Vielen Dank für
das gute Gespräch! Ich zieh dann mal weiter …«
Fühlt sich das Gegenüber nicht vor den Kopf
gestoßen?
Vermutlich nicht, denn auch das Gegenüber freut
sich in der Regel darüber, dass das flüchtige Ge-
spräch überhaupt stattgefunden hat. Wir wissen
aus Studien, dass zehn Unterhaltungen mit zehn
verschiedenen Menschen gewöhnlich besser für
unser Wohlbefinden sind als zehn Unterhaltungen
mit ein und derselben Person. Diversität in unse-
ren Beziehungen scheint eine gute Sache für
unsere psychische Gesundheit zu sein – für uns,
für die Personen, mit denen wir reden, und für die Die Scheu vor Fremden
Gesellschaft insgesamt. Und wie schon gesagt: Das verlieren: innerhalb
einer Woche? In
gilt selbst für introvertierte Menschen wie mich. Studien genügte dafür
schon ein einziges
Gespräch pro Tag –
etwa beim Einkaufen
04/2024 P.M. 33
TECHNIK | RAUMSCHLEPPER

Je mehr im All los ist,

desto dringlicher stellt
sich die Frage: Wie
lassen sich dort
Lasten präzise an ihr
Ziel bringen? Neue
Firmen tüfteln an
unbemannten Raum-
schleppern, die etwa
Satelliten auf ihre
Umlaufbahn hieven
TEXT: PETER SCHNEIDER

KURIERE
34 P.M. 04/2024
im Orbit
satelliten von der Größe eines
Omnibusses werden zunehmend
Klein- und Cube-Satelliten ins

F
All geschossen, die nur wenige
Hundert Kilogramm oder weni-
ger wiegen. Noch 2010 umrunde-
ten knapp 1000 aktive Satelliten
die Erde. Heute sind es mehr als
ür das US-Raumfahrtunter- 6000. Der überwiegende Teil:
nehmen SpaceX war es wohl nur Kleinsatelliten im niedrigen Erd-
ein Routineflug, als am 11. No- orbit zwischen 150 und 600 Kilo-
vember 2023 seine Falcon-9-­ metern. In wenigen Jahren dürf-
Rakete zum 271. Mal abhob. Doch ten es mehr als 10 000 sein.
neben mehr als 100 Satelliten aus »Diese Satelliten haben ganz
aller Welt waren noch drei Fahr- unterschiedliche Aufgaben –
zeuge der besonderen Art an Kommunikation, Erdbeobach-
Bord: Space Tugs, also Raum- tung, Forschung«, sagt Jean-Luc
schlepper. Diese im Fachjargon Maria, Chef der französischen
OTV (für Orbital Transfer Vehicle) Firma Exotrail, deren Test-OTV
genannten Fahrzeuge bringen »Space Van« ebenfalls an Bord
mit einem eigenem Antrieb Sa- der Falcon war. »Zwar sind sie
telliten in Umlaufbahnen, wel- nach der Trennung von der Trä-
che große Trägerraketen selbst gerrakete schon sehr schnell un-
nicht anfliegen. terwegs. Aber sie müssen sich
Derzeit bauen gut ein Dut- trotzdem noch mal bewegen,
zend Unternehmen weltweit sol- denn sie haben alle unterschied-
che Gefährte, überwiegend klei- liche Zielorbits.«
ne und eher junge Firmen. Der Ein Problem für die Besitzer
Entwicklungsboom folgt einem der Kleinsatelliten. Ihre kleinen
generellen Trend in der Raum- Geräte passen nicht zu den
fahrt: Neben wenigen tonnen- schweren Raketen, die einen
schweren Telekommunikations- Großteil des Raumtransports ab-
I L L U S T R AT I O N : E XO L A U C H

wickeln. Anbieter wie SpaceX

­betrachten ihre Raketen als VIP-
So könnte es einmal aussehen: Bus und befördern als Passagiere
ein Weltraumschlepper
der Berliner Firma Exolaunch am liebsten lukrative Telekom-
im All. Der Premierenflug munikationssatelliten. Für die
ist für 2026 geplant Kleinsatelliten dienen die

04/2024 P.M. 35
TECHNIK | RAUMSCHLEPPER
2
3
g­roßen Raketen hingegen wie
Omnibusse für Menschen. »Sie
können viele Passagiere trans-
portieren und sind billig«, sagt
Sternharz. »Aber sie fahren eine
bestimmte Route, und die einzel-
nen Passagiere können sich nicht
aussuchen, wann und wo sie aus-
steigen.« Stattdessen werden sie
wie die Menschen im Busnetz ei-
Kleinsatelliten ner Stadt an Sammelhaltestellen
wiegen weniger als ausgesetzt.
500 Kilogramm und
D
werden oft in größe- aher ist um die Kleinsa-
ren Stückzahlen telliten herum eine neue
gebaut. Eine spezielle Branche entstanden:
Variante sind die Spe­diteure, die eine Art Rund-
»Cube Sats«, nahezu um-sorglos-Service anbieten,
würfelförmige von der Flugbuchung bis hin zu
Kleinstsatelliten mit sogenannten Rideshare-Adap-
genormten Abmes- tern (etwa wie eine Springteufel-
sungen, um ihren Box, die Satelliten von der Rakete
Transport ins All zu aus ins All schießt). Mit Raum-
vereinfachen schleppern entwickeln die Welt-
36 P.M. 04/2024
raumspediteure nun einen wei-
teren Service für das, was
Logistiker als »die letzte Meile«
bezeichnen: den Weg von der
letzten Sammelstelle bis zum
endgültigen Ziel. Im Universum
also: von der großen Trägerra­-
ke­te bis zur Umlaufbahn des Sa-
telliten.
»Raumschlepper sind flexib-
ler als die Oberstufen von Träger-
raketen und können mehrere
unterschiedliche orbitale Manö-
ver fliegen«, so Dimitrij Stern-
harz, Chef des Berliner Unter-
nehmens Exolaunch (nicht zu
verwechseln mit dem zuvor ge-
nannten Exotrail), das ebenfalls
ein Space Tug entwickelt. »Sie ha-
ben vielleicht eine geringere
Reichweite als Oberstufen, aber
es reicht für die restliche Stre-
cke.« Um im Bild zu bleiben: Die
Raumschlepper fungieren als
Eine Rakete transportiert
Schlepper und Satelliten ins All
(1) und setzt sie dort ab (2) Der
Schlepper befördert den ersten
Satelliten auf seine Umlauf-
bahn (3), dann den zweiten auf
einer höheren Linie (4) An-
schließend verlässt er die
Umlaufbahn (5) und verglüht
Fahrradtaxis. Ihre Reichweite ist
begrenzt, dafür gelangen sie fle-
xibel an Orte, an die Busse nicht
hinwollen.
Bereits in den 1970er-Jahren
haben Illustratoren sich Raum-
schlepper ausgemalt: riesige I L L U S T R AT I O N : E XO L A U N C H ; F O T O : B L U E O R I G I N
Kraftpakete mit Greifarmen, mit
denen Astronauten ganze Raum-
stationen durch den Orbit bug-
sieren. Von diesen Science-Fic-
tion-Fantasien sind die Space
Tugs von heute noch weit ent-
fernt. In der Realität gibt es etwa
keinen Platz für Astronauten am
Steuer. Die Transporter im All
müssen vor allem klein und leicht
sein, damit sich ihr Einsatz für
 Die Schlepper müssen vor allem
klein und leicht sein,
damit sich ihr Einsatz lohnt
die Satellitenbetreiber über-
haupt lohnt. »Space Van« etwa,
das gerade gestartete Vehikel der
französischen Firma Exotrail, be-
steht aus einem schlichten Ge-
häuse von der Form eines Okta-
gons. An der Unterseite sind die
Steuerungscomputer und vier
kleine elektrische Ionen-Trieb-
werke angebracht, die einen
blassblauen Strahl aus Xenon in
den Weltraum schießen. Auf der
Oberseite sind die Nutzlasten be-
festigt, beispielsweise zwei Klein-
satelliten und zwei noch leichtere
Cube-Satelliten. Das Gehäuse
besteht aus Aluminium. Das
Leichtmetall ist nicht nur preis-
werter als etwa Kohlenstofffaser,
es lässt sich auch viel besser be-
arbeiten. An den Seiten hängen
große Solarpanels, die im Welt-
raum ausklappen und Ionen-
Triebwerke mit Strom versorgen.
Ein Vorteil dieser Antriebe:
Sie sind leicht. Ein Nachteil: Die
Größe der Solarpanels begrenzt
ihre Leistung, ihre Schubkraft ist
somit vergleichsweise gering. So
benötigt der Space Van den Pla-
nungen nach etwa zwei Wochen,
um 100 Kilometer Höhe im All zu
gewinnen. Aber wie auf der Erde
gilt auch im All: Zeit ist Geld.
D
as Konkurrenzunterneh-
men Exolaunch geht des-
halb einen anderen Weg:
Der Raumschlepper »Reliant«
soll mit herkömmlichen Trieb-
werken beschleunigen. Mit che-
mischen Treibstoffen kann er
aber deutlich mehr Schub entwi-
ckeln als Ionen-Antriebe – der
entscheidende Vorteil, um rasch
die Erdumlaufbahn zu wechseln.
So verspricht Exolaunch seinen
Kunden, bis zu 200 Kilogramm
schwere Satelliten innerhalb nur
einer Stunde von etwa 300 auf
550 Kilometer Höhe über der
Erdoberfläche anzuheben. Der
Nachteil: Raumschlepper mit
chemischen Antrieben benöti-
gen viel mehr Treibstoff als die
mit elektrischen. Das macht sie
schwerer und damit teurer.
Während Exotrail den Space
Van bereits testet und einen Kun-
den für seinen Start 2025 gefun-
Blick in die Werkshalle den hat, existiert Reliant von
von Blue Origin: Hier Exolaunch bisher nur auf dem
baut das US-Raum- Papier und soll erst in zwei
fahrtunternehmen des
Amazon-Gründers Jeff
Bezos einen eigenen
Schlepper
TECHNIK | RAUMSCHLEPPER

J­ahren Realität werden. Denn
mindestens einen Haken gibt es
noch: »Es gibt heutzutage zwar
schon einige Space Tugs«, sagt
Exolaunch-Chef Sternharz.
»Aber die Kunden verzichten
meist darauf, weil sie nicht bereit
sind, mehrere Millionen Euro ex-
tra für einen Raumschlepper zu
zahlen.« Um die Kosten pro Mis-
sion zu senken, arbeiten andere
Anbieter wie die US-amerikani-
sche Firma Atomos Space an wie-
derverwendbaren Schleppern,
die nicht wie die von Exolaunch
und Exotrail nach einmaligem
Einsatz verglühen. »Vorteil dabei
ist, dass man unseren Space Tug

Frischer Schub für alte Satelliten

LEBENSVERLÄNGERUNG Ein Spezialfall sind die Space Tugs
der US-Firma Northrop Grumman. Ihre Aufgabe ist es, das
Leben von Satelliten zu verlängern, denen im geostationären
Orbit der Sprit ausgegangen ist, die aber sonst noch funk­
tionieren. Dazu fliegen die Mission Extension Vehicle (MEV)
genannten Schlepper an die Satelliten heran und haken sich an
deren nutzlos gewordene Triebwerke (auf den Bildern unten ein
MEV in der Montagehalle und in einer Visualisierung an einem
Satelliten). Einmal verankert, dienen die MEV mit ihren eigenen
Triebwerken den Satelliten fortan als Ersatzantrieb, um ihre
Position zu korrigieren (P.M. berichtete darüber ausführlich in
Ausgabe 10/2018). Seit 2020 hält der Raumschlepper MEV-1
den Satelliten Intelsat 901 auf Kurs. Ein zweiter Einsatz mit
einem Modellzwilling gelang im April 2021. Damit können die
Satelliten bis zu fünf Jahre länger arbeiten. Das ist bei den
mehrere Hundert Millionen Euro teuren Geräten ein lohnendes
Geschäft. Denn im geostationären Orbit in genau 35 786
Kilometer Höhe wandern sie in der gleichen Zeit um die Erde, in
der diese sich um sich selbst dreht. Deshalb stehen sie von der
Erde aus gesehen am Himmel immer an derselben Stelle, was
sie zur lukrativen Schaltstelle für TV- und Telefonverbindungen
macht. Um dennoch Kosten zu senken, plant Northrop
Grumman ab 2025 eine neue Generation Schlepper: Das MRV
(Mission Robotic Vehicle) soll dann mit einer Reihe externer
Antriebe beladen ins All fliegen, um diese mithilfe eines
Greifarms an Satelliten mit leergelaufenen Tanks anzubringen.

nur einmal starten muss«, er-
klärt Atomos-Space-Chefin Va-
nessa Clark in einem Podcast.
lang und wartungsfrei große
Mengen Strom gewinnen lassen.
triebstechnik setzen der Berliner
Unternehmer und viele seiner
Branchenkollegen auf eine er-
Die französische Firma
Exotrail hat ihren Space
Van bereits im All
getestet (hier eine
Visualisierung). Er soll
2025 regulär in Betrieb
gehen

»Hat er einen Satelliten ausge-
setzt, fliegt er zum Orbit der Ra-
ketenoberstufe für eine neue
Mission zurück.« Nach eigenen
Angaben hat Atomos Space be-
reits zwei Testfahrzeuge namens
»Quark« und »Gluon« gebaut.
2024 sollen sie die Rendezvous-
Manöver im All üben.
Doch auch diese Gefährte lei-
den darunter, dass die Solarpa-
F O T O U N D I L L U S T R AT I O N E N : N O R T H R O P G R U M M A N ( 2 ) , E XO T R A I L
D
ie Idee klingt zunächst
verführerisch. Ein sol-
cher Antrieb könnte auch
Missionen zum Mond erleich-
tern, vielleicht sogar die Flugzeit
zum Mars eines Tages verkürzen.
Allerdings ist die Idee nicht neu
und der Einsatz von nuklearen
Brennstoffen streng reglemen-
tiert. Etwa fünf von 100 Raketen-
starts gehen schief. Entspre-
neute Umwälzung im Raum-
transport, vor allem auf das neue
Riesengespann aus Super-
Heavy-Rakete und Starship-
Raumschiff von Elon Musk. »Das
wird ein Erfolg, keine Frage«, sagt
Sternharz: »Diese Trägerrakete
kann bis zu 150 Tonnen auf ein-
mal ins Weltall bringen, das wird
den Preis halbieren.«
In diesem Fall könnten sich

nels ihre Leistung begrenzen.
Selbst die Solarpanels der Inter-
nationalen Raumstation, so groß
wie ein Fußballfeld, liefern maxi-
mal 110 Kilowatt, also die Leis-
tung eines durchschnittlich mo-
torisierten Kombis.
Daher hat Atomos Space an-
gekündigt, Ende der 2020er-Jah-
re den Raumschlepper »Neutri-
no« versuchsweise mit einem
Mini-Atomreaktor auszustatten.
Mit einer größeren Version dieses
Reaktortyps, so die Hoffnung,
könnten sich in Zukunft jahre-
chend hoch ist das Risiko, dass
radioaktives Material dabei auf
die Erde stürzt. Sogar die Nasa
darf sogenannte Radionuklid-
Batterien nur in Ausnahmefällen
einsetzen. Beispielsweise wenn
sie eine Raumsonde ins äußere
Sonnensystem schickt.
Sternharz zeigt sich daher
skeptisch, zumal Atomos Space
auch keine Einzelheiten preis-
gibt: »In unserer Branche wer-
den viele märchenhafte Ge-
schichten erzählt«, sagt er. Statt
auf eine Revolution in der An-
deutlich mehr Kleinsatellitenbe-
treiber schlagartig den Service
eines Space Tugs leisten – und das
schon in wenigen Jahren.
· Dnimmt
ie Zahl der Kleinsatelliten
stetig zu.
· Raumschlepper

R aketen bringen sie in die Höhe,
übernehmen
Peter Schneider
erstaunte bei der
den Transport zur Umlaufbahn. Recherche, wie gut sich
· Firmen
Noch ist diese Logistik aber teuer.
entwickeln neue Modelle,
die Logik öffentlicher
Verkehrsmittel auf
um die Kosten zu senken. das Weltall übertragen
lässt: Busse sind
billiger als Taxis.

04/2024 P.M. 39
FORSCHUNG | VERHALTENSBIOLOGIE

UNTER
DÜNN

Familientreffen:
Begegnen sich
verwandte Elefan-
ten, feiern sie das
mit ausgiebigen
Begrüßungs­ritualen.
Berührungen gehö-
ren immer dazu
FOTO: ROBERT HARDING/
MAURITIUS IMAGES

40 P.M. 04/2024
HÄUTERN

Noch immer wissen wir viel zu wenig über

Elefanten, ihre Kommunikation und ihre Emotionen.
Eine Forscherin lauscht den Giganten – und entdeckt:
Die Tiere sind weitaus sensibler, als viele glauben
T E X T : K AT H A R I N A J A KO B

04/2024 P.M. 41
FORSCHUNG | VERHALTENSBIOLOGIE

W
Die Wanderrouten
der Elefanten sind oft
Hunderte Kilometer
lang. Ein erfahrenes
Leittier hat sie alle
in seinem Gedächtnis
­gespeichert

enn ein Elefant wissen will, wo

seine Verwandten stecken, in der Savanne oder im
tiefen Wald, wird er sie rufen. Nicht mit einem
Trompetenstoß, im Gegenteil: mit Lauten, die wir
kaum hören können. Seine Kontaktrufe, Rumbles
genannt, liegen hauptsächlich im Infraschallbe-
reich, in einer Frequenz von acht bis 18 Hertz. Für
menschliche Ohren ist das zu tief, wir erfassen Lau-
te erst ab etwa 20 Hertz.
Ein so riesiges Geschöpf, und es kommuniziert
nahezu geräuschlos in die Ferne? Nicht ganz. Die
Obertöne dieser Rumbles sind auch für uns wahr-
nehmbar. Sie liegen jenseits des Infraschallbereichs
und klingen wie das Knurren eines Raubtiers oder
wie Donnergrollen. Aber sie sind eben nur ein
Bruchteil dessen, was sich Elefanten unentwegt zu-
rufen, über große Distanzen hinweg. Je nach Laut-
stärke und klimatischen Bedingungen können sich
Rumbles bis zu vier Kilometer weit ausbreiten. Sie
verraten den Artgenossen, wie alt das rufende Tier
ist, welches Geschlecht es hat und zu welcher Herde
es gehört. Möglicherweise schwingen auch regiona-
le Dialekte darin mit, so etwas wie die klingende Sollen Elefanten eine Zukunft auf
­Visitenkarte eines Elefanten. diesem Planeten haben, müssen
Die Wildtierbiologin Angela Stöger-Horwath wir wissen, wer sie sind, was sie
von der Universität Wien erforscht seit rund zwei brauchen und worauf sie nicht ver-
Jahrzehnten die Kommunikation der Tiere. Diese Präzisionswerkzeug: zichten können – zum Beispiel auf
könnte der Schlüssel sein zum Verständnis von Ele- Mit dem Rüssel kann ihre Familie.
fanten, so ihre Überzeugung. »Durch die Kommu- ein Elefant greifen, rie- Elefanten sind hochgradig so­
chen, tragen, saugen
nikation«, schreibt Stöger-Horwath in ihrem kürz- ziale Lebewesen. Ihren Angehörigen bringen sie
und kommunizieren
lich erschienenen Buch, »bekomme ich einen ­tiefe Gefühle entgegen. Im Zentrum ihrer Welt steht
Einblick in ihr Leben, in ihre Art zu denken.« die Familie, eine Gemeinschaft aus weiblichen Ver-
FOTOS:MAURITIUS IMAGES (3)

Das tut dringend Not. Seit Jahrtausenden befin-
den sich Elefanten in menschlicher Obhut, etwa als
Arbeitstiere in Asien, oder sie sind direkte Nachbarn
von Menschen. Ihre Lebensräume überschneiden
sich zunehmend mit Siedlungen, was zu Konflikten
führt. Doch ihr komplexes Sozialleben oder die In-
tensität ihrer Emotionen sind uns fremd geblieben.
wandten, die ihr Leben lang zusammenbleiben, als
Mütter und Töchter, Großmütter, Schwestern und
Tanten. Auch die jungen Bullen gehören als Heran-
wachsende noch dazu. Bis zum Alter von etwa zwölf
Jahren sind sie Teil der mütterlichen Familie, erst
dann bereiten sie sich langsam aufs Abwandern vor.
Doch auch sie bleiben ihren Müttern ein Leben lang

42 P.M. 04/2024
 »Elefanten sind hochgradig sozial.
Die Familie steht im Zentrum«

Angehörige einer
Herde ähneln sich im
Geruch, selbst wenn
sie nur ferne Ver-
wandte sind. Das liegt
vermutlich am engen
Körperkontakt

verbunden. »Selbst riesige, ausgewachsene Bullen

in ihren besten Jahren«, schreibt Stöger-Horwath,
»begrüßen ihre Mütter ausgiebig, wenn sie sich
­treffen.«

E
ine ältere Leitkuh, die Matriarchin, führt die
Gruppe an. Sie verfügt nicht nur über jahr-
zehntelange Erfahrungen in der Wildnis, son-
dern auch über Wissen früherer Generationen.
­Matriarchinnen sind bei ihren Müttern und Groß-
müttern in die Lehre gegangen. Sie haben sich die
Wanderwege eingeprägt, die die Alten kennen, und
sich abgeschaut, wie man auf Löwenangriffe reagie-
ren muss, und je länger sie unterrichtet wurden,
desto bessere Leitkühe wurden sie selbst.
Denn so groß und wehrhaft Elefanten auch sein
mögen, sie leben in einer herausfordernden

04/2024 P.M. 43
FORSCHUNG | VERHALTENSBIOLOGIE

Ohre n Am Bode n Wenn Füße hören können

Der Rüssel schickt
Schallwellen ins
Erdreich
Die Wellen breiten
sich über den
­Boden aus …
… Fußrezeptoren
nehmen sie wahr …
SEISMISCHE SCHWINGUNGEN Der tieffrequente
… und leiten sie zum Schall von Rumble-Lauten lässt sich auch über
Innenohr weiter: den Boden aussenden. Er breitet sich in Form von
neue Informationen
für das Gehirn
Oberflächenwellen aus, sogenannten Rayleigh-
Wellen. Diese haben eine größere Reichweite als die
Schallübertragung durch die Luft. Das machen sich
Elefanten zunutze: Sie pressen ihren Rüssel auf den
Boden, stoßen Laute aus, und Artgenossen in weiter
Ferne können den Schall dann mit den Füßen
wahrnehmen: über Druckrezeptoren in den Sohlen
oder über die sogenannte Knochenleitung.

FOTOS: MAURITIUS IMAGES (2)

ALAMY; GRAFIK: P.M.

44 P.M. 04/2024
 »Der Rüssel ist ein hochkomplexes
Werkzeug aus rund 40 000 Muskeln«
­ mwelt, in der Dürre und Trockenheit vorherr-
U Und weil das so ist, sind soziale
schen, Wasser- und Nahrungsmangel an der Tages-
ordnung sind. Jedes Tier braucht Unmengen, täg-
lich trinkt es zwischen 70 und 150 Liter Wasser und
frisst mehr als 150 Kilogramm Gras, Blätter, Zweige,
Früchte und Baumrinden. Wenn Wasserstellen aus-
trocknen, muss eine Matriarchin wissen, wo sich
neue Quellen finden lassen. Sie muss erkennen,
wann es Zeit wird, zu entfernten Weideplätzen auf-
zubrechen. Manchmal wandern Elefanten rund 100
Kilometer pro Tag – auf Routen, die schon ihre Ah-
nen zurückgelegt haben. Eine Matriarchin muss sie
aus dem Gedächtnis abrufen können, sonst führt sie
ihre Gruppe ins Verderben. Kurz: Eine Elefanten­
familie ist wie eine Schicksalsgemeinschaft.
Droht Gefahr, schließen
sich Elefantengruppen
eng zusammen und neh-
men Jungtiere in die Mitte
(links). Die sensiblen
Vorderfüße Afrikanischer
Elefanten haben vier
Nägel, die Hinterfüße
nur drei (rechts)
Bindungen in dieser Welt existenziell.
Die Familien sind dabei nicht auf sich
allein gestellt, sondern gehören zu ei-
nem größeren Verband, einer Herde
von etwa 100 bis 150 Mitgliedern. Es
ist ein Clan, in dem alle eng mitein-
ander verwandt sind. Er splittet
sich in Gruppen auf, beste-
hend aus den Kernfamilien,
die bis zu sechs erwachsene
Weibchen mit ihrem Nach-
wuchs umfassen. Regelmäßig
kommen all diese Angehöri-
gen zusammen, auf ihren Wan-
derrouten oder an Wasserstellen. Stöger-­
Horwath hat Begrüßungszeremonien beobachtet,
die wie die Treffen menschlicher Großfamilien an-
muten, nur eben auf Elefantenart. Die Tiere trom-
peten laut, stoßen eine Vielzahl von Rumbles aus
und berühren sich unentwegt. Sie legen ihre Rüssel
umeinander, tätscheln sich mit ihren Stoßzähnen,
drücken ihre Köpfe gegen die Leiber der anderen.
Kälber schlüpfen unter den Bäuchen der Großen
hindurch.
W
er aber gehört zur Herde, und vor wem
muss man sich in Acht nehmen, weil er Tonbeispiel
fremd ist? »Elefantenkühe können mehr Wer einen Rumble
als hundert Artgenossen an ihren Stimmen erken- hören möchte, ge-
nen«, sagt Stöger-Horwath. Auch das ist wertvolles langt mit dem QR-
Wissen, das Matriarchinnen in vielen Jahren ge- Code zu einem Video
sammelt haben. Denn es kommt vor, dass Jungtiere auf der Seite des
Opfer einer Entführung werden. Kühe fremder Brandstätter-Ver-
Herden versuchen vereinzelt, das Kalb einer ande- lags: Eine Elefanten­
ren Familie zu rauben. Und es bedarf einiger An- kuh produziert den
strengungen der Angehörigen, ihr Junges wieder typischen Klang
04/2024 P.M. 45
FORSCHUNG | VERHALTENSBIOLOGIE

Wellness: Die Haut

von Elefanten ist sehr
sensibel und an eini-
gen Stellen hauch-
dünn, zum Beispiel
hinter den Ohren. Sie
spüren jede Fliege

zurückzuholen. Einen solchen Fall von Kidnapping

hat die Elefantenforscherin Cynthia Moss vor Jahr-
2000 Gene
komplexes Werkzeug aus rund 40 000 Muskeln, und
ist bereits zwei Stunden nach der Geburt imstande,
zehnten im Amboseli-Nationalpark in Kenia beob- für olfaktorische seiner Herde zu folgen.
achtet. Was dahintersteckt, ist bis heute unklar. Rezeptoren haben Während ein weibliches Jungtier in seiner Fami-
­Stöger-Horwath: »Wir vermuten, dass dieses Ver- Elefanten. Damit lie bleibt, wird ein männliches abwandern, wenn es
halten eine extreme Art sein könnte, Dominanz zu verfügen sie über den mit etwa zwölf bis 15 Jahren in die Pubertät kommt.
demonstrieren.« besten Geruchssinn Doch anders, als man lange Zeit dachte, leben auch
unter den Säugetie- die Bullen nicht allein. Junge Männchen schließen

S
o eng die Bindungen unter den Familienmit-
gliedern auch sein mögen, das stärkste soziale
Band knüpft eine Elefantenkuh mit ihrem
Kalb. Sie trägt es fast zwei Jahre lang in ihrem Leib.
Das ist die längste Trächtigkeit im Tierreich und nur
möglich, weil Elefanten in dieser Zeit mehrere Gelb-
körper ausbilden – Hormonlieferanten, die Proges-
teron produzieren und so die Trächtigkeit aufrecht-
erhalten. Alle anderen Säugetiere entwickeln in
ihrer Tragezeit nur einen Gelbkörper für jede be-
fruchtete Eizelle. Elefanten sind deshalb so lange
trächtig, weil ihr Neugeborenes extrem ausgereift
sein muss. Gleich nach der Geburt kann es rein kör-
perlich schon alles, was auch ein erwachsener Ele-
fant kann. Es beherrscht seinen Rüssel, ein hoch-
ren. Zum Vergleich: sich zu Bachelor-Gruppen zusammen. Das sind
Hunde haben nur Bündnisse aus Halbwüchsigen, die meist von einem
F O T S : M A U R I T I U S I M A G E S , J A C K TAY L O R / E Y E V I N E / L A I F
1200 Gene dieser Art, erwachsenen Bullen geleitet werden, einem Men-
der Mensch etwa 400 tor. Er ist das Pendant zur Matriarchin und verfügt
. wie sie über entscheidende Kenntnisse, die seiner
Gruppe das Überleben sichern. Auch er weiß um
die Wanderrouten, die Nahrungsquellen, die Was-
serstellen.
Immer wieder fallen diese Tiere, die Mentoren
und Matriarchinnen, der Wilderei zum Opfer. Auch
die Weibchen der Afrikanischen Elefanten tragen
Katharina Jakob Stoßzähne und die der großen Bullen können gewal-
traf in Südafrika auf eine tige Ausmaße annehmen. Den Verlust seines Leit-
große Herde Elefanten.
Vor allem ein Bulle tiers kann eine Gruppe kaum kompensieren. »Wenn
machte Eindruck. Weibchen sehr früh zur Leitkuh werden, weil die

46 P.M. 04/2024
 Friedliches Zusammenleben
KOEXISTENZ Neben der Wilderei ist es der Mensch-Tier-Konflikt, der
die Elefantenpopulationen am stärksten gefährdet. Das gilt für Afrika wie
für Asien gleichermaßen. Wenn Elefanten in direkter Nachbarschaft zu
Menschen leben müssen, weil sich deren Siedlungen bis in die Schutzreser­
vate ausbreiten, entstehen massive Probleme. Dabei kommen nicht nur
Elefanten, sondern auch Menschen zu Tode. Korridore von Schutzgebiet zu
Schutzgebiet könnten überall dort eine Lösung sein, wo sich die Reservate
von Elefanten nicht vergrößern lassen. »Eine Vernetzung zwischen den
isolierten Habitaten wäre wirklich wichtig«, sagt die Biologin Angela
Stöger-Horwath. Dann könnten Elefanten abwandern, wenn es in ihrem
umgrenzten Areal zu eng wird. Dies würde auch den genetischen
Austausch zwischen den Populationen fördern und die Zahl tödlicher
Kämpfe unter Bullen verringern. Erste Pläne gibt es bereits: Im Addo-Ele-
fanten-Nationalpark in Südafrika soll eine Wildtierbrücke über eine
Schnellstraße entstehen, die bislang ein Schutzgebiet durchschneidet und
das Wandern von Elefanten schwierig macht.
Matriarchin stirbt, gibt es mehr Todesfälle in ihrer
Familie«, sagt Stöger-Horwath. »Die Jungen werden
nicht so gut aufgezogen, die Tiere wirken gestress-
ter.« Und so schwinden die Populationen der Ele-
fanten in beängstigendem Ausmaß. Von den Asiati-
schen Elefanten gibt es derzeit noch 40 000 bis
50 000 Tiere. Die Zahl der Afrikanischen Elefanten
betrug Ende 2022 rund 415 000 Individuen, wobei
die Unterart des Waldelefanten inzwischen als vom
Aussterben bedroht gilt. Um das Jahr 1500 zogen
noch mehr als 25 Millionen Afrikanischer Elefanten
durch Savannen und Wälder!
Lesetipp
A
uf die Frage, ob Elefanten trauern können, »Elefanten – ihre
antwortet Angela Stöger-Horwath mit einer Weisheit, ihre Spra-
Gegenfrage: »Was soll es anderes sein?« Vor che und ihr soziales
wenigen Monaten hat sie wieder eine Trauerzere- Miteinander« von
monie in freier Wildbahn beobachten können. Die Angela Stöger-Hor-
Angehörigen einer Herde versammelten sich um wath, Brandstät-
den Kadaver einer Elefantenkuh. »Sie gingen im ter-Verlag, 2023
Kreis um das tote Tier herum«, erzählt die Biologin,
»rochen daran, berührten es mit den Rüsseln, ent-
fernten sich und kamen wieder zurück. Zwei, drei
Tage lang war da ein dauerndes Kommen und Ge-
hen.« Sind das Abschiedsrituale? Sind die Tiere zu
so tiefen Gefühlen fähig?
Für die Wiener Forscherin steht das außer Frage.
Elefanten interessieren sich sogar für die Knochen
ihrer Angehörigen, während sie die Gebeine ande-
Gefährliche Nähe in Thailand:
Ein hungriger Elefantenbulle
sucht nach Nahrung und
macht auch vor menschlichen
Siedlungen nicht Halt
rer Tiere nicht beachten. Sie riechen an den Schä-
deln toter Artgenossen, stoßen sie mit den Füßen an
oder drehen sie um, um sie erneut zu untersuchen.
»Es ist gut möglich, dass sie bei frischen Knochen
noch am Geruch erkennen können, wer da verstor-
ben ist«, sagt Stöger-Horwath.
Auch dass sie nachweislich unter Traumata lei-
den, spricht für die Intensität ihrer Emotionen.
Misshandlungen setzen ihnen schwer zu. In Thai-
land werden junge Elefanten mit brutalen Metho-
den als Reittiere für Touristen gefügig gemacht, vie-
le von ihnen leiden an einer posttraumatischen
Belastungsstörung. Andere müssen das Abschlach-
ten von Verwandten durch Wilderer mitansehen.
Stirbt ein Kalb, kommt es vor, dass seine Mutter es
noch tagelang auf ihren Stoßzähnen herumträgt.
Obwohl wir noch viel zu wenig über sie wissen,
zeigt sich eines mittlerweile deutlich: Elefanten sind
nicht die Dickhäuter, für die wir sie halten. Zutref-
fender wäre es, sie Dünnhäuter zu nennen.
· Eihren
lefanten pflegen enge Beziehungen und bleiben
Familien ein Leben lang verbunden.
· Sdieie Knochen
sind zu tiefer Trauer fähig und erkennen sogar
von Angehörigen.
· Menschen ist das nahezu über
 D ie Tiere kommunizieren Infraschall. Für uns
unhörbar.
04/2024 P.M. 47
 Wie jetzt? Mehr Wissen mit

Sterben immer weniger Menschen

infolge von Extremwetter?
KLIMA Dürre in Südeuropa, Stürme in den USA, heftiger Regen in Japan:
Birgt das Weltall Extremwetter sei die neue Norm, verkündete die Welt­organisation für

noch unbekann-
Meteorologie im August 2023. Doch obwohl es häufiger wird, sterben an
Extremwetter weniger Menschen: In den 1970er-Jahren kamen mehr als
500 000 Menschen im Jahr durch klimabedingte Katastrophen um, zwischen
te Elemente? 2000 und 2019 waren es weniger als 200 000 im Jahr, und 2020 und 2021
zusammen noch 22 608 Todesopfer. Zu verdanken ist der Rückgang vor allem
PHYSIK Das Periodensystem der Frühwarnsystemen und einem verbesserten Katastrophenmanagement.
Elemente endet mit dem 118.
Element Oganesson. Auf der Erde
kann es (wie alle Ele­mente jenseits
der Ordnungszahl 94) nur künst­
lich hergestellt werden. Auch noch WARUM SAGEN WIR …

FOTOS: NASA/ESA/CSA/STSCI, SHUTTERSTOCK, GETTY IMAGES,

schwerere Elemente lassen sich
produzieren, sie sind auf der Erde »Desaster«?
aber nicht stabil. Im Weltall aber
R O G E R K I S BY / R E D U X / L A I F M I C H A E L T H O R N T O N / D PA
könnten solche Elemente in SPRACHE Das Wort bildet sich aus dem altgriechischen
extremen Bedingungen entstehen »aster« (»Stern«) und der Vor­silbe »dys­«, die eine
und stabil bleiben. So haben Negativbe­deutung ankündigt. Als »Desaster« bezeichne­
Forschende kürzlich die Dichte ten Astrologen im antiken Griechenland eine ungünstige
eines Materials aus Atomen mit 164 Konstellation der Sterne oder einen Unglücksstern: Dies,
Protonen berechnet: Stoffe wie so der damalige Glaube, kön­ne üble Schicksalsschläge
dieser könnten womöglich etwa im verheißen. Der Begriff »Desaster« etablierte sich bald als
65 Kilometer durchmessenden Bezeichnung für eine schlim­me Katastrophe. Sein
Asteroiden »(33) Polyhymnia« Gebrauch wan­derte zunächst ins Lateinische und von
vorkommen, der zwischen Jupiter dort über das Italienische und Franzö­sische Anfang des
und Mars um die Sonne kreist. 19. Jahr­hunderts auch in die deutsche Sprache.

Antiker Astronom und Astrologe:

Ptolemäus von Alexandria
48 P.M.
 Welches Tier
ist komplett
schwarz?
NATUR Schwarz glänzendes

Wo steht der größte LED-

Gefieder oder Fell sind im Tier-
reich zwar keine Seltenheit – doch

Bildschirm der Welt?

beim aus Indonesien stammen-
den Cemani-Huhn sind auch die
Augen, die Haut, das Fleisch,
TECHNIK Wie ein gigantischer Wassertropfen liegt die »Sphere« hinter ­ Knochen, Kamm und Krallen
den Hotels Venetian und Wynn in der US-Glücksspielmetropole Las Vegas. pechschwarz. Selbst das Blut ist
Die »Kugel« hat einen Durchmesser von 157 Metern, und 54 000 Quadrat- dunkler als bei anderen Tieren. Die
meter ihrer Außenfläche sind mit 57,6 Millionen Leuchtdioden bestückt, die durchgehende Färbung geht auf
zusammen 1,2 Millionen steuerbare Bildpunkte liefern – mehr als jeder ein seltenes Genmerkmal zurück.
andere Bildschirm der Welt. Die »Sphere« kann ihr Aussehen dadurch nach Deshalb haftet den Cemanis, die
Belieben ändern. ansonsten normale Hühner sind,
Mehr als zwei Milliarden US-Dollar hat der Bau seit dem ersten Spaten­ ein Hauch von Exklusivität an. Die
stich 2018 gekostet. Innen ist die »Sphere« Konzerthaus, Sportarena und Farbmutation tritt zwar auch bei
Kino zugleich. Die Halle bietet Platz für 5000 stehende und 18 600 sitzende weiteren Hühnerrassen auf:
Gäste. 10 000 Sitzplätze sind sogar per Motor beweglich und mit Duft- sowie Vietnamesische H’Mong­-Hühner
Windfunktionen ausgestattet, die passend zum Film aktiviert werden und Schwedische Schwarz­hühner
können. Begrüßt werden die Gäste von humanoiden Robotern. Die Kehrseite sind ebenfalls ziemlich schwarz.
des Bombasts: Die Mehrzweckhalle verbraucht im Jahr rund 98 Gigawatt­ Doch beim Cemani­-Huhn ist die
stunden Strom – so viel wie eine ganze Kleinstadt. Schwarzfärbung vollkommen.

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P.M. 49
AUF ABFANGJAGD
Die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine
zeigen, wie entscheidend die Flugabwehr ist.
Lange haben Staaten im Westen sie
vernachlässigt. Nun läuft die Forschung
dazu auf Hochtouren
T E X T : H AU K E F R I E D E R I C H S

F O T O : D PA P I C T U R E A L L I A N C E / R E U T E R S

50 P.M. 04/2024
 VISIONEN | RÜSTUNG

D en nächsten Angriff bereiten die rus-

sischen Soldaten in der Nacht vor. Der Morgen hat
noch nicht begonnen, als am 11. Dezember 2023
mindestens 15 Drohnen auf der annektierten Krim
starten. Die unbemannten, mit Sprengstoff be-
stückten Fluggeräte vom Typ Shahed 136 wurden in
Iran entwickelt. Russland hat für seinen Angriffs-
krieg gegen die Ukraine davon Tausende gekauft
und baut sie mittlerweile selbst in Lizenz nach
Von Balaklawa aus, einem Stadtteil von Sewasto-
pol, steuern die Drohnen verschiedene Ziele in der
Ukraine an. Sie sehen mit ihren nach oben geboge-
nen Flügeln, dem kleinen Propeller am Heck und
dem runden Kopf auf Bildern ein wenig wie ein
Spielzeug aus, haben aber eine Spannweite von
zweieinhalb Metern, wiegen 200 Kilogramm und
tragen bis zu 60 Kilogramm Sprengstoff. Die irani-
schen Drohnen sind zwar mit ihrem Zweitaktmotor
relativ langsam, erreichen nur bis zu 200 Kilometer
pro Stunde. Aber sie haben eine kleine Signatur auf
dem Radar, können daher von den Verteidigern nur
schwer und spät erkannt und bekämpft werden. Zu-
dem fliegen sie tief und können als Schwarm agie-
ren, sodass sie die Luftverteidigung überlasten.

DROHNEN UND RAKETEN

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat
gezeigt, wie entscheidend die Flugabwehr ist. Seit
dem 24. Februar 2022 beschießen die russischen
Streitkräfte fast täglich die Ukraine und setzen dabei
eine große Bandbreite von Waffen und Trägersyste-
men ein: Raketen, Marschflugkörper, die dank eines
dynamischen Antriebs ihre Flugbahn ändern kön-

9500
nen, Kampfjets, Helikopter, Drohnen und soge-
nannte Loitering Munition, die am Himmel kreist,
bis ein Ziel festgelegt wird.
Oft kommen Drohnen und Marschflugkörper Raketen
gleichzeitig zum Einsatz, denn die Wahrscheinlich- haben radikale Grup-
Eiserne Kuppel: Der
»Iron Dome« fängt
keit, dass die Angreifer ihre Ziele treffen, steigt, pen aus Gaza, dem
Raketen und Granaten wenn sie groß angelegte Angriffe fliegen. »Die Rus- Libanon, Jemen,
aus dem Gazastreifen sen schicken bei ihren Luftschlägen zunächst die Syrien und Irak auf
und dem Libanon ab, die billigen Shahed-Drohnen, um die Flugabwehr zu Israel vom Beginn
von Terroristen auf
Israel abgefeuert wer-
beschäftigen«, sagt Markus Richter, ein ehemaliger des Krieges im Okto-
den. Er beschützt vor Flugabwehrsoldat der Bundeswehr, der als Gepard- ber 2023 bis zum
allem Städte tatze auf X (ehemals Twitter) über die Luftvertei- 19. Januar abgefeuert

04/2024 P.M. 51
 VISIONEN | RÜSTUNG

ANGRIFF
Vitali Klitschko, der
Bürgermeister von
Kiew, zeigt Überreste
von abgeschossenen digung informiert. »Dann attackieren sie mit bereich« – also in der unmittelbaren Umgebung der
russischen Flugkör- Marschflugkörpern und Raketen, die mehr kosten aufgestellten Staffeln. Gegen Angriffe von tiefflie-
pern (links). Darunter und größeren Schaden anrichten können.« genden Drohnen müssen sie selbst geschützt wer-
soll auch eine CH-
Für eine Shahed, so sagen es Experten, zahlen den, beispielsweise durch Flakpanzer, die keine Ra-
47-Kinshal-Hyper-

F O T O S : D PA / R E U T E R S , U L L S T E I N B I L D , G E T T Y I M A G E S ; I N F O R A F I K : D PA
schallrakete sein, eine die Russen keine 30 000 US-Dollar. »Es gibt bei der keten abfeuern, sondern auf schnellfeuernde
der gefährlichsten Flugabwehr stets eine Unverhältnismäßigkeit zwi- Kanonen setzen. Ein System reicht deswegen nie zu
Waffen im Arsenal schen Angreifern und Verteidigern. Wenn Sie eine einer sicheren Abwehr von Luftangriffen aus, zumal
Russlands. Sie wird
iranische Kamikazedrohne, die nur wenige Zehn- der Gegner im Krieg stets versucht, mit verschiede-
von Kampfjets wie die-
ser MiG-31 abgefeuert tausende Dollar kostet, mit einer Patriot-Rakete für nen Waffen anzugreifen.
(rechts) zwei Millionen Dollar abschießen, ist das unverhält-

nismäßig«, sagt Fabian Hinz, Rüstungsexperte vom
International Institute for Strategic Studies (IISS).
»Wenn sie aber ballistische Raketen abfangen, ist
das Verhältnis schon sehr viel besser, weil diese
Waffen sehr viel mehr kosten.«
D
ie ukrainischen Streitkräfte setzen aber
nicht nur deswegen viele verschiedene De-
fensivwaffen ein. Sie haben aus dem Westen
jeweils nur kleine Stückzahlen erhalten, meist älte-
re Modelle. Darunter sind Flugabwehrkanonenpan-
zer vom Typ Gepard aus Deutschland, deren Pla-

U
m diese verschiedenen Gefahren auszu- nung in den 1960er-Jahren begann; von der Schulter
schalten, brauchen die Verteidiger ver- eines Soldaten abgefeuerte Stinger-Fliegerfäuste,
schiedene Abwehrsysteme. »Ältere Modelle die 1980 erstmals bei der US-Armee eingeführt wur-
wie S-300 und Patriot eignen sich nur sehr bedingt den, sowie das System Patriot (Phased Array Tra-
zur Abwehr von Drohnen«, sagt Markus Richter. cking Radar to Intercept on Target), das in den USA
»Wenn die niedrig fliegen, haben die Systeme keine
Chance.« Deren Abwehrraketen haben eine große
Reichweite. So bekämpft das russische S-300WM,
ein in der ehemaligen Sowjetunion entwickeltes

200
Kilometer pro Stunde
und von der Ukraine genutztes mobiles Langstre-
cken-Boden-Luft-System, die Flugkörper des Geg-
ners in bis zu 200 Kilometer Entfernung und einer
Höhe von bis zu 25 Kilometern. Patriot, das US-Pen-
kann Geran-2 fliegen. dant, ebenfalls im Kalten Krieg entstanden, kommt
Spätestens seit dem auf eine ähnliche Abfanghöhe, die Reichweite aller-
Sommer 2023 fertigt dings ist geringer. Die Bundeswehr gibt sie für die
Russland den Nach- von ihr genutzte Variante mit 68 Kilometer an. Al-
bau der iranischen lerdings erhält das System gerade eine »Leistungs-
Drohne Shahed 136 steigerung«, die Radaranlagen werden verbessert
an, so teilen es und die Abfangraketen überholt. Damit soll Patriot
US-Behörden mit. zukunftsfähig gemacht werden.
Sie trägt Sprengköpfe Russland verfügt bereits mit dem S-400 über ei-
mit einem Gewicht nen modernen Nachfolger, nutzt aber auch das
von mehr als 50 S-300 weiterhin. Schwächen haben die Langstre-
Kilogramm cken-Boden-Luft-Systeme bei der Abwehr im »Nah-

52 P.M. 04/2024
 Israels Raketenabwehr »Arrow 3«
VERTEIDIGUNG Israel hat gleich mehrere Systeme entwickelt, um Angriffe
aus der Luft abzuwehren. Arrow 3 bekämpft feindliche Flugkörper in großer
Höhe. Dafür wirken verschiedene Komponenten zusammen »kill vehicle« zerstört den Sprengkopf
Gefechtskopf durch die Energie des Aufpralls
»kill vehicle«

Sprengkopf

Stratosphäre

V E RT E I DIGU NG A NGR I F F

Steuersignale zur
Korrektur der Flugbahn

Start Start
Abwehrrakete feindliche
Reichweite: bis zu 2400 km Rakete

Kontrollzentrum
berechnet Flugbahn
Radar verfolgt Rakete
mobile Startvorrichtung

Quelle: Center for Strategic and International Studies, Hersteller

ab 1967 entwickelt wurde. Dazu erhielt die Ukraine
aus Deutschland moderne Iris-T-SLM-Einheiten,
die eine Abfangquote von nahezu 100 Prozent haben
sollen und vor allem Kiew schützen. Sie werden vom
deutschen Unternehmen Diehl hergestellt. Außer-
dem hat die Ukraine gerade auch Skynex erhalten,
eine Plattform, die verschiedene Waffen und Radare
Firma Bluehalo. Es schießt nicht selbst, sondern be-
rechnet, wie ein angreifendes Flugobjekt möglichst
effektiv abgeschossen werden kann. Diese Technik
wird nun in der Ukraine unter Kriegsbedingung ge-
testet und verbessert. KI kann zudem die Soldaten
an den Bodenstationen entlasten, da sie automa-
tisch potenzielle Ziele erkennt und dann die Kon­

3
verwendet, den mobilen Skyranger des Herstellers trollstation alarmiert. Sie überwacht eigenständig
Rheinmetall, der gerade erst auf den Markt kommt, per Radar ein Gebiet.
das National Advanced Surface-to-Air Missile Sys- Die Ukraine nutzt zudem eine Software, die sich
tem (NASAMS), das effektiv 360 Grad abdecken Systeme jeder Einwohner auf sein Smartphone herunterla-
kann, und mobile Aufklärungssysteme des Typs Sur- hat Israel in den den kann. Wenn die Nutzer russische Kampfjets,
veilSPIRE, eine deutsch-estnische Neuentwicklung, vergangenen Jahren Helikopter, Drohnen oder Raketen bemerken, kön-
die Drohnen aufspürt und bekämpft. Kein Land auf erfolgreich zur Luft- nen sie das über das Programm melden, die Angrei-
der Welt muss so viele verschiedene Verteidigungs- verteidigung einge- fer bestenfalls sogar fotografieren und die Bilder
mittel kombinieren. setzt: »Iron Dome« hochladen. So kann die Software erkennen, welche
Bei der Abwehr komplexer und schneller An- gegen Geschosse Gefahr droht und welches System für die Abwehr
griffe soll auch künstliche Intelligenz helfen. Erste und Raketen mit alarmiert werden muss. Auch wenn es zynisch
Systeme sind bereits entwickelt, wie Titan der US- geringer Reichweite, klingt: Das angegriffene Land ist für Rüstungsunter-
»David’s Sling« nehmen derzeit ein großes Laboratorium.
gegen Langstrecken-
Artillerie- und ANALYSE DES KRIEGES
ANGRIFF ballistische Kurzstre- »Vom Krieg in der Ukraine haben wir unter an­
Die aus dem Iran stammende Kamikaze­drohne ckenraketen sowie derem gelernt, wie bedeutend die Flugabwehr ist«,
Shahed-136 setzt Russland häufig gegen
ukrainische Städte ein. Ein Forschungsinstitut
»Arrow« gegen sagt Sven Weizenegger, Chef des Cyber Innovation
in Kiew präsentiert 2023 die Überreste eines Lang- und Mittel- Hub der Bundeswehr, das mit Start-ups zusammen-
dieser unbemannten Flugzeuge streckenraketen arbeitet und das die Digitalisierung der Truppe

04/2024 P.M. 53
VISIONEN | RÜSTUNG
v­ orantreiben soll. »Entscheidend bei der Luftvertei-
digung sind nicht nur Raketenwaffen oder Geschüt-
ze, die Flugkörper und Drohnen abschießen ­können,
sondern die Sensoren am Boden und das Radar. Wir
wollen mit Partnern die Software CEPAS entwickeln,
die den Soldaten zeigt, wo die Sensoren stehen müs-
sen, damit sie am effektivsten arbeiten können.«
Das Programm erfasst die Topografie des Einsatzor-
tes, schaut, wo Störquellen sind und Gebäude ste-
hen. So können die Soldaten etwa die Sichtachsen
erkennen, und so fällt es den Verteidigern leichter,
anfliegende Objekte rechtzeitig zu erkennen.
W
eltweit beobachten Militärs und Ingeni-
eure den Krieg in der Ukraine. In vielen
Ländern arbeiten Entwickler daran, die
Abwehr von Drohnen, Raketen und Marschflugkör-
pern effektiver und günstiger zu machen. Forscher
verbessern stetig die Technik. Sie experimentieren
mit Lasern, um anfliegende Gegner vom Himmel zu
holen. Sensoren und Feuerleitsysteme für die Ab-
wehrwaffen sind ebenso wichtig wie die Effektoren,
also Raketen und Geschosse, die abgefeuert werden.
Militärs und Wissenschaftler wollen von den Ukrai-
nern lernen. Die meisten Experten waren von einer
schnellen Niederlage des Landes gegen Russland
ausgegangen.
Nun aber halten dessen Streitkräfte bereits seit
zwei Jahren stand. Wie schaffen es die Ukrainer, so
resilient zu sein? Eine Antwort lautet: Eine breit auf-
gestellte Flugabwehr ist essenziell. Daher beschaf-
fen viele Regierungen bereits neue Luftverteidi-
gungssysteme und investieren in die Forschung.
Selbst ein neutraler Staat wie Österreich hat Ende
2023 verkündet, seine Skyguard-Systeme von
Rheinmetall zu modernisieren.
Beim Angriff der Russen von der Krim am 11. De-
zember 2023 schießt die ukrainische Flugabwehr
alle Drohnen ab. So berichten es die ukrainischen
Streitkräfte später. Mit den Shahed 136 beginnt
Entwickler experi-
mentieren mit Lasern,
um anfliegende
Gegner vom Himmel
zu holen
54 P.M. 04/2024
Russland meist nur seine Attacken. Dann kommen
modernere und teurere Waffen zum Einsatz. Beim
selben Angriff feuert Russland noch acht ballisti-
sche Rakleten ab, die nach Angaben des ukraini-
schen Militärs abgefangen werden. Fast jeden Tag
kommt es zu solchen Attacken. Zum Jahreswechsel
treffen gleich mehrfach schwere russische Angriffe
die Ukraine. Präsident Wolodymyr Selenskyj bittet
den Westen abermals, mehr Flugabwehrwaffen zu
liefern. »Erneuter russischer Raketenterror. Russen
greifen die ganze Ukraine an«, schreibt Oleksii Ma-
keiev, der ukrainische Botschafter in Deutschland.
Er nennt die Flugabwehrsysteme die Götter des 21.
Jahrhunderts.
UKRAINE BRAUCHT MEHR FLUGABWEHR
Von diesen Defensivwaffen hat die Ukraine aber zu
wenige. Denn eine Erkenntnis des russischen An-
griffskriegs gegen das Land ist, dass einzelne Flug-
abwehrsysteme wirkungslos sind, wenn sie nicht
gut gestaffelt stehen und gleichzeitig vernetzt mit
anderen Waffen sind. Zudem sind leistungsfähige
Suchradare und Störsender entscheidend. Eine Mi-
schung von feststehenden Boden-Luft-Systemen
wie Mantis, dessen Geschütze in Türmen stehen, die VERTEIDIGUNG
Das National Advanced
um ein Feldlager oder um ein Kraftwerk stationiert Surface-to-Air Missile
werden können, mobilen Abfangwaffen wie Patriot System (NASAMS)
oder Crotale aus Frankreich, die auf Militärfahrzeu- wurde für die norwegi-
gen montiert und deshalb leicht verlegbar sind. Zur schen Streitkräfte ent-
wickelt. 14 Staaten
Luftverteidigung gehören außerdem noch die Hee- nutzen es für die Ab-
resflugabwehr, die ebenfalls mobil ist, die Panzer- wehr von Flugzeugen,
truppe begleitet und ihr Schutz gibt, und leichte Flie­ Hubschraubern,
gerfäuste, die Soldaten von der Schulter abfeuern. Marschflugkörpern
und Drohnen
Wer aber umfangreichen Schutz will, muss Mil-
liarden investieren – in verschiedene Systeme. Diese
Kosten haben die meisten Regierungen bis zur rus-
sischen Invasion der Ukraine gescheut. Und so ver-
fügen im Westen nur wenige Staaten über eine aus-
reichende Flugabwehr.
Die zurückhaltende Investitionsbereitschaft der
meisten Nato-Mitglieder in den Jahren nach dem
Kalten Krieg schien lange Zeit plausibel. Im Kampf
gegen den Terror in Afghanistan und auch im Irak
F O T O S : D PA P I C T U R E - A L L I A N C E ( 2 )
brauchte es keine Verteidigung gegen Langstre-
ckenraketen, Flugzeuge oder Kampfhubschrauber.
Der Gegner griff, außer bei den Anschlägen vom
11. September 2001, nicht aus der Luft an, sondern
am Boden mit Selbstmordattentätern und Spreng-
fallen. Diese Zeiten sind vorbei.
Das zeigt auch der aktuelle Krieg im Nahen Os-
ten: Die Terrororganisation Hamas beschießt Israel
aus dem Gazastreifen mit selbst gebauten Raketen
und hat mit einfachen Drohnen hochmoderne
Kampfpanzer ausgeschaltet. Die Hisbollah im Liba-
non verfügt ebenfalls über ein gigantisches Rake-
tenarsenal. Und die Rebellengruppe der Huthi aus
dem Jemen kann mit Flugkörpern und Drohnen
nicht nur Handelsschiffe auf dem Roten Meer, son-
dern auch Ziele in Israel beschießen. Solche Angrif-
fe könnten die meisten Länder in Europa, Südame-
rika oder Asien nicht abwehren. Lediglich die USA
sowie Israel – und vielleicht noch China – sind in der
Lage, allein und eigenständig verschiedene Gefah-
ren aus der Luft zu bekämpfen.

A
ls weltweit führend gilt dabei Israel. Dort VERTEIDIGUNG
haben Militärs und Ingenieure einen Der vom deutschen
Schutzschirm entwickelt, der einer Zwiebel Rüstungskonzern
Rheinmetall entwi-
mit mehreren Schichten gleicht. Für die Abwehr von haben die Gegner Israels Tausende Raketen auf das ckelte Skyranger soll
einfachen Geschossen, Drohnen und Raketen, die Land abgefeuert. Einen großen Teil davon hat der Einheiten des Heeres
aus dem Gazastreifen oder von der Hisbollah abge- Iron Dome abgefangen. David’s Sling und das Ar- vor gegnerischen Luft-
feuert werden, steht der Iron Dome, die eiserne row-Raketenabwehrsystem mit verschiedenen schlägen bewahren. Er
wird auf die Plattform
Kuppel, bereit. Er ist in der Lage, Geschosse auf kur- Reichweiten bekämpfen Marschflugkörper und bal- »Boxer« montiert, die
zer Distanz abzufangen, und seit 2011 im Einsatz. listische Langstreckenraketen. Im aktuellen Gaza- bereits von mehreren
Seit dem Großangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 krieg haben die Israelis mit Arrow 2 und 3 bereits Armeen genutzt wird

04/2024 P.M. 55
VISIONEN | RÜSTUNG

anfliegende Raketen aus dem Jemen abgefangen.

Aber auch die überlegene Flugabwehr kommt in
Probleme, wenn zu viele Raketen und Geschosse
gleichzeitig abgewehrt werden müssen.
Um das »Übersättigen« der Flugabwehr zu ver-
hindern, setzen Entwickler auf neue Effektoren.
Statt Raketen sollen etwa Laser die Abwehr über-
nehmen. So will Israel künftig auch auf das Abwehr-
netz »Iron Beam« setzen. Dessen Laser sollen auf
Lastwagen montiert und schnell dorthin verlegt
werden, wo es zu heftigen Attacken kommt. Auf
diese Weise könnten, so der Plan, etwa Drohnen-
schwärme ausgeschaltet werden. Auch für Kriegs-
schiffe kommt diese Technik infrage, um sich selbst
zu schützen.

ABWEHRSYSTEME AUF SEE

In der Bundesrepublik entwickeln Konzerne wie
Rheinmetall aus Düsseldorf und MBDA Deutschland Die südukrainische
aus Schrobenhausen eigene Laser-Konzepte – und Stadt Odessa wird
häufig von den
es gibt in Tests erste Erfolge bei der Luftverteidi- russischen Streit-
gung. So rüstete die Marine 2022 die Fregatte »Sach- kräften aus der hoch. Und er müsse eine Zeit lang auf das Ziel wir-
sen« für fast ein Jahr mit einem Laserwaffende- Luft attackiert, ken, um es zu zerstören. Das mache die Abwehr
monstrator von Rheinmetall und MBDA aus. Über etwa hier im Januar nicht einfacher. »Laser lassen sich gut gegen Droh-
2024 (links). Droh-
100 Schuss gab der Laser ab. Er eigne sich zur Ab- nen wehren Sol-
nen einsetzen. Da geht die Forschung weiter. Es gibt
wehr von Drohnenschwärmen und Lenkflugkör- daten auch mit auch Versuche, Mikrowellenwaffen zur Luftvertei-
pern, heißt es bei der Industrie. Der Demonstrator deutschen Panzern digung einzusetzen. Erfolgreich funktioniert bereits
blieb aber nicht auf der »Sachsen«. Dabei zeigen die des Typs »Ge- die Abwehr mit sogenannten Jammern, die die
pard« ab. Verteidi-
Angriffe auf Schiffe vor der jemenitischen Küste gungsminister
Funkverbindung von Drohnen oder die Signale der
durch die Huthi-Miliz derzeit, wie wichtig auch die ­Boris Pistorius hat Satellitennavigation unterbrechen oder stören und
Flugabwehr an Bord ist. Bislang aber investiert das im Februar 2023 so viele Typen von gelenkten Waffen neutralisieren
Bundesverteidigungsministerium nur kleine Beträ- eine Stellung be- können«, erklärt der Rüstungsexperte.
sucht (rechts)
ge in L­ aserwaffen. Störsender sind eine effektive und günstige Me-
»Saudi-Arabien soll bereits solche Waffen zur thode, unbemannte Angreifer zu verwirren. Wenn
Abwehr von Huthi-Drohnen eingesetzt haben«, sagt eine Drohne den Kontakt zur Basis verliert, bricht
Fabian Hinz. Ein Abwehrschuss mit Laser koste fast sie den Angriff meist ab und kehrt zu einem festge-
nichts, aber die Reichweite des Strahls sei nicht sehr legten Ziel zurück oder stürzt sogar ab. Den Funk-
verkehr oder die Satellitennavigation zu unterbin-

10
den ist also eine wirksame Abwehrmethode.
Allerdings haben die Drohnenproduzenten darauf
Wenn eine Drohne bereits reagiert und Antennen entwickelt, die nur
den Kontakt zur Basis Drohnen
setzte die Huthi-Miliz
schwer gestört werden können. Das Wettrüsten zwi-
schen Verteidigern und Angreifern geht immer wei-
F O T O S : D PA P I C T U R E - A L L I A N C E ( 3 )

verliert, bricht sie den aus dem Jemen im

September 2019
ter. Israels Streitkräfte und Rüstungsindustrie, die
ständig mit Attacken konfrontiert sind, lernen auch
Angriff meist ab und beim Angriff auf eine hier besonders schnell. So kommen aus dem Land
kehrt zu einem fest- saudische Öl-För-
deranlange ein. Diese
nicht nur die besten Abwehrsysteme, sondern auch
leistungsstarke Waffen für den Angriff.
gelegten Ziel zurück Attacke mit einem
ganzen Schwarm
Dagegen steht Deutschland bei der Luftverteidi-
gung vergleichsweise schwach da. »Bei der Bundes-
– oder stürzt ab sorgte für Aufsehen wehr klaffen bei der Luftverteidigung große ­Lücken«,

56 P.M. 04/2024
sagt Hinz. Die Luftwaffe nutzt Patriot für die Vertei-
digung vom Boden aus. Von den einst mehr als 30
Staffeln verfügt sie nur noch über elf. Wenn Patriot-
Systeme aus Altersgründen ausfielen, wurden sie
nicht ersetzt. Außerdem wurde die Flugabwehr-
truppe immer weiter verkleinert. Deutschland sei
von Freunden umgeben, hieß es nach dem Aufrei-
ßen des Eisernen Vorhangs. Russland sollte mit
Wandel durch Handel an den Westen gebunden und
nicht mehr mit Waffen abgeschreckt werden.
schließen«, sagt Markus Richter alias Gepardtatze.
»Hier machen wir große Fortschritte.« Im Januar
2024 gab der Bundestag nun Mittel frei, damit ein
neuer Flugabwehrraketenpanzer von der deutschen
Industrie entwickelt wird. 1,2 Milliarden Euro in-
vestiert die Bundesregierung zunächst in das Sys-
tem, das Truppen am Boden schützen soll. 2028
wird, so ist es zumindest geplant, ein erster Prototyp
VERTEIDIGUNG
Mit »Patriot« schützen fertig sein.
viele Nato-Staaten Um den Luftraum zu schützen, kommt zudem
(hier Polen) ihren Luft- Arrow 3 aus Israel – aber es wird bis 2030 dauern, bis

V
on den elf verbliebenen Patriot-Staffeln ste- raum. Die Entwicklung es voll einsatzfähig ist. 3,6 Milliarden Euro
des Systems begann
hen drei beim Nato-Partner in Litauen. Drei bereits im Kalten Krieg,
weitere sind Ende vergangenen Jahres aus aber es wurde immer
Polen zurückgekehrt. Ein Offizier der Flugabwehr, wieder modernisiert
der nicht genannt werden möchte, sagt gegenüber
P.M., dass aktuell nicht genügend Flugabwehr-Ein-
heiten vorhanden seien, um eine einzige deutsche
Großstadt effektiv vor Luftangriffen zu schützen.
Und um die Truppe im Feld zu verteidigen, haben
die Streitkräfte kaum eine Möglichkeit, denn die
Heeresflugabwehr wurde 2012 aufgelöst und die
­damit verbundene »Fähigkeitslücke« akzeptiert.
Deutschland gab seit 1990 immer weniger für die
Streitkräfte aus. Die Politik entschied, die Truppe
auf Auslandseinsätze auszurichten, die Landesver-
teidigung spielte kaum mehr eine Rolle.
Das hat sich mit Russlands Invasion in der Ukrai­
ne fundamental geändert. »Nun ist die Führung der
Bundeswehr dabei, die Lücken schnellstmöglich zu

04/2024 P.M. 57
VISIONEN | RÜSTUNG

i­ nvestiert die Bundesregierung dafür. Arrow 3 be-
steht aus Radaranlagen, einer Kontrollstation und
einem »Launcher«, dem Startgerät. Das Feuerleit-
radar markiert die Ziele, die dann von Lenkwaffen
abgeschossen werden. Arrow 3 hilft jedoch nur ge-
gen Boden-Boden-Raketen in großer Höhe, nicht
gegen Drohnen. Iris-T SLM von Diehl soll diese Lü-
cke schließen, aber die Bundeswehr hat nur sechs
Stück bestellt – zwei weniger als das österreichische
Bundesheer. Schweden orderte acht und Ägypten
sogar 23 Iris-T SLM. Das System des Unternehmens
aus Nürnberg ist weltweit gefragt. Die Ukrainer hät-
ten davon gern sehr viel mehr Exemplare. Denn die
Abschussquote soll bei nahezu 100 Prozent liegen.
Zugesagt hat Deutschland der Regierung in Kiew
12 Systeme, dazu 22 weitere Starteinheiten für eine
ähnliche Rakete.

D
ie Basis von Iris-T SLM bilden Abwehrflug-
körper, die ursprünglich für den Luftkampf
VERTEIDIGUNG zwischen Jets entwickelt wurden. Diehl hat
Den Flugkörper Iris-T hat die Raketen für die Verteidigung vom Boden aus
die Firma Diehl ursprüng-
lich für den Luftkampf
­modifiziert und unter anderem ein neues Satelliten­
entwickelt. Jets können navigationssystem eingebaut sowie einen neuen

FOTOS: DIEHL DEFENSE (3)

damit andere Flugzeuge ­Antrieb, der dreifache Schallgeschwindigkeit er-
abschießen. Dann hat das möglicht. Die Raketen arbeiten mit einem Infrarot-
Unternehmen die Rakete
modifiziert, nun kann sie
suchkopf, der Wärmequellen wie Triebwerken auto-
auch vom Boden abgefeu- matisch folgen kann.
ert werden. Starter und Bundeskanzler Olaf Scholz will die mangelhafte
Radar von Iris-T SLM wer- Verteidigung verbessern. Er hat im November 2022
den auf Lastwagen oder
Kettenfahrzeuge mon-
tiert, so kann das System
rasch verlegt werden

58 P.M. 04/2024
Iris-T SLM basiert
auf Abwehrflug-
körpern, die
ursprünglich für den
Luftkampf zwischen
Jets entwickelt wurden
ein Projekt mit klangvollem Namen angestoßen: die
European Sky Shield Initiative. 19 Länder wollen ge-
meinsam die Flugabwehr stärken, zusammen auf-
rüsten und eine europäische Luftverteidigung auf-
bauen. Noch wird Europa vor allem durch die
Bündnisverpflichtung der Nato und die Atomwaffen
der USA, Briten und Franzosen vor möglichen An-
griffen geschützt. Da aber Terrororganisationen und
Rebellen über immer leistungsstärkere Raketen
verfügen, dürfte das für die Zukunft nicht reichen.
Neben den billigen Drohnen sind vor allem Hy-
perschallwaffen eine große Herausforderung für die
Flugabwehr. Sie können von den bestehenden Sys-
temen kaum abgefangen werden, da sie so unglaub-
lich schnell ihr Ziel erreichen. »Hyperschallraketen
sind eine recht neue Gattung«, sagt Fabian Hinz vom
IISS. »Iran hat gerade eine neue, in der Entwicklung
befindliche Waffe dieser Art präsentiert. Und das
Wettrüsten geht immer weiter. Sicher ist, dass viele
Staaten an solchen Raketen arbeiten – und an deren
Abwehr.«
HYPERSCHALLWAFFEN BLEIBEN GEFAHR
So hat Thales mit der VT-1 eine Rakete für das Ab-
wehrsystem Crotale entwickelt, die Mach 3,5 schnell
fliegen kann, also mehr als die dreifache Schallge-
schwindigkeit. Das Unternehmen wirbt mit einer
Zone von 15 Kilometern, in der es für die super-
schnellen Angreifer kein Entkommen gebe. Diese
Zahlen mögen eindrucksvoll klingen, doch im
Kriegsfall könnte die VT-1 gegen Luft-Boden-Hyper-
schallraketen wie die Ch-47M2 Kinschal aus Russ-
land wohl wenig ausrichten. Die fliegt mehr als
Mach 10 schnell – und das ist nur die erste Genera-
tion der Hyperschallwaffen.
Die Verteidiger müssen also deutlich schneller
werden und besser zielen lernen, um die hyper-
schnellen Angreifer aufhalten zu können. Da das
VERTEIDIGUNG
Das System Iris-T SLM
des deutschen Her-
stellers Diehl fängt in
Wettrüsten ständig weitergeht, wird es eine hun- der Ukraine mehr als
dertprozentige Sicherheit vor allen Gefahren aus 90 Prozent aller Ge-
der Luft niemals geben. Aber die Ukrainer zeigen, fahren aus der Luft ab.
Diese Quote über-
dass auch Hyperschallraketen abgewehrt werden zeugt: Viele Kunden
können, wenn genügend moderne Luftverteidi- haben nun bei Diehl
gungssysteme bereitstehen und die Gefahr recht- bestellt, auch die
zeitig erkannt wird. Bundeswehr
Im Januar 2024 präsentierten die ukrainischen
Streitkräfte das Bild einer abgeschossenen Kin-
schal. Für die Russen war das blamabel, sie hatten
verkündet, die Hyperschallwaffe sei wegen ihrer
Geschwindigkeit nicht zu bekämpfen. Ukrainische
Behörden gaben an, eine Patriot-Rakete habe die
Kinschal getroffen.
Für Deutschland ist das zunächst eine gute
Nachricht. Denn der Bundestag hat im Dezember
2023 für drei Milliarden Euro neue Raketen für das
System bewilligt. Bis 2033 sollen sie geliefert
­werden. Bis dahin allerdings dürfte die nächste Ge-
neration der Hyperschallwaffen noch wesentlich
schneller und gefährlicher geworden sein.
· Iund
m Wettrüsten geht es auch um Verteidigung. Militär
Privatunternehmen entwickeln immer ausgefeilte-
re Systeme, um Angriffe aus der Luft abzuwehren. Hauke Friederichs
· Israel gilt als Vorreiter dieser Technologie und hat mitt-
lerweile drei Systeme im Einsatz.
Als Journalist hat er sich
wie nur wenige andere
in Deutschland auf
· Neueste Systeme müssen auch Sicherheit bieten vor
extrem schnellen Hyperschallraketen.
die Themen Sicherheit
und Verteidigung
spezialisiert.
04/2024 P.M. 59
GEHEIMNISSE | ÖKOSYSTEM

Platsch
Meist machen wir um Pfützen
einen Bogen. Dabei lohnt es sich,
genau hinzuschauen, denn die
Lachen sind von Nutzen für Natur
und Mensch. Doch vieler­orts
verschwinden die Mini-­Gewässer.
Was ist zu tun?
T E X T : K AT H A R I N A VO N R U S C H KOWS K I

FOTO: GETTY IMAGES

60 P.M. 04/2024
 D
ie Pfütze kringelt
sich. Man könnte
meinen: Sie kichert
über ihn. Seit einer
Weile schon stakst
Frank Grawe an diesem hellblau-
en Frühlingstag durch die stillge-

!
legten Tongruben des Städtchens

a
Nieheim, die heute ein Natur-
schutzgebiet sind: ein Mosaik aus

hd
Sandinseln, Büschen, Grasfle-
cken. Seit Wochen hat es hier, im
östlichsten Winkel Nordrhein-
Westfalens, kaum geregnet. Dar-
um muss der Leiter der Land-
schaftsstation auch so lange nach
einer vermeintlichen Selbstver-
ständlichkeit suchen: einer Pfüt-
ze. Hin- und herblickend mar-
schiert er um einen Schutthügel.
Und tritt dabei fast mitten in eine
Lache hinein. Gerade noch recht-
zeitig zieht er den Fuß wieder
hoch, dippt nur hinein. Von sei-
ner Schuhspitze aus wandern
Kreise wie Lachfältchen über den
Wasserspiegel.
»Ah, hier ist eine«, ruft Gra-
we, »und hier ist ja auch noch
richtig was los.« Der Landschafts-
geograf geht vor der wagenrad-
großen Wasserstelle in die Knie,
identifiziert Wasserläufer, Zuck-
mücken, sogar eine fingerlange
Vierfleck-Libelle. In der Lache
glibbert Erdkröten-Laich, von
Nahem quakt ein Grünfrosch,
der vielleicht schon ein paar Art-
genossen an Waschbären verlo-
ren hat: ringsherum Zehenab-
drücke. Im Nu kommt Grawe auf
ein gutes Dutzend Spezies, in und
an diesem unscheinbaren Mini-
Biotop! Seinen Töchtern, erzählt
Grawe, habe er darum einge-
bläut, immer erst zu gucken, be-
vor sie hineinplatschen.
Denn Pfützen sind eben kei-
neswegs – wie viele denken – nur
überflüssige Gewässer, die allen-
falls Kindern Freude bereiten.

04/2024 P.M. 61

Sie sind Nahrungsquell, Brutkas-
ten und Baustofflager für etliche
Arten. Und als Klär- und Klima-
anlage selbst für uns Menschen
überlebenswichtig.
Frank Grawe schaut über die
von Dürre gezeichneten Tongru-
ben. »Ein kräftiger Schauer, und
in jeder Mulde staut sich das Was-
ser, das binnen Stunden voller
Leben ist«, sagt er. Schon der Re-
gen selbst ist voll von Bakterien
62 P.M. 04/2024
oder Blütenpollen. Auf dem Weg
zum Erdboden passiert er Pflan-
zen, Dächer, Rinnen, wo sich
Wasserflöhe, Rädertierchen und
andere mikroskopisch kleine Or-
ganismen an die Tropfen heften
und mit diesen in die Pfütze
»trampen«. Dort vermehren sie
sich und locken so mit den Tagen
immer neue, größere Arten an –
oft mehr als das eine Dutzend,
das Grawe an diesem Frühlings-
tag zählt.
A
ls ein deutsches For-
scherteam vor einiger
Zeit in der afrikanischen
Savanne die Pfützen untersuch-
te, die sich in den halbmeterlan-
gen Fußstapfen von Elefanten ge-
sammelt hatten, fand es darin
420 Lebewesen von 61 verschie-
denen Arten! Von Vögeln, die die
Lache als Tränke oder Badewan-
ne nutzten, über Schwimmkäfer
und Wanzen, bis hin zu Libellen
und kleinen Lurchen, die dort in
Windeseile ihren Laich abgelegt
hatten. Denn das »temporäre
Pfützen fördern noch
die kleinste Uneben-
heit im Untergrund zu-
tage. In jeder Straßen-
mulde (oben links), in ­ ewässer«, wie die Pfütze in der
G
jeder Reifenspur (oben Wissenschaftssprache heißt,
rechts) sammelt sich könnte ja schon bald wieder ver-
Regenwasser, das – je sickert sein. Wer in einer Pfütze
nach Größe der Lache
– einige Tage oder überleben will, muss darum
Wochen stehen bleibt schnell sein – oder trickreich.
und sich dabei in ein Die auch bei uns verbreiteten
Biotop verwandelt Kreuzkröten benötigen gerade 17
Tage bis zum entwickelten Tier,
das in anhaltend feuchte Gefilde
fliehen könnte. Libellen vertei-
len ihre Eier meist auf mehrere
Wasserstellen, um das Risiko,
dass ihre Brut vertrocknet, zu
streuen. Manche Bakterien bil-
den Sporen, um davonzufliegen,
wenn eine Lache nach ein paar
Von wegen Dreck- FOTOS: MAURITIUS IMAGES (2), GETTY IMAGES (2)
Wochen trockenfällt. Und Urzeit-
spatz: Vögel wie diese krebse können in einer verkap-
Sperlinge sind auf
Pfützen angewiesen selten Form monate-, teils jahre-
– ihre Badestellen lang im Trockenen ausharren, bis
Wer in einer Pfütze
überleben will, muss
schnell sein – oder trickreich

sich eine Pfütze – endlich – wieder
mit Wasser füllt. Doch so flüchtig
und extrem sie auch sein mögen:
Die Lachen bieten dem Leben
viele Vorteile. Pfützen sind flach
und erwärmen sich entspre-
chend rasch.
F
ür Insekten und Amphi­
bien funktionieren sie wie
Brutkästen: Die Larven
entwickeln sich dort schneller
und sind so ihren Nahrungskon-
kurrenten und Fressfeinden
meist eine Weile voraus. Jüngst
zeigte eine Studie der Universität
Hohenheim: Vor allem selten ge-
wordene Amphibien wie Gelb-
bauchunke oder Geburtshelfer-
kröte brauchen genau diesen
Vorsprung. Sie sind also angewie-
sen auf Pfützen. Um Tümpel, die
man im Rahmen der Studie zu ih-
rem Schutz aufwendig ausbag-
gerte, machten sie spätestens im
zweiten Jahr einen Bogen. Zu viel
Nachwuchs war – schon als Ei –
von Libellen oder später von Vö-
geln gefressen worden.
Das schien, zunächst, eine er-
leichternde Botschaft zu sein.
Schließlich bilden sich Pfützen
doch fast überall und einfach so,
ohne Aufwand. Landschaftsgeo-
graf Grawe schüttelt den Kopf
und sagt: »Das war einmal.« Tat-
sächlich haben wir Menschen ge-
rade hierzulande im vergange-
nen Jahrhundert allerhand
unternommen, um die ohnehin
flüchtigen Gewässer ganz ver-
schwinden zu lassen. Zehntau-
sende Hektar Flussauen und
Moore, in denen einst die Lachen
für einige Wochen oder Monate
standen, wurden drainiert, ka-
nalisiert und so zu Ackerland.
Gärten und Pfade wurden einge-
ebnet, gepflastert und geteert –
auf dass keine Pfütze mehr die
Wege der Menschen störe.
In den vergangenen 50 Jah-
ren sind in Deutschland rund 75
Prozent der sogenannten Kleinst-
gewässer, darunter Pfützen, ver-
schwunden – und mit ihnen etli-
che Arten. Manche Spezies
verschwanden ganz und gar
GEHEIMNISSE | ÖKOSYSTEM
Lachen des Lebens
EVOLUTION Es ist vielleicht die Frage aller
Fragen: Wo enstand das Leben? Wo verwan-
delte sich unbelebte in belebte Materie? Bisher
galt die Tiefsee als aussichtsreicher Kandidat,
genauer die Schwarzen Raucher. Ihr nährstoff-
und mineralienreiches Wasser könnte die
Verkettung großer Biomoleküle gefördert
haben - der Bausteine der ersten Zellen. Doch
in den vergangenen Jahren mehren sich
Hinweise: Leben könnte auch im Kleinen
entstanden sein, in Tümpeln, in Pfützen.
Grundsätzlich gilt: Fürs Leben braucht es vor
allem Zweierlei. Energie, damit komplexe
Verbindungen entstehen, sowie einen
»Schutzmechanismus«, der verhindert, dass
sich die entstandenen Moleküle sogleich
wieder zerstreuen oder zerstört werden – etwa
durch Wasserdruck oder UV-Strahlung. Beides
bieten Tümpel rund um Geysire etwa. Vor allem
die losen Schichten am brodelnden Tümpel-
grund könnten ausreichend Bausteine für das
erste Leben und Schutz etwa gegen tödliche
UV-Strahlung geliefert haben. Erst vor wenigen
Jahren barg ein internationales Forscherteam
in einem solchen Tümpel kondensierten
Dampf, der den gleichen Chemie-Cocktail
enthielt, den noch heute alle lebenden Zellen in
sich tragen. Ein wichtiges Indiz, ein Beweis aber
ist es noch nicht.
GEHEIMNISSE | ÖKOSYSTEM
250
unerwartet: Rauchschwalben
zum Beispiel, eigentlich Stall-
und Scheunenbewohnerinnen.
Millionen Jahre Doch: Die Vögel brauchen für ih-
alt sind Urzeitkrebse. ren Nestbau feuchten Lehm aus
Und ihre Heimat sind: Lachen, die man auf Höfen und
Pfützen. Ihre Eier Dorfplätzen kaum mehr zulässt.
überdauern bis zu 20 Eben und trocken soll es dort
Jahre im trockenen sein, kein Raum mehr für lang-
Grund. Füllt sich eine sam versickerndes Wasser.
Lache, entwickeln sie Forschende sind sich darum
sich binnen Tagen sicher: Das Sterben von Rauch-
zum fertigen Krebs schwalben und Pfützen hängt
unmittelbar zusammen. Und die
Klimaerwärmung der letzten
Jahre hat solche Entwicklungen
noch einmal verschärft: Wäh-
rend wochenlange Dürren Seen
»nur« schrumpfen und Flusspe-
Belebt und beliebt: gel fallen lassen, bedrohen sie die
Forschende finden in Pfützen gleich in ihrer ganzen
Pfützen oft Dutzende
Arten, darunter
Existenz. Umso wichtiger sind
Insekten wie Zikade
(unten) oder Urzeit-
krebs (ganz unten)
64 P.M. 04/2024
Viele Tiere wie dieser
Rotfuchs sind heute
»Städter« und Pfützen
für sie lebenswichtig
darum längst Areale wie die Nie-
heimer Tongruben, wo die Pfüt-
zenbildung nicht nur geduldet,
sondern gar gefördert wird. Re-
gelmäßig lässt Grawe Teilflächen
mähen oder umgraben, um da-
mit Mulden für Lachen zu schaf-
fen. Er simuliert damit die Dyna-
mik, für die einst etwa Über-
schwemmungen im Vorland der
Bäche und Flüsse sorgten – und
die für die Bildung von Pfützen so
wichtig ist.
In diesem Frühjahr hat er ei-
genwillige Unterstützung be-
kommen. »Dort drüben sind sie
schon aktiv«, sagt Grawe und
zeigt auf drei wollgraue Esel, die
am Rand der Tongruben herum-
trotten und genau damit wichti-
ge Arbeit tun. Denn mit ihren
Huftritten rauen und reißen sie
immerzu den Boden auf und er-
weisen sich so als »super Pfützen-
bauer«, so Grawe.
Pfützen bauen, das wollen
Forschende künftig nicht nur auf
dem Land, sondern auch in Städ-
ten. Denn nicht einmal dort, wo
sie Autos in Schlammschleudern
verwandeln und Fußgängern
Pfützen sorgen in den
Städten sommers für
wohl­tuende Abkühlung
schmutzige Schuhe bescheren,
ist das Verschwinden der Pfützen
eine gute Nachricht.
B
erlin im Sommer: Vor ei-
ner guten Stunde ist ein
Gewitter über die Stadt
niedergegangen. Doch wenn
Lau­ra Tams, Hydroökologin an
der Freien Universität, nun hin-
ausschaut, sieht sie kaum mehr
Pfützen. »Fast alles fort«, so die
Wissenschaftlerin, die den Was-
serhaushalt der Metropole un-
tersucht. Die Ursache sei, klar,
die starke Versiegelung. Mehr als
ein Drittel der Fläche der Haupt-
stadt ist eingeebnet und asphal-
tiert – eine der höchsten Quoten
in Deutschland. »Doch mindes-
tens so bedeutsam ist die starke
Ausrichtung der Versiegelung«,
F O T O S : M A U R I T I U S I M A G E S , D PA / P I C T U R E A L L I A N C E ( 2 ) , G E T T Y I M A G E S
so Tams. Heißt: Fast alle Straßen,
Pfade, Flächen sind seitlich so
stark geneigt, dass das Regenwas-
ser zügig in die Kanalisation ab-
fließt und keine Chance hat, ste-
hen zu bleiben.
Dabei wäre genau das, sagt
Tams, so wichtig. Sie erklärt: In
einem naturnahen Wasserhaus-

halt »steht« das Nass. Es regnet,
Wasser sammelt sich zumindest
zeitweise an Ort und Stelle. Es
versickert nur allmählich und
füllt so das Grundwasser auf,
oder es verdunstet. Nur wenig
Nass fließt fort, an einen anderen
Ort. In einer zubetonierten Stadt
hingegen passiert all das kaum
mehr. Der Wasserhaushalt gerät
in Unwucht – mit spürbaren, ja
gefährlichen Folgen.
Ein entscheidender Effekt:
Städte heizen sich auf. In Berlin
betrug der Temperaturunter-
schied zum Umland zuletzt teils
fünf Grad Celsius. Menschen
starben; 2023 kostete die Hitze in
Deutschland 3100 Menschen das
Leben. Und auch Stadtbäume,
die Kühlung spenden könnten,
verdorrten zu Hunderten in der
Hauptstadt. Bei starkem Regen
hingegen, mit dem im Zuge der
Klimakrise noch häufiger zu
rechnen ist, drohte sie rasch zu
überfluten. Laura Tams Rezept
gegen Überhitzung und Unter-
gang? »Zum einen: Die Stadt im-
mer weiter von Beton und As-
phalt befreien. Zum anderen:
Pfützen!«
S
tudien zeigen: Wird die
Versiegelung auf Parkplät-
zen oder Gehwegen auch
nur stellenweise durchbrochen
und etwa durch Grünstreifen
oder Gittersteine ersetzt, kann
der Boden dort 80 Prozent des
Regens aufnehmen – statt sonst
nur 15 Prozent. Werden zusätz-
lich Mulden eingelassen, in de-
nen sich Pfützen sammeln und
versickern können, steigt der
Wert noch einmal.
Tams will solche Vertiefun-
gen vor allem am Straßenrand,
zwischen Bäumen, anlegen, aus
vielen guten Gründen. »Es ist
eine kleine Maßnahme. Die Pfüt-
zen stören dort nicht – und ver-
sorgen in Trockenzeiten das so
wichtige Stadtgrün mit Wasser«,
Pfützen sind begehrte
Laichplätze von Amphi-
bien. Denn: Sie erwär-
men sich rasch – und
enthalten, anders als
Teiche oder Seen, kaum
Fressfeinde
sagt sie. Die Forscherin weiß:
Pfützen können keine Flutkatas­
trophen abwenden. »Dafür
braucht es größere, grundsätzli-
che Maßnahmen wie unterirdi-
sche Zisternen oder abgesenkte
Sportplätze, die im Ernstfall zu
Bassins werden.«
Doch die kleinen Lachen
könnten Städte schon jetzt grün
und lebenswert erhalten. Städte
der Zukunft werden wieder Pfüt-
zen haben, ja, haben müssen.
Und deshalb stellt Tams schließ-
lich noch einmal klar: »Pfützen
haben’s einfach in sich.«
· bens.
Pfützen sind Hotspots des Le-
Forschende zählten in einer
Lache schon 61 Spezies.
· Durch die intensive Landnutzung
sind bis zu 75 Prozent der Klein-
Katharina
von Ruschkowski
gewässer verschwunden. füllt eine Pfütze an ih-
· Das Pfützensterben bedroht
auch uns Menschen.
rem Haus regelmäßig
mit Wasser auf – damit
den Schwalben der
Lehm nicht ausgeht.
04/2024 P.M. 65
TECHNIK | ARCHÄOLOGIE

Das Mysterium

der alten
Historische Metalle
wie diese Klinge aus
WIKIMEDIA COMMONS,
FOTOS: TORANA VIA

dem Mittelalter sind

mitunter von hoher
M AT T H I A S L E H R

Qualität – doch die

Kunst ihrer Herstel-
lung geriet oft in
Vergessenheit

66 P.M. 04/2024
Metalle Sie versuchen, Techniken und chemische Kenntnisse
von Schmieden aus längst vergangenen Zeiten zum Leben
zu erwecken: Archäometallurgen. Wenn es ihnen gelingt,
ein Geheimnis zu lüften, ist es nicht selten eine Sensation
TEXT: SUSANNE DONNER

04/2024 P.M. 67
TECHNIK | ARCHÄOLOGIE

Lange hielt man

die Existenz des
geheimnisvollen
Materials für
E ine Legende zog den Gold-
schmied Matthias Lehr aus
Nürnberg in den 1990er-
Jahren in ihren Bann: Ein
Material, so schwarz wie
Ebenholz, von edlem Glanz,
das sich selbst heilt, soll es
im Römischen Reich und auch im
Griechenland der Antike gegeben
haben. Kostbarer als Silber und
fast teurer als Gold war es und bei
der reichen Oberschicht begehrt.
Sie kaufte sich Schmuck, luxuriö-
heimlichen. Er vermengte dem-
nach das Edelmetall mit Kupfer
und erhielt »Schwarzes Kupfer«,
auch »Corinthium Aes« oder »Ko-
rinthisches Erz« genannt. Nicht
wenige hielten die Existenz des
geheimnisvollen Materials je-
doch für einen Mythos. Schließ-
lich hatte es über Jahrhunderte
niemand in Europa hergestellt.
Deshalb wurde der Gold-
schmied Lehr hellhörig, als er
1996 bei einer Ausstellung im
einen Mythos se Haushaltsgegenstände und
kunstvolle Figuren aus dem edlen
oberpfälzischen Bergbau- und
Industriemuseum Theuern die
Material. Archäologin Alessandra Gium­­lia-­
Angeblich hatte es ein Bild- M
­ air traf: Schwarzes Kupfer, so
hauer in der griechischen Stadt erzählte sie ihm, habe es sogar
Korinth erfunden, um den Fund schon im alten Ägypten gegeben.
einer Schatzkiste voll Gold zu ver- Das Instrument aus dem 14. Jahr-
hundert v. Chr., mit dem Tutan-

F O T O : M A R I A N N E F R A N K E , A KG I M A G E S , R VA L E T T E V I A W I K I M E D I A C O M M O N S
F O T O S : © S TA AT L I C H E S M U S E U M Ä G Y P T I S C H E R K U N S T / M Ü N C H E N / Ä S 6 0 8 0 /
chamun der Mund aufgehalten
worden war, um ihn zu mumifi-
Brunnen der Pyrene
in Korinth: Der Le- zieren, bestehe beispielsweise
gende nach wurde das aus dem Metall. Und eines der äl-
Schwarze Kupfer testen Objekte überhaupt beher-
einst in dieser Stadt
bergt das Staatliche Museum
im antiken Griechen-
land erfunden Ägyptischer Kunst in München:
Ein schwarzes Krokodil mit gol-
dener Verzierung auf dem Schup-
penpanzer. Es symbolisiert den
Wassergott Sobek, der 2000 Jahre
vor Christus verehrt wurde.
Das Besondere: Schwarzes
Kupfer oxidiert nicht und ist aus-
gesprochen robust. Deshalb sind
antike Objekte daraus teils noch
heute gut erhalten. Vergleichbare
Gegenstände aus reinem Eisen

68 P.M. 04/2024
 Schon um 1800 v. Chr.
fertigten Schmiede im
Norden Ägyptens
Kultgegenstände aus
Schwarzem Kupfer:
Das Krokodil diente
vermutlich als zentrale
Kultstatue eines Hei-
ligtums für den damals
Oft sind es Passion und Zufall,
die Archäometallurgen zu ihrem
Beruf führen. So erging es auch
Bastian Asmus, der Kunstgießer
war, als er sich für die Antike zu
begeistern begann. Er studierte
Ur- und Frühgeschichte und wag-
te sich schließlich an die Rekon­
tus, in Europa schon Werkzeuge
aus Metall im Umlauf waren. Das
Kupfer dafür kam aus Minen in
der Toskana. Schon damals über-
querten die Menschen also offen-
bar zu Fuß die Alpen, um Handel
zu treiben.

oder Kupfer hätten sich über die
Jahrtausende ziemlich sicher
schon lange aufgrund der Reak­
tion in Wasser oder Luft aufgelöst.
Als die Archäologin Giumlia-­
Mair 1996 bei ihren Nachfor-
schungen eine Anleitung des
griechischen Alchemisten Zosi-
mos von Panopolis fand, wie das
Schwarze Kupfer hergestellt
wird, schien der Wiederentde-
ckung des sagenumwobenen Ma-
terials nichts mehr im Wege zu
stehen: Aus Kupfer mit sehr we-
nig Gold, Silber und Eisen sollte
es bestehen. Doch obwohl Mat­
thias Lehr sich genau an die Re-
zeptur hielt, die er von Gium-
lia-Mair erhalten hatte, »ver­
schwand einfach nur mein teuer
gekauftes Gold in der Kupfer-
schmelze: Es mischte sich und
war nicht mehr zu sehen. Schwarz
wurde gar nichts«, erinnert er
sich. Und doch gab er nicht auf.
S
in der Region verehr-
ten Hauptgott Sobek struktion des Beils von Ötzi, dem olche Ergebnisse sind der
Mann aus der Kupferzeit, dessen Lohn jahrelanger, mühe-
Überreste 1991 in den Südtiroler voller Arbeit. Manchmal
Alpen gefunden wurden. bekommt Asmus ein Stück Schla-
Noch heute hängt der Nach- cke oder eine Figur überreicht mit
bau des Beils, dessen Klinge vor- der Bitte herauszufinden, worum
wiegend aus Kupfer bestand, in es sich handelt und aus welcher
Asmus’ Werkstatt. Es erinnert Zeit es stammt. »Da schwindet
dar­an, dass auch in der Jungstein- mein Interesse dann«, sagt er.
zeit, rund 3000 Jahre vor Chris- »Wenn ich nicht weiß, woher
Der griechische Alche-
mist Zosimos von
Panopolis experimen-
tierte im 3. Jahrhundert
nach Christus unter
anderem auch mit Me-
tallen. In seinen Schrif-
ten entdeckten Ar-
chäologen eine
Beschreibung der Be-
- standteile des Schwar-
zen Kupfers – und da-
mit die Grundlage für
die Wieder­geburt des
Materials

W
eltweit gibt es nur eine
kleine Schar von Ar-
chäometallurgen wie
Giumlia-Mair. Sie versuchen,
längst vergessene Materialien
und Verfahren wieder entstehen
zu lassen. So konnten sie schon
die Fertigung von Damaszener
Klingen enträtseln und den
­Ursprung der Wikingerschwer­-
ter eingrenzen. Immer wieder
schrei­­ben sie dabei auch die Ge-
schichte um.

04/2024 P.M. 69
RUBRIK | THEMA
TECHNIK | ARCHÄOLOGIE
Die Klingen stellen Fachleute
der Gegenstand ist und was sich
in seiner Umgebung noch befand,
wird es schwierig.« Das Material
allein kann nicht unbedingt et-
was über seine Verwendung er-
zählen. Erst alle Informationen
zusammen ergeben ein Bild.
Doch auch die anderen Fälle
verlangen ihm einiges ab – zum
Beispiel Geduld. Um das Metall zu
untersuchen, muss er einige Mil-
limeter hineinbohren und eine
Probe nehmen. Das lehnen Muse-
en gewöhnlich ab, um den Wert
der Kostbarkeiten zu erhalten.
Manchmal dauert es Monate oder
Jahre, bis dann doch eine Geneh-
migung erteilt wird.
Besonders delikat ist die Un-
tersuchung von Schwertern, etwa
jenen der Wikinger. Im Mittelal-
ter zogen sie mit mindestens ei-
nem eisernen Schwert in die
Kämpfe. Zweischneidig waren
diese oft und ungefähr 80 Zenti-
meter lang. Doch allzu viel ist von
den Waffen nicht bekannt, denn
sie werden heutzutage selten voll-
ständig geborgen. Und dann sind
70 P.M. 04/2024
bis heute vor Rätsel
sie meist allzu verrostet, berichtet
Asmus: »Aus diesem Grund lie-
gen für die Objekte der Bronzezeit
viel bessere archäometallurgi-
sche Erkenntnisse vor als über
jene der Eisenzeit, obwohl sie viel
älter sind.« Gelingt es doch ein-
mal, ein Schwert der Wikinger als
Ganzes auszugraben und zu ana-
lysieren, ist das eine Sensation.
S
o einen unwahrscheinli-
chen Glücksfall erlebte ein
Mann 2012 bei Hameln, als
er einem Bagger beim Ausheben
des Erdreichs zusah. Die Maschi-
ne schaufelte ein verrostetes
Schwert zutage. Auf der Klinge
trägt es in lateinischen Buchsta-
ben die Inschrift »Ulfberht«. Es
gehört damit zu etwa 170 ähnli-
chen Schwertern aus der Zeit von
800 bis 1100 nach Christus. Die
Detail eines Bildsteins
aus der Wikingerzeit:
Forschende stellten
fest, dass die Nord-
männer bereits mit
stählernen Waffen in
den Kampf zogen
Schwerter mit dem
eingravierten Namen
»Ulfberht« wurden
zwischen 800 und 1100
nach Christus für ihre
Schärfe und besondere
Härte geschätzt
Waffen mit dieser Signatur sollen
bei Gegnern besonders gefürch-
tet gewesen sein, denn sie galten
als äußerst scharf und fest. Doch
bis heute geben sie der Forschung
Rätsel auf: Niemand weiß, welche
Person ihnen den Namen verlieh.
Die meisten der Schwerter
wurden im Norden Europas ge-
funden, in Island, Norwegen und
Dänemark. Doch unter Histori-
kern ist klar, dass sie deshalb
nicht unbedingt dort entstanden
sein müssen. Die heidnischen
Wikinger gaben die Waffen ihren
Toten in die Gräber bei, weshalb
sie sich, überdeckt mit Erde, oft
erhalten haben. Im christlichen
Mitteleuropa, von Frankreich
über Großbritannien bis nach
Süddeutschland, war die Grab-
FOTOS: MAURITIUS IMAGES (2), AXEL HINDEMITH VIA WIKIMEDIA COMMONS, ALAMY
beigabe von Waffen hingegen un-
üblich. An der Luft aber verros-
ten die Eisenschwerter bald.
Deshalb tauchen Ulfberht-
Schwerter in Mitteleuropa, wenn
überhaupt, in Flussbetten auf,
konserviert in dicken Sand-
schichten.
Der Chemiker Robert Leh-
mann entdeckte immerhin, wes-
halb diese Waffen so erstklassig
waren. Der Anteil an Kohlenstoff
im Eisen ist dreimal so hoch wie
sonst üblich. Eine Legierung aus
Kohlenstoff und Eisen ist aber
nichts anderes als Stahl – und der
ist viel härter als pures Eisen.
­Solcher Stahl war damals vor al-
lem im Nahen Osten und Vorde-
ren Orient bekannt. Die Wikinger

trieben Handel mit diesen Regio-
nen, sodass einige Historiker
­vermuten, dass sie sich das Mate-
rial für ihre Klingen von dort
kauften, um sie dann selbst zu
schmieden.
chen Schaft eingebettet wurde,
waren wohl auch Fälscher am
Werk, erzählt der Experimental-
archäologe Ralph Araque von der
Universität Freiburg. Seine For-
schung lehrt, wie wichtig es ist,
historische Objekte nachzubil-
Restauration eines
Ulfberht-Schwerts aus
dem 10. Jahrhundert
im Denkmalamt Han-
nover: Womöglich sere Vorfahren damit wirklich
wurden die wertvollen machen konnten – und was nicht
Waffen in deutschen funktioniert hat.
Klöstern produziert Mithilfe dieser experimen­
tel­len Archäologie entdeckte Ara-
que, dass ein Meißel aus Portugal,
mit dem Stein bearbeitet wurde,

Z
u einem anderen Schluss
kam Lehmann, als er 2015
endlich das Ulfberht-­
Schwert von Hameln untersu-
chen durfte: Er maß einen Man­
gan-Gehalt von 1,5 Prozent – zu
hoch für mittelalterliche Stähle
aus dem Orient. Das Spurenele-
ment schützt das Eisen vor Kor-
rosion und sorgt dafür, dass die
Schwerter bei einem Hieb noch
seltener brechen. Nur das Eisen
aus dem Siegerland war so man-
ganreich, erklärt Lehmann. Er
vermutet, dass die Klingen der
Ulfberht-Schwerter in Deutsch-
land entstanden. Sie könnten in
den Klöstern Lorsch oder Fulda
geschmiedet worden sein, die
damals tatsächlich Waffen her-
stellten. Die Inschrift könnte eine
Art Qualitätssiegel gewesen sein.
Da einige Ulfberht-Schwer-
ter aber auch schlecht sind, etwa
die Klinge in einen viel zu wei-
den und damit zu experimentie- nicht wie bisher angenommen
ren. Erst dann wird klar, was un- aus Bronze sein kann, also
Von Stein zu Eisen
ARCHÄOLOGIE Auf dem afrikanischen Kontinent
gibt es bisher praktisch keine Funde von Objekten
aus Bronze. Die Menschen haben die Bronzezeit
offenbar im Wesentlichen übersprungen, sie gingen
direkt von der Stein- in die Eisenzeit über, erklärt
Ralph Araque, Experimentalarchäologe an der Bearbeitung einer Axtklinge bei
Universität Freiburg. Sie nutzten Öfen aus Ton, die den Dassanech in Äthiopien
bis zu vier Meter hoch sein konnten, um Eisen aus
Erz zu gewinnen, das in Afrika reichlich vorkommt. In Ost- und Zentralafrika sind
Schlacken aus Eisen für das 7. Jahrhundert vor Christus und in Westafrika für das
4. Jahrhundert vor Christus nachgewiesen. »Es ist nicht ausgeschlossen, dass die
Afrikaner und Afrikanerinnen selbst das Schmelzen von Eisen entdeckt haben«, sagt
Araque. Allerdings gab es in Indien sogar schon deutlich früher Eisenobjekte, sodass
Seefahrer dieses Wissen auch über den Indischen Ozean nach Afrika gebracht haben
könnten. In Europa beginnt die Eisenzeit um ungefähr 750 vor Christus.

04/2024 P.M. 71
RUBRIK | THEMA
TECHNIK | ARCHÄOLOGIE

e­iner Mischung aus Zinn und Hermann zweifelte schon im-

Kupfer. »Wir haben versucht, mit
entprechenden Imitaten bei ei-
nem Steinmetz Granit oder
Quarzgesteine zu bearbeiten«,
sagt er. »Das Werkzeug zersplit-
um die Herstellung des
tert sofort.«
Araque vermutete, es müsse
sich um Stahl handeln. Doch Kol-
legen und Kolleginnen wider-
sprachen dem Freiburger For-
scher: Die Arbeiten könnten mit
mer an dieser Vorstellung. Des-
halb glich er über 2000 Ge-
brauchsspuren auf den Klingen
Matthias Lehr von Bronzeschwertern aus Groß-
lüftete das Geheimnis britannien und Italien mit den
Schwarzen Kupfers.
Dellen und Schrammen auf sei-
Seine Werke aus Stahl gilt nun als ältester Stahl in nen Nachbildungen ab. Das er-
der Legierung wurden Europa – geschaffen im 9. Jahr- brachte gleich mehrere Über­
im Neuen Museum in hundert vor Christus, also bereits raschungen: »Am häufigsten
Berlin ausgestellt
in der späten Bronzezeit. müs­ sen damals Speere auf
Schwertklingen geprallt sein«,

Steinwerkzeugen gemacht wor-
den sein, lautete eines ihrer Ar-
gumente. Araque hielt dagegen:
Damit könne man nicht so feine
Motive wie Streitwagen und
Schwerter in den Stein schlagen,
wie sie auf mannshohen Stelen
aus jener Zeit zu sehen sind.
Erst als Ralph Araque und
Bastian Asmus 2021 Proben aus
dem Meißel entnehmen durften,
klärte sich der Streit: Schon am
charakteristischen Funkenflug
beim Schneiden sahen beide,
dass es sich um kohlenstoffhalti-
ges Eisen handelte. Der iberische
A
uch der Archäologe Ra-
phael Hermann schritt
während seiner For-
schungen an der Universität Göt-
tingen zur Tat. Im Fechten ausge-
bildet, fertigte er Schwerter der
Bronzezeit nach und erprobte mit
diesen Repliken den Zweikampf
mit seinen Sportfreunden. Man-
Susanne Donner che Historiker gingen bis dahin
hat als Chemikerin davon aus, dass die Waffen da-
schon manches Metall
geschmolzen. Die Wis- mals eher Statussymbole und Ze-
senschaftsjournalistin remonialobjekte gewesen waren.
schrieb zuletzt in P.M. Sie wurden zur Schau gestellt,
02/2024 über die
Forschung an Körper- aber gekämpft wurde damit
kraftwerken. kaum, so eine gängige These.
sagt er. Doch auch mit den Klin-
gen traten die Kämpfenden ge-
geneinander an: Die Spuren bele-
gen, dass mancher Hieb mit
einem Bronzeschwert gestoppt
wurde. »Dieses sogenannte Ver-
setzen verlangt Training«, sagt
der Archäologe und leitet daraus
ab: »Es muss Kampfschulen gege-
ben haben.«
Erst beim Nachempfinden
der Materialien wird manches
klar, was sich nicht aus Textquel-
len erschließt. So erging es auch
Matthias Lehr, der nicht aufgab,
das Schwarze Kupfer in seinem

F O T O S : I M A G O I M A G E S , M AT T H I A S L E H R ( 4 )

Einer der Vorzüge des

Schwarzen Kupfers:
Risse in der Patina des
Metalls heilen bei Kon-
takt mit menschlichem
Hautschweiß wie von
selbst aus

72 P.M. 04/2024
 Objekte aus Gold (unten) und
Schwarzem Kupfer – hier
ein Salamander aus Matthias
Lehrs Schmiede – wurden
schon in der Antike geschätzt

Labor zu gewinnen. In histori-

schen Quellen hieß es, die
Schmiede hätten das Metall im
Wasser des Pyrenebrunnens in
Korinth abgeschreckt. Also brach-
te er sich eigens von einer Ur-
laubsreise nach Griechenland
eine Flasche Wasser aus dem Py-
renebrunnen mit.

E
ines Tages, abends um elf
Uhr in seiner Werkstatt sei
es gewesen, erinnert sich
Lehr. Er wollte es »noch einmal
versuchen, brutaler als bisher«.
Er erhitzte ein Prozent Gold mit
ebenso wenig Silber und einem
halben Prozent Eisen zusammen
mit dem Hauptbestandteil Kup-
fer, wie in der alchemistischen
Vorschrift des Zosimos von Pano-
polis beschrieben, und tauchte
die Schmelze anschließend ab-
rupt in das Pyrenewasser. Es
funkte derart, dass Lehr nur so
staunte. Und dann sah er eine
hauchdünne blauschwarze Pati-
na auf dem Klumpen: »In diesem
Moment wusste ich, dass ich den
Vorgang nur viele Male wiederho-
len muss.« Tatsächlich war das
Metall nach mehreren, stunden-
langen Zyklen von Schmelzen und
Abschrecken violett-schwarz.
Heute braucht Lehr kein Was-
ser aus dem Brunnen in Grie-
chenland mehr. Denn er fand
her­aus: Es sind gelöste Kupfersal-
ze, die als Kupferoxidkristalle auf
der Legierung die dunkle Patina
bilden. Darauf beruht wohl auch
die vermeintliche Fähigkeit des
Materials, sich selbst zu heilen:
Denn auch der menschliche
Hautschweiß enthält Kupfersal-
ze. Treffen die durch Körperkon-
takt auf das Schwarze Kupfer,
kann sich dessen Oberfläche re-
generieren.
Schwarzes Kupfer
ist so wertvoll,
weil seine
Herstellung eines
Mit der Entdeckung wurde
Lehr schlagartig klar, warum das braucht – viel Zeit
Material einst so kostbar gewesen
war: »Es ist der Faktor Zeit! Diese
Legierung entsteht erst in mühe-
voller Arbeit.« Mittlerweile hat
der Schmied auch Schalen, Gefä-
ße, Figuren und Schmuckstücke
aus dem Material angefertigt. Im
vergangenen Jahr wurde er auf
besondere Weise für seine Hart-
näckigkeit auf der Suche nach
dem Geheimnis des Schwarzen
Kupfers belohnt: mit einer eige-
nen Ausstellung im Ägyptischen
Museum in Berlin.
· AWissen
rchäometallurgen versuchen, verlorenes
über historische Metalle und ihre
Herstellung zu erschließen.
· Dabei entdecken sie hochwertige
Materialien wie Schwarzes Kupfer, das in
der Antike als Luxus begehrt wurde.
· Metallanalysen alter Schwerter verraten
Kampftechniken sogar aus der Bronzezeit.

04/2024 P.M. 73
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Der Makedonenkönig Philipp II. wird 336 v. Chr.
ermordet – als Drahtzieher verdächtig: sein
Sohn Alexander (oben eine mittelalterliche Dar-
stellung). Als angeblichen Vaterlandsverräter
ersticht 1819 ein Student den Autor August von
Kotzebue (links). Und 1986 treffen Schüsse den
schwedischen Premier Olof Palme (ganz links)

ALT UND ERHABEN

Seit dem Mittelalter steht die Kathe-
drale in Paris, doch um 1830 ist sie
verschandelt und vernachlässigt. Mit
seinem Roman „Der Glöckner von
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ler Victor Hugo für das Wahrzeichen

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 NEUE GAMES

Einfach, aber brillant

N
ormalerweise ist es so: Ein Video-
spiel kommt für eine Spielkonso-
le heraus. Wenn es gut ist, wird es
von Spielerinnen und Spielern eine Weile
lang gefeiert – und wird dann Teil der
Kulturgeschichte. Die sehr gute Serie
»The Last of Us« allerdings lebt immer
weiter: Der erste Teil wurde seit 2013 für
jede Generation der Playstation neu auf-
gelegt, stets mit verbesserter Grafik. Nun
ist The Last of Us Part II: Remastered für
die Playstation 5 erschienen. Die Version
sieht fantastisch aus, und wer mag, kann
Kommentare der Entwickler hören.
Überragend aber ist der neue Modus »No
Return«. In dem tritt man mit den Figu-
ren aus dem Spiel gegen die Monster aus
dem Spiel an. Das klingt nicht nur ein-
fach, das macht auch einfach Spaß – und
es zeigt die ganze Brillanz von »The Last
of Us Part II«. Selbst wenn man die Story
und all das Drama wegnimmt: Der Kern –
das Spiel selbst – leuchtet strahlend hell.
für Playstation 5
ab 18 Jahren
Sony Interactive Entertainment, ca. 50 Euro

TEKKEN 8 PRINCE OF PERSIA ART OF RALLY THREE MINUTES TO EIGHT

Darf es ein bisschen mehr
sein? Mehr Pathos? Mehr Blitze
und Explosionen? Nein, mehr
Bumms geht nicht als in
»Tekken 8«: Der Haudrauf-
Klassiker gibt alles. In Sachen
Adrenalinschub und Realitäts-
flucht gibt es derzeit kein
besseres Game. Denn man hat
keine Millisekunde Zeit, an
etwas anderes zu denken als
an Angriff oder Verteidigung.
für PS5, Xbox X/S, PC
ab 12 Jahren, OmU
Bandai Namco, ab ca. 70 Euro
Noch eine alte Spieleserie! 14 App Ein ehrliches App Eine Nacht wie
Jahre hat es gedauert bis zum Autos-im-Dreck- aus »Blade Runner«.
neuen »Prince of Persia«, und Game ist »Art of Es ist 19:33 Uhr: Die
»The Lost Crown« ist ein Side- Rally«. Keine Simulation, eher Story beginnt. Sie ist voller
Scroller. Das heißt: Die Land- Arcade, mit Comic-Optik und Witz und Wirrungen – doch
­schaft bewegt sich von rechts vielerlei »Brummbrumm« und kurz vor acht ist die Hauptfigur
nach links. Dabei tauchen Rät- »Quietsch«, angetrieben von schon tot. Also: alles von vorn.
sel oder Feinde auf, die gelöst Humpfda-Humpfda-Musik und Der Held ist in einer Zeit-
oder besiegt werden müssen. mit wichtigen Erkenntnissen in schleife gefangen. Kann er ihr
Das ist schwierig, lustig – und Sachen Rallyfahren: »Bäume ent­rin­nen? In dem pixeligen
man will immer »Nur noch sind nicht deine Freunde«, zum Point-&-Click-Adventure geht
10 Minuten!« weiterspielen. Beispiel. Denn: »Rumms«. es wiederholt ums Ganze.
für Playstation, Xbox, PC, Nintendo für iOS, Android folgt für iOS u.a.
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ab 12 Jahren, Ubisoft, ca. 50 Euro 5,99 Euro (iOS) ab 4,99 Euro, Englisch m. Untertiteln

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78 P.M. 04/2024 G E S P I E LT U N D B E W E R T E T V O N S V E N S T I L L I C H
 NEUE BÜCHER

EINSTIEG INS UNIVERSUM MEHR ALS GÄNSEVATER HUNDEELEND KRISTALLKUGEL-MATHE

Erik Bertram und Dominika
Wylezalek, beide Forschende
der Astrophysik, beschreiben
die Geschichte unseres
Universums – und wie Zufälle
letztlich zu unserer Exis-
tenz führten. Gespickt mit
Anekdoten aus ihrem
Berufsalltag erzählen sie
locker, teils etwas zu flapsig.
Die Verhaltensbiologie wäre
nicht da, wo sie ist, ohne den
Mann mit den Gänsen: Konrad
Lorenz. In diesem fiktiven, aber
akribisch recherchierten Roman
zeichnet Ilona Jerger sein
Leben und Wirken nach – und
beleuchtet dabei geschickt alle
widersprüchlichen Facetten
dieser Persönlichkeit.
Reinrassige Haustiere sind
beliebt, doch leiden sie häufig
durch Qualzuchten und an
Gendefekten. Achim Gruber,
Professor für Tierpathologie,
berichtet in aufwühlenden
Szenen von eigenen Erlebnis-
sen – und liefert Ideen, wie das
Tierwohl zukünftig gewähr­
leistet werden kann.
Wie einfach wäre alles, wenn
man die Zukunft kennte – doch
oft liefert nicht mal der
Wetterbericht eine gute
Vorhersage. Mathematiker Kit
Yates – gefragter Experte in
Großbritannien während der
Covid-Pandemie – erklärt, was
Prognosen so schwierig macht
und wie gute gelingen.

Alles Zufall im All? Lorenz Geschundene Gefährten Wie man vorhersieht, womit
Erik Bertram, Dominika Wylezalek Ilona Jerger Achim Gruber keiner rechnet
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Das ABC der Moderne

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ortschritt verändert die Gesellschaft – ße Mann« nicht fehlen. Das Wörterbuch geht
und mit ihr die Sprache. Das Duden-­ dabei weit über reine Definitionen hinaus:
Wörterbuch »Vielfalt« will dabei mit ­Jeder Begriff wird durch Autorinnen und Au- Wölfe und Raben, die gemein-
Aufklärung und Orientierung dienen. Denn toren nähergebracht, die mit ihm teils per­ same Sache machen, und Erd-
wo immer sich etwas verändert, können Span- sönlich verbunden sind. Bildungspionierin männchen, die mit Mistkäfern
nungen entstehen, mithin Konflikte. Das Buch Marina Weisband beispielsweise, selbst Be- hausen: Karen Leten und Bar-
behandelt 100 Begriffe, von »Ab- troffene, erläutert die Bedeutung bara Soenen alias Coco&June
leismus« bis »Zionismus«, die von »chronisch krank«. Knapp präsentieren mit großformati-
heutzutage in gesellschaftlichen 1200 Medientipps helfen bei der gen Illustrationen und kurzen
Debatten eine besondere Rolle Suche nach weiteren Informatio- Texten Verbindungen im Tier-
spielen – weil sie neu sind, miss- nen – damit der Fortschritt einen reich, die auch manchen Er-
verständlich oder von der Gegen- nicht überrollt. wachsenen erstaunen dürften.
wart überholt wurden. Dabei
sind gebräuchliche Wörter wie
»multikulti«, recht junge Be- Vielfalt. Das andere Wörterbuch Tierfreundschaften
Sebastian Pertsch (Hrsg.) Coco&June, Freies
zeichnungen wie »woke«, und Duden, 272 Seiten Geistesleben, 64 Seiten,
natürlich darf auch der »alte wei- 28 Euro, E-Book: 21,99 Euro 20 Euro, ab 6 Jahren

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V O R G E S T E L LT V O N C A R O L I N E R I N G 04/2024 P.M. 79
 GRENZBEREICHE | POLARLICHTER

Wenn der Himm

Polarlichter sind die schöne Seite
des Weltraumwetters. Doch es
gibt auch Unwetter. Forschende
arbeiten an ihrer präzisen
Vorhersage, um Satelliten und
Stromnetze zu schützen
TEXT: JAN BERNDORFF
FOTO: MARKUS HIBBELER/ACTION PRESS

80 P.M. 04/2024
el Feuer fängt

Am Abend des
25. September 2023
waren Polarlichter bis
in norddeutsche Brei-
ten zu beobachten,
etwa über dem Wat-
tenmeer bei Schillig

04/2024 P.M. 81
A
n den Abend
des 1. September 1859 sollte sich
ein australischer Goldschürfer
sein Leben lang erinnern: »Lich­
ter in allen erdenklichen Farben
gingen vom südlichen Himmel
aus«, schrieb er später. »Eine Far­
be verblasste nur, um einer an­
deren Platz zu machen, die viel­
leicht noch schöner war als die
letzte. Die Ströme stiegen bis zum
Zenit an, wurden zu einem satten
Purpur.« Was der Mann be­
schrieb, waren Polarlichter. In
Australien, westlich von Mel­
bour­ne, auf 37,5 Grad südlicher
Breite. Das ist etwa so ungewöhn­
lich, als würde man dieses in Eu­
ropa üblicherweise nur im Nor­
den Skandinaviens auftretende
Naturschauspiel am Südzipfel
Spaniens erleben. Und in der Tat:
Auch dort waren in jener Nacht
die bunt leuchtenden Effekte des
sogenannten Carrington-Ereig­
nisses zu bewundern, ebenso wie
im Süden Chinas, in der Karibik,
sogar auf Hawaii.
Dieses nach einem britischen
Astronomen benannte Gesche­
hen war der stärkste, bis heute je
registrierte Sonnensturm. Er lös­
te auf der Erde enorme geomag­
netische Störungen aus, die von
den Polen ausgehend bis fast zum
Äquator reichten. Nicht nur
schöne wie die Polarlichter, son­
dern auch brandgefährliche:
82 P.M. 04/2024
Ein Polarlicht rund um
den Südpol, aufgenommen
von einem Satelliten.
Polarlichter der Südhalb­
kugel nennt man auch Aurora
australis oder Südlicht, die
am Nordpol Aurora borealis
oder Nordlicht
Funken schlugen aus Telegrafen­
masten und Empfangsgeräten,
weil die Flut geladener Teilchen
aus dem All eine Überspannung
hervorrief. So manche Telegra­
fenstation ging in Flammen auf.
Glücklicherweise war damals
Elektrik noch wenig verbreitet, es
gab kein umfassendes Strom­
netz. »Geschähe ein so starkes Er­
eignis heute, wären die Schäden
enorm«, sagt der Physiker Stefan
Kraft, Experte für Weltraumwet­
ter am Europäischen Satelliten­
kontrollzentrum Esoc in Darm­
stadt. Satelliten könnten
ausfallen, Astronauten im All wä­
ren durch die Strahlenüberdosis
akut gefährdet, die Bordelektro­
nik von Flugzeugen würde ver­
rücktspielen. Am Boden ließen
die Spannungsspitzen Transfor­
matoren kollabieren, langfristige
Blackouts wären die Folge.
FOTOS: NASA/GOAADARD, NASA/ACTION PRESS
EINE FARBE
VERBLASSTE NUR,
UM EINER ANDEREN
PLATZ ZU MACHEN,
DIE VIELLEICHT
NOCH SCHÖNER
WAR ALS DIE LETZTE
GRENZBEREICHE | POLARLICHTER

Dieses Südlicht wurde

von Bord der ISS aus aufge-
nommen, deren Solarpaneele
man im Bild auch sieht. Die
Raumstation flog in diesem
Moment gut 400 Kilometer
über einem Punkt südlich
von Australien

04/2024 P.M. 83
84
P.M. 04/2024
GRENZBEREICHE | POLARLICHTER

F O T O S : N A S A / S D O ; N A S A / D PA P I C T U R E A L L I A N C E , S C I E N C E P H O T O L I B R A RY
 1 UV-Aufnahme einer Sonnenerup­
tion: Das hochkochende Plasma wird
von Magnetfeldbögen der Sonne ge­
fangen, es entstehen »Solar Flares«
2 Die Abfolge zeigt von oben nach
unten, wie sich ein Flare innerhalb
von acht Stunden entwickelt 3 Die
Bögen sind sehr dynamisch. Manch­
mal reißt ein solcher Plasma­
schlauch ab, und das Material wird
ins All geschleudert

Kein Strom, kein Internet, kein

GPS, keine Telekommunikation
für Tage, Wochen, ja örtlich wo­
möglich sogar Monate, weil die
elektrische Infrastruktur müh­
sam erneuert werden müsste.
»Selbst große Städte könnten
bis zu ein Jahr ohne Strom blei­
ben«, fürchtet Daniel Baker, At­
mosphärenforscher an der Uni­
2 versity of Colorado, und Co-Autor
eines Berichts des US-For­
schungsrats über die Gefahren
von Sonnenstürmen. »Die Schä­
den könnten sich allein in den
USA leicht auf ein oder zwei Bil­
lionen US-Dollar summieren.«

V
erhindern oder abweh­
ren lassen sich Sonnen­
stürme nicht. Aber wenn
sie frühzeitig und präzise vorher­
sagbar wären, könnte man sich
im Notfall besser wappnen, etwa
Satellitenteile in einen sicheren
Modus bringen und Trafos vor­
übergehend ausschalten. Die
Schäden ließen sich immerhin in
Grenzen halten. Bislang aller­
dings ist das Weltraumwetter, das
die Wechselwirkungen von Son­
nenwind und Erdmagnetfeld
­beschreibt, nur grob verstanden
und vage vorherzusagen. Man
kann sehen, wenn es auf der Son­
ne Eruptionen gibt und die dabei
ins All geschleuderten Plas­ma­
wol­ken Richtung Erde weisen. Sie
sind 200 bis 2000 Kilometer pro
Sekunde schnell. In wenigen

04/2024 P.M. 85
 GRENZBEREICHE | POLARLICHTER

Polarlichter selbst beobachten

NATUR ERLEBEN Die Vorhersagen sind noch nicht perfekt.
Aber mithilfe sogenannter Magnetometer und anderer
Messinstrumente kann zumindest eine Wahrscheinlichkeit für
Polarlichter an bestimmten Orten angegeben werden.
Inzwischen gibt es mehrere Apps und Webseiten, die auf solche
Daten zurückgreifen und einige Tage im Voraus angeben, wie
hoch die Chance ist, an einem bestimmten Standort das
Lichtspektakel bewundern zu können. Natürlich sind in Europa
die Chancen im hohen Norden am höchsten – und zwar im
Winter, wenn die Nächte lang sind. Eine kleine Auswahl von Apps
und Webseiten:
hello Aurora nutzt Daten zu Wetter, Magnetfeldern und
Sonnenstürmen und errechnet die Wahrscheinlichkeit für
Nordlichter. Für heute und die kommenden Tage. Die App
funktioniert angeblich weltweit.
Meine Polarlicht-Vorhersage als App wurde von dem
britischen Softwareentwickler Jake Ruston entwickelt, der auf
Naturereignisse wie Erdbeben-, Hurrikan- und Gewitterwarnun-
gen spezialisiert ist.
Aurora Forecast ist ein App-Programm aus Südkorea mit
Aurora-Alarm-Funktion, das verspricht, Ereignisse innerhalb von
30 Minuten vorherzusagen.
www.polarlicht-vorhersage.de gibt Auskunft über die
aktuelle Polarlicht-Wahrscheinlichkeit in Deutschland.
www.norway-lights.com bietet Informationen und eine
Drei-Tage-Vorhersage für Nord-Norwegen, den beliebtesten
Polarlicht-Spot Europas.
www.gi.alaska.edu/monitors/aurora-forecast
sammelt Informationen und Vorhersagen zu Polarlichtern von
der University of Alaska.

FOTO: F1 ONLINE

86 P.M. 04/2024
 Ein Polarlicht über
Churchill, Manitoba, in
Kanada. Die Farben
deuten auf die Luftmole-
küle hin, die zum Leuch-
ten angeregt werden:
Stickstoff erstrahlt
blau-violett, Sauerstoff
in einer Höhe über
150 Kilometern rot,
darunter grün

04/2024 P.M. 87
 BISLANG IST DAS
WELTRAUMWETTER
NUR GROB
VERSTANDEN UND Tagen können sie uns erreichen; auch, dass es genauso schon
VAGE VORHERZUSAGEN heftige Ausbrüche sogar binnen nächste Woche passieren könnte.
20 Stunden. Entsprechend lässt Oder kommendes Jahr: 2025
sich abschätzen, wann es Polar­ steht der nächste Höhepunkt des
lichter zu bestaunen gibt. Und elfjährigen Sonnenzyklus bevor.
Forschende wissen inzwischen, In diesem Intervall schwillt die
Plasmoid-Simulation mit der Software »Vlasiator«: Der
­Solarwind (1) trifft auf die Magnetosphäre (2) der Erde (3) dass ein starker Sturm wie das Aktivität unseres Zentralgestirns
und bildet eine Schockfront. Bei normalem Wind dringen die Carrington-Ereignis statistisch an und ab. Allerdings bedarf es
geladenen Teilchen nicht in die Ionosphäre (4) ein, rasen gesehen nur etwa alle 200 Jahre gar nicht so eines Ausnahme-Er­
stattdessen entlang der Magnetfeldlinien an der Erde vorbei auftritt – aber sie wissen eben eignisses, um elektrische Syste­
und sammeln sich auf ihrer Nachtseite (5) Dort wird die Plas­
maschicht in die Länge gezogen und kann abreißen, sodass
sich ein Plasmoid (6) bildet, dessen Plasma dann entlang der
Feldlinien zurück zu den Polen der Erde schießt

6 5
3

4 1
 GRENZBEREICHE | POLARLICHTER

me zu beschädigen. 1989 etwa

brach infolge eines Sonnen­
sturms im Osten Kanadas das
Stromnetz für Stunden zusam­
men, 2003 fielen nach einem sol­
chen Phänomen in Deutschland
alle GPS-Dienste aus. Und Elon
Musks Raumfahrtunternehmen
SpaceX schoss Anfang Februar
2022 Satelliten ins All, doch just
in jenen Tagen schickte die Sonne
1
einen Gruß: Mehr als 40 Satelli­
ten gingen bei diesem Ereignis
2
verloren.

H
inzu kommt die Erkennt­
nis: Es braucht nicht mal
eine Sonnenerup­tion, um
in der irdischen Magnetosphäre
Turbulenzen auszulösen. Schon
die Wechselwirkung des norma­
len, steten Sonnenwindes mit
dem Erdmagnetfeld kann zu so­
genannten Teilstürmen führen – 1 Supercomputer Hawk der
Uni Stuttgart kann Simula­
die zwar bei Sonnensturm umso tionen mit der »Vlasia­
heftiger ausfallen, aber auch tor«-Software berechnen
ohne bereits sehr lästige Folgen 2 Dabei können die For­
haben können. Auf beide Phä­ scher gezielt Bereiche im
Universum detaillierter si­
nomene, auf Sonnen- wie auf mulieren als andere (kleine
I L L U S T R AT I O N E N : V L A S I AT O R T E A M / U N I V E R S I T Y O F H E L S I N K I ( 3 ) ; F O T O : M A U R I T I U S I M A G E S

Teil­stürme, richten Forschende Kästchen) 3 So können sie

ihre Aufmerksamkeit. Und einige etwa genauer erkennen,
Projekte könnten die Vorhersage wie sich der Sonnenwind
verhält, wenn er auf das
demnächst entscheidend voran­ Magnetfeld der Erde trifft
bringen.
Zum Beispiel die neue Raum­ 3
sonde »Vigil«, die die Europäi­
sche Weltraumagentur Esa 2030
ins All bringen will. Sie soll die in
die Jahre gekommene Sonde
»Soho« (Solar and Heliospheric
Observatory) ablösen, die seit
Ende 1995 permanent die Sonne
beobachtet. Soho hat viele neue
Erkenntnisse gebracht, ist zur
Vorhersage herannahender Son­
nenstürme aber nur bedingt
­geeignet: Sie steht im sogenann­
ten Lagrangepunkt L1. Lagrange­
punkte sind Orte im Sonne-
Erde-System, an denen die Gra­
vi­ta­tionskräfte der beiden

04/2024 P.M. 89
GRENZBEREICHE | POLARLICHTER
­ immelskörper sich weitgehend
H und aus der Ferne
aufheben, sodass Sonden dort
ohne Kraftaufwand verweilen
und in Ruhe beobachten und
messen können.
L1 liegt auf einer Linie zwi­
schen Erde und Sonne. Soho sieht
die Sonne also aus der gleichen
Richtung wie wir. »Dies hat bei
der Beobachtung herannahen­
der Plasmawolken den Nachteil,
dass man ihre Geschwindigkeit
schwer abschätzen kann«, sagt
Stefan Kraft. Für die Vorhersage
von Sonnenstürmen müssen da­
her auch Daten anderer Sonden
herangezogen werden, die aller­
dings nicht zur Beobachtung des
Weltraumwetters erdacht wur­
den. Die Raumsonde Vigil soll
diese Lücke füllen: Sie wird im
Lagrangepunkt L5 stationiert,
der auf der Erdumlaufbahn ein
90 P.M. 04/2024
Die geplante Raum­
sonde »Vigil« (vorne)
soll die Aktivität auf
der Sonne beobachten
ganzes Stück hinter der Erde
Plasmawolken liegt. »Weil die Sonne sich dreht
analysieren, die zur – und zwar schneller, als die Erde
Erde rasen. Damit
folgt sie der Sonde
für ihrem Umlauf braucht –, kann
»Soho« (hier im Vigil von L5 aus die Vorgänge auf
Hintergrund auf einer der Oberfläche der Sonne beob­
Linie zwischen Erde achten, bevor sie diese Seite der
und Sonne)
Erde zuwendet«, erklärt Kraft.
Also: Wenn sich Eruptionen un­
ter anderem durch dunkle Son­
nenflecken ankündigen, kann
Vigil warnen, bevor dies von der
Erde oder von L1 aus sehen kann.
S
tark vereinfacht kann man
sich die Sonne wie einen
brodelnden Kessel heißes
Wasser vorstellen: Durch die auf­
steigende Hitze bilden sich an der
Oberfläche ständig Blasen, die
mitunter heftig platzen. Nur
handelt es sich hier nicht um hei­
ßes Wasser, sondern um hoch­
energetisches Plasma aus gelade­
nen Teilchen. Forschende nen­
nen das Coronal Mass Ejection
(CME), auf Deutsch: koronaler
Massenauswurf. Beschleunigt
wird das Material durch heftige
Störungen im solaren Magnet­
feld. Und die treten meist mit
Sonnenflecken auf.
Vigil könnte solche Vorgänge
frühzeitig bemerken, abschät­
zen, ob ein CME Kurs auf die Erde I L L U S T R AT I O N : A . B A K E R / E S A / C C BY - S A 3 . 0 I G O
nimmt, und von der seitlichen
Position aus zuverlässig das Tem­
po bestimmen. »Elektrizitäts­
werke und andere Akteure hätten
gern genauere Angaben zur Stär­
ke eines Sonnensturms, als das
heute möglich ist«, sagt Stefan
Kraft. »Und das am besten drei
bis vier Tage vorher.« Mit Vigil, so
die Hoffnung, lässt sich dieses
Ziel womöglich erreichen.

W BEOBACHTET
obei der Blick zur Son­
ne nur ein Aspekt
­einer umfassenden
Vorhersage sei, betont Minna
Palmroth, Weltraumphysikerin
an der Universität von Helsinki in
Finnland: »Wer nur die Sonne
beobachtet, kann nicht hinrei­
chend genau vor Weltraumun­
wettern warnen.«
Wie sich eine eintreffende
Plasmawolke auswirkt, hänge
auch von den Vorgängen im erd­
nahen Weltall ab, wo der Teil­
chenstrom der Sonne auf die Ma­
gnetosphäre der Erde trifft und
zahlreiche Effekte auch in der
­darunterliegenden Ionosphäre –
dem äußeren Teil der Atmosphä­
re – auslöst.
Wenn der Sonnenwind auf
die Magnetosphäre trifft, werden
die geladenen Teilchen entlang
der Feldlinien zu beiden Polen
hin abgelenkt. Denn die Erde ist
– wie ein Stabmagnet – ein soge­
nannter Dipol. Das bedeutet: An
den magnetischen Polen führen
die Feldlinien in den Boden, so­
dass die Teilchen dort senkrecht
Richtung Erdoberfläche schie­
ßen, dabei auf die Luftmoleküle
treffen und diese zum farbigen
Leuchten anregen. Das sind die
Polarlichter.
Besonders stark fallen sie
aus, wenn der Sonnenwind zum
Sturm wird und ungewöhnlich
viele Teilchen schickt. Dann wer­
den auch magnetische Feldlinien
in größerer Entfernung von den
magnetischen Polen mit Sonnen­
windplasma beladen, das somit
weiter südlich in die Atmosphäre
eintreten kann – mit potenziell
spektakulären Folgen, wie im
Spätsommer 1859.
Doch nicht nur die Heftigkeit
dieser Vorgänge bereitet For­
schenden Sorge: Die meisten als
Sonnenwind zur Erde getrage­
nen Teilchen schießen über die
Pole hinaus und sammeln sich
auf der Nachtseite der Erde in­
nerhalb jenes Schweifs, den die
vom Sonnenwind in die Länge
gezogene Magnetosphäre hinter
dem Planeten bildet. Und dieser
Schweif ist sehr dynamisch: Er
züngelt hin und her, lädt sich im­
mer wieder mit den energeti­
schen Teilchen auf, bis überla­
gernde Feldlinien plötzlich einen
Teil des Plasmas abschnüren –
ähnlich wie bei einem Wasser­
tropfen, der die kri­tische Masse
erreicht und sich dann löst.
So bildet sich im Schweif auf
der Nachtseite der Erde ein soge­
nannter Plasmoid, eine entfes­
selte Plasmablase, deren hoch­
energetischer Inhalt wiederum
auf die Magnetfeldlinien über­
tragen wird, die in der Nähe der
Pole auf die Atmosphäre treffen.
Das kann Folgen haben, die
denen eines Sonnensturms nicht
nachstehen und etwa die Steue­
rung von Satelliten stören. »Teil­
stürme sind zwar bei Sonnen­
sturm stärker«, sagt Minna
Palmroth, »aber sie kommen
auch ohne sein Dazutun vor, im
Prinzip jeden Tag.«
B
islang ließ sich dieses Phä­
nomen jedoch kaum mo­
dellieren, um es genauer
zu verstehen und womöglich vor­
herzusagen. Die Rechenkraft
selbst der stärksten Computer
reichte dazu nicht aus. »Welt­
raumwetter ist deutlich aufwen­
diger zu modellieren als das Wet­
ter auf der Erde, da der zu
betrachtende Raum viel größer
ist und die beteiligten Effekte
noch komplexer sind«, sagt Min­
na Palmroth.
Doch innerhalb von zehn Jah­
ren hat ihr Team eine Spezialsoft­
ware namens »Vlasiator« entwi­
DIE RAUMSONDE »VIGIL«
SOLL DIE IN DIE JAHRE
GEKOMMENE SONDE
»SOHO« ABLÖSEN, DIE
SEIT ENDE 1995 DIE SONNE
ckelt. Sie enthält ein Modell, das
auf der Basis der sogenannten
Vlasov-Gleichung arbeitet, be­
nannt nach dem 1975 verstorbe­
nen Physiker Anatoly Vlasov.
Das Modell meistert die bis
dato unmögliche Simulation
durch einen Trick: Nur die ent­
scheidenden Bereiche des riesi­
gen magnetosphärischen Raums
werden in voller Auflösung be­
trachtet. Dort, wo nichts Wichti­
ges passiert, bleibt sie so gering,
dass das Modell insgesamt be­
herrschbar ist – zumindest für die
stärksten Rechner unserer Zeit.
Palmroth verwendet für ihre
Berechnungen den Hawk-Super­
computer des Hochleistungsre­
chenzentrums Stuttgart. »Das
Modell simuliert einen Messsa­
telliten alle 300 Kilometer rund
um die Erde; was 200 000 Satelli­
ten weltweit entspricht«, erklärt
die Forscherin. »Ein Riesenfort­
schritt, um Teilstürme und die
Auswirkungen von Sonnenstür­
men genauer zu verstehen.«
Dies sei ein gutes Fundament
für hinreichend präzise Progno­
sen. »Bis wir allerdings die glei­
che Zuverlässigkeit erreichen wie
bei den Vorhersagen für das irdi­
sche Wetter, haben wir noch ei­
nen Haufen Arbeit vor uns.«
· lichter
Sonnenwinde erzeugen Polar-
– aber können auch zur
Gefahr für uns werden.
Jan Berndorff
hat noch nie ein Polar-
· Wissenschaftler versuchen, die
Vorhersage zu verbessern.
licht erlebt. Aber er be-
richtet seit Jahren darü- · Mit Spezialsoftware simulieren
sie, was genau am irdischen Ma-
ber, wie Technologien gnetfeld passiert.
uns das Phänomen bes-
ser verstehen lassen.
04/2024 P.M. 91
 Bükers
Weltbewegende Experimente und ihre Geschichte
1995
Kommando Höllenritt
Von Anfang an war ihr Ende geplant: Die Sonde »Galileo« musste
sich selbst zerstören, um den Planeten Jupiter zu erforschen
A
ls Kind sah ich einmal im Fernsehen,
wie eine Zeitschrift mit einer »Space-­
Shuttle-Mission zum Jupiter« Wer-
bung machte. So ein Unfug, dachte
ich: Schließlich konnte das von Astro­
nauten gesteuerte Shuttle unmöglich ferne Plane-
ten erreichen. Erst später verstand ich, dass die
Raumsonde »Galileo« gemeint war. Sie startete im
Herbst 1989 an Bord eines Shuttles ins All und flog
dann allein – also ohne Astronauten – zum Jupiter.
Zu dieser Mission gehörte eines der erstaun-
lichsten Experimente der robotischen Raumfahrt:
eine Sonde mit der Bestimmung, in den Jupiter zu
Im Jahr 2003 wurde
auch die Galileo-­
stürzen und an einem Fallschirm durch seine Atmo-
Muttersonde gezielt sphäre zu fallen, um die dort herrschenden Bedin-
zerstört. Andernfalls gungen zu vermessen. Ein Himmelfahrtskom­
hätte sie womöglich mando, denn die Sonde würde binnen Minuten
durch einen Einschlag
auf einem der vielen,
unweigerlich von dichten Gasen zerquetscht, bevor
lebensfreundlichen sie schließlich verdampfte.
Monde des Jupiters Noch bevor die Sonde die Erde verließ, plagte sie
irdische Mikroben ein- eine Pechsträhne. Ihr Start war für 1986 geplant.
geschleppt. Doch seit
1967 schreibt der
Doch wenige Monate zuvor wurde die Raumfähre
­internationale Welt- »Challenger« beim Start zerstört. Während das Un-
raumvertrag fest, dass glück untersucht wurde, lag das US-Raumfahrtpro-
bei der Erforschung gramm auf Eis. Als es nach zweieinhalb Jahren wie-
von Himmelskörpern
deren Kontamination
der anlief, galt der ursprünglich für Galileo
zu vermeiden sei. Die- vorgesehene Wasserstoffantrieb als zu gefährlich.
se Direktive wird heute Die Mission wurde auf eine schwächere Feststoff­
vom Internationalen rakete umgestellt und musste einen längeren Weg
Weltraumkomitee
Cospar geregelt (mehr
durch das Sonnensystem nehmen. Die Sonde er-
dazu im P.M.-Magazin reichte Jupiter erst Ende 1995, mehr als sieben Jahre
4/2021). später als geplant. Auch unterwegs schien die Mis-
92 P.M. 04/2024
sion wie verflucht. Nach zweieinhalb Jahren im All
sollte Galileo im April 1991 seine große Richtantenne
aufklappen: eine Art Regenschirm von fast fünf
­Metern Durchmesser. Die Antenne sollte zur Erde
ausgerichtet werden und eine rasante Datenüber-
tragung quer durchs Sonnensystem erlauben: vier-
mal so schnell wie die besten Modems, die seinerzeit
Privathaushalte mit dem Internet verbanden. Doch
der Schirm klemmte. Als Ersatz diente eine kleine
Rundstrahlantenne, die um mehr als ein Hundert-
faches langsamer funkte.
Um ihre Forschungsdaten zur Erde zu senden,
war die Sonde mehr denn je auf ihren einzigen
­großen Datenspeicher angewiesen: einen Magnet-
bandrekorder mit einer Kapazität von gut 100
­Megabyte. Er würde alle Bilder und Messdaten zwi­
schenspeichern müssen, bevor sie langsam zur Erde
gefunkt werden konnten. Doch im Herbst 1995, zwei
Monate vor der Ankunft beim Jupiter, verhakte sich
das Magnetband. Erst nach einer Woche gelang es,
das Band aus mehreren Hundert Millionen Kilome- F O T O S : N A S A ( 2 ) ; I L L U S T R AT I O N : A N J A S T I H E L E R
tern Entfernung mit gezielten Befehlen wieder in
Bewegung zu setzen.
ABSTURZ MIT ANLAUF
Schon einige Monate vor diesem Missgeschick hatte
Galileo das eine Experiment in Gang gesetzt, für das
es keinen zweiten Versuch geben konnte: Die Atmo-
sphärensonde war auf einem Kollisionskurs mit
­Jupiter von der großen Muttersonde getrennt wor-
den. Fünf Monate lang legte sie 80 Millionen Kilo-
meter im freien Fall zurück, ehe sie mit 47 Kilome-
 Im Namen des großen Astronomen
Galileo Galilei: Der Orbiter der Mis-
sion, die Muttersonde, blieb auf
­Distanz zum Gasriesen Jupiter
­(Simulation rechts). Nur dieToch-
tersonde raste in die Atmosphäre
hinein, anfangs geschützt von ei-
nem Hitzeschild (unten, Foto 1984)
tern pro Sekunde in den Gasriesen rasen würde. Mit
ihrer kleinen Antenne und ihrer begrenzten Strom-
versorgung konnte sie ihre Messdaten nicht direkt
zur Erde funken, sondern nur zur Muttersonde.
Doch würde deren beschädigter Rekorder die Daten
überhaupt speichern können, um sie später –
­mangels Hochleistungsantenne! – ganz langsam zur
Erde weiterzureichen?
Mit der Ankunft beim Planeten begann für die
Atmosphärensonde nach fünf Monaten im Tief-
schlaf ein Höllenritt, den keine Maschine im Son-
nensystem seither wiederholt hat. Binnen weniger
Minuten nach dem Eintreten in Jupiters Atmosphä-
re bremste die Luftreibung die Sonde von rund
170 000 auf 3200 Kilometer pro Stunde. Die weiß-
glühende Schockwelle vor dem Hitzeschild erreich-
te über 15 000 Grad Celsius. Nach dem Öffnen des
Fallschirms und dem Abwerfen des Hitzeschildes
begann die Sonde, die chemische Zusammenset-
zung der Atmosphäre zu analysieren, Winde und
Blitze zu vermessen.
Die Nasa beging den Tag von Galileos Ankunft
beim Jupiter mit einer großen Pressekonferenz. Jetzt
rächten sich die zahlreichen technischen Probleme:
Anders als bei früheren Missionen konnte die Sonde
keine Bilder senden. Doch die Muttersonde war da-
rauf programmiert worden, den Empfang der Mess-
daten der Atmosphärensonde zu melden – mit der
Übertragung eines einzigen Daten-Bits. Als dieses
Bit auf der Erde empfangen wurde, brachen die ver-
sammelten Forscher, Ingenieurinnen und Journa-
listen in Jubel aus.
180 KILOMETER DURCH DIE GASHÜLLE
Nach 61 Minuten in Jupiters Atmosphäre riss die Da-
tenübertragung ab. Die Sonde war rund 180 Kilome-
ter tief eingetaucht, bevor sie dem Druck von etwa
23 Bar nicht länger standhalten konnte. Die Resul-
tate des Experiments waren erstaunlich: Die Winde
waren viel schneller und die Temperaturen höher
als erwartet – dafür wurden nahezu keine Blitze,
kein Wasser und viel weniger Helium gemessen als
gedacht. Bis heute ziehen Forschende diese Messda-
ten heran, um besser zu verstehen, wie Jupiter und Michael Büker
ist Astroteilchenphysiker,
andere Planeten einst entstanden sind. Science-Slammer und
Die Zeitschrift, die im Fernsehen mit einem Ar- Wissens­chaftsautor.
tikel über Galileo geworben hatte, habe ich als Kind In P.M. ­erklärt er die wich-
tigsten Ex­perimente der
nicht gekauft. Sie war – vorsichtig ausgedrückt – Wissenschaftsgeschichte,
nicht für Minderjährige bestimmt. Heute schreibe zusammen mit Kollegen
ich einfach selbst über die sagenhafte »Space-­ plaudert er im P.M.-Pod-
cast »Sag mal, du als
Shuttle-Mission zum Jupiter«: und zwar hier, im Physiker …« – erhältlich
P.M.-Magazin, für Jung und Alt. unter audible.de.
04/2024 P.M. 93
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94 P.M. 04/2024
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Die Welt im Kleinen

PHYSIK Hochauflösende Mikroskope bringen die win­
zigsten Strukturen des Kosmos ans Licht – und ermög­
lichen Einblicke in Nanowelten, ohne die Spitzentechno­
logien wie Quantencomputer undenkbar wären

Rettendes Gewebe Essen aus der Fabrik

BIOTECHNIK Wenn Menschen Opfer von Bränden ERNÄHRUNG Rund jede zweite Kalorie auf unseren
werden, brauchen sie oft eine Hauttransplantation. Tellern stammt aus hoch verarbeiteten Lebensmit­
Um ihnen zu helfen, züchten Mediziner die schüt­ teln. Der Mediziner Chris van Tulleken erläutert,
zende Körperhülle nun im Labor welche Folgen das für unsere Gesundheit hat

Das nächste erscheint am 12.4.2024

96 P.M. 04/2024
 IMPRESSUM
P O S TA N S C H R I F T D E R P. M . - R E D A K T I O N :

Virchowstraße 65 b , 22767 Hamburg

E - M A I L : P M - R E D A K T I O N @V E R L A G S H A U S . D E

R E D A K T I O N S L E I T U N G ( V. I . S . D. P. ) :

Christiane Löll (Text), Andreas Pufal (Visual Director)

T E X T R E D A K T I O N : Jan Berndorff (frei), Tilman Botzenhardt, Sarah Langer,

Torben Müller (frei), Caroline Ring (frei), Samuel Rieth,

Bertram Weiß

B I L D R E D A K T I O N : Camilla Ackermann, Simone Thürnau

GRAFIK: Anja Klingebiel, Jan Krummrey, Nele Wiewelhove

S C H L U S S R E D A K T I O N U N D V E R I F I K AT I O N :

Ute Wiemer (frei), Ricarda Gerhardt (frei)

V E R L A G S A N S C H R I F T:

PM Wissen Media GmbH, Infanteriestraße 11a, 80797München,

Tel.: 089/130699-0, Fax: 089/130699–100

Das nasse Wunderland GESCHÄFTSFÜHRER:

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Clemens Schüssler, Gerrit Klein

Dr. Regine Hahn

ÖKOSYSTEME Moore bergen nicht nur jahrtausen­ Gesamtleitung Media: Jessica Wygas
dealte Geheimnisse und bieten Lebensraum für Produktionsleitung Zeitschriften: Grit Häußler
seltene Pflanzen und Tiere: Sie spielen auch eine
Anzeigenleitung: Helmut Gassner, helmut.gassner@verlagshaus.de
Schlüsselrolle für den weltweiten Klimaschutz
Anzeigendisposition: Nelli Schulz, nelli.schulz@verlagshaus.de

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Druck: EDS, Passau

©2024 Alle Rechte vorbehalten.

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schriftlicher Zustimmung des Verlages. Der Export der Zeitschriften der

P.M.-Gruppe und deren Vertrieb im Ausland sind nur mit Genehmigung des Verlages statthaft.

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Autonomer Verkehr Ausgabe, der mit der Vorausgabe angekündigt wird. Die Mandatsreferenznummer ist die auf

dem Adressetikett eingedruckte Kundennummer.

MOBILITÄT Seit acht Monaten schon fahren füh­
rerlose Taxis durch San Francisco: Wann kommt der
weltweite Durchbruch der Technik? Und welche
Probleme sind davor noch zu lösen?
 P.M. TIERLEBEN FOLGE 118
DER EREMIT
O S M O D E R M A E R E M I TA
Uralte Baumriesen dienen dem Käfer in Mitteleuropa als Wohnstatt: Eichen,
Linden und andere Laubbäume, in deren Holzhöhlen er sich einrichtet. Wo er
aufkreuzt, ist klar: Dieser Baum oder Wald ist urwüchsig und wertvoll
TEXT: CAROLINE RING
KONTEMPLATION
Als »Juchtenkäfer«
erlangte er 2013 Be-
rühmtheit: Seine ver-
mutete Anwesenheit in
damit unantastbaren
Bäumen blockierte den
Neubau des Stuttgar-
ter Hauptbahnfhofs.
98 P.M. 04/2024
TRANSFORMATION
Das Dasein als Käfer
ist kurz. Nur Wochen
bis wenige Monate lebt
das Tier in dieser Ge-
stalt; drei bis vier Jahre
hingegen verbringt es
als Raupe im weichen
Holz eines Baumes.
REFUGIUM
Lediglich 15 Prozent
verlassen je ihren
Brutbaum, oft findet
ein Käferleben nur in
einer Höhle statt. Eher
verraten Käferkörper-
teile und Larvenköttel
seine Existenz.
EINSIEDELEI ERKENNTNIS PILGERWEG
Selbst wenn er nicht Männchen verströmen Der Käfer hat zwar
eremitisch lebt, tut es einen aprikosenartigen ­Flügel, nutzt sie aber
zumindest seine Art: Duft, den auch Men- wenig. Nur selten
Aufeinanderfolgende schen riechen können. ­beträgt sein Aktivitäts-
Generationen bewoh- Er soll Weibchen anlo- radius mehr als 200
FOTO: MAURITIUS IMAGES
nen über Jahrzehnte, cken – weist aber auch Meter, in absoluten
wenn nicht Jahrhunder- Konkurrenten den Weg Ausnahmen auch mal
te denselben Baum. zu gutem Wohnraum. ein oder zwei Kilometer.
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