NEUGIERIG AUF MORGEN

P. M .
03/2024
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MEDIZIN
Eine rätselhafte Schicht
schützt das Gehirn

KRIMINALISTIK
Wie Pollen bei der
Verbrecherjagd helfen

RAUMFAHRT
Hubschrauber auf
Mission im All

MAT H EMAT I K, P HYS I K U N D P H I LOSO P H I E

www.pm-wissen.com

Das Geheimnis
DER NULL
03

4 190584 405202

und wie das NICHTS die Wissenschaft prägt

I DIE WELT ERKUNDEN,
WISSEN VERTIEFEN

?
F E B R UA R 2 0 2 4

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NAT IONA L GEO GR A PH IC

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dünnem Eis
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FEBRUAR 2024

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 EDITORIAL

Alle Welten,
alle Zeiten
Liebe Leserin, lieber Leser,
der Platz in einem gedruckten Magazin
wie P.M. ist endlich. Wir können 100 Sei-
ten füllen, die wir nach journalistischen
Kriterien auswählen: Was ist relevant?
Was können wir belegen? Wo können wir
Ihnen etwas zeigen, was Sie noch nie ge-
sehen haben? Wo etwas erklären, was wir
auch gerade erst neu gelernt haben?
Bei der Recherche passiert es mir oft,
dass sich eine Frage nach der anderen
Christiane Löll, auftut, dass ich Antworten finde – nur um
Redaktionsleitung dann neue Fragen im Kopf zu haben. So
ging es mir auch, als ich den kurzen Text
eines Redaktionskollegen gegenlas zur
»Goldenen Platte« auf den Voyager-
Sonden, die seit 1977 im Weltall unterwegs
sind (S. 89). Die Nasa schickte die Platten
mit, um potenziellen Außerirdischen
Wissen über die Menschheit zu vermit-
teln, und versah sie mit Geräuschen, mit
Grußworten und 27 Musikstücken.
Hmh, 27. Was wohl dazugehört? Die
Liste fand ich schnell hinter dem Link
https://voyager.jpl.nasa.gov/golden-record/
whats-on-the-record/music/. Dann Verwun-
derung: keine Beatles, kein Elvis, der nur
wenige Tage vor dem Start der Sonden
starb, aber Chuck Berry? Wie kam das?
Wer hat da die Auswahl getroffen?
FOTO: ANDREAS PUFAL
­ usic – all worlds, all times«. Was mich zu
m
dem Gedanken führte: Das passt ja per-
fekt zu P.M. – denn wir bieten Ihnen The-
men aus allen Welten und allen Zeiten.
In dieser Ausgabe ergründen wir die
Geschichte der Entstehung der Zahl Null
und sogar das Nichts (S. 16). Wir nehmen
Sie mit in die Tiefen der Erdschichten und
bieten Ihnen eine Strecke über Bohr­
löcher (S. 58). Wir berichten aber auch
über Grenzen, nämlich über ein Gefäß-
system im Gehirn, das unser wichtiges
Organ schützt (S. 68).
Und natürlich stellte sich mir die Fra-
ge: Wenn ich entscheiden dürfte – wel-
chen Song würde ich ins All schicken?
Wahrscheinlich »Learn to Fly« von den
Foo Fighters. Aber interessanter finde ich
gerade: Welches Musikstück würden un-
sere Leserinnen und Leser küren? Viel-
leicht haben Sie ja Lust und Zeit, uns das
zu schreiben, an unsere neue Adresse
pm-redaktion@verlagshaus.de. Dann
könnten wir eine Playlist machen … So
lange wünsche ich Ihnen eine spannende
Lektüre mit Ihrem P.M.-Magazin!
Mit herzlichen Grüßen

Ein Klick auf einen Link neben der

Mehr als 430 spannende
Wissens­themen zum Hören
finden Sie im P.M.-Podcast
»Schneller schlau«.
Musikliste zum »Making Of« der Golde-
nen Platte zeigt: leider keine Infos über
den Auswahlprozess. Aber zum Satz, der
eingraviert wurde: »To the makers of Christiane Löll

03/2024 P.M. 3
 MÄRZ 2024

50
In vielen Städten wird erbittert über
den richtigen Umgang mit eingewanderten
Nilgänsen gestritten. Was ist die Lösung?

16
T I T E LT H E M A .
DIE ENTDECKUNG DER NULL
Völlige Leere: Diese Idee warlange tabu in unserer Kultur.
Es dauerte Jahrtausende, bis Denker es wagten, sich das
Nichts vorzustellen – und die Null als nützliches
Zeichen in der Mathematik erkannten

34
Multikopter auf Mission im Weltraum

68
80
Die Raumsonden Voyager 1 und 2 sind fast ein
halbes Jahrhundert unterwegs – und senden
Wie sich das Gehirn schützt immer noch Signale. Wie gelang dieser Erfolg?

4 P.M. 03/2024
 INHALT
ALPHA

8 DAS BESTE VON HEUTE UND MORGEN

Neues aus den Laboren der Welt · Wissen in
einer Minute · Faktencheck: Richtig oder
falsch? · Psycho-Test: Wie tickt der Mensch?

TECHNIK & FORSCHUNG

42 WINZIGE EISBRECHER IN GRÖNLAND

Auf Expedition mit Polarforschern: Warum
kleine Algen die Gletscher schmelzen lassen
58 DIE TIEFSTEN LÖCHER DER ERDE
Spezialisten versuchen, Rekorde zu brechen:
Wie weit können sie in den Planeten bohren?
68 EIN WUNDERSAMER SCHUTZ
F O T O S : U N D I L L U S T R AT I O N E N D I E S E S E I T E : M A U R I T I U S ( 2 ) , N A S A , G E T T Y I M A G E S , S C I E N C E P H O T O L I B R A RY , A KG I M A G E S , T I M K A LV E L A G E
Wie Mediziner die rätselhafte »Blut-Hirn-
Schranke« entschlüsseln und nutzen

VISIONEN & IDEEN

28 DIE POLLENDETEKTIVIN
Eine Kriminalbiologin erklärt, weshalb winzige
Körnchen so verräterisch sein können

42
34 ROTOREN STATT ROVER
Wie in Zukunft Helikopter helfen sollen,
fremde Welten im All zu erforschen

GRENZBEREICHE & GEHEIMNISSE

Forschende wollen besser verstehen, warum
mikroskopische Algen das Eis von Grönland 16 DAS GEHEIMNIS DER NULL
erobern – und allmählich zerstören Kleiner Kringel, große Wirkung: Warum das
Zeichen für das Nichts für uns so wichtig ist
50 NEUE TIERE IN DER STADT
Nil- und Kanadagänse erobern unsere Parks:
Gelingt das Miteinander von Mensch und Tier?
80 DIE LANGE REISE DER VOYAGER-SONDEN
Zwei Sonden jenseits des Sonnensystems: Die
C O V E R I L L U S T R AT I O N : A N D R E A S P U F A L / M I D J O U R N E Y ( K I )

Chronologie eines erstaunlichen Erfolgs

RUBRIKEN
3 Editorial
6 Zitate
7 Zuschriften
48 Wie jetzt? Mehr Wissen mit »Schneller schlau«
78 Neue Games
79 Neue Bücher
92 Bükers Testgelände: Supraleitung

28 94
96
Rätsel
Vorschau/Impressum
Flüchtig, aber verräterisch: Blütenpollen in der Kriminalistik 98 P.M. Tierleben: Schnabeltier
Alle Coverthemen sind rot markiert.

03/2024 P.M. 5
 ZITATE

»Um zu überleben, »Mit der Macht

brauchen wir kann man nicht
Fantasie. Die Realität flirten, man muss
ist sonst sie heiraten.«
zu kompliziert.« André Malraux (1901–1976),
LAdy Gaga (*1986), französischer Schriftsteller
US-amerikanische Sängerin Eingesandt von
Eingesandt von Theresa Schnell, per E-Mail Christian Gabriel, E-Mail

Ephraim Kishon schrieb viele Kurzgeschichten

Der Mensch bringt sogar die Wüsten

zum Blühen. Die einzige Wüste,
die ihm noch Widerstand leistet,
befindet sich in seinem Kopf.
Ephraim Kishon (1924–2005)
israelischer Schriftsteller und Satiriker
Eingesandt von
»Mehr als das Gold Volker Feldbusch, Heiligenhaus
»Es gibt kaum etwas, das
hat das Blei nicht jemand ein wenig
die Welt verändert. »Vertrauen schlechter machen und etwas
billiger verkaufen könnte,
Und mehr als zu genießen ist und die Menschen, die sich
das Blei in der Flinte ein größeres nur am Preis orientieren,
das im Kompliment, als geliebt werden die gerechte Beute
Setzkasten.« zu werden.« solcher Machenschaften.«
Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), George MacDonald (1824–1905), JOhn Ruskin (1819–1900)
deutscher Physiker schottischer Schriftsteller britischer Sozialreformer
Aus der Redaktion Aus der Redaktion Eingesandt von Peter Berchtold, Pettnau (A)
FOTO: ISOLDE OHLBAUM/LAIF

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6 P.M. 03 /2024

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P.M. 02/2024
Titelgeschichte/Stahlproduktion
So wird der Stahl grün
Als langjähriger Leser und
Abonnent bin ich nach wie
vor begeistert von der Aktua-
lität Ihrer Zeitschrift, die ich
nicht nur nach Gebrauch
gern an Familie und im
Freundeskreis weitergebe,
sondern auch allseits weiter-
empfehle!
Heinz-H. Berg, via E-Mail
Da scheint sich ein Rechen-
fehler eingeschlichen zu
haben, auf Seite 25. Wenn
ThyssenKrupp ca. elf Millio-
nen Tonnen Stahl pro Jahr
herstellt, und das mit nur
neun eigenen Hochöfen (27
Millionen Tonnen mit 13
Hochöfen in Deutschland mit
allen anderen zusammen,
Stand 2022), dann ist die
Angabe von 1,5 Tonnen pro
Jahr, 1/3 der Produktion eines
»alten« Hochofens, wohl
falsch? Und noch was: Wenn
H2 in der geforderten Menge
durch Elektrolyse gewonnen
werden soll, dann braucht
Kommen Sie in Kontakt mit der Redaktion:
P.M. Magazin, Virchowstaße 65b, 22767 Hamburg
pm-redaktion@verlagshaus.de
facebook.com/PMOnline
man dazu sehr viel Wasser
(und sehr viel Elektroener-
gie). Und auch das wäre dann
ein Eingriff in die Natur!
P. Krisch, via E-Mail
Lieber Herr Krisch, haben Sie
Dank für Ihren Brief und die
Anmerkung. Es muss 1,5 Millio-
nen Tonnen pro Jahr heißen. In
einer unserer Korrekturschleifen
ist das leider untergegangen. Wir
bitten, diesen Fehler zu entschul-
digen.
Die Redaktion
Seit einiger Zeit stellt sich
mir die Frage: Soll ich P.M.
noch lesen? Nicht dass die
Themenauswahl unbefriedi-
gend wäre oder der Stil mir
nicht gefällt.
Immer häufiger stelle ich
fest, dass ich ganze Artikel
nicht mehr lese oder mich
bei der Lektüre ärgere.
Das hat offenbar diese
Gründe: Immer wieder wird
über Entdeckungen berich-
tet, die bahnbrechend für die
Menschheit sein könnten,
Bakterien, die Plastik fressen;
Alle Themen bis 2023 finden Sie
in unseren P.M. Jahresregistern:
www.pm-wissen.com/
p-m-jahresregister
ZUSCHRIFTEN
Algen, die unendlich viel
Energie produzieren usw.
Etwa zwei Jahre danach liest
man, dass ein Start-up oder
ein Institut eine Versuchsan-
lage zum Laufen gebracht
hat, aber die Kosten viel zu
hoch sind. In der Regel
kommt dann nichts mehr.
Dazu passt dann der Artikel
»Grüner Stahl«: Kein Unter-
nehmen wird freiwillig in
diese Technologien investie-
ren. Das lässt man sich vom
Staat finanzieren. Und wenn
später das Produkt am Welt-
markt zu teuer ist, wird noch
mal subventioniert. Je länger
ich darüber nachdenke
glaube ich, dass ich P.M. nur
noch lese, aus Angst die
Rettung der Menschheit zu
verpassen. Aber vielleicht
kommt die nicht mehr.
Martin Leuchter, via E-Mail
Alpha
Richtig oder falsch?
In der Rubrik schreiben Sie
über den Satz des Pythagoras
a² + b² = c². Das ist falsch. Hier
ist die Formel für den Satz
angegeben. Der Satz heißt:
Die Summe der Katheden-
quadrate entspricht dem
Hypotenusenquadrat.
Klaus Schulte, via E-Mail
Lieber Herr Schulte, Danke
Ihnen! Sie haben recht!
Die Redaktion
Die Redaktion behält sich vor,
­Zuschriften zu kürzen.
03/2024 P.M. 7
 ALPHA

8 P.M. 03/2024
 Der Weg der Flocken
PHYSIK US-Forschende der University of Utah
haben analysiert, wie Schneeflocken fallen. Das
hat nicht nur Einfluss auf ihre Form, sondern auch
auf das Wetter und letztlich auf das Klima: Den
Weg der Flocken genau zu kennen kann daher
präzisere Prognosen ermöglichen. Um die Kristalle
zu verfolgen, rüsteten die Forschenden ein
sogenanntes Distrometer, mit dem man Nieder-
schlagsmenge und -art misst, mit Kamera und
Laser aus (siehe Bild oben). So konnten sie
einzelne Flocken verfolgen (das große Bild zeigt
Aufnahmen verschieden großer, aus mehreren
Eiskristallen bestehender Flocken im freien Fall).
Nach einer halben Million Messungen stellten
sie fest, dass die Flocken zwar alle andere Wege
nehmen und daher keine zwei identisch aussehen.
Aber ihre Abwärtsbeschleunigung ist immer
gleich: mit dem Exponenten 1,5. Das Ergebnis
überraschte die Forschenden – und kann helfen,
zukünftig bessere Wettermodelle zu entwickeln.

F O T O S : T I M G A R R E T T , U N I V E R S I T Y O F U TA H ( 2 ) 03/2024 P.M. 9
 ALPHA

Mehr zum Schutz vor

Gammastrahlung
finden Sie online als
Video: pm-wissen.
com/strahlenschutz
(oder den QR-Code
scannen)

P.M. Wissen bei

Sicherheitsgurt gegen Gammastrahlen

TECHNIK Gammastrahlen, wie sie im Welt-
raum oder in Atomkraftwerken beim radioak-
tiven Zerfall entstehen, enthalten viel mehr
Energie als andere elektromagnetische Wellen
und dringen durch jedes Material. Dabei
können sie Elektronen aus Atomen schlagen,
sie also ionisieren. Im Körper von Lebewesen
kann das Krebs auslösen.
Nur wenige Materialien können Gam-
mastrahlen abschirmen, wenn sie nicht
meterdick sind. Und dann sind sie sehr dicht
und schwer – Blei etwa. Schutzkleidung ist
daher schwer zu entwickeln. Das israelische
Start-up StemRad hat sich des Problems
angenommen. Für Arbeiten etwa in verstrahl-
Österreich
tem Gelände hat es spezielle Bleigürtel donnerstags, 20.15 Uhr
entwickelt. Die Idee dahinter: Der Gürtel ist
leichter und flexibler tragbar als ein komplet-
ter Anzug aus Blei, schützt aber das Knochen-
mark, das vornehmlich in den Hüftknochen
sitzt. Denn darin werden Stammzellen
produziert, mit denen der Körper strahlen­
geschädigte Zellen anderswo im Körper
erset­zen kann. Um das Gewicht des Gürtels
auf 15 Kilo zu beschränken und ihn
flexibel zu halten, wechseln sich dünne
Bleiplatten mit Schichten aus Teflon ab,
eingefasst durch ein Geschirr aus Stoff.

Moderator Gernot Grömer

Durchbruch für CRISPR-Gentherapie

MEDIZIN Vor allem zur Behandlung
von Erbkrankheiten gilt die Genschere
CRISPR/Cas als Hoffnungsträger: Mit der
Technik lassen sich Gene präzise verän-
dern und etwa fehlerhafte Abschnitte im
Erbgut ersetzen. Nun wurden in den USA
und in Großbritannien erstmals derarti-
ge Therapien zum Einsatz bei Blutkrank-
heiten zugelassen, auch in der EU hat die
zuständige Behörde die Zulassung
empfohlen. Es geht vor allem um die
Sichelzellenanämie, bei der rote Blutkör-
perchen durch einen Erbfehler sichel­
förmig und starr statt rund und flexibel
sind. Dadurch können sie in dünnen
Gefäßen steckenbleiben, unerträgliche
Schmerzen verursachen und Infarkte
auslösen. In klinischen Studien blieben
19 von 20 mit der Genschere behandelte
Probanden schmerzfrei.

10 P.M. 03/2024
Saurierbaby als Selbstversorger
PALÄONTOLOGIE Wurden junge Raubsaurier gefüttert oder mussten sie
ihre Nahrung selbst erbeuten? Die Frage stellen sich Fachleute schon
WISSEN
in e
­ iner Minute
lange. Nun hat ein kanadisches Forschungsteam einen starken Hinweis FOLGE 102: ELECTRONEMA
dafür gefunden, dass die Kleinen nach dem Schlupf auf sich allein gestellt
waren – ähnlich wie das heute etwa bei Krokodilen der Fall ist.
Die Forschenden analysierten versteinerte Überreste eines Jungtiers IST DAS WOMÖGLICH EINE NEUE
der Tyrannosauriden-Art Gorgosaurus libratus, das vor rund 75 Millionen CYBER-SUPERHELDIN?
Jahren lebte. Die dem Tyrannosaurus Rex ähnlichen Raubsaurier wurden In gewisser Hinsicht ist das sogar
bis zu sechs Tonnen schwer und zwölf Meter lang. Das Fossil des Jungtiers korrekt. Candidatus Electronema,
ist so gut erhalten, dass sich auch der Mageninhalt rekonstruieren ließ. so der vollständige Name, ist ein
Demnach hatte es zuletzt zwei kleine, vogelähnliche Oviraptoren von je sogenanntes Kabelbakterium und wurde
rund zehn Kilogramm verspeist. Mit solch kleiner Beute hätten sich kürzlich zur Mikrobe des Jahres gekürt.
ausgewachsene Elterntiere wohl nicht abgegeben. Ihre Opfer waren meist
große Pflanzenfresser. Wäre das Jungtier gefüttert worden, hätte man e­ her WAS KANN DIESER MIKROORGANIS-
Teile solch großer Arten finden müssen. Die Oviraptoren hat der Jungsau- MUS DENN SO GROSSARTIGES?
rier also wohl eigenständig erlegt – kurz vor seinem Tod. Das nur knapp über einen
Mikrometer kleine Bakterium
enthält Proteinfasern, die Strom
leiten. Daher der elektrisch klingende
Name. Forschende hoffen, dass sie daraus
in Zukunft biologisch abbaubare
Stromkabel fertigen können.

FUNKTIONIERT DAS DENN?

Tatsächlich haben sie bereits eine
immerhin fünf Zentimeter lange
Kette aus Zehntausenden dieser
Bakterien gebildet. Die Proteinfasern in
den Zellhüllen verbanden sich und konnten
Strom von einem Ende der Kette zum
anderen leiten. Aber die Mikroben können
noch mehr.

WAS DENN NOCH?

Miteinander verkettete Kabelbak-
terien können Sulfide auch in
tiefem Sediment abbauen, wo der
dafür nötige Sauerstoff sonst fehlt. Dabei
regen sie zudem andere Mikroben etwa in
überdüngten Gewässern an, ebenfalls
aktiv zu werden und Schadstoffe zu
zersetzen. Kabelbakterien werden daher
auch bei der Wiederaufbereitung von
Gewässern getestet. Zudem könnten sie
Darla Zelenitsky (l.) und François Therrien mit Treibhausgase im Reisanbau reduzieren:
dem untersuchten Raubsaurier-Fossil: Grün Im Wurzelbereich der Pflanzen angesie-
und blau gefärbt sind die Knochen der zwei
verspeisten Oviraptoren (kl. Bild)
delt, verringern sie deren Methanemissio-
nen um mehr als 90 Prozent.

F O T O S : S E R V U S T V / B I L D E R F E S T , F L O R I A N V O G G E N E D E R , S C I E N C E P H O T O L I B R A RY , D PA / R OYA L T Y R R E L L M U S E U M O F PA L A E O N T O L O G Y ( 2 ) 03/2024 P.M. 11

 ALPHA

Windspiel auf
hoher See
TECHNIK In tiefem Wasser kön-
nen Windkraftwerke nur schwim-
­mend installiert werden. Der
Schwerpunkt herkömmlicher
Anlagen liegt oben in der Gon-
del: Sie benötigen dann enorme
Gegengewichte oder riesige
Pontons, damit sie nicht umfal-
len. Anders das Modell eines
norwegischen Start-ups: Hier
drehen sich zwei Rotoren gegen-
läufig um den Mast selbst. Das
stabilisiert die Anlage und er-
möglicht es, den Generator und
damit den Schwerpunkt unter
Wasser zu verlegen. Das Kraft-
werk taumelt im Wind, stellt sich
aber von selbst wieder auf. Ein
erster Prototyp soll nun im Meer
vor Norwegen getestet werden.

Muss ich den kennen?

BENEDIKT DISTL,
MATERIALFORSCHER
WER IST DAS?
Benedikt Distl promovierte
2023 am Max-Planck-Institut
für Eisenforschung in Düssel-
dorf mit einer Arbeit über
ANGEPASST FÜR DEN GEFÄLLIGEN ANBLICK Phasengleichgewichte von
Fast alle Haushunde haben braune Augen. Warum? Titanaluminid-Legierungen
Tests mit Fotos zeigen: Auf Menschen wirkt die Farbe (TiAl).
freundlicher als die gelblichen Augen der Wölfe, also
der Haushund-Urväter. Das Braun ist angezüchtet.
WOZU IST DAS GUT?
Turbinenteile aus TiAl-Legie-
rungen können in Flugzeug-
triebwerken viel Treibstoff
einsparen, weil sie deutlich
leichter sind als die im Turbi-
nenbau üblichen Nickelba-
sis-Legierungen. Jedoch ist
das Material nicht so hitzebe-
ständig. Distl hat Grundlagen
geschaffen, um durch eine

12 P.M. 03/2024
 Richtig oder falsch?
BEIDE NASENLÖCHER RIECHEN DAS Überleben in Europa vorteilhaft waren,
GLEICHE haben sie sich durchgesetzt. US-For-
›FALSCH Genau genommen riecht schende ermittelten nun, dass unter
jedes Nasenloch für sich und sogar leicht diesen Genabschnitten viele den Bio-
zeitversetzt. Forschende verfolgten bei rhythmus steuern. Der war beim Nean-
zehn Epilepsiepatienten, deren Hirn- dertaler wohl anders als beim modernen
ströme mit implantierten Elektroden Menschen: Er stand früher auf, und
abgenommen wurden, wie ihr Denk­ seine innere Uhr lief etwas schneller. Die
organ Gerüche verarbeitete, wenn man Fachleute vermuten, dass dies in höhe-
damit beide oder nur eines der Nasen­ ren Breiten dabei half, sich an die ver-
löcher bedampfte. Ergebnis: Jedes schiedenen Tageslängen anzupassen.
­Nasenloch löste mit seinen Riechzellen
einen eigenen Schwall von Aktivität ­ WORKAHOLICS LIEBEN IHRE ARBEIT
› FALSCH
Vermehrter
im Riech-Kortex des Gehirns aus. Wenn Eine italienische Studie zeigt:
beide Seiten dasselbe rochen, kamen Die Stimmung von Arbeitssüchtigen ist

Verzicht auf
die zwei Signale um Millisekunden im Durchschnitt insgesamt schlechter als
versetzt im Gehirn an. Die ausgelösten die anderer Menschen. Und zwar auch

Bestäuber
Aktivitätsmuster ähnelten sich stark, dann, wenn sie arbeiten. In dieser Hin-
waren aber nicht gleich. sicht ist ihre Sucht der Untersuchung
zufolge ähnlich wie jene von Spielern
NEANDERTALER WAREN oder Alkoholkranken: Nach anfänglicher BOTANIK Eine Studie an
MORGENMENSCHEN Euphorie fühlen Betroffene sich auf Ackerveilchen nahe Paris
›RICHTIG Etwa zwei Prozent unseres Dauer auch dann nicht mehr gut, wenn zeigt: Die Blumen produzie-
Erbguts stammen ursprünglich vom sie ihrer Sucht nachgehen. Psychologi- ren deutlich kleinere Blüten
Neandertaler. Sie gingen in unser Ge- sche Tests mit Arbeitssüchtigen ergaben und weniger Nektar als noch
nom über, als sich unsere Vorfahren vor außerdem, dass sie wie andere Süchtige vor 20 bis 30 Jahren. Und: Sie
langer Zeit auch mit Neandertalern emotional abstumpfen. Und: Frauen locken auch weniger Insek-
paarten. Weil einige dieser Gene für das sind stärker betroffen als Männer. ten an. Stattdessen gehen sie
vermehrt dazu über, sich
selbst zu bestäuben.
Das können viele Blüten-
pflanzen, doch es ist eigent-
lich nur ein Notbehelf, weil
veränderte Zusammenset- zurückgreifen, wenn sie es auf Dauer die genetische
zung die Hitzebeständigkeit Materialien entwickeln. Variabilität einschränkt und
zu erhöhen. So könnten mehr damit die Fähigkeit, auf
Turbinenschaufeln auch in WIE GEHT ES WEITER? Umwelteinflüsse zu reagie-
Bereichen von über 800 Grad Seit November 2022 ist Distl ren. Motor der Entwicklung
Celsius aus TiAl bestehen. Entwicklungsingenieur beim ist das verbreitete Insekten­
österreichischen Unterneh- sterben infolge der Intensiv-
WIRD DAS UMGESETZT? men Plansee, das Produkte landwirtschaft: Dadurch
Distls Resultate können schon aus Hochleistungswerkstoffen fehlt es den Pflanzen an
jetzt genutzt werden: Sie sind herstellt. Derzeit arbeitet er Bestäubern, und so sind sie
in der Thermo-Calc-Werk- am Einsatz von 3-D-Druck für gezwungen, sich umzustel-
stoff-Datenbank hinterlegt, die Metalle Molybdän und len. Was eine Art Teufelskreis
auf die viele Ingenieure Wolfram. auslösen kann, denn weniger
Nektar lockt wiederum
weniger Insekten an.

F O T O S U N D I L L U S T R AT I O N E N : W O R L D W I D E W I N D , M A U R I T I U S I M A G E S , D PA P I C T U R E - A L L I A N C E , P R I VAT 03/2024 P.M. 13

 ALPHA

Wie tickt der Mensch?

P.M. stellt Experimente der Psychologie vor.
Bevor Sie die Lösung lesen: Überlegen Sie selbst –
und testen Sie Ihren Menschenverstand
FOLGE 79 Sind wir intelligenter, wenn wir gut drauf sind?

Alltagserfahrung kann mitunter Leben spazieren. Aber welches

eine ganze Menge über Psychologie Urteil fällt wohl die Wissenschaft?

Schwanger ohne
verraten. Man sagt zum Beispiel: Machen uns gute Gefühle eher
„Angst macht dumm“ – was klüger – oder gerade nicht?

Übelkeit
wahrscheinlich jeder bestätigen Finden Sie die richtige Antwort:
kann, der schon einmal in einer A Es gibt keinen allgemeinen
wichtigen Prüfung einen Blackout Zusammenhang zwischen guter
erlitten hat. Aber umgekehrt legt Laune und Intelligenz. MEDIZIN Forschende in Freiburg haben
eine alte Alltagsweisheit auch nahe, B Ganz klar: Wer gut drauf ist, ein Hormon namens GDF15 (oben eine
dass wir die entscheidenden Fehler kann auch besser denken. schematische Darstellung) als Ursache
gerade dann begehen, wenn wir C Jede Art emotionaler Einfluss für Schwangerschaftsübelkeit identifi-
allzu frohgemut und sorglos durchs macht uns dümmer. ziert. Bis zu drei Prozent der werdenden
Mütter leiden darunter so stark, dass we-
DIE LÖSUNG Die Sache ist selbst dann kompliziert, wenn man sich dabei nur auf gen häufigen Erbrechens Flüssigkeits-
das Arbeitsgedächtnis beschränkt, also die Frage, wie gut wir uns eine Telefon­ und Nährstoffmangel droht. Meist haben
nummer merken können. Bei manchen Studien wurde das Arbeitsgedächtnis bes­ sie ursprünglich einen sehr niedrigen
ser, wenn wir gute Laune haben. Andere zeigten das glatte Gegenteil – zumindest Spiegel des Hormons und vertragen den
bei einem Teil der Versuchsteilnehmenden. Eine neue Übersichtsstudie von der dann starken GDF15-Anstieg während der
Humboldt-Universität zu Berlin hat in der Sache jetzt ein Machtwort gesprochen: Schwangerschaft nicht. Zukünftig könn-
Positive Emotionen scheinen unser Arbeitsgedächtnis unterm Strich nicht systema­ ten Frauen mit niedrigem GDF15-Spiegel,

I L L U S T R AT I O N : V I E D O S T I L L : U N I V E R S I T Y O F T E C H N O L O G Y SY D N E Y , M A U R I T I U S I M A G E S
tisch besser oder schlechter zu machen. Antwort A ist also richtig. die ein Kind planen, durch vorbeugende
Zugabe des Hormons sanft an einen hö-
heren Spiegel gewöhnt werden.

Lesbare Gedanken
NEUROLOGIE Australische Forschende haben einen Apparat
entwickelt, der Gedanken in Text übersetzt. Dafür werden die
Gehirnströme mit einer Elektrodenhaube aufgezeichnet und
durch ein KI-Modell namens DeWave in Text umgewandelt.
Zwar ist das Resultat bislang nur etwa zur Hälfte richtig.
Aber das ist um Längen besser als bisherige Versuche ohne KI.
Trainiert wurde das KI-Modell mit zahllosen Textbeispielen,
sodass es lernte, welche Hirnstrommuster mit welchen Worten
einhergehen. Mit weiteren Verbesserungen, so die Hoffnung,
könnte die Technik zukünftig Menschen helfen, die ihr Sprech-
vermögen etwa durch einen Hirnschlag verloren haben.

14 P.M. 03/2024
I MEHR BEWEGEN, BESSER ESSEN
GESUND BLEIBEN
NR. 16
N AT I O N A L G E O G R A P H I C S P E C I A L

ERNÄHRUNG
Mit Fasten besser
essen – und abnehmen

BEZIEHUNGEN
Wie Freunde
uns jung halten
Nr. 16

FORSCHUNG
Die Altersbremse
aus der Medizin

BEWEGUNG
Die Jugendkräfte
der Muskeln wecken J E T ZT
AM
KIOSK!

GESUND BLEIBEN,
LÄNGER LEBEN
Was Sie gleich tun können

16

NGS_0124_U1_U1.indd Alle Seiten 21.12.23 13:31

ODER TE STABO BE STELLEN UNTER

s h o p. n at i o n a l g e og ra p h i c .d e/s p e c i a l - te s te n
 GEHEIMNISSE | NULL UND NICHTS

E i n e U n h e i m l i
I L L U S T R AT I O N : S H U T T E R S T O C K

16 P.M. 03/2024
 Völlige Leere: diese Vorstellung war lange tabu
in unserer Kultur. Es dauerte Jahrtausende,
bis Gelehrte es wagten, sich das Nichts vorzustellen
– und die Null als nützliches Zeichen erkannten
T E X T : TO B I A S H Ü RT E R

c h e E r f i n d u n g

03/2024 P.M. 17
GEHEIMNISSE | NULL UND NICHTS

I L L U S T R AT I O N E N : D PA P I C T U R E - A L L I A N C E , S H U T T E R S T O C K , U L L S T E I N B I L D

Ein Schwarzes Loch

(hier eine Simulation)
gilt als Sinnbild des
Nichts. Doch Physiker
wissen: Sogar im Nichts
ist etwas

18 P.M. 03/2024
V or mehr als 2300 Jahren schuf ein unbekannter
Schreiber in Mesopotamien ein neues Zeichen: Er
drückte seinen Griffel zweimal schräg in den feuch­
ten Ton seiner Tafel. Er ahnte nicht, welche Karriere
diesem unscheinbaren Zeichen bevorstand. Es wür­
de um die ganze Welt gehen, den Handel revolutio­
nieren, die Mathematik und die Physik. Glaubens­
kriege würden darum entbrennen. Es war das erste
Zeichen für die Null.
Heute ist diese Zahl eine Selbstverständlichkeit.
Auf Geldscheinen erhöht sie den Wert, in Count­
downs signalisiert sie den Raketenstart, in Spieler­
gebnissen eine gute Torfrau. Jeder Computer rech­
net mit ihr, die Welt kommuniziert mit ihr. Die Null
Vor der Erfindung der
Rechenschieber halten
die Zahlen nicht ewig
ist eine der größten Erfindungen aller Zeiten.
Damals, in den Jahrtausenden vor Christus, wa­
ren die Sumerer die erste Hochkultur der Mensch­
heitsgeschichte. Sie bauten im Zweistromland Me­
sopotamien die ersten Städte und entwickelten ein
neues Wirtschaftssystem: Die Menschen lieferten
ihre Ernte und ihre Schlachttiere im Tempel ab, dort
wurde gesammelt und verteilt. So brauchten die Su­
merer eine Buchführung, um Schafe zu zählen. Sie
schufen ein geniales System, um große Zahlen auf­
zuschreiben, ein »Stellenwertsystem«, wie auch wir
es heute noch benutzen: In der 307 hat die Ziffer 3
einen anderen Wert als in der 37, weil sie eine Stelle
Das erste heute
bekannte Zeichen für
das Nichts entstand in
Mesopotamien. Es
sind verschiedene
Ausprägungen der
Keilschrift bekannt
Ziffern erdachte die
Menschheit den
Abakus. Auf dem
weiter steht, Hunderter statt Zehner. Nur dass die
Sumerer von einer Stelle zur nächsten nicht mal 10
nahmen, sondern mal 60, wie wir es heute noch auf
der Uhr tun: 60 Sekunden sind eine Minute, 60 Mi­
nuten eine Stunde.
Aber um die 307 von der 37 zu unterscheiden,
muss man irgendwie die Lücke zwischen 3 und 7
kennzeichnen. Dafür muss jener unbekannte
Schreiber auf das Zeichen für die Null gekommen
sein: als Platzhalter. Zwei Striche, gewaltige Wir­
kung: Mit solch einem Zahlensystem lässt sich wun­
derbar rechnen, indem man die Zahlen spaltenwei­
se untereinander schreibt, wie es Schulkinder
heute noch lernen.
A
uch die Griechen und Römer der Antike
hätten dieses großartige System lernen kön­
nen. Aber nein. Im 4. vorchristlichen Jahr­
hundert kam Alexander der Große auf einem Er­
oberungsfeldzug ins Zweistromland und hatte dort
Kontakt zu Kultur und Mathematik. Das Interesse
war: null. Griechen und Römer rechneten weiter in
ihren gewohnten, schwerfälligen Systemen. Römer
schrieben weiter XIV für die 14, das »X« für die Zehn,
das »V« für die Fünf, das »I« für eins weniger. Wer
ein Stellenwertsystem gewohnt ist und mal mit rö­
mischen Ziffern rechnet, will schnell zurück.
Warum dann verschmähten die Griechen und
Römer, die Begründer der europäischen Kultur, die
Null? Die Griechen waren eifrige Mathematiker, sie
wollten die Harmonie des Kosmos mit Zahlen und
Geometrie erkunden. Doch das Nichts und die Leere
waren ihnen unheimlich: ein Etwas, das nichts
03/2024 P.M. 19
GEHEIMNISSE | NULL UND NICHTS

Spektakuläres Experi-
ment: 1654 zeigte Otto
von Guericke mithilfe
einer Metallhülle,
welche Kraft dem ist – was für ein Widersinn! Aristoteles etwa hielt
Vakuum innewohnt nichts vom Nichts, weil es seinem Gedanken eines
»ersten Bewegers« widerspräche, einer göttlichen
Ursache für alles im Kosmos, die selbst keine Ursache
hat – ein Gedanke, der später in die christliche Got­
tesvorstellung floss. Die Römer hörten auf die Grie­
chen. Und so rechneten sie beide weiter ohne die
Null, bauten ohne sie ihre Aquädukte, verzichteten
auf die Null, wenn sie Sonnenfinsternisse vorausbe­
rechneten. Chance verpasst: Die Erfindung aus dem
Zweistromland hätte den Griechen und Römern zei­
gen können, wie mit dem Nichts zu rechnen ist. Bes­

Die Hauptkammer der

Versuchsanlage »Katrin«
bei Karlsruhe, zehn Meter
im Durchmesser, beher-
bergt das größte Vakuum
der Erde. Forschende ver-
suchen hier, die Masse von
Neutrinos zu bestimmen

FOTOS: GETTY MIAGES, MARKUS BREIG/KIT, BRIDGEMAN IMAGES

20 P.M. 03/2024

ser aufgenommen wurde die Null im Osten: in In­
dien. Dorthin wanderte sie aus dem Zweistromland
mit dem Handel. Sie half Kaufleuten bei der Buch­
haltung. Auch im Buddhismus und Hinduismus ist
die Leere nicht so verrufen wie bei den Griechen. Im
Gegenteil, Hindus und Buddhisten sehen in ihr eine
schöpferische Kraft: Raum für Neues. »Shunyata«
heißt sie in Sanskrit. Man kann sie sich denken wie
die Hülle einer Seifenblase, die das Nichts umfasst.
»Form ist nichts anderes als Leere, und Leere ist
nichts anderes als Form«, steht im Herz-Sutra, ei­
nem der wichtigsten Texte des Buddhismus.
Indische Gelehrte brachten
die Null zur Blüte. Die
Gestalt unseres Zeichens
geht auf sie zurück
In diesem Geist brachten indische Mathemati­
ker die Null zur Blüte. In ihren Händen wurde sie
von der bloßen Platzhalterin zur eigenständigen
Zahl. Der Mathematiker Brahmagupta schrieb im
Jahr 628 ein Buch namens »Brahmasphutasiddhan-
ta«, in dem er alle Rechenregeln für die Null formu­
lierte, zum Beispiel: »Wenn man zu einer Zahl null
addiert oder null von einer Zahl subtrahiert, bleibt
die Zahl unverändert; und wenn man eine Zahl mit
null multipliziert, wird sie selbst null.« Brahmagup­
ta fragte auch, was passiert, wenn man die Eins von
der Null abzieht – und entdeckte damit die negativen Der griechische Denker
Zahlen. Er hob die Mathematik auf eine ganz neue Parmenides aus Elea
Ebene der Abstraktion. (ca. 515–450 v. Chr.)
hielt nichts vom Nichts:
In Indien bekam die Null auch die Gestalt, die Es gebe nur Sein,
sie heute hat: Das Zeichen für Shunyata ist seit Jahr­ erklärte er
tausenden ein leerer Kringel. Aus ihm entwickelte
sich das Zeichen für die Null, das wir heute noch be­
nutzen: 0.
V
on Indien reiste die Null wieder gen Westen,
nach Arabien – wieder auf den Handelsrou­
ten. In der erblühenden islamischen Kultur
waren Kaufleute hoch angesehen. Mohammed, der
Prophet und Religionsstifter des Islam, war selbst
Handelsmann. Der arabische Mathematiker al-
Chwarizmi studierte das Zahlensystem der Inder.
Aus seinem Namen entstand später der Ausdruck
»Algorithmus«, der heute allgemein für Rechenpro­
zeduren steht. Er und andere Gelehrte schufen das
1945
arabische Ziffernsystem, mit dem wir noch heute
schreiben. Das arabische Wort »sifr« für die Null
steckt in der deutschen »Ziffer« und der englischen
»zero« (Null). Stunde Null
Das Rechenbuch des al-Chwarizmi erschien im Die Phase nach der
Jahr 825. Es wurde ins Lateinische übersetzt. Aber Kapitulation der
die europäischen Gelehrten wagten sich nur mit Wehrmacht am 8. Mai
größ­ter Vorsicht daran. Die Null und das Nichts gal­ 1945 kennen viele im
ten immer noch als Teufelszeug, als Fremdkörper in allgemeinen Sprach-
der göttlichen Ordnung. Das änderte sich erst mit gebrauch als »Stun-
dem Übergang des Mittelalters zur Renaissance im de Null« der deut-
13. Jahrhundert, als auch in Europa die Kaufleute an schen Geschichte
Einfluss und Ansehen gewannen – und sie, wie zu­- – als Chiffre für den
vor ihre Berufskollegen in Indien und Arabien, Neuanfang
03/2024 P.M. 21
GEHEIMNISSE | NULL UND NICHTS

erkannten, wie praktisch die Null und das Stellen­

Als die Kaufleute sahen,
wertsystem für die Buchführung sind. Endlich kam wie nützlich die Null war,
die Null auch in der europäischen Kultur an.
Der Mathematiker Fibonacci, Rechenmeister gewann sie rasch an
aus der Toskana, ging mutig voran. In seinem »Liber
Abaci« (Rechenbuch) beschrieb er im Jahr 1202 das
Bedeutung – trotz aller
indisch-arabische Zahlensystem samt der Null und philosophischer Bedenken
zeigte, wie man damit schnell und zuverlässig rech­
nen kann – besser als mit dem üblichen Abakus, dem
Rechenschieber, dessen Berechnungen schon ver­
schwinden, wenn man versehentlich dagegen stößt. ten einander ausbalancieren: die Bilanz. Saubere
Buchführung statt der vorher üblichen Zettelwirt­

A
ls die reichen Kaufleute sahen, wie nützlich
die Null war, gewann sie rasch und unauf­
haltsam an Bedeutung, trotz aller philoso­
phischen Bedenken. Die doppelte Buchführung
entstand, eine wunderbare Erfindung, mit der
Kaufleute sehen konnten, ob sie Gewinn oder Ver­
lust machen. Der Mönch Luca Pacioli erklärte sie im
Jahr 1494 in einem Buch: Man schreibt die Gewinne
in eine Spalte, »Haben«, und die Ausgaben in eine
Spalte daneben, »Soll«, und schaut, ob beide Spal­
schaft. Dabei tritt die Null ganz von selbst auf: als Ba­
lancepunkt zwischen Soll und Haben. »Ohne diese
Hilfe kann man schwer Handel treiben«, schrieb Pa­
cioli.
Die Null stand nun am Anfang der Zahlen, als
Keim, aus dem die unendliche Reihe der Zahlen
Die Menschheit brachte
Dutzende von numeri- sprießt. Sie war ein Geschenk für Mathematiker: Sie
schen Systemen fanden, dass Gleichungen sich viel leichter lösen
hervor, also Zeichen, lassen, wenn man sie auf die Form »… = 0« bringt –
welche Mengen »equations to nothing« nannte der schottische Ma­
repräsentieren. Nicht
alle davon enthalten
auch eine Null

B RAILLE - ZI F F E RN

I N DISCH - ARAB ISCH

DEVANAG ARI

I L L U S T R AT I O N E N : P S I Ĥ E D E L I S T O / W I K I M E D I A C O M M O N S , I N T E R F O T O
OSTARAB ISC H

Chinesisch
( Al ltag )

Chinesisch
( F inanzen)

KEINE RÖMISCH
NULL

22 P.M. 03/2024

thematiker John Napier diesen Trick. Mathematiker
begannen zu verstehen, dass die Null keineswegs die
Harmonie des Universums stört – im Gegenteil, sie
gehört zu dieser Harmonie.
D
och die Abneigung gegen das Nichts und die
Null steckte so tief im europäischen Denken,
dass der Widerstand gegen sie sich noch für
Jahrhunderte hielt. In manchen italienischen Städ­
ten war es in der Renaissance verboten, arabische
Ziffern in Verträge und offizielle Dokumente zu
schreiben. Der englische Mönch und Historiker Wil­
liam of Malmesbury nannte die Null »dangerous Sa­
racen magic«: gefährliche Sarazenen-Magie. Sein
Landsmann, der Dichter William Shakespeare,
nahm in mehreren seiner Theaterstücke das Kon­
zept der Null aufs Korn.
Die Protagonisten der Wissenschaft aber ließen
sich nicht mehr davon abhalten, die Kraft der Null
zu nutzen. Isaac Newton in England und Gottfried
Wilhelm Leibniz in Deutschland entwickelten um
das Jahr 1670 die Infinitesimalrechnung, um kom-
plizierte Bewegungen und Formen zu beschreiben.
Sie rechneten mit unendlich kleinen Größen. Der
Philosoph George Berkeley erklärte Newtons und
Darf man durch die Null teilen?
MATHEMATIK Es klingt wie ein willkürliches Verbot: Warum darf
man beim Rechnen nicht durch die Null teilen? Schließlich darf man
doch auch mal null nehmen. Doch das Verbot hat einen Grund.
Teilen (Division) bedeutet, zu ermitteln, wie oft eine Zahl (Divisor) in
eine andere Zahl (Dividend) passt. Etwa passt die 3 zweimal in die 6,
deshalb ist 6 geteilt durch 3 gleich 2. Wenn man aber versuchen
würde, 6 durch 0 zu teilen, müsste man fragen, wie oft die 0 in die 6
passt. Darauf gibt es keine Antwort. Es kommt nie eine Ziffer heraus,
wenn man eine Zahl mal 0 nimmt, sondern immer wieder 0. Logisch
also, dass man nicht durch null teilen darf. Es brauchte Jahrhunder-
te, bis sich das Rechnen mit Ziffern gegen das Rechnen mit dem
Abakus durchgesetzt hatte (hier ein Holzschnitt um 1520).
Leibniz’ Lehre in seinem Buch »The Analyst« für
Aberglaube.
Gegner und Verfechter der neuen Zahlen traten
sogar in Rechenwettbewerben gegeneinander an,
um zu ermitteln, wer recht hat. Auf der einen Seite
die »Abakisten«, die mit dem Abakus und römi­
schen Ziffern rechneten, ohne die Null. Auf der
anderen Seite die »Algoristen«, die schriftlich
rechneten, mit indisch-arabischen Ziffern und der
Null. Welche Seite konnte komplizierte Rechen­
03/2024 P.M. 23
GEHEIMNISSE | NULL UND NICHTS
Zeigen, was nicht ist
KUNST Wie stellt man das Nichts dar?
Erst spät in der Geschichte wagten
Künstlerinnen und Künstler sich an diese
Frage. Zu den ersten gehörte der
russische Avantgarde-Maler Kasimir
Malewitsch. Er malte im Jahr 1915 das
»Schwarze Quadrat« (unten), in dem er
versuchte, die Wirkung des Nichts zu
fassen, mit einer schwarzen Fläche mit
weißem Rahmen. Der US-amerikanische
Komponist John Cage schuf das Stück
»4’33’’«, uraufgeführt 1952, in dem für
vier Minuten und 33 Sekunden, eingeteilt
in drei Sätze, kein einziger hörbarer Ton
erklingt. Wer das Stück hört, kann erleben,
wie viel aus dieser Stille entsteht. Vom
italienischen Maler Salvatore Garau
stammt das Werk »Io sono« (Ich bin),
bestehend aus – gar nichts. Es wurde im
Jahr 2021 für 14 820 Euro versteigert.
24 P.M.
aufgaben schneller lösen? Die Abakisten hatten
Jahrhunderte Vorsprung an Übung. Doch die Algo­
risten gewannen schließlich. Kaufleute und Banki­
ers registrierten das Ergebnis mit Interesse – schnel­
les, zuverlässiges Rechnen war gut fürs Geschäft. Der Philosoph
Die Null zahlt sich aus. Gegen dieses Argument Jean-Paul Sartre
kamen auch Dogmatiker auf die Dauer nicht an. Als (1905–1980) sah die
sich in der Renaissance das Klima für neue Ideen Welt wie eine Insel im
ohnehin verbesserte, war der Weg zur Erforschung gewaltigen Meer des
des Nichts endlich frei. Der italienische Physiker Nichts, stets drohend,
und Mathematiker Evangelista Torricelli, ein Schü­ darin zu versinken.
ler von Galileo Galilei, stellte im Jahr 1643 das erste »Das Nichts sucht
künstliche Vakuum her. Am Ende einer mit Queck­ das Sein heim«,
silber gefüllten Glasröhre erzeugte er, was es nach schrieb er in seinem
der traditionellen Lehre nicht geben durfte: leeren dicken, schwer ver-
Raum. Der deutsche Gelehrte und Politiker Otto von ständlichen Haupt-
Guericke demonstrierte die Kraft des neu entdeck­ werk »Das Sein und
ten Vakuums im Jahr 1654 mit einem spektakulären das Nichts«
F O T O S : D PA P I C T U R E - A L L I A N C E ( 2 ) , G E T T Y I M A G E S
Versuch: Er spannte Pferde an abgedichtete Metall­
halbkugeln, aus denen er vorher die Luft abgesaugt
hatte. Der äußere Luftdruck auf die Kugeln war so
groß, dass es selbst einem Gespann mit 30 Tieren
nicht gelang, sie auseinanderzuziehen.
Null und Nichts um-
Heute ist es weithin üblich, das Vakuum tech­ weht ein Hauch des
nisch zu nutzen, in Pumpen, in Glühbirnen, in der Gespenstischen. Und
Pharmazie und der Lebensmitteltechnik zur Ge­ so erhielt auch der Ort,
friertrocknung. Manche Stromleitungen sind vaku­ an dem die Anschläge
des 11. Septembers
umisoliert. Die Herstellung heutiger Halbleiter- 2001 in New York
Elektronik geschieht im Vakuum, um die Bauteile geschahen, den Namen
vor Verunreinigung zu schützen. »Ground Zero«
Allerdings wissen Physiker heute, dass sich auch
im Vakuum etwas regt. Sogar das perfekte Vakuum,
so zeigt sich, enthält etwas. In der modernen Physik
ist »etwas« immer Energie. Auch Materie ist nichts
anderes als gefrorene Energie, das besagt Einsteins
berühmte Gleichung E=mc². Raum wäre wirklich
leer, wenn er keine Energie enthielte.

V
ersuchen wir also in Gedanken, ein Stück
Raum völlig zu entleeren, aus ihm alle Ener­
gie zu entfernen, dieses Stück Raum also in
seinen niedrigsten Energiezustand zu versetzen –
Physiker nennen ihn den Grund- oder Vakuumzu­
stand. An ei-nem bestimmten Punkt dieses Energie­
entzugs geschieht etwas Seltsames. Etwas, das
Physiker das »Higgs-Feld« nennen, taucht plötzlich
auf.
Dieses Higgs-Feld lässt sich dem Raum nicht
entziehen, weil sein Beitrag zur Gesamtenergie ne­
gativ ist. Es ist etwas, das weniger Energie als nichts
hat. Es ist begleitet von einem Gewusel »virtueller«
Teilchen, die auftauchen und wieder verschwinden.
Raum im Grundzustand ist also ein belebter Ort, wie
ein Flughafen zur Ferienzeit. Diese Erkenntnis der
Physik wirkt fast wie eine späte Bestätigung der öst­
lichen Sicht auf das Nichts. Die Leere als Ursprung:
als fruchtbarer, schöpferischer Ort. Das stimmt
auch für die Null. Ihre Kraft zeigt sich heute in al-
len elektronischen Rechenmaschinen, unseren
Smartphones, Tablets und Laptops, in der Elekt­

Das »Nichtige« entstand

als unvermeidlicher
Schatten, als böser
Zwilling des »Etwas«

03/2024 P.M. 25
 GEHEIMNISSE | NULL UND NICHTS
ronik aller Autos und Flugzeuge. Sie funktionieren
mit nur zwei Zahlen: 0, 1 – aus, ein. Nichts, etwas.
Alle Zahlen können in diesem binären System ge­
schrieben werden. Mit ihm können wir Information
durchs Internet schicken und blitzschnell rechnen.
Selbst das Gehirn funktioniert nach diesem Prinzip.
Doch noch immer umweht ein Hauch des Ge­
spenstischen das Nichts. »Ground Zero« ist der
Name des Ortes, an dem Unbegreifliches geschah:
Ohne Null undenkbar:
Auch Supercomputer die Anschläge des 11. Septembers 2001. Ähnlich wie
(hier am Großfor- der Gedanke an den Tod weckt das Nichts ein exis-
schungszentrum Cern)
beruhen auf einem
Binärcode aus 0 und 1
26 P.M. 03/2024
tenzielles Schaudern. In der christlich geprägten
Kultur hat es seine dunkle Aura behalten – ganz an­
ders als in östlichen Religionen, in denen es als
schöpferische Kraft gilt. Der Schweizer Theologe
Karl Barth (1886–1968) hielt das Nichts für das Böse
schlechthin. »Das Nichtige ist, was Gott nicht will«,
schrieb er. »Nur davon lebt es, dass es ist, was Gott
nicht will.« Das »Nichtige« entstand sozusagen als
unvermeidlicher Schatten mit, als Gott die Welt
schuf, als böser Zwilling des »Etwas«, unzertrenn­
lich, aber verfeindet. Das Nichtige bringt den Men­
F O T O S : S C I E N C E P H O T O L I B R A RY , D PA P I C T U R E - A L L I A N C E

Tobias Hürter
studierte Mathematik
und Philosophie. Als
Wissenschaftsjournalist
wagt er sich immer wie-
der an die Grenzen des
Denkens.
Das Nichts bietet
Raum für Fantasie.
Es weckt die Kraft,
Neues zu erschaffen
schen immer wieder von der göttlichen Güte ab.
Deshalb hielt Barth es für böse.
Der deutsche Philosoph Rudolf Carnap versuch­
te in den 1930er-Jahren zu zeigen, dass das Nichts
nur eine Illusion ist, die unsere Sprache uns vorgau­
kelt – mit ähnlichen Argumenten wie jenen, mit de­
nen einst die Philosophen des antiken Griechen­
lands die Existenz des Nichts bestritten. Der
Ausdruck »das Nichts« suggeriere, da sei etwas.
Doch da sei nichts. Folglich seien Aussagen, die die­
sen Ausdruck enthalten, sinnlos.
Z
u einem ähnlichen Schluss kam auch der Phi­
losoph Martin Heidegger, der viel über das
Nichts nachdachte. Ihm ging schon die For­
mulierung »Das Nichts ist …« zu weit, weil ja das
Nichts nichts Seiendes sei und nur das Seiende »ist«.
Heidegger er-kannte, dass unsere Sprache uns zwar
leichthin über Dinge reden lässt, die existieren,
aber nicht dafür geeignet ist, über nichts zu reden.
Heidegger schuf eine neue Sprache für das Nichts.
»Das Nichts nichtet«, sagte er zum Beispiel, was im­
mer er damit gemeint haben mag, und: »Das Nicht
entsteht nicht durch die Verneinung, sondern die
Verneinung gründet sich auf das Nicht, das dem
Nichten des Nichts entspringt.« Der von Heidegger
Das Nichts wird in der
Moderne immer wieder
zur Inspiration von
Literatur und Film, etwa
in »Die unendliche
Geschichte« (1984)
beeinflusste französische Philosoph Jean-Paul Sart­
re sah das Nichts unaufhaltsam in die Welt sickern
und Leid verursachen. Einmal, so erzählte er, habe
er in seinem Stammcafé, dem Café de Flore in Paris,
auf seinen Freund Pierre gewartet, mit dem er ver­
abredet gewesen sei. Um ihn herum klirrten die
Weingläser, das Geschirr klapperte, es wurde gere­
det, gerufen, gelacht und geraucht. Aber Pierre fehl­
te. Das Nichts hatte zugeschlagen. In der Fülle des
Lebens hatte sich eine Blase »neánt« gebildet.
Der 1979 erschienene Roman »Die unendliche
Geschichte« von Michael Ende liest sich wie eine
Ausmalung jenes Satzes von Sartre. Darin erzählt
der Autor vom fiktiven Reich Phantásien, in das sich
das Nichts immer weiter hineinfrisst. Die Welt droht
darin zu versinken.
Der junge Held Atréju zieht mit seinem Glücks­
drachen Fuchur aus, um sie zu retten. Die Rettung
besteht schließlich in der Erkenntnis, dass das
Nichts gar nicht so bedrohlich ist. Es ist Raum für
Fantasie, es weckt die Kraft, Neues zu schaffen. Das
ist die Geschichte der Null und des Nichts.
· VMeso
or mehr als 2300 Jahren erdachten Menschen in
­potamien erstmals ein Zeichen für Nichts: die Null.
· Wissenschaftlange,

E s brauchte bis die Null sich in unserer Kultur,
und Mathematik durchsetzte. Zu groß
war die Angst vor der Vorstellung völliger Leere.
· Pdem
hysiker beschäftigen sich in der Moderne intensiv mit
Nichts und stellen fest: Auch im Nichts ist etwas.
03/2024 P.M. 27
RUBRIK | THEMA

2001 verschwand die

neunjährige Peggy; erst
zwei Wochen später tauch-
te ihre Leiche auf. Es folgte
eine der aufsehenerre-
gendsten Fahndungen der
deutschen Kriminal-
geschichte, in der auch
palynologische Untersu-
chungen Hinweise gaben.
Ein Urteil aber wurde bis
heute nicht gesprochen

28 P.M. 03/2024
 IDEEN | KRIMINALISTIK

DIE
Pollen-
DETEKTIVIN Die Wiener Biologin
Martina Weber kommt Straftätern
auf die Spur – mit Blütenstaub
INTERVIEW: KATHARINA VON RUSCHKOWSKI

Der Pollen, auch

Blütenstaub genannt,
ist eine meist mehlige
Masse, die Samen­
pflanzen produzieren.
F O T O S : N I C O L A S A R M E R / D PA P I C T U R E A L L I A N C E , A L A M Y

Unter dem Mikroskop

D
zeigt sich: Er besteht
ie beiden Jäger sind damals, am 5. April aus winzigen Körn­
2009, schon auf dem Nachhauseweg. Die chen. Eine wider­
Lichtung, die sie in der Frühe von ihrem standsfähige Außen­
hülle umgibt einen
Hochsitz aus in den Blick genommen hatten, Teil des Erbguts der
ist längst verwaist. Der aufziehende Tag hat Pflanzen
alles Leben wieder zurück in den Wald gedrängt. Kein
Knacksen und kein Grunzen sind mehr zu hören, nur noch
die Schritte der Männer, die über den Waldweg in Nieder­
österreich zu ihrem Wagen schlendern. Nicht weit vom Park­
platz entfernt fällt ihnen, mitten im grün-braunen Gestrüpp,
eine weiße Schachtel ins Auge. Später wird einer zu Protokoll
geben: Er habe an einen Kindersarg gedacht und doch nicht
im Traum daran, dass es wirklich einer ist. Arglos öffnen sie
darum den Deckel – und blicken in ein Babygesicht. Der
Leichnam des toten Säuglings ist in ein weißes T-Shirt gewi­
ckelt und auf ein paar Handvoll Heu gebettet. Die Jäger rufen
die Polizei und diese kurz darauf die Wiener Palynologin
Martina Weber zu Hilfe. Es würde einer ihrer ersten
Kriminal­fälle werden.
P.M.: Frau Weber, was macht eine Palynologin?
MARTINA WEBER: Sie erforscht Pollen und Sporen.
Und was hat sie an einem Tatort zu suchen?
Na Pollen, was sonst?

03/2024 P.M. 29
 Martina Weber stu­
dierte Biologie und
schrieb ihre Doktor­
arbeit zum Thema
Aber warum? Pollen. Seither ist sie bis zur Eizelle einer Pflanze kommt, kann die
Weil er ein zuverlässiger Zeuge ist. Man muss ­ihnen treu geblieben: sich fortpflanzen und überleben. Darum besitzt
dazu wissen: Pollen ist überall, im Freien wie in Als Universitätsassis­ der Pollen so widerstandsfähige Wände. Woraus die
tentin und später als
Innenräumen. Und er verrät sehr viel über einen Professorin an der
bestehen, wissen wir bis heute nicht ganz genau.
Standort. Im Grunde hat jeder ein eindeutiges, Universität Wien wirk­ Klar aber ist: Es ist eine der stabilsten Substanzen

FOTOS: REINER RIEDLER/ANZENBERGER, ROGER SMITH/DK/PICTURE ALLIANCE

unverwechselbares Pollenprofil, abhängig von den
Pflanzengesellschaften, die in der jeweiligen
Umgebung wachsen. Vor Jahren konnten wir
zeigen: Selbst Wohnungen lassen sich anhand des
Pollen-Mixes, den man dort findet, eindeutig
identifizieren. Für uns Menschen ist es daher
schlicht nicht zu vermeiden, mit ihm in Kontakt
zu kommen. Er haftet überall: an Haaren, Klei-
dern, Schuhen, klebt in der Nase, im Verdauungs-
trakt, weil wir ihn mit der Nahrung aufnehmen.
Dazu ist Pollen fast unzerstörbar: Selbst an einer
verbrannten Leiche gab es in den verkohlten
Haaren noch Pollen.
Wozu hat die Natur dieses scheinbar ewige
Material erschaffen?
Der Pollen ist Entstehungsort und Transportbe­
hälter des männlichen Erbguts einer Pflanze.
Dieses genetische Material ist das wichtigste, was
ein Organismus besitzt. Nur wenn es unversehrt
te sie maßgeblich an in der Natur. Pilze und Bakterien können sie aller-
der Entwicklung der dings zerstören, ebenso wie intensives UV-Licht.
einzigartigen Pollen­
datenbank PalDat mit
Das heißt: Auch eine Palynologin muss schnell
und stellte ihr Know- am Fund- oder Tatort sein, damit die Pol-
how für kriminalpoli­ lenspuren nicht vergammeln?
zeiliche Ermittlungen Exakt. Wobei das Vergammeln nicht das Problem
zur Verfügung. Noch
heute, mittlerweile im
ist. So schnell werden Pollen nicht von Bakterien
Ruhestand, wirkt sie oder Pilzen zerstört. Bedeutsamer ist, dass sich die
an der Lösung etlicher Pollenzusammensetzung im Freiland – besonders
Cold Cases mit im Frühjahr – sehr rasch verändern kann. Außer-
dem gilt es auch zu verhindern, dass jemand
unbedacht und ohne Überschuhe den Tatort oder
Fundort betritt.
Der Kriminalbeamte, der Martina Weber bald nach
dem Fund des toten Babys erreicht, will von der Biologin
vor allem eines wissen: Lässt das Heu, auf dem das Kind
gebettet war, Rückschlüsse etwa auf den Tatort zu? Weber
ist zuversichtlich, bis sie nach genauerem Nachfragen

30 P.M. 03/2024
 IDEEN | KRIMINALISTIK
»Dazu ist Pollen fast unzerstörbar:
Selbst an einer verbrannten Leiche
gab es in den verkohlten Haaren noch Pollen«

e­ rfährt: Einer der Jäger hat die Schachtel im ersten Schock schen Polizei aufgebaut, die der neuen Technik
ausgekippt. Das getrocknete Gras, das den verräterischen gegenüber sehr aufgeschlossen war und bald regel-
Pollenmix birgt, ist so in Kontakt mit dem Erdboden ge­ mäßig anfragte. Wie im Fall der Babyleiche.
kommen. Martina Weber beschließt, so schnell wie mög­
lich selbst nach Niederösterreich aufzubrechen. Sie muss Drei Tage nach dem Fund steht Martina Weber mit
Vergleichsproben vom Fundort holen, um herauszufin­ einer Kollegin am Waldweg und greift mit Gummihand­
den: Ist der Pollen im Heu durch Pollen vom Fundort ver­ schuhen Material vom Erdboden, das sie in Nylonbeuteln
fälscht worden? verstaut, und nimmt auch Proben von den Gräsern rings­
herum. Zurück in Wien beginnt die Laboranalyse – und
Wie kamen Sie darauf, die Palynologie in den Die Hickory-Nuss ist deren aufwendige Vorarbeiten: Weber wäscht die Proben
Dienst der Polizei zu stellen? ein Walnuss-Gewächs, und zentrifugiert das Waschwasser, das sie zuvor in kleine
Die forensische Palynologie ist zwar eine österrei- das bei uns – anders Glasröhrchen gefüllt hat. Zurück bleibt ein Bodensatz aus
als in Nordamerika –
chische Erfindung, aber nicht meine. Der erste nicht mehr natürlich Pollen und anderen Partikeln. Der wird in einem Säurege­
Fall geht auf das Jahr 1959 zurück. Ein des Mordes vorkommt. Doch fossi­ misch für zehn Minuten auf 80 Grad Celsius erhitzt. Erst
Verdächtigter hatte die Kriminalbeamten damals le Pollen des Gewäch­ dann ist aller »Kitt« entfernt, wie die Verunreinigungen
schon eine ganze Weile an der Nase herumgeführt. ses aus Gesteinen
brachten Ermittler auf
Er lenkte sie mehrfach an falsche Tatorte, ließ sie die Spur eines Täters
dort graben und tauchen. Dann schaltete sich der
Wiener Paläobotaniker Wilhelm Klaus in den Fall
ein, ein Experte für fossile Pollen. Er untersuchte
Schuhe und Kleidung, die der Verdächtige am
Tag seiner Festnahme getragen hatte, und fand
dabei Weiden- und Erlenpollen, doch vor allem
den fossilen Pollenkorn der Hickory-Nuss.
Warum war der so wichtig?
Die Hickory-Nuss ist ein Walnuss-Gewächs, das
vor Jahrmillionen in Mitteleuropa sehr weit ver-
breitet war, heute jedoch ausgestorben ist. Aber
der Professor Klaus hat gewusst: Wenn man dieses
Pollenkorn noch irgendwo finden kann, dann
nordwestlich von Wien. Dort ragt eine alte Ge-
steinszunge in die Landschaft, wo Hickory-Pollen
die Jahrzehntausende fossil überdauert hat. Von
dort holte er Vergleichspollen: Treffer! Als der
Verdächtige anschließend damit konfrontiert
wurde, war er so perplex, dass er alles zugab und
die Polizei zur Leiche führte. Professor Klaus
erzählte von dem Fall in einer meiner Vorlesun-
gen. Ich fand das total spannend …
… und Sie sind dabeigeblieben?
Nein. Die forensische Palynologie geriet in Öster-
reich, ja, fast ganz Europa in Vergessenheit. Ich
hatte sie selbst auch gar nicht mehr auf dem
Schirm. Dann kamen Jahre später viele Zufälle
zusammen. Bei einer Konferenz in Spanien saß
einer der großen forensischen Palynologen aus
Neuseeland beim Mittagessen neben mir. Wir
luden ihn zweimal als Gastprofessor ein nach
Wien. Er lehrte uns die kriminaltechnischen
Grundlagen und sagte dann: Jetzt müsst ihr es ­selbst
machen! Wir haben rasch Kontakte zur österreichi-

03/2024 P.M. 31

Der Pollen vieler
Pflanzen ist so be­
schaffen, dass der
Wind die Körnchen
leicht davontragen heißen, und nur die bräunlich gefärbten Pollenwände
kann. Was vielen Aller­ liegen vor ihr unter dem Lichtmikroskop. Dort, vierhun­
gikern das Leben dertfach vergrößert, zeigen sich nun rundliche Struk­
schwer macht, kann so
auch einem Täter zum
turen, ganz glatt, gezackt oder mit Noppen übersät.
Verhängnis werden Wieder andere gleichen Muscheln. Weber geht sie Reihe
für Reihe durch, identi­fiziert und zählt den Pollen, bis sie
mindestens 300 Körner gelistet hat. Aus diesen lässt sich –
sta­tistisch relevant – ein Pollenspektrum ermitteln und
darüber womöglich eine Pflanzengesellschaft rekonstru­
ieren: ein bestimmter Straßenabschnitt, ein Waldtypus,
eine Wiese. Je ungewöhnlicher einzelne Pollenkörner,
desto stichhaltiger die Zuordnung – siehe die Hicko­
ry-Nuss. Einige Dutzend verschiedene Pollenkörner kann
Weber auf Anhieb bestimmen. Kommt sie nicht weiter,
32 P.M. 03/2024
bietet ihr die e­ igens aufgesetzte Datenbank oder das
­ erbarium auf dem Wiener Campus tausendfaches Ver­
H
gleichsmaterial.
Wie präzise ist so ein Pollenspektrum?
Lassen Sie mich von einem Fall aus Neuseeland
erzählen. Dort wurde eine Frau vergewaltigt. Ein
Verdächtiger gab an, rund zehn Meter vom Tatort
geparkt, sich aber nicht vom Platz bewegt zu
haben. Kriminalbeamte beschlagnahmten darauf-
hin die Kleider des Mannes, die er zum Tatzeit-
punkt getragen hatte, und ließen die Pollenspek-
tren von Jacke, Parkplatz und Tatort erstellen. Die
Spektren von Gewand und Tatort stimmten über-
ein. Und überführten ihn. Ich selbst habe vor
einiger Zeit mal auf einer Heuwiese alle paar
Meter Proben genommen, die unterschieden sich
deutlich voneinander. So ein Pollenspektrum ist
also schon recht präzise – örtlich und zeitlich.
Zeitlich?
Mit jedem Atemzug gelangen Pollen in die Nase
und bleiben am Siebbein, einem Knochen zwi-
schen Nasen- und Schädelhöhle, hängen. Alle
40 bis 50 Minuten wird alles abtransportiert. Auch
das macht sich die forensische Palynologie zu-
nutze: Bei einem Toten kann die Pollenprobe aus
dem Siebbeinbereich Hinweise geben, wo er sich
in seiner letzten Stunde aufgehalten hat. Der
Darminhalt dagegen gibt Aufschluss über seine
letzten ein bis drei Tage. So lange braucht Nahrung
für die Verdauungspassage. Das brachte übrigens
auch im Fall Ötzi völlig neue Erkenntnisse.
Die winzigen Körnchen lassen sich
nicht nur bestimmten Pflanzenspe­
zies zuordnen. Sie ermöglichen
auch Schlussfolgerungen, zu wel­
chem Zeitpunkt die Gewächse an
welchem Ort gestanden haben

Erzählen Sie davon!
Ein Innsbrucker Archäobotaniker entnahm an
ver­schiedenen Stellen Proben aus dem Darminhalt
des Eismannes. Er fand darin unter anderem den
Pollen der Hopfenbuche. Die blüht im späten Früh-
­jahr in den Tälern südlich des Alpenhauptkamms.
Dieser Pollen verriet so dem Experten, dass Ötzi in
den Tagen vor seinem Tod vom Schnals­tal im
heutigen Südtirol aus Richtung Norden unterwegs
gewesen sein musste, und zwar Ende Mai.
Die Analyse des Heus aus der Schachtel ist für Marti­
na Weber zunächst ernüchternd. Es handelt sich um Süß­
gräser, Spitzwegerich, Hahnenfuß, Korbblütler. Kurzum:
Allerweltsheu, das auf vielen Wiesen Österreichs wachsen
könnte. Ihr Befund kann den Fall nicht lösen – bringt die
Ermittlungen aber trotzdem voran. Denn der Chefermitt­
ler hat in der Zwischenzeit eine Verdächtige ausgemacht,
gerade 14 Jahre alt. Sie gesteht, drei Tage vor dem Fund
allein ein Kind zur Welt gebracht und es kurz darauf um­
gebracht zu haben. Dann holte sie Heu aus dem Katzen­
nest im Garten, polsterte die Schuhschachtel – und brach­
te die Babyleiche mit dem Moped in den nahen Wald.
Stimmt das? Der Ermittler zieht noch einmal die Palyno­
login zurate und bittet sie, das Heu aus der Schachtel mit
dem aus dem Katzennest zu vergleichen.
Martina Webers Auswertung belegt: Das Heu aus
dem Katzennest ist zu fast 100 Prozent identisch mit dem
aus der Schachtel. Um letzte Zweifel auszuräumen, über­
prüft sie in den Folgewochen zwölf weitere Proben von
Heu aus Tierhandlungen, von nahen und fernen Wiesen.
Jedes Pack Heu hat ein anderes Profil. Ihr Befund bestätigt
FOTOS: ALAMY (3), REINER RIEDLER/ANZENBERGER, GETTY IMAGES
IDEEN | KRIMINALISTIK
damit die Aussage des jungen Mädchens, liefert den letz­
ten Beweis. Kurz darauf ist der Fall abgeschlossen.
Welcher war Ihr spektakulärster Fall?
Es gab einige bewegende. Zu den allermeisten
Fällen muss ich schweigen, weil es laufende Ver-
fahren sind.
Kommt die Palynologie nur bei Mordfällen
zum Einsatz?
Nein. Der Einsatz bei Mordfällen ist nur der be-
kannteste. Pollen verrät Ermittlern auch, woher
Safran, Whiskey oder Honig wirklich stammen.
Wussten Sie, dass Honig oder Olivenöl die am
dritthäufigsten gefälschten Lebensmittel sind. Die
Fälschungen reichen dabei von pollenfreiem Honig
bis zu teuren Sortenhonigen, denen die entspre-
chenden Pollenkörner fehlen …
Trotz aller Erfolge gibt es nur wenige Palynolo- Häufige Fälschung
gen in Europa. Selbst die von Ihnen aufgebaute Blütenstaub verrät
Arbeitsgruppe in Wien hat eine ungewisse Ermittlern auch,
Zukunft. ­woher etwa Honig
Leider. Das Fach wird kaum noch gelehrt und wirklich stammt. Vor
weiterentwickelt, es gibt nur noch wenige Zentren allem teure Sorten-
in Europa. Die Palynologie ist eben kein lukratives honige werden oft
Fach und wird daher auch nicht in dem Maße gefälscht, doch die
gefördert, wie es nötig wäre. Pollenanalyse bringt
Warum machen Sie trotzdem immer weiter, den Betrug ans Licht
sogar im Ruhestand?
Weil es noch so viele, alte Fälle gibt, sogenannte
Cold Cases, in denen der Pollen neue Ermittlungs-
hinweise geben könnte: Weil er so widerstandsfä-
hig ist und sich auch Jahrzehnte später noch aus
Beweismaterial isolieren lässt. Und hinter
jedem Fall stecken Menschen, die Gewiss-
heit brauchen. Das treibt mich an. Und
dann ist da natürlich noch die Hoffnung:
Vielleicht lässt sich die Palynologie – wie in
Neuseeland oder Großbritannien – auch in
der deutschen Polizeiarbeit etablieren.
Und man nimmt neben Fingerabdrücken
bald auch routinemäßig Pollenproben.
Die Abteilung für »Strukturelle und Funktionelle
Botanik« an der Universität Wien sammelt Ver­
gleichsmaterial, um Pollen präzise bestimmen zu
können. In einer kostenlos zugänglichen Daten­
bank stehen Bilder und Beschreibungen zur Ver­
fügung: www.paldat.org
03/2024 P.M. 33
VISIONEN | WELTALL

ROTOREN
IM WELT

Gegenwart und Zukunft

auf dem Mars (Illustration):
Derzeit kundschaftet
die Hubschrauberdrohne
Ingenuity den Planeten
aus (rechts oben). In den
2030er-Jahren sollen dort
mit 1,40 Meter großen
­Rotoren ausgestattete Heli-
kopter (links) vorbereitete
Gesteinsproben für den
Rücktransport zur Erde
aufnehmen. Die weitere
Entdeckung übernehmen
dann möglicherweise
Modelle mit sechs
I L L U S T R AT I O N : N A S A / J P L - C A LT E C H

Rotoren (oben)

34 P.M. 03/2024
RAUM

Auf der Erde haben sie sich bewährt, nun

erobern sie auch das All: Helikopter erkunden
ferne Welten – und können künftig Orte erreichen,
an die Rover nicht gelangen
TEXT: PETER MICHAEL SCHNEIDER

03/2024 P.M. 35
VISIONEN | WELTALL
A
m 19. April
2021 erlebte der Mars seinen Ge-
brüder-Wright-Moment: Zum
ersten Mal hob ein Fluggerät von
seiner Oberfläche ab. In zehn Se-
kunden beschleunigten seine
Elektromotoren die Rotoren auf
mehr als 2500 Umdrehungen in
der Minute, bis der kleine Nasa-
Helikopter Ingenuity drei Meter
hoch in die dünne Marsluft stieg.
Nur knapp 40 Sekunden dauerte
der extraterrestrische Hopser –
immerhin fast eine halbe Minute
länger als der erste motorisierte
Flug mit der »Wright Flyer« im
Jahr 1903 auf der Erde. Dann lan-
dete der Heli wieder auf dem
staubigen Boden des Jezero-
Kraters – ein neues Zeitalter der
36 P.M. 03/2024
Erforschung des Sonnensystems
hatte begonnen.
Seitdem ist Ingenuity mehr
als 70-mal bis zu 24 Meter hoch
aufgestiegen. Dabei flog sie – für
ihre Ingenieure ist Ingenuity
­alias Ginny weiblich – insgesamt
16 Kilometer weit und fast zwei
Stunden lang, weitere Einsätze
sind geplant. »Nach zweieinhalb
Jahren arbeiten das Rotorsystem,
die Motoren und die Elektronik
einwandfrei«, erklärt Theodore
­Tzanetos, Leiter des Ingenuity-­
Teams am Jet Propulsion Labora-
tory (JPL) in Kalifornien. »Die
Solarpanele haben durch Staub
etwa 30 Prozent Leistung verlo-
ren, und die Batterie ist ein biss-
chen abgenutzt. Aber wir können
die Mission fortsetzen.«
Ingenuity war und ist der Co-
Star des Rovers Perseverance der
Nasa, der 2021 auf dem Mars lan-
dete und anschließend den klei-
nen Mars-Heli mit seinem wür-
felförmigen Rumpf auf der
Oberfläche absetzte. Während
Perseverance seither ein ehema-
liges Flussdelta nach Spuren ver-
gangenen Lebens absucht, dient
5Flüge
waren für Ingenuity
ursprünglich maximal
geplant – zur
Demonstration sei-
ner Flugfähigkeit auf
dem Mars. Jetzt sind
es bereits 71.
Ingenuity ist Englisch
für Einfallsreichtum
ihm Ingenuity als Späher, um die
wissenschaftlich lohnendsten
Stellen zu finden.
N
ach diesem Erfolg soll nun
die nächste Generation
von Drehflüglern folgen,
der sperrige deutsche Begriff für
Luftfahrzeuge, die mithilfe eines
oder mehrerer Rotoren abheben:
Dragonfly, ein Quadrokopter von
der Größe eines Smart-Kleinwa-
gens, soll den Saturnmond Titan
F O T O S : R . L A N N O M / J P L / N A S A , C O RY H U S T O N / N A S A ; I L L U S T R AT I O N : I M A G O
erkunden; die Mars Sample
Recovery Helicopters (MSRH)
sind dafür vorgesehen, um Pro-
ben einzusammeln, die Persever-
ance gerade aus dem Boden des
Planeten zieht. Auch China ent-
wickelt einen Ingenuity-ähnli-
chen Mars-Heli, allerdings noch
ohne konkrete Mission.
Ursprünglich sollte die um-
gerechnet 80 Millionen Euro teu-
re Ginny nur zeigen, dass sie
Geschafft: Mitglieder überhaupt abhebt. Zwar war es
des Ingenuity-Teams theoretisch unstrittig, dass Ro­to­
jubeln über den ren in der Mars-Atmosphäre Auf-
ersten erfolgreichen
Flug des Nasa-
trieb erzeugen und Ingenuity den
Helikopters über Planeten mit einer im Vergleich
dem Mars zur Erde zwei Drittel geringeren
 Ursprünglich sollte Ingenuity nur zeigen,
dass das Fluggerät überhaupt abhebt
Schwerkraft verlassen kann.
Nicht klar war jedoch, wie sich in
der Praxis die nur sechs Millibar
dünne und eiskalte Marsatmo-
sphäre auf die Flugeigenschaften
auswirken würde – immerhin ein
Druck vergleichbar mit dem in
30 Kilometer Höhe über der Erd-
oberfläche. Denn für Hubschrau-
ber gilt: Je dünner die Atmosphä-
re, desto weniger Luftmoleküle
können die Rotoren nach unten
drücken und umso weniger Auf-
trieb erzeugen sie – und natürlich
umgekehrt.
D
aher wurde Ingenuity mit
Vor dem Start der 1,8 Kilogramm als Leicht-
Mars-Mission prüft ein gewicht konzipiert. Die
Nasa-Mitarbeiter im
Kennedy Space Center
zwei je 1,2 Meter messenden Ro-
in Florida die toren wirken grotesk überdi-
Seit 2021 erkundet der Funktionsfähigkeit mensioniert; wegen des geringen
Rover Perseverance von Ingenuity
den Mars. Der Hub-
Luftwiderstands reichen zwei
schrauber Ingenuity
(im Vordergrund) ist
immer an seiner Seite
350 Watt starke Motoren für den
Antrieb aus.
Helikopter wie Ingenuity he-
ben ab, weil der Mars über eine
Atmosphäre verfügt – die ist im
Sonnensystem keine Selbstver-
ständlichkeit. Auf den meisten
Planeten und ihren Monden, bei-
spielsweise auf Merkur oder dem
Jupitermond Europa, sind die
Gasdrücke mit Millionstel und
Milliardstel des irdischen Luft-
drucks verschwindend gering.
Außer Erde und Mars weisen nur
noch die Venus und der Saturn-
mond Titan eine vergleichbare
Gashülle auf. Auf der Venus
herrscht am Boden ein Druck wie
in gut 900 Meter irdischer Mee-
restiefe. Aerodynamisch klingt
das verlockend, doch Tempera-
turen von über 400 Grad Celsius
und Wolken aus schwefliger
03/2024 P.M. 37

Der Vorteil von Helikoptern bei
Planetenerkundungen: Freiheit
Säure sind ungünstig für mecha-
nisch anspruchsvolle Geräte wie
Helikopter.
Dagegen sind die Verhältnis-
se auf dem Titan, dem größten
Mond des Gasriesen Saturn, ge-
radezu perfekt. Wie auf dem Mars
ist auf dem im Durchmesser nur
Kleine Helikopter wie Landschaft mit Dünen aus Was-
dieser (hier eine sereis und Flüssen, in denen Me-
Nasa-Studie) sollen
einmal Gesteinsproben
than und etliche andere organi-
einsammeln, die sche Verbindungen fließen.
Perserverance auf dem Dragonfly soll untersuchen, ob
Mars deponiert die bunte Mischung an Kohlen-
wasserstoffen auf dem Titan wo-
möglich denen der frühen Erde
ähnelt, unter denen sich dort
schließlich lebendige Organis-
men entwickelten.
»Dragonfly ist etwa so groß
wie der Perseverance-Rover«,
sagt Elisabeth Turtle vom Johns
Hopkins Applied Physics Lab, die
wissenschaftliche Leiterin der
Mission. »Das allein vermittelt
schon ein Gefühl dafür, wie viel
einfacher es sich auf dem Titan
fliegt als auf der Erde – und auch
auf dem Mars.«
W
ährend aber bei Inge-
nuity die zwei überein-
anderliegenden Roto-
ren gegenläufig rotieren, um sich
normalen Tag weht die Luft mit zu stabilisieren, ist der etwa drei
einem Meter pro Sekunde, an ei- mal drei Meter große Dragonfly
nem windigen mit vier bis fünf. (Englisch für Libelle) als Dual-
Auf dem deutlich windigeren Quadrokopter konzipiert. Von
Mars bekommt Ingenuity Flug- seinem Rumpf gehen wie beim
verbot, wenn Wind- und Flugge- namengebenden Insekt vier
schwindigkeit zusammen zehn Arme ab, an denen jeweils zwei
Meter in der Sekunde überstei- Motoren zwei ein Meter lange Ro-

5150 Kilometer großen Titan alles
viel leichter, seine Gravitation
beträgt nur ein Siebtel der irdi-
schen. Was ihn aber zum perfek-
ten Ort für einen extraterrestri-
schen Drehflügler macht, ist
seine orangefarbene Gashülle
gen.
Wir kennen den Titan so gut,
weil die Nasa ihn Anfang der
2000er-Jahre mit der Cassini-
Huygens-Raumsonde unter-
suchte und dabei eine Landeson-
de am Fallschirm auf seine
F O T O S : N A S A / J P L - C A LT E C H , N A S A / J O H N S H O P K I N S A P L / E D W H I T M A N ( 2 ) ;
torblätter antreiben – die im Ver-
hältnis deutlich kleiner als die
von Ingenuity sind. Die Ingeni-
Weil solche Multikopter eure entschieden sich für solch
mit ihren kleinen
Rotorblättern auf dem einen Multikopter, weil acht star-
Mars zu ineffizient re Rotoren mechanisch viel ein-
wären, kommen sie facher aufgebaut sind als der Ro-
nicht als Ingenuity-
I L L U S T R AT I O N : N A S A / E S A / J P L - C A LT E C H

aus Stickstoff und Methan, deren
Druck nahe der Oberfläche den
der Erde um das eineinhalbfache
übersteigt und dabei noch vier-
mal dichter ist. Rotorgetriebene
Fluggeräte brau­chen rechnerisch
40-mal weniger Kraft, um vom
Titan abzuheben. Zudem
herrscht dort im Vergleich zu
Erde und Mars Flaute. An einem
eiskalte Oberfläche schickte. Ab tor eines klassischen Helikopters
Nachfolger infrage
2026 plant die Nasa, dorthin zu- mit seinen zahlreichen beweg­
rückzukehren, dieses Mal mit lichen Teilen. Und wenn einer der
Dragonfly, einer mit Motoren ausfällt, kann Dra­
Rotorkraft getrie- gon­fly noch mit den
benen Riesen- rest­lichen sieben flie-
drohne. Der Ti- gen. Die Libelle wird
tan ist ein nur bei Tageslicht
Eismond mit ei- unterwegs sein. Da
ner exotischen der Titantag 16 Erdentage

38 P.M. 03/2024
 VISIONEN | WELTALL

dauert, wird sie etwa einmal pro
Monat abheben, dann aber bis zu
30 Minuten lang und mehr als
zehn Kilometer weit. Dabei muss
sie sich ihren Weg selbst suchen –
im Gegensatz zu den Robotern
auf der Marsoberfläche, denen
Rover bewährt. Der entscheiden-
de Grund: Freiheit. »Mit Dragon-
fly können wir einen bestimmten
Landeplatz auswählen, dort
­messen und anschließend zum
nächsten fliegen«, erklärt Turtle.
Elizabeth Turtle leitet die Dragonfly-
Mission der Nasa, Start voraussichtlich
2028. Der bullige Helikopter soll den
Saturn-Mond Titan erkunden. Darunter:
Turtle begutachtet mit ihrem Team
ein Dragonfly-Modell im Maßstab

eine ganze Satellitenflotte mit
hochauflösenden Ka­meras aus
dem Orbit den Weg weist. »Wir
haben keine derartigen Bilder
der Titanoberfläche«, sagt Turtle.
»So können wir ein Gebiet nur
vorerkunden, indem wir es vor-
her überfliegen.« Die Hälfte der
Flüge werden Erkundungshopser
für das nächste Ziel sein.
Die Frage ist natürlich, war-
um Planetologinnen wie Turtle
überhaupt Helikopter auf außer-
irdischen Himmelskörpern flie-
gen lassen, schließlich haben sich
B
eins zu zwei für Tests im Windkanal
ei jedem Flug wird der He-
likopter völlig autonom
mehrere Kilometer zu-
rücklegen und Hindernisse wie
die bis zu 150 Meter hohen Dü-
nenkämme einfach überfliegen,
denn er soll bis auf vier Kilometer
steigen können. Mit 36 Kilometer
in der Stunde ist Dragonfly zu-
dem viel schneller als der Perse-
verance-Rover. Der braucht mit
seiner Spitzengeschwindigkeit
von 152 Metern pro Stunde für
dieselbe Strecke etwa ein ganzes
Jahr. Während der geplanten
 Der Rover Perseverance schafft
152 Meter in der Stunde, Dragonfly 36 Kilometer

dreijährigen Missionsdauer
könn­te Dragonfly bis zu 100-mal
aufsteigen, dabei insgesamt mehr
als 50 Kilometer weit reisen und
etwa 40 Orte besuchen.

F
ür Ingenuity auf dem Mars
sind Erkundungsflüge be-
reits die Regel. Doch be-
kommen rotorgetriebene Geräte
auf dem Planeten künftig eine
weitere Aufgabe: Derzeit bohrt
der Perseverance im Marsboden
nach Gesteinsproben. Für 2027
Dragonfly soll unter planen die Nasa und die Europäi-
anderem Boden- sche Raumfahrtagentur Esa eine
proben vom Titan
nehmen und
Landefähre samt Rückkehrrake-
seismische Studien te zum Mars zu schicken, um die
durchführen, um Proben in der ersten Hälfte der
eventuelle unter- 2030er-Jahre abzuholen und zur
irdische Aktivitäten
festzustellen
Erde zu transportieren. Für den
Fall, dass der Rover innerhalb der
kommenden zehn Jahre ausfällt
und die Proben nicht mehr beim
Lander abliefern kann, haben die
Ingenieure Perseverance zehn
Proben als Ersatz auf der Mars-
oberfläche ablegen lassen.
Um dieses Depot wieder ein-
sammeln zu können, bauen Inge-
nieure am JPL am Mars Sample
Recovery Helicopter (MSRH), ei-
ner Art marsianischer Postdroh-
ne. Weil sich Ingenuity so be-
währt hat, haben sie das Design

I L L U S T R AT I O N : N A S A / A P L ; F O T O : ; E D W H I T M A N / J O H N S H O P K I N S A P L
mit dem vergleichsweise lang-
sam drehenden und großen Dop-
pel-Rotor übernommen, sich
also gegen einen Multikopter wie
Dragonfly entschieden. »Je
schneller sich Rotorblätter dre-
hen und je kleiner sie sind, desto
ineffizienter sind sie«, sagt Tza-
netos. »In der dichten Gashülle
des Titan fliegt Dragonfly sozusa-
gen durch dicke Suppe. Da fallen
die energetischen Verluste nicht
so sehr ins Gewicht wie in der
dünnen Atmosphäre des Mars.«
Während sie bereits auf be-
währte Rotortechnik zurückgrei-

40 P.M. 03/2024

fen konnten, mussten sich die
JPL-Ingenieure überlegen, wie
sie die Proben abholen und ab­
liefern. »Hubschrauber können
großartig fliegen, aber nicht be-
sonders exakt landen«, erklärt
Tzanetos. »Der Heli muss aber
präzise nach einer Probe greifen
können. Es wäre ärgerlich, wenn
er sein Ziel um zehn Zentimeter
verfehlte.«
Daher rüsten die Ingenieure
das Fluggerät nicht nur mit ei-
nem Greifarm, sondern auch mit
vier Rädern aus. Auf ihnen soll
der MSR-Heli nach der Landung
punktgenau zum Proberöhrchen
rollen, um es aufzunehmen – und
später beim Lander abzulegen.
Die Extras bedeuten zusätzliches
Gewicht – allein der Greifer wiegt
125, das Fahrwerk fast 400
Gramm – zudem muss der Hub-
schrauber noch die etwa 150
Gramm schweren Proberöhr-
chen tragen können. Deswegen
rüsten seine Erbauer den Trans-
port-Heli mit 1,40 Meter langen
Rotoren und zwei 400 Watt star-
ken Motoren auf, um mehr Auf-
trieb zu erzeugen.
D
as bedeute aber nicht,
dass man nicht in Zu-
kunft mit Multikoptern
auf dem Mars fliege, sagt Tzane-
tos. Vielmehr gebe es Studien zu
einem 40 Kilogramm schweren
Kopter mit sechs Rotoren, der ei-
nes Tages bis zu fünf Kilo an wis-
senschaftlichen Geräten trans-
portieren könnte. »Damit
würden wir künftig an Orte flie-
gen, die Rover bisher nicht errei-
chen: in Polarregionen vordrin-
gen, in Lavaröhren abtauchen
und Felswände hinauffliegen.«
Dass Astronauten eines Tages
in einen Marshelikopter steigen,
gilt bei der Nasa als unwahr-
scheinlich. Um Menschen samt
Ausrüstung tragen zu können,
VISIONEN | WELTALL
In der Titan-
Kammer werden die
Temperatur- und
Druckverhältnisse
müssten die Rotoren solcher des gleichnamigen
Hubschrauber absurd groß sein – Mondes für
zumindest gegenwärtig lässt sich Tests simuliert
so etwas nicht bauen. Auf dem Ti-
tan hingegen wäre solch ein Flug
möglich. Hier ist jedoch die lange
Anreise das Problem, denn der
Mond ist mehr als 1,2 Milliarden
Kilometer von der Erde entfernt
– der Mars nur 54 Millionen.
Aber, so Elisabeth Turtle: »Erst
einmal angekommen, wäre Titan
ein ziemlich freundlicher Ort.
Menschen könnten dort prob-
lemlos fliegen.«
· Helikopter
Die Nasa will in Zukunft verstärkt
für ihre Missionen im
All einsetzen.
· Auf dem Mars ist das erste
Modell bereits im Einsatz.
Peter Michael
Schneider
· Die Hubschrauber können
Gegenden erkunden, die Land-
Schon vor der Landung
von Perseverance war
fahrzeuge nicht erreichen. für den Marsheli-Fan
klar: Der echte Star die-
ser Mission ist Ingenuity.
03/2024 P.M. 41
FORSCHUNG | GRÖNLAND

DUN K L E E i

Grau legen sich Algen über

das Eis von Grönland.
Durch die Verdunkelung
wird die Sonnenstrahlung
weniger reflektiert – und
die Oberfläche wärmer

42 P.M. 03/2024
 Der helle Panzer über der Landmasse von
Grönland färbt sich weitläufig grau, zerbricht
und schmilzt. Wie kommt das? Eine Forschungsreise
zu den fragilen Zonen im Eis
T E X T U N D FOTO S : T I M K A LV E L AG E

sb rec h e r

03/2024 P.M. 43
FORSCHUNG | GRÖNLAND

E
Die Forschenden
entnehmen Eisbohr-
kerne, um herauszu-
finden, ob die Eisalgen
auch in größerer Tiefe
die Zeit überdauern

Etwas ist anders im Sommer

2021 an der Südspitze des grön-
ländischen Eisschilds, wo eine
deutsch-dänische Expedition
630 Meter über dem Meeres-
spiegel ihre Zelte ­aufgeschla­gen
hat. Statt einer strahlend wei-
ßen Oberfläche hat der Glet-
scher eine graue Färbung. Der
Schnee ist fast völlig verschwun­
den, und an vielen Stellen wa-
ten die Forschenden in Gum­
mistiefeln durch schlammige
Pfützen und durch Schmelzwas­
serbäche, die sich in Gletscher-
spalten stürzen.
Bereits im Jahr 1870 erkunde-
te eine Expedition um den schwe-
disch-finnischen Geologen und
Polarforscher Adolf Erik Norden-
skjöld die Gletscher im Westen
Grönlands. Zu jener Zeit war das
Innere der Insel noch überwie-
gend unbekannt – erst 18 Jahre

FOTO UND KARTE RECHTS.: SUTTERSTOCK

später überquerte der Norweger
Fridtjof Nansen Grönland auf
Skiern und bewies so, dass sich
von Küste zu Küste ein mächtiger
Eispanzer erstreckt. Nach seiner
Reise notierte Nordenskjöld in ei-
nem wissenschaftlichen Aufsatz:
Ȇberall dort, wo der Schnee des
letzten Winters weggeschmolzen
ist, ist ein feiner, grauer und im

Die mikroskopisch kleinen

Algen können auch unter den
Extrembedingungen der
grönländischen Eiswelt
überleben und sich vermehren.
Dunkle Pigmente schützen sie
vor starker UV-Strahlung

44 P.M. 03/2024

feuchten Zustand schwarzer oder
dunkelbrauner Staub über das
Inlandeis verteilt.« Nordenskjöld
spricht von der Entdeckung
­»einer eigentümlichen Eisflora
aus mikroskopischen Pflanzen
(Algen)«.
G
ut 150 Jahre später unter-
suchen Wissenschaftler
des Deutschen Geofor-
schungszentrums in Potsdam
(GFZ) und der Universität Aarhus
im Rahmen eines elf Millionen
Euro teuren Projekts auf Grön-
land, wie die »eigentümliche Eis-
flora« zum Rückgang des Glet-
schereises beiträgt. Seit zwei
Jahrzehnten beobachten For-
schende dort einen beunruhi-
genden Trend: Im Süden und an
der Westküste verdunkeln sich
im Sommer immer größere Flä-
chen und nehmen mehr Sonnen-
energie auf. Das beschleunigt
den Rückgang der Gletscher und
den Meeresspiegelanstieg, weil
mehr Schmelzwasser entsteht.
Den dunklen Anstrich der Glet-
scher rufen vor allem Eisalgen
hervor, mikroskopische Einzel-
ler, die in diesem lebensfeindli-
chen Habitat gedeihen.
In kaum einem Teil der Erde
sind die Folgen des Klimawan-
dels so sichtbar wie auf Grön-
land. Noch bis vor wenigen Jahr-
zehnten herrschte dort ein
Gleich­gewicht: zwischen der
jährlichen Schneemenge, die
sich in Gletschereis verwandelt,
und den Schmelzwassern und
Eisbergen, die entlang der Küste
ins Meer gelangen. In den ver-
gangenen drei Jahrzehnten je-
doch hat sich der Eisverlust auf
der Insel versechsfacht, auf-
grund rasch steigender Tempera-
turen in der Arktis, schneller
fließender Eisströme und der
­
Ozeanerwärmung, die an den
schwimmenden Ausläufern der
Meeresgletscher nagt. Von 1992
bis 2020 hat Grönland so fast fünf
Billionen Tonnen Eis eingebüßt,
was einem rund 14 Meter hohen
Eiswürfel mit der Grundfläche
Deutschlands entspricht. Aktuell
macht es den Hauptanteil am
Meeresspiegelanstieg aus, der
durch die weltweit schwinden-
den Gletschermassen hervorge-
rufen wird.
Der Eisrückgang geht einer-
seits auf die Erwärmung von At-
mosphäre und Ozean zurück, an-
dererseits auf die zunehmende
Verdunklung der Gletscher. For-
schende sprechen von einer
»verringerten Albedo«. Diese
gibt an, wie viel Strahlung von ei-
ner Oberfläche reflektiert wird.
Schnee zum Beispiel hat eine hö-
here Albedo als Gletschereis
KANADA Arktischer Ozean
Grönland-
see
GRÖNLAND
ISLAND
Reykjavik
Nuuk
(Hauptstadt)
Atlantischer
Ozean
483 km
Insel unter dem Eis
GRÖNLAND Mit 2,2 Millionen Quadratkilo-
metern ist Grönland die größte Insel der Erde
und etwa sechsmal so groß wie Deutschland.
Im Norden grenzt sie an den Arktischen Ozean,
rund 700 Kilometer vom geografischen
Nordpol entfernt. Knapp 80 Prozent der Insel
liegen unter einem bis zu drei Kilometer dicken
Eispanzer, mehr als 200 Gletscher schieben
sich an ihren Küsten gen Ozean. Würden sie
komplett abschmelzen, läge der Meeres-
spiegel 7,4 Meter höher. Von 1992 bis 2020 hat
der grönländische Eisschild 4890 Milliarden
Tonnen eingebüßt und den Ozean um knapp
1,4 Zentimeter anschwellen lassen. Ursächlich
für den Eisrückgang sind das oberflächliche
Schmelzen des Eisschilds und Verluste an der
Küste (Eisberge, die Gletscher ins Meer kalben,
und schmelzende Meeresgletscher durch die
Ozeanerwärmung). Bis 2100, so die Prognose
einer aktuellen Studie, könnte allein Grönlands
schwindender Eispanzer den Meeresspiegel
um mindestens 27 Zentimeter steigen lassen.
Bis 2026 läuft das Projekt der Forschenden
aus Potsdam und Aarhus noch mit weiteren
Expeditionen an der Westküste Grönlands
(rotes Rechteck in der Karte).
03/2024 P.M. 45
FORSCHUNG | GRÖNLAND
und ­reflektiert mehr Sonnen-
strahlung, also Wärme. Satelli-
tendaten zeigen, dass die Albedo
in den tiefer liegenden Randbe-
reichen des Eisschilds abnimmt.
Zum einen, weil der Schnee frü-
her im Jahr schmilzt, es immer
öfter regnet, statt zu schneien,
und so mehr Sonnenstrahlung
das Eis erreicht. Zum anderen,
weil Mikroorganismen und Parti-
kel aus der Atmosphäre die Glet-
scher verdunkeln.
D
ie Geochemikerin Liane
Benning vom GFZ unter-
sucht das Phänomen der
Verdunkelung. »Eine Ursache ist
Gesteinsstaub aus dem Gletscher­
vorfeld, der mit dem Wind auf Eis
gelangt«, erklärt sie. Auch Ruß,
der beim Verbrennen von Öl und
Kohle oder Waldbränden ent-
steht, lagert sich auf Grönland
ab. Hinter ihrem Camp haben
die Forschenden deshalb Instru-
mente installiert, die Partikel in
der Luft messen. Zunehmend
sind es aber Algenblüten, die die
Gletscher im Sommer weitläufig
46 P.M. 03/2024
verdunkeln, so Benning. »Diese
Eisalgen schützen sich mit braun-
violetten Pigmenten gegen die
starke UV-Strahlung und lassen
das Eis schmutzig aussehen.« Bei
einer früheren Expedition fan-
den sie und ihre Kollegen an der
Westküste über die Hälfte der
Gletscheroberfläche von Algen
besiedelt.
Dank ihrer dunklen Pigmen-
te verwandelten die Einzeller das
Eis gleichsam in einen Sonnen-
kollektor und sorgten dafür, dass
sich deutlich mehr Schmelzwas-
ser bildete. Obwohl sie schon vor
gut 150 Jahren entdeckt wurden,
galten die Eisalgen lange Zeit
eher als Kuriosum. Nun bekom-
men sie neue Aufmerksamkeit.
Die Forschenden wollen heraus-
finden, welche Bedeutung die
­Algen für die Zukunft der grön-
ländischen Eisdecke und den
Mee­resspiegelanstieg haben.
Denn je mehr sich die Erde auf-
heizt, desto weiter wird sich die
Schneegrenze in die Höhe verla-
gern und desto länger wird die
Die Forschenden
sommerliche Schmelzphase an-
sammeln Proben von
»hellem Eis« und dauern. Die Folge wären größere
»dunklem Eis«. Später schneefreie Flächen, die der Son-
isolieren sie die kleinen ne ausgesetzt sind, und mehr Zeit
Algen, um sie zu
untersuchen für die Algen, sich auszubreiten.
Sie könnten also von der Erder-
wärmung profitieren und den
Eispanzer weiter verdunkeln.
F
ür genauere Prognosen
gilt es jedoch, noch viele
Fragen zu beantworten:
Wie etwa überstehen die Algen
die finsteren Wintermonate un-
ter meterdickem Schnee? Und
wovon ernähren sie sich? »Wir
finden Eisalgen praktisch überall
auf den Gletschern. Aber wir
können sie bislang nicht im La-
bor kultivieren und wissen wenig
über ihren Lebenszyklus oder da-
rüber, was großflächige Algen-
blüten auf dem Eisschild aus-
löst«, so Benning. Es sei
erstaunlich, dass dieser nähr-
stoffarme Lebensraum eine so
große Biomasse erzeugt. Vermut-
lich dienen Staubablagerungen
den Algen als Nährstoffquelle so-
wie Reste von Algen, die früher
im Jahr blühen.
Auf seinen Forschungstouren
zieht das Expeditionsteam mit
Eisäxten und Schaufeln auf den
Gletscher und sammelt Eis- und
Schmelzwasserproben, die auf
Schlitten zurück ins Camp gezo-
gen werden. In Laborzelten zäh-
Die winzigen Algen legen sich
wie graue Schleier über die
Landschaft und zersetzen das
Eis. An einer »Gletschermüh-
le« fließt das Schmelzwasser
in die Tiefe ab und schafft
Hohlräume im Untergrund
len die Forschenden Algen unter
dem Mikroskop, messen ihre Fo-
tosyntheseleistung und frieren
sie für spätere molekularbiologi-
sche Analysen ein. Zudem mes-
sen sie mit einer Spezialkamera
an einer Drohne, das von der
Gletscheroberfläche reflektierte
Licht. Sie wollen den optischen
Finger­abdruck bestimmen, den
Algen, aber auch Staubpartikel
und Schmelzwasser, im Farbspek­
trum des einfallenden Sonnen-
lichts hinterlassen, indem sie
­bestimmte Strahlungsanteile ab-
sorbieren. Damit soll die Auswer-
tung von Satellitenbildern ver-
bessert werden.
In den kommenden Jahren
wollen die Forschenden so ent-
schlüsseln, welchen Beitrag Eis-
algen zum Rückgang der Glet-
scher leisten. Die Ergebnisse
sollen helfen, anhand von Com-
putermodellen den Meeresspie-
gelanstieg genauer vorherzusa-
gen. Sicher ist: Mit einem
biologisch wirksamen Mittel be-
kämpfen lassen sich die Algen
nicht, selbst wenn es eines gäbe.
Denn angesichts vieler Millionen
Quadratkilometer, die im Som-
mer von den Gewächsen besie-
delt werden, ist der Gedanke un-
realistisch.
Es liegt an uns allen, das
Wachstum einzudämmen: Nur
wenn wir es schaffen, die Erder-
wärmung zu bremsen, können
wir die Ausbreitung der Algen
minimieren.
· WGrönlands
inzige Eisalgen verdunkeln
Eispanzer zusehends.
· eher als Kuriosum,

1 50 Jahre lang galten die Algen
heute erhal-
ten sie neue Aufmerksamkeit. Tim Kalvelage
· SGletscher
ie tragen zur Schmelze der
und damit zum Anstieg
begleitet öfter
Forschende ins Eis.
des Meeresspiegels bei. Zuletzt nahm er an einer
Expedition zum
Nordpol teil
03/2024 P.M. 47
 Wie jetzt? Mehr Wissen mit

Kann man Stille hören?

F O T O S : D PA / PA / T H E T R U S T E E S O F T H E B R I T I S H M U S E U M , S H U T T E R S T O C K , P I C T U R E A L L I A N C E / W I L D L I F E , D D P I M A G E S , G E T T Y I M A G E S
PSYCHOLOGIE Dass man Stille buchstäblich hören kann, schlussfolgert
ein Team der Johns Hopkins University (USA) nach Tests mit mehr als 1000
Menschen. Die Forschenden spielten ihnen akustische Illusionen vor. Eine
Wann wurde davon lässt ein Geräusch, das geschäftige Treiben in einer Kantine, deutlich

das Küssen
länger erscheinen, wenn man es am Stück hört, als wenn es durch eine kurze
Pause unterbrochen wird. Das Team erzeugte die gleiche Illusion umgekehrt,

erfunden?
indem es eine Phase der Stille durch das Geräusch unterbrach. Die Testhö-
renden schätzten die Stille ohne die geräuschvolle Pause als erheblich länger
ein. Die stillebasierte Illusion erzeugte demnach das gleiche Ergebnis wie
GESCHICHTE Schon die Götter die geräuschbasierte, die Hirnmechanismen seien gleich, hieß es.
küssten sich – zumindest im alten
Mesopotamien. Einer von ihnen,
so steht es in Keilschrift auf einem
4500 Jahre alten Tonzylinder

Welcher Vogel kann

geschrieben, schlief mit der Göttin
Ninhursag und küsste sie. Dabei

Schlagzeug spielen?
pflanzte er den Samen für sieben
Zwillinge in ihren Leib. Die
Liebesgeschichte gilt als älteste
Beschreibung eines romantischen BIOLOGIE Auf der Kap-York-Halbinsel im
Kusses. Lange wurde angenom- Norden Australiens lebt der Palmkakadu (Foto).
men, dass der Ursprung des Immer wieder wurden die Männchen beobach-
Küssens rund 1000 Jahre später in tet, wie sie mit Stöckchen oder Samenkapseln
Indien wurzelt. Das widerlegte gegen Äste trommeln, um Weibchen anzulo-
nun ein dänisches Team. Die cken. Sie basteln sich selbst Drumsticks, das
Forschenden sind überzeugt, dass Design hat jeweils eine persönliche Note und
sich Menschen schon viel länger wird von Generation zu Generation weiterge-
küssen – die Mesopotamier hätten geben. Auch der Rhythmus und seine Variatio-
jedoch zuerst darüber berichtet. nen seien individuell, schreiben Forschende.

Jeder Palmkakadu
trommelt im eigenen
Rhythmus
48 P.M. 03/2024
 WARUM SAGEN WIR …
»Tratsch«?
SPRACHE Rund die Hälfte unse-
rer Gespräche, so haben Forschen-
de herausgefunden, beinhalten
Tratsch, also das Reden über abwe-
sende Dritte. Dabei gilt diese
Wo scheint die Sonne am stärksten? Form der Konversation weithin
als verpönt, Die englische Haupt-
METEOROLOGIE Auf einem Hochplateau in der chilenischen Atacama-­ stadt London führte 1547 eigens
Wüste – dem Chajnantor-Plateau – entwickelt die Sonnenstrahlung eine ein Verbot ein: Frauen durften sich
ungeheure Kraft, stärker als auf dem Mount Everest. Unter bestimmten nicht versammeln, um zu trat-
Bedingungen kann sie außerirdische Dimensionen annehmen und so stark schen. Bis zu zwei Jahre Haft
werden wie auf der Venus. Diese Beobachtung hat nun ein internationales drohten jenen, die im Dreck ande-
Forschungsteam im Fachblatt der American Meteorological Society veröf- rer Leute wühlten. Genau dieser
fentlicht. Dabei ist unser Nachbarplanet rund 40 Millionen Kilometer näher Dreck erklärt auch die Herkunft des
an der Sonne dran als die Erde. Wortes »tratschen«: Es stammt aus
Seit einigen Jahren misst das Team die Intensität der Sonne mit soge- dem Mittelniederdeutschen und
nannten Pyranometern. Das sind Geräte, die das Ausmaß der Sonnenkraft in umschreibt lautmalerisch das
Watt wiedergeben. Im Durchschnitt beträgt die Einstrahlung auf dem Pla­ Platschen und Waten einer Person
teau (Foto) pro Quadratmeter etwa 308 Watt. Aber es gibt auch Ausreißer im Schlamm. Diese wird wortwört-
nach oben, etwa im Januar 2017. Da zeigten die Messgeräte einen Wert von lich zur gefürchteten Schlamm-
2177 Watt an, was der Sonneneinstrahlung auf der Venus entspricht. Das schleuder. Erst seit dem 17. Jahr-
­Phänomen tritt auf, wenn dünne, durchbrochene Wolken über dem Plateau hundert bezeichnen Menschen mit
das Sonnenlicht Richtung Boden streuen und die Strahlungsintensität ver- »Tratsch« auch das Reden über
stärken. Solche Extremereignisse können demnach Stunden andauern. triviale Gerüchte.

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03/2024 P.M. 49
 GEHEIMNISSE | TIERE IN DER STADT

Tierische Neubürgerin:
Die Nilgans fühlt sich
wohl bei uns, etwa hier
in Stuttgart

GÄSTE,

In vielen Städten wird über den richtigen Umgang
mit eingewanderten Kanada- und Nilgänsen gestritten.
FOTO: MAURITIUS IMAGES

Während die einen mit Futter anrücken, beschweren

sich andere über Dreck und Lärm
T E X T : C L AU D I A R U BY

50 P.M. 03/2024
 DIE BLEIBEN
03/2024 P.M. 51
GEHEIMNISSE | TIERE IN DER STADT
Rötlich gefiedert,
schmückende Male an
Augen und Hals: Früher
wurde die Nilgans
gerne als Zierde in
Gärten und Parks
gehalten

E
Ein Morgen am Aachener Weiher,
einem städtischen Park in Köln.
Am betonierten Westufer liegt
eine Gruppe von rund 50 Nilgän-
sen. Die umliegenden Grünflä-
chen gehören den Kanadagän-
sen. Mehr als 70 der stattlichen
Vögel mit dem charakteristi-
schen weißen Kinnfleck ziehen
grasend über die Wiesen. Nur
wenige Radfahrerinnen und
Spaziergänger mit Hunden sind
in den frühen Morgenstunden
hier unterwegs. Gegen Abend
und an den Wochenenden dage-
gen füllen sich die Wiesen: Fami-
lien, Kinder und Sportler etwa
konkurrieren dann mit den Gän-
sen um die Rasenflächen.
Es ist eine komplizierte Be-
ziehung: Viele Spaziergänger
kommen gerade wegen der Tiere
in den Park – vor allem zur Zeit
der Jungenaufzucht. »Die Men-
schen haben Freude an den Gän-
sen«, sagt Michael Jöbges vom
Landesamt für Natur, Umwelt
und Verbraucherschutz Nord-
rhein-Westfalen (LANUV). »Es ist
eine der wenigen Gelegenheiten,
ein Stück Natur in der Stadt zu
erleben.«
Während einige Men-
schen mit Tüten voller Brot
und Trockenfutter anrü-
cken, beschweren sich an-
FOTOS: MAURITIUS IMAGES (2)

dere über Lärm und Dreck.

Stein des Anstoßes ist das,
was hinten rauskommt: Bei
der Kanadagans sind das
rund anderthalb Kilo Kot pro
Tag, verteilt auf bis zu 150 Häuf-
chen. Regelmäßig gehen bei der

52 P.M. 03/2024

Stadt Beschwerden ein. Auch die
Jagd dürfe »in den innerstädti-
schen Grünanlagen kein Tabu
mehr sein«, heißt es in einem
Kommentar des Kölner Stadtan-
zeigers zu der emotional geführ-
ten Debatte.
»Gänsestreichler treffen auf
Gänsehasser«, sagt Stefan Sud-
mann, Biologe, Ornithologe und
Gründer des Planungsbüros Ster-
na für Arten- und Naturschutz-
management in Kranenburg am
Niederrhein. Im Auftrag der
Stadt Köln hat er ein Gutachten
über die Situation angefertigt.
»Eine einfache Lösung gibt es
nicht«, sagt Sudmann, doch ei-
nes sei völlig klar: »Wenn die Füt-
terung nicht aufhört, werden wir
das Gänseproblem nicht lösen
können.«
W
er – oft in bester Ab-
sicht – Gänse mit Brot
und Brötchen füttert,
trägt nicht nur dazu bei, dass sich
das Problem verschärft, sondern
fügt den Tieren einen echten
Schaden zu. Das erhöhte Futter-
angebot führt dazu, dass viel
mehr Gänse brüten, als die Wie-
sen der Umgebung ernähren
könnten. Die Küken allerdings
fressen kein Brot, sie brauchen
frische Gräser, um zu überleben.
Und wenn es davon nicht genug
gibt, verhungern sie. »Unter na-
türlichen Bedingungen reichen
Nahrungsflächen für satte Gänse
auch für die Kükenaufzucht aus«,
schreibt Sudmann. Für die Gans
bedeutet das: »Wenn ich satt wer-
de, Partner und Brutplatz finde,
dann kom­men auch meine Jun-
gen durch.« In Parks wie etwa
dem zubetonierten Kölner Me-
diapark gilt das jedoch nicht.
»Den Faktor Fütterung durch den
Menschen können Gänse kogni-
tiv nicht verarbeiten«, so Sud-
Weltweit sind
eingeschleppte
Arten ein
großes Problem
für die Arten-
vielfalt – auch
bei uns in
Deutschland
mann. Die Folge sei oft massives Sie ist die größte Gans,
die in Mitteleuropa zu
Tierleid – also genau das Gegen-
beobachten ist: die
teil von dem, was die Gänselieb- Kanadagans. Leicht zu
haber beabsichtigen. erkennen ist sie
Doch auch ohne Fütterung an ihrer auffälligen
Kopfzeichnung
finden Gänse in vielen städti-
schen Parks nahezu ideale Bedin-
gungen vor. Deshalb wird derzeit
nicht nur in Köln, sondern auch
in vielen anderen deutschen
Städten über den richtigen Um-
gang mit den Tieren debattiert.
Ausgerechnet in Nordrhein-
West­falen – dem Bundesland mit
den meisten Einwohnern und
Ballungsräumen – leben heute
besonders viele davon.
Die Probleme, die dort ent-
stehen, sind menschengemacht,
denn Kanada- und Nilgans gehö-
ren zu den sogenannten Neozoen:
Das sind tierische Neubürger, die
durch den Menschen in eine Re-
gion gebracht wurden, in der sie
ursprünglich nicht heimisch wa-
ren. Weltweit sind eingeschlepp-
te Arten ein großes Problem für
die Artenvielfalt. Vor allem auf
tropischen Inseln richten Ratten
und Katzen verheerende Schä-
den unter den dortigen Vogelko-
lonien an. Und auch in Deutsch-
land breiten sich invasive Arten
wie Waschbär oder Wollhand-
krabbe immer weiter aus.
Um das Problem in den Griff
zu bekommen, hat das Europäi-
sche Parlament bereits 2014 eine
Ver­ordnung zum Umgang mit
03/2024 P.M. 53
GEHEIMNISSE | TIERE IN DER STADT

­invasiven Arten verabschiedet.
Kernstück ist die sogenannte
Unionsliste, eine Sammlung der
invasiven Spezies. Die Liste wird
von Jahr zu Jahr länger. Derzeit
besteht sie aus 88 Tier- und Pflan-
bleibt. Die Kanadagans, eben-
falls längst heimisch geworden,
steht auf der Vorwarnliste, das
heißt, sie gilt laut Bundesamt für
Naturschutz als »potenziell inva-
siv«. In den Städten allerdings
Kanadagänse sind
gesellig und treten
meist in größeren
Trupps auf – immer
langsam, auch durch eine inten- auf der Suche
sive Bejagung – vor allem in den nach Nahrung
Kriegs- und Nachkriegsjahren –
kam es zunächst nicht zu einer
massenhaften Ausbreitung.

zenarten, darunter fünf Vogel­
arten: Nilgans, Schwarzkopf-Ru-
derente, Hirtenmaina, Heiliger
Ibis, Rußbülbül und Glanzkrähe.
verursacht sie oft die größten
Probleme. Während Nilgänse vor
allem in der Brutzeit territorial
sind und nur paarweise auftre-
ten, bilden die Kanadagänse gro-
E
rst seit Ende der 1950er-
Jahre wurden die Tiere
auch in Nordrhein-Westfa-
len regelmäßig beobachtet. Es
dauerte weitere 30 Jahre, bis die

M 1,5
it Ausnahme der Nilgans
spielen diese Arten in
Deutschland keine Rol-
le, es gibt lediglich Einzelnach-
weise, bei denen es sich um
­entflogene Vögel aus der Gefan-
genschaft handelt. Die ursprüng-
lich aus Afrika stammende Nil-
gans dagegen ist bei uns längst
etabliert, das heißt, sie hat einen
stabilen Bestand aufgebaut, der
ohne Unterstützung des Men-
schen über mindestens 25 Jahre
oder drei Generationen stabil
ße Trupps. Die natürliche Heimat
der Tiere sind weite Teile Nord-
amerikas.
Bereits im 17. Jahrhundert ge-
langten die ersten Kanadagänse
nach England. Im St. James Park
sollten sie die königliche Wasser-
geflügelsammlung schmücken.
Im Laufe der folgenden Jahrhun-
derte wurden auch in anderen
europäischen Ländern Vögel an-
gesiedelt, immer wieder entka-
men einzelne Tiere in die Frei-
heit. Die Bestände wuchsen nur
Bestände sprunghaft in die Höhe
gingen. Die höchsten Dichten er-
reicht die Kanadagans in den
Ballungsräumen, vor allem im
Ruhrgebiet. »Doch seit rund 20
Jahren verbreitet sich die Art zu-
nehmend auch in der freien
Landschaft«, sagt Michael Jöbges.
Regelmäßige Bruten gibt es etwa
am Unteren Niederrhein und im
Münsterland. Ein Problem für
andere Arten sieht der Biologe
dennoch nicht. »Zwar kann es in
Einzelfällen zu einer Konkurrenz
FOTOS: GETTY IMAGES, MAURITIUS IMAGES, IMAGO
Kilogramm Kot
setzt eine Kanada-
gans pro Tag ab,
verteilt auf bis zu 150
Häufchen. Ein Ärger-
nis vor allem in Parks,
an Seen oder in Frei-
bädern – also dort,
wo sich Menschen
erholen möchten

54 P.M. 03/2024

um Nistplätze kommen, aber ei-
nen Einfluss auf die Vogelbestän-
de hat das nicht«, so der Experte
für Vogelschutz. Unsere Form der
Landnutzung stelle die heimi-
schen Arten da vor andere Her-
ausforderungen.
A
ls Reaktion auf den An-
stieg der Bestände hat
Nordrhein-Westfalen die
Jagdzeit auf Kanada-, Nil- und
Graugans verlängert: Vom 16. Juli
bis 31. Januar dürfen die Vögel
­gejagt werden, länger als in je-
dem anderen Bundesland. Und
obwohl im Jahr 2020/21 laut offi-
zieller Statistik fast 7000 Kanada-
gänse und 12 000 Nilgänse ge­
schos­ sen wurden, wächst der
Bestand weiter. »Diese hohen
Zah­ len erstaunen, da bei der
Sommerganszählung der Nord-
rhein-Westfälischen Ornitholo-
gengesellschaft 2020 lediglich
12 500 Kanada- und 8000 Nil­
gänse gezählt wurden«, sagt der
Ornithologe Sudmann. Selbst
wenn man eine gewisse Dunkel-
ziffer dazurechne, müssten die
Gänse im Ballungsraum
NORDRHEIN-WESTFALEN Ausgerechnet in dem Bundesland
mit den meisten Einwohnern und Ballungsräumen leben
heute besonders viele Nil- und Kanadagänse. Ihre
Populationen werden akribisch erfasst
V E R B R E I T U NG N I LG A NS
Anzahl
bis 5
6 - 20
21 - 50
Quelle: eigene Darstellung; © Geobasisdaten: Landesvermessungsamt NRW, Bonn
51 - 200
0 25 50 km
über 200
2022 kontrollierte Quadranten
V E R B R E I T U NG K A NA DAG A NS
Anzahl
bis 5
6 - 20
21 - 50
51 - 200
über 200
2022 kontrollierte Quadranten
Was der eine füttert, muss der
andere wegmachen: Die gefie-
derten Gäste sind bei vielen
Menschen so beliebt, dass sie die
Folgen ihres Handelns ignorieren
GEHEIMNISSE | TIERE IN DER STADT

­ bschusszahlen zu einer deutli-

A Eventuell flüchten die intelligen-
chen Bestandsreduktion führen.
Aber ganz unabhängig davon, wie
viel Jägerlatein in den Zahlen
steckt: Auf die Bestände in den
Parks haben die Abschüsse der
Aus der Ferne vor die Gänse ohnehin kaum einen Ein-
Haustür: Menschen fluss. Im ­sogenannten »befriede-
brachten einst die
Kanadagänse aus
ten Bereich« ist die Jagd v­ erboten.
Nordamerika und die
Nilgänse aus Afrika
nach Deutschland
ten Tiere sogar in die Städte,
wenn der Jagddruck in der Natur
zu hoch wird.
Natürlich wären Ausnahme-
genehmigungen auch in der
Stadt denkbar: Einige Städte ha-
ben genau das bereits gemacht,
wie etwa Soest und Krefeld. In
tenden Gänsen – hält er eine so-
genannte Beizjagd für möglich:
Dabei verjagt ein Falkner die
Gänse mit einem Greifvogel.
»Wenn sie einen ausgebildeten
Adler einsetzen, muss der auch
mal eine Gans holen dürfen«,
sagt Sudmann, »sonst verknüp-
fen die Vögel das Gewässer nicht
mit einer Gefahr.« Da solche
Maßnahmen nur außerhalb der
Öffnungszeiten durchgeführt
werden können, sei es allerdings
auch möglich, dass die Gänse
recht schnell »lernen«, dass ih-
nen keine Gefahr droht, solange
die Liegewiesen gut besucht sind.
Das bedeutet: Die Gänse würden
sich also weiterhin in großer Zahl
unter die Badenden mischen –
und erst flüchten, wenn das Bad
schließt.

S
udmann spricht sich des-
halb – neben dem konse-
quent durchgesetzten Füt-
terungsverbot – in einigen Parks
für andere Maßnahmen aus: »In
einzelnen Fällen kann ein Gele-
gemanagement helfen, die Zahl
der Brutpaare zu reduzieren.«
Dabei werden zur Brutzeit Eier
aus den Nestern gesammelt. Da-
mit es nicht zu Nachgelegen
kommt, bleiben ein oder zwei

Wiesbaden und einigen anderen
Kommunen wird intensiv über
Abschüsse im Stadtgebiet gestrit-
ten. Die Stadt Köln dagegen hat
früh klargestellt, dass diese Op­
tion nicht infrage kommt. Sud-
mann bezweifelt, dass sie über-
haupt helfen würde: »Sobald sie
Gänse in der Stadt abschießen,
rücken aus dem Umland andere
nach.« In Einzelfällen – etwa dem
Kölner Naturfreibad Vingst mit
einer hohen Zahl an nicht brü-
F O T O S : G E T T Y I M A G E S , M A U R I T I U S I M A G E S , D PA , K AT H A R I N A E N D E R S
Eier im Nest. Für diese Aufgabe
hat die Stadt Köln Anfang des vo-
rigen Jahres eigens einen Gänse-
manager eingestellt. Seither
sucht er ausgewählte Parkanla-
gen ab und entfernt Eier aus Gän-
senestern.
Vorbild für diese Maßnahme
sind die Nachbarstädte im Nor-
den: Düsseldorf und Duisburg.
Düsseldorf beschäftigt bereits
seit 2017 einen Gänsemanager,
allein im vergangenen Jahr wur-
den fast 800 Eier entnommen.
Die Stadt ist dem Erfolg zufrie-
den: In fünf Jahren hat sich die

56 P.M. 03/2024

Zahl der Kanadagänse im Stadt-
gebiet von 1400 auf 1168 verrin-
gert. Der Anteil der Jungvögel
sank von 18 auf 11 Prozent. Den-
noch sei die Verschmutzung mit
Kot in einigen Parks immer noch
hoch, teilt die Stadt mit und kün-
digt weiterhin »häufige Pflegein-
tervalle« an.
Die wohl umfassendste Er-
fahrung mit dem Gelegemanage-
ment hat die Stadt Duisburg.
Hier wurden Eier aus den Nes-
tern von Grau- und Kanadagän-
sen entfernt. Nach zehn Jahren
ziehen die beteiligten Forschen-
den eine gemischte Bilanz: Die
Brutbestände der Gänse hätten
sich durch die Maßnahme kaum
verringert. Zurückgegangen sei-
en dagegen die »Anzahl der Jung-
vögel und die Konflikte mit der
Bevölkerung sowie teilweise die
Maximalzahlen im Frühsom-
mer«. Der enorme Aufwand für
das Gänsemanagement wurde
daher seit 2020 wieder reduziert.
Neben menschlichen Eingriffen
setzt Duisburg jetzt verstärkt auf
einen natürlichen Feind: »Der
Fuchs hat einen stärkeren Ein-
fluss auf die Gänsebestände als
das anthropogene Manage-
ment«, heißt es in der Studie.
Ihm soll jetzt der Zugang zu den
brütenden Tieren erleichtert
werden. Doch wie alle Eingriffe
in die Natur hat auch das Neben-
wirkungen: Auf den geschützten
Inseln brüten nicht nur Gänse
sondern auch andere Arten, die
man eigentlich schützen will.
D
ie Erfahrung aus Düssel-
dorf, Duisburg und vielen
anderen Städten zeigt:
Mit großem Aufwand ist eine
leichte Reduktion der Gänsezah-
len möglich. In besonderen Fäl-
len – wie etwa einem Freibad –
Die »invasiven Arten«
fühlen sich hierzulande
derart wohl, dass sie
wie Eroberer wirken
kann das durchaus sinnvoll sein. können – und in
»Dazu kommt der psychologische Konkurrenz treten zu
Effekt«, sagt Michael Jöbges: anderen Arten
»Wenn die Stadt das Problem
ernst nimmt und Lösungen
sucht, hilft das bereits, Konflikte
zu entschärfen.«
Niemand wolle die Gänse
ganz aus den urbanen Zentren
vertreiben. Denn trotz aller Be-
lastungen sind Neozoen wie Ka-
nada- und Nilgans für viele Men-
schen eine Bereicherung: mehr
Natur in der Stadt.
· VNil-
ielerorts nimmt die Zahl von
und Kanadagänsen so zu,
dass sie zum Problem werden.
· Sie gehören zu den Neozoen:
Tiere, die ursprünglich in anderen
Claudia Ruby
ist Biologin, Wissen-
Weltgegenden heimisch waren. schaftsjournalistin und
· Das sogenannte Gelegemanage-
ment könnte eine Lösung bieten.
gehört zum Journalis-
tenteam »Die Flugbe-
gleiter«. Deren Spezial-
gebiet: Vögel.
03/2024 P.M. 57
TECHNIK | BOHRUNGEN

In der Tiefe der Erde gibt es

Wärme, Gas und viele andere
wertvolle Rohstoffe. Kein
Wunder, dass Menschen
versuchen, immer mehr und
immer tiefer danach zu
bohren. Bald könnte es
einen neuen Rekord geben
TEXT: ULF SCHÖNERT

58 P.M. 03/2024
 DER
PLANET
Energiekrise? Hier unten bestimmt
nicht. Wer sich auf den Weg ins Innere
der Erde macht, dem wird vor allem
eines: heiß. Temperaturen von bis zu
7000 Grad Celsius herrschen im Kern

DER
des Planeten – ähnlich wie auf der
Oberfläche der Sonne. Hier sind Metall
und Gestein zu einem gewaltigen Glut-
meer geschmolzen, das um die Erdach-
se wabert wie ein ewiges Feuer. Ange-
nehm kühl ist unser Planet nur an der

LÖCHER
äußersten Oberfläche: 99 Prozent glü-
hen bei mehr als 1000 Grad.
Dennoch zieht es die Men-
schen seit jeher in die Tiefe. Denn
unter unseren Füßen lagern un-
ermessliche Schätze. Riesige
Mengen an Brennstoffen und Er-
zen, an Edelmetallen, Diamanten
und Gas. Zudem versuchen For-
schende per Bohrung, Erkennt-
nisse über unseren Planeten zu
gewinnen. Und nicht zuletzt die
Hitze selbst lockt: als unerschöpf-
liche Quelle an Energie. Wahr-
scheinlich wurde die Erde noch
nie zuvor an so vielen Orten an-
gepikst wie heute.

S
chon vor der Pharaonen-
zeit hatten die Ägypter auf
der Suche nach Rohstoffen
Löcher in die Erde gegraben. Aus
ersten Bergwerken förderten sie
Feuersteine. In späteren Zeital-
tern holten die Menschen Salze
und Erze aus dem Untergrund,
seit der Neuzeit vor allem Kohle,
Erdgas und Erdöl. Zunächst blie-
ben die Tiefen, in die man dabei
FOTOS: VISUAL CHINA GROUP/GETTY IMAGES

vordrang, überschaubar, doch

im vergangenen Jahrhundert hat
Ölbohrung im die Bohrtechnologie entschei-
Tarimbecken im dende Fortschritte gemacht. Seit-
Westen Chinas: dem kommen Ingenieure meh-
Forschende wollen
in der Region elf
rere Kilometer tief.
Kilometer tief in die Und das ist auch nötig, wenn
Erde vordringen man nach Gas und Öl sucht. Die
leicht zugänglichen Lagerstätten
sind längst erschlossen oder ver-
braucht. Neu entdecktes Gas,
 TECHNIK | BOHRUNGEN
IN DEN
STOLLEN
MANCHER
BERGWERKE
zum Beispiel in Zypern oder in
Schatz in der Tiefe:
Unter Kiruna in IST DAS der Türkei, befindet sich stets in
Schweden lagern
große Vorkommen GESTEIN einer Tiefe von mehreren Kilo-
metern. In Holzkirchen bei Mün-
Seltener Erden
60 GRAD chen wurde gerade vier Kilometer
unter der Erdoberfläche ein Vor-
CELSIUS rat entdeckt, ebenso tief liegt das
HEISS Gas vor der Nordseeinsel Bor-
kum. In Österreich wird sogar
mehr als fünf Kilometer tief nach
Gas gebohrt.
Auch für die Förderung von
Metallerzen und Edelmetallen
muss man weit hinab. In Schwe-
den stieß die Bergbaugesellschaft
LKAB vor Kurzem auf ein großes
Vorkommen Seltener Erden – in
700 Metern Tiefe. Das begehrte
Metall Lithium, das für Handys
und E-Autos wichtig ist, lagert

Grab im Gestein:
In 450 Meter Tiefe
sollen Löcher wie
dieses in Finnlands
Atommüll-Endlager
Onkalo nuklearen
Abfall aufnehmen

E M M I KO R H O N E N / L E H T I K U VA / D PA , P I C T U R E A L L I A N C E / S I PA U S A , C H R I S 8 2 8 /
FOTOS: PICTURE ALLIANCE/ALEXANDER FARNSWORTH, PICTURE ALLIANCE/

WIKIMEDIA COMMONS

60 P.M. 03/2024
 teils noch weiter unter der Erd-
oberfläche. Kupfer, Zink und Ni-
ckel werden in mehr als 2000 Me-
tern abgebaut, Gold schürft man
mitunter gar aus mehr als 3000
Metern. Und anders als bei der
Gasförderung, bei der es nur tiefe
Rohre zu verlegen gilt, müssen
dort Bergleute aus Fleisch und
Blut hinab. In der tiefsten Gold-
mine der Welt, im südafrikani-
schen Mponeng, arbeiten sie zwi-
schen Gestein, das bis zu 60 Grad
Celsius heiß ist.
G
ebohrt und gegraben wird
auf der Welt aber nicht
nur, um Material aus der
Erde herauszuholen, sondern
auch, um es dort loszuwerden.
Noch gibt es weltweit kein einzi-
ges Endlager für hochradioak­
tiven Atommüll. Klar ist aber:
Sollte es irgendwann eines ge-
ben, wird es unter der Erde sein.
Am weitesten fortgeschritten
Oberer Mantel
Bis 410 km
Unterer Mantel
660–2900 km
Äußerer Erdkern
2900–5100 km
Innerer
Kern
5100–
6371 km
Erdkruste
0–35 km
(unter dem
Meer deutlich
dünner)
Mit dem Bohrschiff
»Mengxiang« wollen
chinesische For-
schende neue
Tiefenrekorde im
Ozean setzen
sind die Arbeiten in Finnland, wo
der Atommüll in 450 Meter Tiefe
lagern soll. In Schweden wird
500 Meter tief gebohrt. Das mög-
liche Endlager im schweizeri-
schen Nördlich Lägern, nahe der
AUFBAU DER ERDE
Bislang kratzen Bohrer deutschen Grenze, wird voraus-
nur an der Oberfläche sichtlich in 800 bis 900 Metern
des Planeten. Unter entstehen. Und um wirklich si-
dem Meer könnten sie cher zu sein vor dem strahlenden
bald erstmals bis zum
Erdmantel vorstoßen Müll, wurde in North Dakota be-
reits über ein bis zu 5000 Meter
Übergangszone
tiefes Endlager-Loch diskutiert.
410–660 km Auch auf der Suche nach In-
formationen über die Erde selbst
treiben Wissenschaftler Löcher
in den Grund. Ein Forschungs-
projekt des Internationalen Tief-
bohrprogramms IODP steuerte
dazu kürzlich ein Bohrschiff vor
die Küste Japans. Auf dem Mee-
resgrund im dortigen Tiefseegra-
ben, wo die Pazifische und die
Philippinische Erdplatte anein-
anderstoßen, traf das Team in ei-
ner Meerestiefe von 8023 Meter
auf den Meeresboden und drang
mit einem Bohrer tief in den
Grund ein – ein spektakuläres
Projekt.
Wie sieht die Erdkruste unter
einem so tiefen Meeresboden
aus? Welche geologischen Prozes­
se laufen dort ab? Gibt es dort
viel­leicht sogar Leben? Diesen
Fragen gingen die Wissenschaft-
ler mithilfe des dafür eingesetz-
ten Spezialschiffs »Kaimei« nach.
Zum Einsatz kam dabei der »Gi-
ant Piston Corer«, eine Art Ram-
me, die sich – beschleunigt durch
ihr eigenes Gewicht – etwa 40 Me-
ter in den Boden arbeitet und
dort Sedimente sichern kann. So
förderte das Forschungsschiff an
15 Stellen Bodenproben an die
Meeresoberfläche, die an Land
ausgewertet wurden.
Z
ukünftig sollen ähnliche
Expeditionen sogar noch
tiefer gehen. Bohrschiffe
wie die gerade in China in Dienst
gestellte »Mengxiang« könnten
dabei sogar erstmals bis zum
Erdmantel vorstoßen – jener
­
Schicht, die Erdkruste und Erd-
kern trennt. Obwohl der Mantel
den größten Teil der Erdmasse
ausmacht, wissen Menschen
kaum etwas darüber. Denn abge-
sehen von wenigen Stellen, wo er
bis an die Oberfläche reicht, be-
findet er sich in Tiefen, die mit
03/2024 P.M. 61
TECHNIK | BOHRUNGEN
Windischeschenbach
in Bayern beherbergt
das tiefste Bohrloch in
Deutschland: Hier geht
es 9101 Meter bergab
herkömmlichen Methoden bis-
lang unerreichbar sind. Noch
nicht mal die genaue chemische
Zusammensetzung ist bekannt.
Ein Vorstoß in diese Tiefe wäre
ein Durchbruch für die Geologie.
Doch dazu wäre es notwendig,
den Bohrer zum Beispiel in 4000
Metern Wassertiefe anzusetzen
und dann weitere 6000 Meter
unter den Meeresgrund zu trei-
ben. Ob derartige Vorhaben tat-
sächlich umgesetzt werden kön-
nen, ist ungewiss.
Auch bei uns in Deutschland
wird regelmäßig für die Wissen-
schaft gebohrt. Meist mit dem
Ziel, Einsichten in die Geschichte
unseres Bodens und Klimas zu
gewinnen. Denn die lässt sich aus
der Anlage der Erdschichten in
der Tiefe rekonstruieren. Mit
Forschungslöchern im Tann-
waldtal in Baden-Württemberg
versuchte das Leibniz-Institut
für Angewandte Geophysik bei-
spielsweise, Informationen über
den Verlauf der letzten Eiszeit
und die Klimageschichte der Re-
gion in den vergangenen 450 000
Jahren herauszubekommen.
D
ie übliche Technik für
Tiefbohrungen ist eine
Kombination von Bohr-
kopf, Gestänge und Wasser. Zu-
nächst wird über dem geplanten
Loch ein Bohrturm errichtet, von
dem aus die erste Stange mit dem
Bohrkopf voran in den Boden ge-
trieben wird. Der Kopf besteht
aus einem sich drehenden Mei-
ßel, der das Gestein aus dem Weg
schabt. Gleichzeitig wird mit ei-
nem Schlauch Wasser an die
Bohrstelle geleitet. Das dient zum
einen zur Kühlung, denn so ein
Bohrkopf kann durch die Rei-
bung extrem heiß werden. Zum
anderem wird dadurch das weg-
gemeißelte Gestein fortgespült.
62 P.M. 03/2024
Ist das Loch so tief, dass die
erste Stange in ihm verschwin-
det, wird eine weitere auf diese
geschraubt und so verlängert,
anschließend die nächste – und
immer so weiter. Weil sich der
Bohrkopf mit der Zeit abnutzt,
muss er regelmäßig ausgetauscht
oder nachgeschärft werden.
Dann wird das gesamte Gestänge
herausgezogen, Stange für Stan-
ge abgeschraubt und gelagert, bis
der Bohrkopf oben ist. Anschlie-
ßend geht es wieder in die Tiefe.
Soll die Erde, in die man
bohrt, gesichert werden, etwa
um sie zu untersuchen, setzt man
am besten einen Kernbohrer ein.
Das ist ein Bohrkopf, der in der
Mitte hohl ist, sodass er um einen
zylinderförmigen Kern im Boden
rotiert. Den zieht man dann zu-
sammen mit dem Bohrer an die
Oberfläche.
Um nicht jedes Mal den ge-
samten Bohrkern bergen zu müs-
sen, kann man die Erde auch mit
einem Seil an die Oberfläche zie-
hen. Dieses Seilkern-Bohrverfah­
ren wurde zum Beispiel im Land-
F O T O S : P I C T U R E - A L L I A N C E / D PA / D PAW E B / A R M I N W E I G E L , P I C T U R E A L L I A N C E / S E M YO N
kreis Nienburg in Niedersachsen
eingesetzt, um die Beschaffen-
heit der Region in der Kreidezeit
M A I S T E R M A N / TA S S , AW I / H A N S O E R T E R , WA S I L I J M A R T Y N O W / S H U T T E R S T O C K
zu untersuchen. Gestein, das sich
damals noch an der Erdober­
fläche befand, liegt nunmehr in
fast 200 Metern Tiefe, weil sich
im Lauf der Zeit immer neue Erd-
schichten darübergelegt haben.
Eine Tiefbohrung ist deshalb
auch immer ein wenig wie eine
Zeitreise – im niedersächsischen
Flachland etwa zu einer Region,
die vor Millionen Jahren noch an
der Küste lag.
Noch tiefer war die Kernboh-
rung, die das Hessische Landes-
amt für Naturschutz, Umwelt
und Geologie im Kreis Groß-
Gerau in den Boden trieb. Dort
holten die Geologen auf der
S­ uche nach erdgeschichtlichen
Indizien zum Verlauf der Kalt-
und Warmzeiten im Oberrhein-
graben unter anderem ein selte-
nes Stück urzeitliches Holz an die
Oberfläche. Alter: rund drei Mil-
lionen Jahre.
vordringen will, sein Vorhaben
von den Behörden genehmigen
lassen muss.
Das tiefste Loch, das auf der
Karte verzeichnet ist, befindet
sich in Bayern. In der Nähe des
Ortes Windischeschenbach hat-
ten Forschende im Jahr 1990 mit
Unter der Eisdecke
ERDGESCHICHTE Forschende, die ihre Bohrer
in der Antarktis in die Tiefe treiben, haben kein
Problem mit der Hitze. Die Geräte drehen sich
im ewigen Eis und laufen deshalb nicht heiß.
Dafür ist es eine Kunst für sich, das tonnen-

W
ie durchlöchert auch
Deutsch­land bereits
ist, zeigt eine spezielle
Karte, die von der Bundesanstalt
für Geowissenschaften und Roh-
stoffe gepflegt wird (abrufbar un-
ter boreholemap.bgr.de). Vor al-
lem der Norden ist übersät mit
Bohrpunkten. Dass alles so gut
dokumentiert ist, liegt daran,
dass jeder, der bei uns mehr als
100 Meter in den Untergrund
der Bohrung begonnen. Konkret
suchten sie nichts, vielmehr ging
es darum, so tief wie möglich zu
kommen, um zu lernen, welche
Probleme bei derartigen Unter-
nehmungen entstehen können.
In ähnlicher Absicht hatten
sowjetische Wissenschaftler be-
reits 20 Jahre zuvor auf der Kola-
Halbinsel einen Tiefenrekord
aufgestellt: 12 262 Meter. Aller-
dings gab man das Vorhaben
schwere Material, das für Großbohrungen
benötigt wird, bei Temperaturen von um die
minus 40 Grad Celsius zum Laufen zu bringen.
In der Nähe des Südpols konnten russische
Wissenschaftler dennoch 3768 Meter tief ins
Eis bohren. Dort stießen sie auf ein riesiges
unterirdisches Gewässer, den Wostok-See.
Außerdem förderten sie einen kilometerlangen
Eiskern zutage, dessen Zusammensetzung
Informationen über 400 000 Jahre klimati-
scher Entwicklung auf der Erde enthält.
Eine ähnliche Beute erhoffen sich die For-
schungsteams des europäischen Epica-Pro-
jekts, die zurzeit in der Antarktis aktiv sind. Eine
3270 Meter tiefe Bohrung ins ewige Eis gelang
bereits, gefunden wurde dabei Wasser, das vor
900 000 Jahren gefroren ist. Gerade sind die
Bohrer des Projekts im Einsatz, um ein weiteres
Loch auszuheben: In 2500 Metern Tiefe wollen
die Forscher Eis bergen, das sogar 1,5 Millionen
Jahre alt ist.

Die tiefste Bohrung der Welt gelang

russischen Forschenden zwischen
1970 und 1992 auf der Kola-Halbinsel.
Heute ist das 12 262 Meter tiefe Loch
mit einem unspektakulären Metall-
deckel verschlossen
TECHNIK | BOHRUNGEN
nach dem Ende der Sowjetunion genutzt wird. Hier erforschen
auf, seitdem verfällt das Loch. Wissenschaftler beispielsweise
Heute befindet es sich inmitten die Auswirkungen tiefer Bohrun-
der verfallenen Anlage und ist le- gen auf die Stabilität im Boden.
diglich mit einer rostigen, von Dazu lassen sie Sensoren in die
zwölf Schrauben gesicherten Me- Tiefe hinab, die Erschütterungen
tallplatte abgedeckt. Deshalb gilt messen können. Mit einem sol-
die Bohrung von Windisch­ chen Geophon genannten Gerät
eschenbach, die 9101 Meter er- wollen sie herausfinden, ob
reichte, heute als tiefste, die noch menschliche Eingriffe in den Un-
tergrund Erdbeben auslösen
können. Eine große Leistung,
und doch eine bescheidene Stre-
cke angesichts der 6370 Kilome-
Bohren ohne Bohrkopf ter, die wir vom Erdmittelpunkt
entfernt sind. Wäre unser Planet
TECHNIK Das US-amerikanische Start-up ein Apfel, wir hätten nicht einmal
Quaise Energy will statt eines rotierenden die Schale durchstochen. Es ist
Bohrkopfs hochenergetische Wellen nutzen, gewissermaßen ein Kratzen an
um Gestein vor dem Bohrer zu verdampfen. der Oberfläche.
D
ass es irgendwann nicht
Millimeterwellen
mehr vorangeht, hat
Argon handfeste Gründe: Je wei-
Argon und ter man vorstößt, desto unge-
Felspartikel
Leitrohr mütlicher wird es. Schon in ober-
Bohrtunnel
flächennahen Zonen steigt der
Extreme Hitze
lässt das Gestein atmosphärische Druck, der dem
vor dem Bohrer Bohrmaterial zusetzt. Das Ge-
verdampfen, am stänge ist angesichts dieser Kräf-
Rand des Bohr-
te größten Belastungen ausge-
lochs aber nur
schmelzen und setzt. In größeren Tiefen wird
dann erstarren: So auch die Erdwärme zum Problem
soll sich ein stabi- Zement für das eingesetzte Material: Alle
ler Tunnel bilden
100 Meter steigt die Temperatur
um drei Grad, so die Faustregel.
Gestänge
Metalle und Mineralien, die an
r
M ete der Oberfläche hart sind, errei-
00 chen in einer Tiefe von mehreren
<30 Kilometern ihren Schmelzpunkt.
ter Zudem gleicht der Boden hier ei-
Me
00 ner weichen Masse. Die Folge:
<70
Das Bohrloch ist in diesen Tiefen
instabiler.
ter
Me Doch gerade das, was For-
00
Argon und >70 schenden und Bergleuten in der
Felspartikel Tiefe so sehr zu schaffen macht,
ist für andere Bohrprojekte in-
zwischen das eigentliche Ziel: die
Hitze. Geothermie ist das Fach-
wort für die saubere Energie aus
64 P.M. 03/2024
dem Erdinneren. Mit ihr könnte
die Menschheit klimaneutral
Wärme und Elektrizität in einem
schier unerschöpflichen Ausmaß
gewinnen. Vorreiter ist Island,
wo die Erdkruste besonders dünn
ist. Dort werden bereits 27 Pro-
zent der Energie aus dem Erdin-
neren bezogen; neun von zehn
Haushalten heizen mit Geother-
mie. Auch unter jeder größeren
deutschen Stadt wird derzeit
nach heißen Quellen gesucht. In
Potsdam haben sich die Bohrer
dazu bis auf 1800 Meter Tiefe vor-
gearbeitet. Dort gibt es eine Bunt-
sandstein-Schicht, die Wasser
von 65 bis 70 Grad Celsius führt.
Berlin, Frankfurt und Hamburg
haben ähnliche Pläne vorgestellt.
Und es geht immer weiter
­hinab: Im französischen Straß-
burg gingen die Ingenieure auf
4600 Meter Tiefe, um an das dort
200 Grad heiße Wasser zu kom-
men. Finnland plant sogar, sechs
Kilometer ins Erdinnere vorzu-
dringen – das wäre die weltweit
tiefste Bohrung für Geothermie.
Um die Wärme an die Ober-
fläche zu fördern, gibt es mehre-
re Verfahren. Entweder werden
unterirdische Wasserreservoirs
direkt angezapft – das nennt man
ein „offenes System“. Dabei wer-
den zwei Löcher gebohrt: eines,
F O T O S : P I C T U R E A L L I A N C E / D PA ; I L L U S T R AT I O N : Q U A I S E E N E R G Y
mit dem das heiße Wasser aus der
Erde gepumpt wird, und ein wei-
teres, mit dem das unterirdische
Reservoir mit frischem Wasser
nachgefüllt wird. Oder es wird
ein geschlossenes Kreislaufsys-
tem installiert, das aus Rohren
besteht, die Hunderte oder sogar
Tausende Meter lang und mit ei-
nem Wärmemittel – zum Beispiel
Wasser oder Kohlendioxid – ge-
füllt sind, das nicht direkt mit
dem unterirdischen Wasser in
Kontakt kommt. Es nimmt in der
Tiefe lediglich die Wärme auf.
 Energie aus 2000
Meter Tiefe: Bohrturm
und Gestänge am
Geothermie-Kraftwerk
in Potsdam

N
och spektakulärer ist al-
lerdings das, was die US-
amerikanische Firma
Quaise Energy vorhat. Das Start-
up aus dem Umfeld des Massa-
chusetts Institute of Technology
(MIT) will tiefer in den Unter-
grund als je ein Mensch zuvor: 20
Kilometer! In dieser Schicht ist es
nicht nur noch viel heißer, der
Druck ist zudem so hoch, dass das
Wasser einen neuen Zustand an-
nimmt: »Es wird überkritisch«
und kann dadurch deutlich mehr
Energie speichern. Laut Quaise
soll es damit nicht nur möglich
sein, Heizungen zu betreiben,
sondern auch Elektrizität in gro-
ßem Stil zu erzeugen. Dazu könn-
ten die Geothermie-Bohrlöcher
unter herkömmlichen Kraftwer-
ken gegraben werden, die bereits
über entsprechende Turbinen
verfügen.
Wie aber wollen die Quaise-
Techniker fast doppelt so weit ins
Erdinnere graben, wie es Sowjets
und Deutschen nur unter größ-
ten Anstrengungen gelungen ist?
Indem sie ein neues Bohrverfah-
ren anwenden: das »direct ener-
gy drilling«. Das Prinzip beruht
nicht auf einem schnell rotieren-
den Bohrer, sondern nutzt soge-
nannte Millimeterwellen. Die
Vibrationen erzeugen extrem
­
hohe Temperaturen am Bohr-
kopf und fräsen sich so immer
weiter in den Boden hinein. Das
verdrängte Gestein verdampft
dabei und wird mit Argon-Gas an
die Oberfläche gepresst. Gleich-
zeitig soll sich das Bohrloch durch
geschmolzenes und anschlie-
ßend erstarrtes Gestein fast von
selbst stabilisieren, versprechen
die Ingenieure.
Wie das allerdings in Tiefen
von mehr als zehn Kilometern
funktionieren soll, weiß man an-
gesichts der dort herrschenden
Bedingungen offenbar selbst bei
Quaise noch nicht. »Da sind noch
einige technische Herausforde-
rungen zu bewältigen«, sagt Fir­
mengrün­der Matt Houde. Bei­
spiels­weise sei das Problem der
Bohrlochstabilität noch nicht ge-
löst und erfor­dere weitere For-
schungsarbeit, auch mit Com­pu­
tersimulationen. Zunächst will
NEUE
Houde deshalb Pro­bebohrungen METHODEN
durchführen. Im günstigsten Fall
könnte demnach 2028 die erste SOLLEN
Geothermie-Anlage mit der Quai­
se-Technologie errichtet wer­­den.
BOHRUNGEN
Dafür plant der Unternehmer, BIS IN
die 20 Kilo­meter in nur 100 Tagen
zu schaffen. Das wäre eine weite- TIEFEN
re Sensation: Die Rekord-Boh-
rung auf der Kola-Halb­insel im
VON 20
Nordwesten Russlands hat sei­ KILOMETERN
ner­zeit 20 Jahre gedauert.
ERMÖGLICHEN
· Aund
uf der Suche nach Rohstoffen
Energie dringen Menschen in
immer größere Tiefen vor.
· Zukünftig wollen Forschende da-
bei auch erstmals den Erdmantel
erreichen.
· Techniker suchen Alternativen
zum klassischen Bohrkopf.

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FORSCHUNG | MEDIZIN

Die Blut-Hirn-Schranke bewahrt unser

Denkorgan vor Schäden durch Substanzen oder
Erreger – doch manchmal ist sie zu perfekt
T E X T : S U S A N N E PAU L S E N

Ein rätselha
Schutz
68 P.M. 03/2024
 Die feinen Blutgefäße
im Gehirn (rot) sind
von einer besonderen
Schutzschicht
umgeben, die sie von
Nerven- und Stütz-
zellen trennt

G ehirn und Rückenmark sind tiefblau

gefärbt; das übrige Gewebe aber ist farblos geblie-
ben. Das berichtet der Chirurg und Naturforscher
Edwin Goldmann im Jahr 1913 und kommentiert:
ein »über Erwarten erstaunliches Bild«. Goldmann,
Professor an der Universität Freiburg im Breisgau,
hat einen der damals in der Forschung gängigen
­Färbeversuche durchgeführt. Dafür hat er verschie-
denen Tieren einen giftigen Farbstoff direkt ins Ge-
hirnwasser ­injiziert und nach ihrem Tod diverse
Gewebeschnitte angefertigt.
In den Jahrzehnten vor diesem aus der Rück-
schau bahnbrechenden Experiment hatten Wissen-
schaftler Versuchstieren Farbstoffe lediglich in die
Blutbahn gespritzt. Dabei waren stets das Gehirn
und das Rückenmark schneeweiß geblieben, und
der Rest des Körpers hatte sich gefärbt.
Die Forschenden hatten daraus zunächst und
fälschlich gefolgert, dass ihre Farbstoffe zwar im Ge-
hirn ankamen, aber wohl schlicht keine lebenden
Nervenzellen anfärbten. Erst Goldmanns Versuch
machte klar: Die Farben waren gar nicht ins Gehirn
gelangt. Gehirn und Blut sind also voneinander ge-
trennt – durch einen, wie Goldmann damals schrieb,

after
»rätselhaften Schutz«.
Goldmanns Genfer Kollegin, die 1878 im russi-
schen Reich geborene Physiologin Lina Stern, präg-
te 1920 einen Namen für das Phänomen: »barrière
hémato-encephalique«, auf Deutsch: Blut-Hirn-
Schranke. Heute wissen wir, dass die innerste Zell-
schicht vieler feiner Äderchen mit diversen Zell­
typen und besonderen Verbindungen untereinander
diese Barriere bildet. Äderchen, die das Hirn in
I L L U S TA R T I O N : S C I E N C E P H O T O L I B R A RY

­einem dichten Netzwerk durchziehen. Zusammen-

gerechnet sind diese Hirnkapillaren um die 500 Ki-
lometer lang. Ihre Innenfläche ist mit zehn Quad-
ratmetern so groß wie ein kleines Zimmer.
Im Gehirn sind diese Kapillaren und Zellen viel
fester miteinander verbunden als in allen anderen
Bereichen des Blutgefäßsystems, ausgenommen
viel­leicht der Harnblase, die ebenfalls eine sehr
starke Barrierefunktion hat. Zwischen den Zellen
kommt deshalb kaum ein Molekül hindurch.

03/2024 P.M. 69
 Die Illustration zeigt Goldmanns
Versuche an Kaninchen. Die blaue
Flüssigkeit, die er in das Hirnwasser
injizierte, umspült das Rückenmark
und Teile des Gehirns

logische Barriere einen der vorderen Plätze. Der

Grund: Sie ist der modernen Arzneitherapie im
Weg. Ärztinnen und Ärzte wollen verständlicher-

F O T O U N D I L L U S T R AT I O N E N : S M I T H O N I A N , S C I E N C E P H O T O
weise nur in Sonderfällen durch den Schädelkno-
chen bohren oder mit einer Kanüle in den Nacken

L I B R A RY , P U B L I C D O M A I N V I A R E S E A R C H G AT E ( 2 )
stechen, um das Gehirnwasser oder Gehirngewebe
direkt zu erreichen. Diese Verfahren sind aufwen-
dig, unangenehm und nicht ohne Risiko.
Doch der bequeme Weg der M
­ edikamentengabe –
ein Mittel wird geschluckt oder gespritzt, kreist in
den Adern und dringt in die Gewebe – scheitert sehr
oft: Mehr als 98 Prozent unserer Arzneien dringen
gar nicht oder nur in äußerst geringen Konzentra-
tionen durch die Blut-Hirn-Schranke und wirken so
nicht auf das Gehirn. Besonders undurchlässig ist
die Barriere ausgerechnet für viele moderne Mittel,
die oft aus sehr großen Molekülen bestehen.
Edwin Goldmann starb
zwei Monate nach sei-
nen bahnbrechenden
Versuchen, die das
Rätsel der Schutz-
schicht für das Gehirn Das Barriere-System erbringt dabei eine intelli-
zu lösen suchten. gente Leistung: Es schützt das Gehirn durch seinen
Seine Kollegin Lina ausgeklügelten Aufbau einerseits vor Bakterien,
Stern prägte den
­Viren und krankmachenden Stoffen. Andererseits
­Begriff Blut-Hirn-
Schranke (unten, lässt es Lebenswichtiges durch. So können einige
bei einem Besuch in wenige Stoffe die Zellen der Blutgefäße eigenständig
New Haven 1929) passieren. Es handelt sich um fettlösliche Sub­
stanzen mit kleiner Molekülgröße, etwa den lebens-
notwendige Sauerstoff, aber auch um Stress- und
Sexualhormone.

V
iele andere Moleküle aus dem Blut brau-
chen dagegen beim Transport Hilfe und
werden von Proteinen aktiv ins Hirn hin-
ein- oder herausgeschleust. Unterstützt von Hilfs-
zellen, den Astrozyten, sorgen die Hirnkapillaren
samt Transportproteinen also dafür, dass das Hirn
ausreichend mit Substanzen versorgt wird, die nicht
passiv durch die Schranke treten können. Sie pum-
pen zum Beispiel den lebensnotwendigen Trauben-
zucker ins Gehirn.
Und manchmal geht etwas schief, und es gelangt
etwas durch, was den Nervenzellen schadet. Auf-
grund ihrer Molekülstruktur treten zum Beispiel die
Zellgifte Alkohol und Nikotin durch die Blut-Hirn-
Schranke – ein biologisches »Versehen«, das diese
Substanzen die Hirnfunktion verändern lässt und
sie so zu Genuss- und Suchtmitteln macht.
Sollte man die großen Herausforderungen der
heutigen Medizin benennen, dann belegt die bio­

70 P.M. 03/2024

Die innerste Zellschicht
vieler feiner Äderchen
bildet diese
schützende Barriere
Gleichzeitig ist die Lebenserwartung gestiegen
und mit ihr der Bedarf an wirksamen Behandlungen
für das Hirn, denn die Zahl der von Alterserkran-
kungen des Hirngewebes wie Alzheimer oder Par-
kinson Betroffenen hat drastisch zugenommen.
Dar­über hinaus wären natürlich auch verbesserte
Arz­neimittel, etwa gegen Multiple Sklerose, Hirntu-
moren oder auch gegen psychische Erkrankungen,
hoch erwünscht.
Weltweit suchen Forschende deshalb nach Me-
thoden, um Medikamente aus dem Blut ins Hirn zu
schleusen. Eine Erfahrung teilen sie alle: Die zarte
Schranke erweist sich als zäher Widerpart. Daher
entwickeln sie die erstaunlichsten Techniken, von
FORSCHUNG | MEDIZIN
brachial bis subtil. Die älteste wurde erstmals An-
fang der 1980er-Jahre an Menschen getestet. Da-
mals ging es darum, die Blut-Hirn-Schranke auf
ganzer Fläche zu durchbrechen, um eine Chemo-
therapie gegen Gehirntumoren durchzuführen.
Der US-amerikanische Neuroonkologe Edward
Neuwelt verwendete dazu Mannitol – einen Zucker-
alkohol, der in der Natur unter anderem im süßen
Saft der Manna-Esche vorkommt.
Neuwelts Team injizierte seinen Patienten eine
hoch konzentrierte Mannitol-Lösung in die Hals-
schlagader. Von dort gelangte sie in die Hirnkapilla-
ren und entzog deren innerer Zellschicht Wasser.
Ähnliches passiert zum Beispiel, wenn salziges
Meerwasser bei längerem Kontakt die Haut aus-
Wenn Medikamente
(blau) in den Hirnzellen trocknet. Die Zellen der Hirnkapillaren schrumpf-
ankommen sollen, ten. Dadurch brachen die festen Verbindungen
dann müssen sie aus
den Blutgefäßen in das
Hirngewebe gelangen
 Das mikrofotografi-
sche Bild zeigt was
passiert, wenn die
Blut-Hirn-Schranke
durchbrochen wird.
Forschende injizierten
einen roten Stoff, der
aus dem Gefäß (rund,
Mitte des Bildes) in das
umliegende Gewebe
eindringt

Ausgeklügeltes
System
Die engen Verbin­
dungen zwischen den
Endothelzellen, die
B LU T - H I R N - SC H R A N K E Tight Junctions, sind
das entscheidende
Element der Schutz­
Basalmembran schicht zwischen

F O T O S : S C I E N C E P H O T O L I B R A RY , M A U R I T I U S ; I N F O G R A F I K : S H U T T E R S T O C K
Blutbahn und Gehirn­
Astrozyt gewebe. Sie kontrol­
Perizyt lieren, unter anderem
mithilfe von Prote­
Zellkern
inen, welche Stoffe
Endothelzelle die Blut-Hirn-Schran­
ke passieren. Die
Blutgefäß Astrozyten regulieren
über die Ausschüt­
tung von Substanzen
die Durchblutung, die
Tight Junction Perizyten können sich
zusammenziehen
Neuron und darüber die Ge­
fäße erweitern oder
verengen. Die Basal­
membran stützt die
Schutzschicht

72 P.M. 03/2024
 FORSCHUNG | MEDIZIN

Oft tarnen sie die

Arzneien, die ins Hirn
gelangen sollen

zwischen ihnen vorübergehend auf, und ein Medi-

kament gegen Krebs gelangte vermehrt aus dem
Blut ins Hirn. Bis heute setzen Forschende diese
­Methode im Rahmen kleiner Studien bei Betroffe-
nen mit aggressiven Hirntumoren ein. Sie kann
­allerdings ernste Nebenwirkungen wie etwa leichte
Schlaganfälle verursachen, die man nur in Kauf
nimmt, wenn man äußerst gefährliche Erkrankun-
gen bekämpft.
Besser verträglich sind anscheinend Verfahren,
die auf fokussierten Ultraschall setzen. Dabei sprit-
zen Forschende zunächst kleine Bläschen, Micro-
bubbles, in die Blutbahn (siehe auch Erläuterungen
und Grafik auf der nächsten Doppelseite). Anschlie-
ßend regen sie die winzigen, von einer dünnen
Membran umgebenen Gasbläschen in einem eng
umschriebenen Bereich des Gehirns durch hoch-
frequente Wellen zum Schwingen an. Das rüttelt die Anfällige Hunde
Hirnkapillaren, die die Schranke bilden, anschei-
nend regelrecht auf. Nach etwa 30 Minuten begin- GENETIK »White feet, don’t treat!« (»Weiße Füße, nicht
nen sie, sich wieder zu schließen. behandeln!«). So lautet im Englischen ein warnender Spruch.
Er bezieht sich nicht auf Menschen, sondern auf Border

D
ie Methode wurde erstmals 2015 in den USA
an Menschen mit Hirntumoren eingesetzt,
die eine Chemotherapie benötigten. 2023
wurde sie in Spanien bei drei Personen erprobt, die
an der Parkinson-Krankheit leiden. Hier ging es um
eine Gentherapie: Die Behandelnden schleusten ein
harmloses Virus ins erkrankte Gehirn, welches als
»Fähre« für ein eventuell heilsames Gen diente.
Ausgereift ist die Technik noch keineswegs; im Mo-
ment geht es vor allem darum, zu zeigen, dass sie
machbar und sicher ist.
Noch wesentlich komplexere Ideen verfolgen
Forschende, die darauf verzichten, die Blut-Hirn-
Schranke zu durchbrechen – und sich stattdessen
lieber deren natürliche Transportmechanismen zu-
nutze machen. Oft tarnen sie dabei die Arzneien, die
ins Hirn gelangen sollen.
Dazu schließen sie die Substanzen zum Beispiel
in winzige Hohlkügelchen aus biologischen Mem-
branen ein, die Liposomen. So wird verhindert, dass
die Schranke einen Teil der Medikamente unverzüg-
lich zurück in den Blutstrom pumpt.
Auf der Oberfläche tragen solche medikamen-
tenhaltige Liposomen Moleküle, die sich mit An-
dockstellen auf der Oberfläche der Kapillarzellen
im Hirn verbinden, den Rezeptoren. Das gibt der
Collies (Foto) oder verwandte Hunde wie Australian
Shepherds und Langhaar Whippets. Der Spruch fußt auf
der Beobachtung, dass viele Tiere dieser Rassen über­
empfindlich auf manche Medikamente reagieren, etwa auf
Wurmkuren oder Flohschutzmittel mit dem viel angewand­
ten Wirkstoff Ivermectin. Die Hunde sind nach dessen Gabe
desorientiert, zittern und erbrechen sich, können sogar
sterben. Für andere Rassen sind die Mittel harmlos. Was
einen Pudel heilt, kann also einen Collie umbringen.
Heute weiß man: Die betroffenen Tiere haben einen
ererbten Gendefekt. Ein Eiweißmolekül, das P-Glykoprotein,
kann deshalb seine Funktion nicht ausüben. Das macht sich
unter anderem in der Blut-Hirn-Schranke bemerkbar, wo es
normalerweise als »molekulare Pumpe« Giftstoffe – und
eben auch Medikamente – aus den Zellen der Hirnkapillaren
zurück ins Blut transportiert.
Mittlerweile wurden weltweit mehr als 60 000 Hunde
auf diesen Defekt untersucht. Es zeigte sich, dass er außer
bei Collies noch bei weiteren Hunderassen vorkommt, unter
anderem beim Deutschen Schäferhund. Auch bei Misch­
lingshunden und bei Katzen, etwa der Rassen Main Coon
oder Türkisch Angora, tritt er zuweilen auf. Korrekt muss der
Spruch also lauten: Nicht nur weiße Füße vor der Behand­
lung prüfen lassen! Mit einem PCR-Test lässt sich der
Genstatus bestimmen und die betreffenden Medikamente,
wenn nötig, vermeiden oder ersetzen.

03/2024 P.M. 73
FORSCHUNG | MEDIZIN
Fokussierter Gehirn
Ultraschall

Ausgedehnte Blut
Microbubble Zusammengezogene
Microbubble

Medikament

Innovative Methode
FOKUSSIERTER ULTRASCHALL Die Blut-Hirn-Schranke
wird in erster Linie durch eine Schicht von Zellen gebildet, die
eng durch »tight junctions« verbunden sind (blaue Striche).
Doch um Medikamente zu erkrankten Gehirnzellen zu
bringen, muss die Schutzschicht durchdrungen werden.
Forschende versuchen, dies mithilfe von feinen Bläschen in
Gehirn
der Blutbahn, Microbubbles, zu erreichen, die durch
fokussierten Ultraschall in Bewegung gesetzt werden. Wenn
sie sich ausdehnen, öffnet sich die Schutzbarriere und
Medikamente können ins Gehirn gelangen (Grafik). Andere
Teams versuchen, Wirkstoffe in den Bläschen unterzu­
bringen und diese durch Ultraschall platzen zu lassen.

Kapillarzelle das – falsche – Signal, ein für das Hirn

wichtiger Stoff müsse durchgeschleust werden. Ihre
Membran stülpt sich daraufhin ein, umschließt den
Rezeptor mitsamt des anhängenden Arzneikügel-
chens und transportiert das »trojanische Pferd«
durchs Zellinnere ins Gehirn.
Hirnschrankengängige Liposomen, die einen
Entzündungshemmer enthalten, werden derzeit
von einer niederländischen Firma an gesunden
Freiwilligen auf Sicherheit getestet. Sie könnten in
Zukunft gegen akute Schübe von Multipler Sklerose

F O T O S : A P / P I C T U R E A L L I A N C E / S U N N Y B R O O K H E A LT H S C I E N C E S C E N T R E ( 2 )
eingesetzt werden, um unangenehme oder gar ge-
fährliche Nebenwirkungen des Entzündungshem-
mers in anderen Organen zu verringern.

A I N F O G R A F I K : W O L F PA C K B M E 2 0 2 2 / W I K I M E D I A C O M M O N S
llererste klinische Tests, die Blut-Hirn-
Schranke per Rezeptor-Transport zu über-
winden, sind auch mit Antikörpern gegen
Proteine durchgeführt worden, die sich im Laufe ei-
ner Alzheimer-Erkrankung im Gehirn ansammeln.
Diese Art von Medikamenten ist bereits zur Be-
handlung von Alzheimer-Erkrankten zugelassen.
Gehirn-Aufnahmen des
Alzheimer-Patienten, Die Mittel erreichen das Gehirn aber nur in gerin-
der in Toronto mithilfe gen Mengen. Ein gezielterer Transport über die
von Ultraschall und Blut-Hirn-Schranke könnte sie wirksamer machen
Medikamenten – oder zumindest die derzeit horrenden Therapie-
behandelt wurde
kosten verringern.
Bisher wurden aber noch keine Erfolge vermel-
det. Und so steckt die klinische Forschung zur Über-

74 P.M. 03/2024
03/2024

windung der Blut-Hirn-Schranke noch in den Kin-
derschuhen. Denkbar, dass viele Behandlungen des
Hirns, die theoretisch möglich sind, noch jahrzehn-
telang an genau dem Mechanismus scheitern wer-
den, der es schützt. Doch einiges spricht dafür, dass
es anders kommen könnte.
Die chinesischen Autoren eines 2023 erschie­
nenen Artikels in der Wissenschaftszeitschrift
­»Nature« diagnostizieren einen regelrechten Boom
in der Laborforschung zur Blut-Hirn-Schranke. Die
ersten Forschungsentwicklungen hätten bereits zu
großen Fortschritten geführt, die in den kommen-
den Jahren womöglich die klinische Anwendung
­erleichtern würden.
Auch die Industrie, in der Vergangenheit eher
zurückhaltend, beschäftigt sich inzwischen zuneh-
mend mit Methoden zum Überwinden der Schranke
im Schädelinnern. Beste Bedingungen für Durch-
brüche also. Sie würden das Spektrum medizini-
scher Möglichkeiten deutlich erweitern. Bis es so
Im Jahr 2017 erprobten Ärzte
in Toronto bei einem Alzhei-
mer-Patienten, ob sie dessen
Blut-Hirn-Schranke mithilfe
von Ultraschall öffnen können
weit ist, bleibt uns vor allem, die lebensnotwendige
Barriere intakt zu halten, damit sie unser Denk­
organ weiter schützen kann.
Zum Erhalt tragen alle Aktivitäten bei, die der
Gesundheit der Blutgefäße nützen. Dazu zählen ge-
nügend Bewegung, Entspannung und eine gesunde
Ernährung. Auf Rauchen und übermäßigen Alko-
holkonsum sollten wir verzichten – und ab spätes-
tens dem 50. Lebensjahr regelmäßig den Blutdruck
überprüfen.
· Dschädliche
ie Blut-Hirn-Schranke hat diverse Aufgaben. Sie hält
Stoffe und Erreger vom Gehirn fern – lässt
aber Lebensnotwendiges durch.
Susanne Paulsen
freut sich, dass nicht nur · Um neurologische Erkrankungen behandeln zu kön-
nen, muss die Schutzbarriere überwunden werden.
das Menschenhirn gut
geschützt ist: Sogar · Forscherteams weltweit suchen daher nach innovati-
ven Methoden, um neue Behandlungen zu entwickeln.
Fliegen besitzen eine
Blut-Hirn-Schranke.
03/2024 P.M. 75
 DIE NEU
AUSGAB E
E
ABABXX
9.X
2.X.
IM HAND
EL

VERGANGENE
REICHE
Sie mochten unbesiegbar scheinen und gingen den-
noch unter: P.M. History über Aufstieg, Blüte und Fall
einstiger Mächte, von der Antike bis zur Neuzeit
Themen-Schwerpunkt:
Vergangene Reiche

DER GRIFF NACH DER MACHT

Unter Assurnasirpal II. beginnt im 9. Jahrhun-
dert v. Chr. der Aufstieg Assyriens – zum bis
dahin größten Imperium der Geschichte (ganz
links). In Münster erheben radikale Gläubige
1534 einen Schneider zum König (links). Und im
Süden Afrikas erobert Shaka Zulu um 1820 die
Herrschaft über ein riesiges Territorium (oben)

ABBILDER DER ERDE

Schon aus der Jungsteinzeit ist eine
Art Stadtplan überliefert. Im Lauf der
Jahrhunderte werden Landkarten
immer genauer – und entwickeln
sich vom Hilfsmittel, etwa für
Seefahrer, zum Massenprodukt

SCHWUL IM KRIEG
In der Antike werden intime
Beziehungen zwischen
Kriegern mitunter glori- Ein Heft gratis für Sie.
fiziert. Doch der Aufstieg
des Christentums macht
Als Neu-Leser können Sie eine
Homosexualität im Militär Ausgabe kostenlos testen und
für lange Zeit zum Tabu
danach so lange weiterlesen, wie Sie
möchten. Das Heft kommt immer
frei ins Haus. Mehr Infos unter:
www.pm-history.de/gratisheft
 NEUE GAMES

Expedition nach Pandora

M
ehr als ein Jahrzehnt verging
zwischen den beiden »Ava­tar«-
Kinofilmen, doch nun geht es
Schlag auf Schlag: Drei weitere Filme sind
geplant, und auch das nächste Video­
game ist da. Avatar: Frontiers of Pandora
ist ein Open-World-Spiel, und das be­
deutet: Es lädt zum Erkunden ein und
dazu, sich darin heimisch zu fühlen.
Die Geschichte ist – außer für echte Fans – von Ubisoft. Niemand wollte also etwas
mehr oder w ­ eniger egal, nimmt sich falsch machen mit der Marke »Avatar«.
selbst aber sehr ernst. Im Kern geht es Wer nur ein paar Tage Ferien auf Pandora
darum, zu über­leben, Ressourcen zu verbringen möchte, macht dafür aber
sammeln, sie zu verarbeiten, stärker zu auch nichts falsch mit diesem Spiel.
werden. Und da das Spiel von Ubisoft ist,
sieht das alles ganz wundervoll aus und
für PC, Playstation, Xbox
steckt voller erstaunlicher Ideen, spielt freigegeben ab 16 Jahren
sich aber auch manch­mal wie »Far Cry« Ubisoft, ab ca. 70 Euro

BORN OF BREAD WAR HOSPITAL TICKET TO RIDE HELLO NEIGHBOR

Er heißt nicht Bernd, sondern
hört auf Stulle – ist aber auch
aus Brot: Der Held dieses
lustigen 2-D-trifft-3-D-Aben-
teuerspiels tollt mit seinen
Freunden durch eine Mär­chen-
­welt, besteht Kämpfe gegen
seltsame Kreaturen – und man
mag gar nicht mehr aufhören,
so charmant und liebenswert
ist das alles. Für Kinder und
gute Erwachsene.
für PC, Playstation, Xbox, Switch
ab 6 Jahren, Dear Villagers/Plug In
Digital, ab ca. 25 Euro
Das Grauen hinter der Front App Es gibt eine App In der gru­se-
des Ersten Weltkriegs zeigt neue mobile Ausgabe ligen 3-D-Adven-
»War Hospital«. In dem von »Ticket to Ride«, ture-Reihe geht es
Echtzeitstrategiespiel muss basierend auf dem Brettspiel immer darum, mal nach­
man sich um ein Feldlazarett »Zug um Zug«. Auch hier ist es zusehen, was der Nachbar so
kümmern, Verwundete das Ziel, ein Eisenbahn-Impe­ im Schilde führt. Auch in der
versorgen, moralisch knifflige rium aufzubauen. Das Brett ist neuen Folge »Nick’s Diaries«
Entscheidungen treffen. Das recht bunt geraten, es gibt gibt es Geheimnisse zu lüften:
geht an die Nieren, aber das hat gute KI-Gegner, aber man kann Hat der Nachbar wirklich Kinder
auch niemand anders erwartet. auch online gegen andere in seinem Keller versteckt?
Entstanden mit dem Imperial spielen. Mehr Features sollen Also los! Aber Vorsicht! Nicht
War Museum in London. bald folgen. erwischen lassen!
für PC, Playstation für iOS, Android u. a. für iOS, Android
freigegeben ab 12 Jahren, OmU Marmalade Game Studio tinyBuild
Nacon/BigBen, ca. 35 Euro 4,99 Euro (In-App-Käufe) gratis (Vollversion 7,99 Euro)

herausragend lohnt sich ganz okay mau schlimm

78 P.M. 03/2024 G E S P I E LT U N D B E W E R T E T V O N S V E N S T I L L I C H
 NEUE BÜCHER

MEHR MORAST! SEHNSUCHTSORT WELTALL MÄNNER IM WAHN AUFBRUCH INS ALTER

Wohl kaum eine Landschaft
erscheint uns vor dem inneren
Auge so unheimlich und öd wie
das Moor. Doch die Ökologin
vom Greifswald Moor Centrum
zeigt geradlinig und verständ-
lich auf, dass wir unser Bild vom
Moor überdenken sollten – und
macht Lust, sich nach einer
solchen Gegend umzusehen.
Selten ist man so nah dran:
Sechs Monate lang lebt man
förmlich mit dem Astronauten
Matthias Maurer auf der
internationalen Raumstation
ISS. Eine »Liebeserklärung an
den Weltraum«, so der
Unter­titel. Und geschrieben für
alle, die es wirklich in unend­
liche Weiten zieht.
Im 19. Jahrhundert gerät eine
junge Frau in die Fänge der
römisch-katholischen Kirche:
Mit aller Macht soll ihr der
Teufel ausgetrieben werden.
Eine wahre Geschichte, minu­-
tiös recherchiert, und ein Lehr-
stück darüber, was geschehen
kann, wenn Männer den Boden
des Faktischen verlassen.
Die Psychologin, Forscherin
und Therapeutin hat die zweite
Lebenshälfte ganz zu ihrem
Lebensthema gemacht. Mit
diesem Buch gibt sie nun allen
einen kundigen Helfer an die
Hand, die sich mit dem eigenen
Altern beschäftigen (möchten).
Wissenschaftlich fundiert, aber
gut zu lesen.

Das Moor Cosmic Kiss Veronica und der Teufel Own your age
Franziska Tanneberger Matthias Maurer Fernanda Alfieri Pasqualina Perrig-Chiello
dtv, 256 Seiten Droemer Knaur, 432 Seiten wbg Theiss, 368 Seiten Beltz, 288 Seiten
24 Euro, E-Book: 19,99 Euro 24 Euro, E-Book: 19,99 Euro 34 Euro 25 Euro, E-Book: 22,99 Euro

Fairness in der Krise

W Für Kinder
ir staunen über Hitzerekorde,
über Windgeschwindigkeiten und
Regenmengen. Doch allzu selten
­fragen wir uns, wer ihnen ganz besonders aus-
gesetzt ist, ja, wer nicht einmal die Möglich-
keit hat, sich von einer Katastrophe zu er­
holen, weil schon die nächste
droht. Kurz: Wir fragen uns sel-
ten, wie gerecht eine Welt in der
Klimakrise überhaupt sein kann.
Zum Glück gibt es Menschen wie
Friederike Otto. Die hoch angese-
hene Wissenschaftlerin, die früh
in ihrer Laufbahn von Deutsch-
land nach Großbritannien umzog
und heute dort am Imperial Col-
lege in London forscht, macht
sich in ihrem Buch auf die Suche nach Ant-
worten. Nicht für ein Fachpublikum, sondern
für alle, die nicht nur an sich denken. Denn, so Juli fliegt mit ihrem ultraleich-
schwer es sein mag: Die Klimakrise geht uns ten Raumschiff Ulf ins Weltall,
alle an. Aber, und das ist der Punkt: Sie trifft höher und höher steigen die
uns nicht alle gleich. Otto erklärt anschaulich beiden. Der Spaß dabei: Die-
acht extreme Wetterereignisse, ses Buch liest man von unten
was die Ursachen sind, wer be- nach oben. Und mit jedem Hö-
sonders betroffen ist und vor henmeter gibt es Neues zu
­allem: Was Klimagerechtigkeit entdecken: etwa Insekten, Vö-
tatsächlich bedeutet – und wie gel und Wolken, Flugzeuge,
sie sich herstellen ließe. Satelliten und Planeten.
Klimaungerechtigkeit Juli und Ulf fliegen ins
Friederike Otto Weltall, Iris Ott,
Ullstein, 336 Seiten Katapult, 48 Seiten,
22,99 Euro; E-Book: 18,99 Euro 18 Euro, ab 6 Jahren

großartig lesenswert okay verzichtbar ärgerlich

V O R G E S T E L LT V O N B E R T R A M W E I S S 03/2024 P.M. 79
GRENZBEREICHE | RAUMSONDEN

Botsc haf t
Keine anderen von Menschen
gebauten Geräte sind so weit
ins All vorgedrungen wie
»Voyager« 1 und 2. Sie sind seit
bald 47 Jahren unterwegs und
senden immer noch Signale.
Wie konnte dieser außer­
gewöhnliche Erfolg gelingen?
T E X T : U W E R E I C H E RT

Menschh
80 P.M. 03/2024
er
der

I L L U S T R AT I O N : C A R L O S C L A R I VA N / S C I / A KG - I M A G E S

eit Die fast baugleichen

Voyager-Sonden
besuchten die ­großen
Planeten des
Sonnensystems –
und ­stießen weiter ins
All vor (Illustration)

03/2024 P.M. 81
GRENZBEREICHE | RAUMSONDEN
I
n den ­60er-Jahren
des vergangenen Jahrhunderts
steckte die Raumfahrt noch in
den Kinderschuhen. Zwar um-
kreisten erste Satelliten und be-
mannte Kapseln die Erde, aber
viele der physikalisch-techni-
schen Grundlagen für interpla-
netare Reisen mussten erst noch
erarbeitet werden. Wie zum Bei-
spiel würde sich eine Sonde ver-
halten, wenn sie an einem Plane-
ten vorbeifliegt?
Michael Minovitch war da-
mals ein junger Mathematiker
am Jet Propulsion Laboratory
(JPL) im kalifornischen Pasade-
na. Das Institut konstruiert und
steuert Raumfahrzeuge für die
US-Raumfahrtbehörde Nasa.
­Minovitch erkannte 1961, dass
ein Vorbeiflug an einem Plane-
ten, ein »Swing-by-Manöver«,
die Reise­geschwindigkeit einer
Raumsonde erheblich erhöhen
würde. Nämlich, wenn sie sich
dem Himmelskörper, der ja im
Raum nicht stillsteht, sondern
sich auf einer Bahn um die Sonne
bewegt, von hinten nähert.
In diesem Falle wird ein win-
ziger Teil der Bahnenergie des
Planeten auf das vorbeifliegende
Raumfahrzeug übertragen, wo-
durch es einen zusätzlichen Kick
bekommt. Auf diese Weise ändert
eine Sonde nicht nur ihre Flug-
richtung, sondern sie wird auch
deutlich schneller, ohne dass sie
einen Tropfen Treibstoff ver-
braucht. Umgekehrt lässt sich ein
Raumfahrzeug abbremsen, wenn
es sich während des Vorbeiflugs
von dem Planeten einholen lässt:
In dieser Situation wird es eben-
falls abgelenkt, verliert aber an
Geschwindigkeit, weil es nun
selbst einen Teil seiner Bahn-
energie an den viel größeren
150
Millionen Kilometer
etwa misst die Ent-
fernung zwischen
Erde und Sonne.
Diese Distanz nutzen
Wissenschaftler als Him­­melskörper überträgt. Dieser
sogenannte Astro- wird dadurch zwar theoretisch
nomische Einheit. Sie schneller; wegen des enormen
hilft dabei, die enor- Massenunterschieds zwischen
men Dimensionen Sonde und Planet ist der Effekt
des Weltalls zu fas- aber unmessbar klein.
sen. Auf dieser Skala Während Minovitch mit sei-
ist Neptun 30 Astro- nen Überlegungen die Grundla-
nomische Einheiten gen für die spätere interplaneta-
von der Sonne ent- re Raumfahrt erarbeitet hatte,
fernt. Die Distanzen erkannte sein Forscherkollege
zwischen Voyager 1 Gary Flandro, ebenfalls am JPL,
und 2 und der Erde einen günstigen Zeitpunkt für
betragen inzwischen eine Mission. Die Erde und die
162 beziehungsweise vier großen äußeren Planeten Ju-
135 Astronomische piter, Saturn, Uranus und Nep-
Einheiten, also etwa tun würden jeweils im Sommer
24 Milliarden bezie- der Jahre 1977 bis 1979 so günstig
hungsweise 20 Mil- angeordnet sein, dass ein einzi-
liarden Kilometer ges Raumfahrzeug sie der Reihe
nach erreichen könnte. Eine
günstige Stellung dieser Plane-
ten, die sich nur alle 176 Jahre
wiederholt, ermöglichte es, sie
gewissermaßen in einem Rutsch
zu besuchen.
D
och die technischen Her-
ausforderungen für eine
Im Kontrollraum des Mission ins äußere Son-
Jet Propulsion Labora­
tory in Pasadena, nensystem waren immens. Zu-
Kalifornien, behalten dem war schlicht kein Geld da,
die Ingenieure (hier denn der allergrößte Teil des
1989) den Flug durchs Budgets der Nasa floss in das mit
All im Blick
hoher Priorität vorangetriebene
Apollo-Mondlandeprogramm.
Erst als das öffentliche Inter-
esse an den Mondlandungen er-
F O T O S : C O R B I S V I A G E T T Y I M A G E S ( 2 ) ; I N F O G R A F I K : D PA
lahmte und als das Apollo-Pro-
gramm vorzeitig beendet wurde,
kam am JPL Bewegung in die Sa-
che: Im Sommer 1972 bewilligte
der US-Kongress Finanzmittel
für den Bau zweier wissenschaft-
licher Sonden, die 1977 zum Jupi-
ter und Saturn starten sollten.
Die JPL-Ingenieure führten zahl-
reiche Innovationen ein, unter
anderem ein Computersystem,
das aus drei einzelnen Rechnern
besteht, die jeweils durch ein Er-
 Die Raumsonden
ermöglichen der
Menschheit völlig neue
Ansichten, hier etwa
1989 vom Neptun

satzgerät abgesichert sind. Der

für die Kommunikation und den
Betrieb zuständige Rechner über­
wacht die wichtigen Funk­tio­nen,
erkennt Fehler und korrigiert sie
selbsttätig.

D
amit waren die Voyager-
Sonden die ersten, die
autonom agieren konn-
ten und nicht mehr permanent
von der irdischen Bodenstation
unterstützt werden mussten.
Wurden die Vorgänger der Voya-
ger-Sonden, Pioneer 10 und 11,
noch über eine Echtzeit-Funk-
verbindung an der langen Leine
geführt, gestattete man ihren
Nachfolgern nun freien Auslauf.
Damit sie trotzdem gehorchten,
sorgte ein zweiter Bordrechner
für ihre korrekte Ausrichtung
und Flugbahn, während ein drit-
ter Rechner die Messdaten der elf
Geräte an Bord vor der Übermitt-
lung zur Erde aufbereitete.
Der nur 32 Kilobyte große Ar-
beitsspeicher der Voyager-Bord-
computer wirkt heute äußerst
spärlich. Auch damals reichte er
noch nicht einmal für ein
Schwarz-Weiß-Bild der Bordka-
mera. Als Lösung bauten die JPL-
Ingenieure ein Magnetbandgerät
ein, das Daten zwischenspeicher-
te, bevor sie dann in kleinen Mast mit goldene Daten-Platte mit Bild-
Schritten über die Bordantenne Magnetometer und Tonaufzeichnungen
zur Erde gefunkt wurden.
Nach zweijähriger Bauzeit Parabol-
starteten die beiden Voyager- Antenne Kamera
Son­den im Sommer 1977. Zu-
nächst war nur ein Vorbeiflug an Zwillingssonde
Jupiter und Saturn geplant. Für
die Starttermine war bewusst ein SONDE Die Raumfahrzeuge
zeitlicher Versatz vorgesehen »Voyager 1« und »Voyager 2«
wor­­den: Voyager 2 startete am sind baugleich. Eigentlich waren
20. August 1977, ihre baugleiche sie nur geschaffen worden für
UV-
Schwestersonde Voyager 1 am eine vierjährige Mission. Doch Batterie Treibstofftank Spektro-
5. Sep­tember. Letztere bekam ihre Technik ist so robust, dass (radioaktiv) meter
­ei­ne höhere Fluggeschwindigkeit sie immer noch fliegen – und
mit, sie sollte als Erste beim Signale senden.

03/2024 P.M. 83
GRENZBEREICHE | RAUMSONDEN
Mit nur 480 Kilometern
Durchmesser ist Miranda der
kleinste der fünf größeren
Monde des Uranus. Voyager 2
nahm den Trabanten auf
(oben), als die Sonde den Pla­
neten 1986 passierte. Dabei
entstand auch eine Aufnahme
des Systems von Ringen, das
den Eisriesen umgibt (unten).
Bis heute werten Forschende
die Daten aus
Am 25. August 1989 erstellt
Voyager 2 eine Videoaufnah­
me von Neptun, dem äußers­
ten Planeten des Sonnen­
systems: Es offenbart heftige
Turbulenzen in der Atmo­
sphäre des Gasriesen
84 P.M. 03/2024
J­upiter ankommen. Das ermög­
lich­te es den Flugkontrolleuren,
die während des Vorbeiflugs der
Sonde gesammelten Er­fah­run­­
gen auf Voyager 2 anzuwenden
und deren Beobachtungspro-
gramm anzupassen.
Tatsächlich gleicht die Dop-
pelmission zwei Geschwistern,
die unter gleichen Bedingungen
ins Leben starten, aber unter-
schiedliche Wege einschlagen,
dabei verschiedene Erfahrungen
machen und auch unterschiedli-
che Krankheiten erleiden. Was
auf sie zukommen würde, war
anfangs kaum abzusehen.
D
er erste Zwischenfall er-
eignete sich bereits kurz
nach dem Start. Die Bord-
computer von Voyager 2 melde-
ten, einer der Ausleger sei nicht
vollständig ausgefahren; die Bo-
denkontrolle wies die Bordrech-
ner jedoch einfach an, den Fehler
zu ignorieren.
Als deutlich gravierender er-
wies sich der vollständige Ausfall
eines Funkempfängers an Bord
von Voyager 2 ein halbes Jahr
nach dem Start. Zu allem Übel
war im Reservegerät ein Bauteil
F O T O S : M A U R I T I U S I M A G E S , S C I E N C E P H O T O L I B R A RY , N A S A / J P L - C A LT E C H ,
kaputtgegangen, das die Sende-
und Empfangsfrequenz automa-
tisch anpassen sollte. Die Folge:
Der schmale Frequenzbereich, in
dem Voyager 2 Signale »hören«
konnte, reichte nicht mehr aus.
Das Raumfahrzeug war praktisch
taub, noch bevor es sein erstes
Ziel erreichte.
Um den Hörschaden von Vo-
yager 2 zu kompensieren, gab es
nur einen Weg: Die Kontrolleure
D PA P I C T U R E - A L L I A N C E
mussten fortan die Wirkung der
Relativbewegung zwischen Son-
de und Erde vorausberechnen
und die Frequenzen ihrer irdi-
schen Sender anpassen. Und
nach jedem die Temperatur an
 Ingenieure des Jet
Propulsion Laboratory,
geführt vom California
Institute of Techno­
logy, arbeiten 1977 an
Voyager 2

Bord verändernden Manöver

mussten sie warten, bis sie neue
Signale senden konnten.
Voyager 1 hingegen hätte fast
nicht die vorgesehene Flugbahn
erreicht, weil die Oberstufe der
Startrakete zu viel Treibstoff ver-
brauchte. Doch ohne große Zwi-
schenfälle erreichte sie nach 18
Monaten Flugzeit am 5. März 1979
den Jupiter. Die meiste Zeit die-
ser Reiseetappe hatte die Sonde
im Stand-by-Modus verbracht.
Zwei Monate vor Ankunft am Rie-
senplaneten begannen die Mes-
sungen. Und während der kurzen
Vorbeiflugphase richteten die
Instrumente ihr Augenmerk
nicht nur auf die Atmosphäre des
Gasplaneten, sondern auch auf Das Raumfahrzeug war praktisch
die vier großen Jupitermonde: Io,
Europa, Ganymed und Kallisto. taub, noch ehe es sein erstes Ziel erreichte

A
n Io zog die Sonde in we-
niger als 20 000 Kilome-
ter Abstand vorbei. Als flüssigen Schwefel speien. Die Himmelskörper grundsätzlich
die Bilddaten auf der Erde eintra- Nähe zu dem Riesenplaneten er- überdenken und erweitern müs-
fen, waren die Wissenschaftler zeugt offenbar so starke Gezei- sen.
am JLP überrascht: Der innerste tenkräfte in dem Mond, dass sein

der vier großen Jupitermonde
sah gänzlich anders aus als unser
Erdmond. Von Einschlagkratern
keine Spur; stattdessen ist seine
Oberfläche übersät mit aktiven
Vulkanen, die hohe Fontänen
ausspucken. Nachfolgende Ana-
lysen ergaben, dass die Vulkane
Inneres durchgewalkt und auf-
geheizt wird. Vulkanismus war
bis dahin nur von unserer Erde
bekannt, und die Entdeckung
dieses Phänomens im Jupitersys-
tem lieferte den ersten Beleg,
dass wir unsere Vorstellungen
von der Beschaffenheit anderer
V
ier Monate nach V ­ oyager 1
erreichte ihre Schwes-
tersonde das Jupitersys-
tem. Deren Beobachtungspro-
gramm war inzwischen angepasst
worden. So konnte unter ande-
rem während des Vorbeiflugs ein
Bildmosaik entstehen, das klar
einen im Gegenlicht der Sonne
aufleuchtenden Ring um Jupiter
zeigte – eine weitere unerwartete
Entdeckung der Mission.
Während die Wissenschaftler Grand Tour
nun darüber nachzudenken be- Auf einer Internet-
gannen, wie ein solcher Ring um seite stellt die Nasa
Jupiter entstanden sein könnte, ausführliche Infor-
waren die beiden Voyager-Son- mationen bereit. Die
den dank des Swing-by-Manö- beeindruckende
vers um den Riesenplaneten Mission der Voyager-
­herumgeschleudert worden und Zwillinge lässt sich in
be­fanden sich jetzt – mit höherer all ihren Facetten
Geschwindigkeit als zuvor – auf nachvollziehen

03/2024 P.M. 85
GRENZBEREICHE | RAUMSONDEN

1 2

86 P.M. 03/2024
Auf dunklem Grund
1 Nach 18 Monaten Flugzeit
erreichte Voyager 1 im März
1979 den Jupiter 2 Auch
Voyager 2 sandte Bilder des
Riesen, zusammengesetzt
und farblich verstärkt zeigen
sie ein detailreiches Abbild
der Oberfläche 3 Auch of­
fenbarte sich: Der Jupiter­
mond Io ist übersät von ge­
waltigen Vulkanen 4 Zehn
Jahre später erreichte Voya­
ger 2 den Neptun. Bis heute
prägen die Beobachtungen
das Bild, das die meisten
Menschen von dem Planeten
haben. Doch vor Kurzem
zeigten Wissenschaftler von
der Universität Oxford, dass
Neptun längst nicht so blau
ist, wie es bislang wirkt: Aus
den Voyager-Daten erstell­
ten sie eine neue, hellblaue
Darstellung. Sie komme der
Realität weitaus näher, so
die Forschenden
dem Weg zum Saturn. Erst als
­Voyager 1 im November 1980 und
Voyager 2 im August 1981 am
Saturn vorbeiflogen, gelangen
­
wirklich gute Aufnahmen des
Gasplaneten und seiner Ringe.
Sie revolutionierten unser Wis-
sen, ähnlich wie die ersten Fern-
rohrbeobachtungen Anfang des
17. Jahrhunderts.
A
m Saturn trennten sich
nun die Wege der Voya-
ger-Doppelsonden end-
gültig. Voyager 1 war am Südpol
des Ringplaneten vorbeigeflogen
und wurde durch das Swing-by-
Manöver auf eine Bahn geschleu-
F O T O S : G E T T Y I M A G E S , M A U R I T I U S I M A G E S ( 2 ) , A KG I M A G E S ,
dert, die sie in einem Winkel von
35 Grad zur Bahnebene des Son-
nensystems nach Norden führte.
PAT R I C K I R W I N / U N I V E R S I T Y O F OX F O R D / N A S A
Die Passage eines weiteren Plane-
ten war damit ausgeschlossen.
Für Voyager 2 hatte die Nasa hin-
gegen schon vor dem Saturn-­
Vorbeiflug eine Verlängerung der
Mission beschlossen. Ihre Bahn
wurde entsprechend angepasst,
und mit dem Energie-Kick des
Ringplaneten nahm die Sonde
jetzt Kurs auf ein noch ferneres
Ziel: Uranus.
03/2024 P.M. 87
 Voyage r 1

Neptun
Uranus
Jupiter

Saturn
5 . M ä rz
Voyager 1
r2

kommt dem
ag e

Jupiter am
Voy

nächsten
1 7 . F e b rua r
1 2 . Nov e m b e r 1 4 . F e b rua r Voyager 1
Voyager 1 Letztes Voya- überholt die
5 . Se pt e m b e r passiert Saturn ger-Bild:
Voyager 1 Sonde
und verlässt Ansicht des Pioneer 10
startet vom das Sonnen- Sonnensys-
Kennedy Space und wird das
system tems am weitesten
Flight Center 2 5 . August
entfernte Ob- Voyager 1
jekt, das 1 5 . De z e m b e r tritt in den
Menschen Voyager 1 interstellaren
hergestellt erreicht die Raum ein
haben Randstoßwelle

1
VOYAGE R

2
5 . Se pt e m b e r 1 3 . August
Voyager 2 Voyager 2
erreicht die wird das am
Voyage r 1 Randstoß- längsten ak-
2 5 . August welle tive Raum-
2 5 . August Voyager 2 ist das erste fahrzeug
2 0 . August Voyager 2 Raumfahrzeug nahe Neptun
Voyager 2 passiert und beginnt die Reise über
startet vom Saturn
Bugschockwelle

das Sonnensystem hinaus

Randstoßwelle

Sonne
Kennedy
Heliopause

Space Flight 2 4 . Ja nua r Voyager 2

Center Voyager 2 beobachtet
9 . Ju l i kommt erst- ­Supernova
Voyager 2 kommt mals dem 1987A
dem Jupiter am ­Uranus nahe
nächsten

Voyage r 2

Als »Grand Tour«, als

»große Reise«, ging
die Reise der Voyagers
in die Raumfahrtge­
schichte ein Das Beobachtungsprogramm Am 24. Januar 1986 flog Voya- zu planen. Denn die Mission war
von Voyager 2 musste entspre- ger 2 schließlich bestens vorbe- noch einmal verlängert worden.
chend modifiziert werden. Wäh- reitet am siebten Planeten unse- Sie mussten den Beobachtungs-
rend der viereinhalb Jahre Flug- res Sonnensystems vorbei. Zur ablauf abermals optimieren, um
zeit bis zum nächsten Planeten wissenschaftlichen Ausbeute ge- der weiter sinkenden Leistung
FOTOS UND INFOGRAFIK: NASA (5)

programmierten die Ingenieure
die Bordrechner und justierten
auch andere Geräte völlig neu.
Wie es der Projektleiter Ed Stone
einmal ausdrückte: »Die Sonde,
die Uranus erreichte, war eine
andere als diejenige, die am Sa-
turn vorbeigeflogen war.«
hörten neben Nahaufnahmen der Energiequelle und Signal-
des grünlichen Gasplaneten die stärke des Bordsenders Rech-
Entdeckung von elf weiteren nung zu tragen.
Monden des Uranus. Auch wenn die Sonde noch
Unmittelbar nach dem Vor- erstaunlich gut funktionierte,
beiflug am Uranus begannen die war sie doch in die Jahre gekom-
Wissenschaftler am JPL, die ge- men. So waren Speicherzellen in
naue Flugbahn bis zum Neptun den Bordcomputern ausgefallen,

88 P.M. 03/2024
 GRENZBEREICHE | RAUMSONDEN

die nun gezielt durch eine Um-

programmierung ausgeschlos-
sen werden mussten. In seiner
bildhaften Beschreibung kom-
mentierte dies der wissenschaft-
liche Projektleiter Ed Stone ein-
mal so: »Das taube Raumschiff
bekam auch noch Arthrose und
wurde leicht senil.«

T
rotz Altersschwächen lie-
ferte Voyager 2 während
des Vorbeiflugs am Neptun
im August 1989 einzigartige Da-
ten. Wolkenstrukturen in der At-
mosphäre wurden ebenso ent-
deckt wie ein schwacher Ring um Visitenkarte der Erde
den Gasplaneten und neun wei-
tere Monde. Der größte Mond Tri- GOLDENE PLATTE An der Außenseite der
ton erwies sich als kleiner als zu- Voyager-Sonden ist jeweils eine Metallplatte
5 . nov e m b e r vor vermutet, und auch er zeigte angebracht für einen besonderen Fall: Sollten
Voyager 2 vulkanische Aktivitäten: Geysire außerirdische Intelligenzen sie entdecken,
überschreitet schleudern flüssigen Stickstoff in können sie darauf, so die Idee, Informationen
die Helio­
die Höhe, der zum Teil ausfriert finden. Etwa, wo sich unser Sonnensystem im
pause
und als Schnee auf die Oberflä- Verhältnis zu 14 Pulsaren befindet (Darstellung
che des Mondes herabrieselt. Die links unten auf der Scheibe) oder wie jene
letzten Bilddaten vom äußersten Daten abgelesen werden können, die auf einer
Planeten sandte Voyager 2 An- hinter dieser Platte liegenden Scheibe aus Gold
fang Oktober 1989. abgespeichert sind (obere Hälfte). Nämlich 27
Bis heute ist sie die einzige Musikstücke, Grußworte in 55 Sprachen, 35
Sonde, die uns Bilder und Mess- Geräusche und 115 Bilder, darunter etwa eine
daten von den Planeten Uranus Darstellung der Evolution und eine der Jagd.
und Neptun geliefert hat. Pläne
für weitere Missionen liegen
zwar in den Schubladen, aber

Komplexe Struktur:
Das farbverstärkte Bild
der Saturnringe, das
Voyager 2 im Jahr 1981
aufnahm, veranschau­
licht Unterschiede in
deren Aufbau

03/2024 P.M. 89
GRENZBEREICHE | RAUMSONDEN
Den Voyager-Sonden
gelangen 1980 und
1981 Aufnahmen des
Saturns, die unser
Wissen vervielfachten
bislang ist kein konkretes Projekt
geplant. Als »Grand Tour«, als
große Reise, ist dieses Unterneh-
men in die Raumfahrtgeschichte
eingegangen. Doch mit den Vor-
beiflügen an den äußeren Plane-
ten unseres Sonnensystems wa-
ren die Missionen noch lange
nicht zu Ende.
Denn mit Geschwindigkeiten
von rund 60 000 Kilometern pro
Stunde rasen die Zwillingsson-
den weiterhin von der Sonne
weg. Mit diesem Tempo könnten
sie die Strecke von Frankfurt
nach New York in nur sechs Mi-
nuten zurücklegen. Für die wei-
tere Erkundung wurden einige
90 P.M. 03/2024
der nicht mehr benötigten Mess-
instrumente abgeschaltet. Dies
sparte Energie und ermöglichte
es, die Bordcomputer erneut um-
zuprogrammieren. Im Jahr 2012
verließ Voyager 1 die Heliosphäre,
also den Einflussbereich der Son-
ne, und stieß damit als erstes von
Menschen gemachtes Objekt in
den interstellaren Raum vor. Die
Schwestersonde Voyager 2 er-
reichte auf ihrer Flugbahn sechs
Jahre später den interstellaren
Uwe Reichert
ist Physiker und Wissen­ Raum. Seitdem funken die Mess-
schaftsjournalist. Die geräte beider Sonden Informatio­
Astronomische Gesell­ nen über den Zustand dieses
schaft zeichnete ihn
2021 mit dem Bruno-H.- ­bisher unbekannten Terrains zur
Bürgel-Preis aus. Erde, in dem Magnetfelder der
Milchstraße und die galaktische
kosmische Strahlung dominie-
F O T O S : S C I E N C E P H O T O L I B R A RY , A L S E I B / L A T I M E S / G E T T Y I M A G E S
ren. Doch ein abruptes Ende der
Voyager-Sonden durch einen De-
fekt ist jederzeit möglich. So kam
es erst im Sommer 2023 zu einem
gravierenden Zwischenfall.
R
outinemäßig wurden am
21. Juli von der Erde aus
eine Reihe von Komman-
dos an die 20 Milliarden Kilome-
ter entfernte Sonde Voyager 2 ge-
sandt, die nach einer Lichtlaufzeit
von 18,5 Stunden dort auch ein-
trafen. Doch versehentlich be-
wirkte eines dieser Kommandos,
dass sich die Sende- und Emp-
 18,5 Stunden brauchte der
kosmische Schrei zu Voyager 2

fangsantenne der Sonde um zwei
Grad von der Richtung zur Erde
Ed Stone wegdrehte. Deshalb war das
war 50 Jahre lang Raumfahrzeug nicht mehr in der
wissenschaftlicher Lage, weitere Steuerkommandos
works der Nasa in der Nähe von
Canberra in Australien ist in der
Lage, dieses schwache Signal zu
registrieren.
größtmöglichen Leistung von 100
Kilowatt ein Kommando in Rich-
tung Sonde. Dann begann nervö-
ses Warten: 18,5 Stunden brauch-
te dieser kosmische Schrei zu

D
Projektleiter der zu empfangen oder Messdaten as Voyager-Team unter- Voyager 2, mindestens die dop-
Voyager-Mission. Der zur Erde zu übertragen. nahm einen verzweifel- pelte Zeit würde vergehen, bis die
Physiker hatte zuvor Zum Glück war die Sonde so ten Versuch: Es nutzte Kontrolleure erfahren würden,
mehrere Instrumente programmiert, dass sie in gewis- alle Antennen der Canberra-Sta- ob das Experiment gelungen war.
zum Nachweis kos- sen Abständen selbsttätig ihre tion, um mit gemeinsamer Kraft Und tatsächlich: Am Freitag,
mischer Strahlung Antenne neu ausrichtet. Es be- in die Himmelsregion zu hor- dem 4. August, um 12:29 Uhr Ost-
gebaut. 1972 über- stand also eine gewisse Chance, chen, in der sich Voyager 2 befin- küstenzeit, kam das erlösende
nahm er die Leitung, den Kontakt wiederherstellen zu det. Tatsächlich gelang es, die ­Signal. Voyager war zurück.
fünf Jahre vor dem können. Aber die Sendeleistung Trägerwelle der Sonde zu detek-
Start der beiden von Voyager 2 beträgt nur 20 tieren. Daten waren dem Signal
Sonden, und behielt Watt, was etwa der Lichtleistung aber nicht zu entlocken. Immer-
diese Funktion auch, eines LED-Strahlers entspricht. hin: Der Bordsender arbeitete · 1­V977 starteten die Sonden
oyager 1 und 2, um die äußeren
nachdem er als Leiter Davon kommt nach einer Reise noch, und wenn ein schwaches
Planeten zu erforschen.
des Jet Propulsion von 20 Milliarden Kilometern Funksignal der Sonde auf der
Laboratory im Jahr nur ein winziger Bruchteil auf Erde registriert werden konnte, · Inzwischen haben sie das Son­
nensystem verlassen und sind im
2001 in Ruhestand der Erde an: ein Attowatt, das ist würde dies möglicherweise auch interstellaren Raum unterwegs.
ging. Erst im Oktober der milliardste Teil eines Milli- andersherum funktionieren. · Sie sind mehr als 20 Milliarden
Kilometer entfernt von uns.
2022 – im Alter von ardstel Watts! Nur eine Anten- Nun strahlte die größte Antenne
86 Jahren – gab er nenanlage des Deep Space Net- der Canberra-Station mit der
die wissenschaftliche
Projektleitung an
Linda Spilker weiter.

03/2024 P.M. 91
 Bükers

Weltbewegende Experimente und ihre Geschichte

1911

Der Eiskönig
Was passiert bei Extremkälte mit Metall? Ein Niederländer
stieß fast bis an den absoluten Nullpunkt vor

V
or ein paar Jahren durfte ich in
Dresden eine Runde auf dem
»Supratrans« drehen: einem
offenen Gefährt mit zwei Sitzen
auf einer Rundstrecke, wie eine
Mischung aus Tretboot und
Autoscooter. Das Besondere:
­ Um das Element zu verflüssigen, bot sich flüssi-
Der Supratrans schwebt berührungslos auf seiner
das gerade erst entdeckte Helium. Untersuchungen
ließen vermuten, dass es zum Verflüssigen extrem
gekühlt werden musste – womöglich bis nahe an den
absoluten Nullpunkt bei minus 273,15 Grad Celsius
bzw. null Kelvin, die tiefstmögliche Temperatur
überhaupt.
ger Wasserstoff als Kühlmittel an. Den hatte James

Strecke dank supraleitender Elemente, die mit flüs-
sigem Stickstoff auf fast minus 200 Grad Celsius
­gekühlt werden. Auch den Mann, der einst die
Supra­leitfähigkeit entdeckte, würde diese Anlage
­sicher entzücken. Der Niederländer Heike Kamer-
lingh Onnes erforschte jahrzehntelang das Verhal-
ten von ultrakalten Stoffen. Dabei stieß er unerwar-
tet auf jenen besonderen Zustand, in dem gewisse
Einer der gängigsten Metalle jeglichen elektrischen Widerstand verlie-
Supraleiter ist Yttrium-
Barium-Kupferoxid
ren. Im Jahr 1882 wurde der junge Kamerlingh On-
(YBCO). Der Stoff zählt nes Professor für Physik an der Universität Leiden.
zu den sogenannten Mit Geduld und Weitsicht begann er, ein Labor für
»Hochtemperatur- Tieftemperatur-Forschung aufzubauen. Er interes-
Supraleitern« und hat
eine Sprungtempera-
sierte sich damals, wie viele in der Physik, für das
tur von etwa 90 Grad Verhalten kalter Gase.
Celsius über dem ab- Kurz zuvor war es erstmals gelungen, Sauerstoff
soluten Nullpunkt, also und Stickstoff so stark abzukühlen, dass sie zu Flüs-
rund minus 180 Grad
Celsius. Diese Tempe-
sigkeiten kondensierten. Mehrere Labore in Europa
ratur kann schon mit lieferten sich einen Wettlauf, immer weitere Gase
flüssigem Stickstoff bei immer tieferen Temperaturen zu verflüssigen.
erreicht werden, wäh- Im Jahr 1898 stellte der Schotte James Dewar erst-
rend andere Supra­
leiter flüssiges Helium
mals flüssigen Wasserstoff bei knapp minus 240
brauchen, das viel Grad Celsius her. Damit blieb nur ein einziges be-
kälter ist. kanntes Gas, das noch niemand verflüssigt hatte:
F O T O U N D I L L U S T R AT I O N : S H U T T E R S T O C K , P U B L I C D O M A I N / W I K I M E D I A C O M M O N S , A N J A S T I E H L E R
Dewar in London zwar als Erster hergestellt – doch
nur in winzigen Mengen. Dies war die Chance für
Kamerlingh Onnes: Er hatte sein Labor darauf aus-
gelegt, flüssige Gase in rauen Mengen herzustellen.
KÜHLTHEKE FÜR GASE
In einem Gewirr von Pumpen, Rohrleitungen und
Behältern hatte der Forscher eine Art Kettenküh-
lung aufgebaut: Zunächst wurde Chlormethan ge-
kühlt und verflüssigt, dann wurde es verdampft, um
im nächsten Schritt Ethen auf minus 90 Grad Cel­
sius zu kühlen. Mithilfe des Ethens wurde dann flüs-
siger Sauerstoff bei minus 145 Grad Celsius herge-
stellt. Es folgten verflüssigte Luft und schließlich
flüssiger Wasserstoff bei minus 253 Grad Celsius.
Um die Stoffe vor der Wärme der Umgebung zu
schützen, baute der Physiker mit seinen Kollegen
eine Apparatur nach, die sein Rivale Dewar erfun-
den hatte: ein Kryostat.
Eine Reihe von Glasbehältern, die nach oben of-
fen und verschachtelt waren, wurden von außen
nach innen mit immer kälteren Stoffen gefüllt.
Fehlte nur noch das Helium: ein in Europa knappes
Gut. Doch auch hier hatte Kamerlingh Onnes die

92 P.M. 03/2024
 Das Labor in Leiden wurde zu
einem Treffpunkt für Physik-Grö-
ßen, etwa 1919 für Paul Ehrenfest,
Hendrik Lorentz, Niels Bohr und
Heike Kamerlingh Onnes (v. l. n. r.)
Oberhand. Sein Bruder arbeitete im Außenhandel
und fädelte den Import von Helium aus den USA ein,
wo es im Überfluss vorhanden war. Nun hatte der
Forscher alles Nötige beisammen und schickte sich
am 10. Juli 1908 an, Helium zu verflüssigen. Einen
Tag lang liefen seine Apparaturen und erreichten
eine Temperatur von knapp minus 269 Grad Cel­
sius: kaum mehr als vier Grad über dem absoluten
Nullpunkt. Zunächst war keine Flüssigkeit zu sehen,
doch als Kamerlingh Onnes und seine Kollegen den
innersten ihrer Behälter von unten beleuchteten,
sahen sie ihre »Oberfläche gegen den Behälter
scharf wie die Klinge eines Messers«.
OHNE JEDEN WIDERSTAND
Kamerlingh Onnes war keiner, der sich auf seinem
Rekord ausruhte. Nur neun Monate später hatte der
Physiker seinen Kryostaten um eine innerste Schale
erweitert, die mit flüssigem Helium gefüllt werden
konnte. Er schuf sich damit einen weltweit einmali-
gen Ort für Experimente bei wenigen Grad über
dem absoluten Nullpunkt.
Sein erstes Experiment sollte die Frage klären:
Welchen elektrischen Widerstand haben extrem
kalte Metalle? Man hatte damals bereits festgestellt,
dass Strom umso leichter durch Metalle fließt, je käl-
ter sie sind. Doch niemand hatte ein Metall je so
stark abkühlen können, wie es Kamerlingh Onnes
nun möglich war. Er schloss einen Leiter aus hoch-
reinem Quecksilber im Inneren seines Kryostaten
an einen Stromkreis an und kühlte ihn auf minus
271,3 Grad Celsius: weniger als zwei Grad über dem
absoluten Nullpunkt.
Mehrere Theorien machten damals unter-
schiedliche Vorhersagen, was mit dem elektrischen
Widerstand passieren sollte, wenn ein Metall immer
kälter wurde: Er könnte einen konstanten Minimal-
wert annehmen, sich Null annähern oder sogar wie-
der steigen. Was Kamerlingh Onnes sah, hatte nie-
mand vermutet: Schon bei vier Grad über dem
Nullpunkt war der Widerstand unmessbar klein.
Einige Wochen später wurde die Überraschung
noch größer. Kamerlingh Onnes und seine Kollegen
kühlten das Quecksilber auf 1,5 Grad über den Null-
punkt ab und hoben die Temperatur dann langsam
wieder an. Der elektrische Widerstand blieb bis Michael Büker
ist Astroteilchenphysiker,
4,1 Grad über dem Nullpunkt unmessbar klein, stieg Science-Slammer und
dann aber innerhalb von 0,1 Grad um fast das Wissens­chaftsautor.
400-Fache. Die Wissenschaftler dachten zunächst In P.M. ­erklärt er die wich-
tigsten Ex­perimente der
an einen Kurzschluss, doch sie hatten bei 4,2 Grad Wissenschaftsgeschichte,
die »Sprungtemperatur« von Quecksilber gefun- zusammen mit Kollegen
den: jene Grenze, an der das Metall schlagartig sei- plaudert er im P.M.-Pod-
cast »Sag mal, du als
nen elektrischen Widerstand verliert – und so zum Physiker …« – erhältlich
Supraleiter wird (mehr dazu in P.M. 01/2024). unter audible.de.
03/2024 P.M. 93
 franz. 7. Buch- grob, Grund- Strom radio- orien-
RÄTSEL Zahl-
schalter
Astro-
nom
stabe des
griech. Al- unge-
hobelt
ugs.:
Prügel
baustein
der Le-
zum Bal- aktives
chasch-
Element
talische
Rohr-
† 1827 phabets bewesen see flöte

Finden Sie lat.:

Würfel
Alpen-
pflanze
Einfassung

die Lösung ein Planet

Ge-
mahlin
Lohen-
grins 6
frz. Initialen Badeort Hundesport-
veraltet: Raub- Mehr- Weg- von in Belgien art (engl.)
Ameise katze zahl- nahme Adenauer Asche- Teil einer
artikel † 1967 gefäß 9 Strophe
kl. Teil volkst. die Seetang, amerik.
e. chem. Beiname Sonne störend b. Rekord-
Verbin- Guevaras betref- Baden im sprinter
dung † 1967 fend Meer (Mz.) (Jesse) †
Szenen- Grund- früherer
folge stoff- Südost-
asien-
(Bühne) 4 teilchen pakt (Abk.)
Kfz-Z. Aus- ugs.: ugs.:
Nica- schmü- Orangen- Spaß,
ckung Ver-
ragua (Kurzw.) 7 saft gnügen
hohes, byzant. Kaise- früheres Schiffsge-
trock. Kosmos, rin † ca. 1050 Maß der schwindig-
Küsten- Universum Pferdege- Radio- keits-
land schirrteil aktivität messer 11
pers.- südost-
Frage- kaukas. asiat.
wort Langhals- Staaten-
5 laute bund (Kf.)

Zeichen Neben- Plane- anglo- lustlos Sitz des

alt für Acti- fluss d. ten- amerik. und ohne Denk-
nium Rheins name Längen- Schwung ver-
maß mögens

arabisch:
Dattel
1
Ausruf Lehre niederl. altes
des vom zentral Star- Holz-
Ekels Licht geiger raum-
Der Binärcode, also die Darstellung von (André) maß
Bestand- lat.: Zahlen als Sequenzen von 0 und 1, bildet Zusam-
teil für, je menstoß
schott. engl.: die Basis der Informationstechnologie altröm.
Namen Alter Zensor
Ober- neg. gela- griech. ital.
Sport- beklei- den. Ele- weibl. Provinz-
ruderer dungs- mentar- Sagen- haupt-
stück teilchen gestalt stadt 2
Name Kosef. v.: Kamel Ort, an
norwe- Auguste dem Wal-
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Könige ter Kerl starb
japan. Gestade Gruppe d.
alternat. Ostalpen
Heil- Politiker
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methode (Kofi) † schmal
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AUFLÖSUNG DES
(1-11) Mikroskopie
Haut- Zaren- Afrika
im Hi- erlass RÄTSELS
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Liegt die Zukunft in den Dörfern?
INNOVATIONEN Das Dorf wurde jahrzehntelang abgeschrieben, das Leben dort
galt als unattraktiv. Doch nun erlebt es eine Renaissance, denn dort wird die Energie­
wende gemacht. Und was in Städten gehyped wird, kennt man auf dem Land seit
Jahrhunderten: Nachbarschaftsnetzwerke, Mehrgenerationenhäuser, Ökosysteme

Rätselhafte Schwerter Ein ungleicher Kampf

MATERIALFORSCHUNG Welche Schmiede­ MILITÄRTECHNIK Die Kriege im Nahen Osten und
kunst steckt hinter Stahlklingen aus dem in der Ukraine zeigen, wie entscheidend die Flug­
Orient? Worum handelt es sich bei schwarzem abwehr in modernen Konflikten ist. Wie gut ist
Kupfer? Das erkunden Archäometallurgen Deutschland gerüstet? (Foto: Gepard)

Das nächste erscheint am 8.3.2024

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Virchowstraße 65 b , 22767 Hamburg

E - M A I L : P M - R E D A K T I O N @V E R L A G S H A U S . D E

R E D A K T I O N S L E I T U N G ( V. I . S . D. P. ) :

Christiane Löll (Text), Andreas Pufal (Visual Director)

T E X T R E D A K T I O N : Jan Berndorff, Tilman Botzenhardt,

Torben Müller (frei), Caroline Ring, Samuel Rieth, Ulf Schönert,

Bertram Weiß

B I L D R E D A K T I O N : Camilla Ackermann, Lilly Dohmann,

Simone Thürnau

GRAFIK: Anja Klingebiel, Jan Krummrey, Nele Wiewelhove

S C H L U S S R E D A K T I O N U N D V E R I F I K AT I O N :

Ute Wiemer (frei), Ricarda Gerhardt (frei)

V E R L A G S A N S C H R I F T:

PM Wissen Media GmbH, Infanteriestraße 11a, 80797München,

Geheimnisvolle Lichter Tel.: 089/130699-0, Fax: 089/130699–100

GESCHÄFTSFÜHRER: Clemens Schüssler, Gerrit Klein

ASTROPHYSIK Sonneneruptionen (Foto) verursa­ VERTRIEBSLEITUNG: Dr. Regine Hahn

chen geomagnetische Stürme und mitunter Polar­ Gesamtleitung Media: Jessica Wygas
lichter auf der Erde. Mit Computern simulieren
Produktionsleitung Zeitschriften: Grit Häußler
Forschende diese Ereignisse, um sie zu verstehen
Anzeigenleitung: Helmut Gassner, helmut.gassner@verlagshaus.de

Anzeigendisposition: Nelli Schulz, nelli.schulz@verlagshaus.de

Druckvorstufe: Ludwig Media GmbH, Zell am See, Österreich

Druck: EDS, Passau

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Im Reich der Dünnhäuter Ausgabe, der mit der Vorausgabe angekündigt wird. Die Mandatsreferenznummer ist die auf

dem Adressetikett eingedruckte Kundennummer.

VERHALTENSBIOLOGIE Noch immer wissen wir
viel zu wenig über Elefanten, ihre Kommunikation
und Emotionen. Dabei tut Wissen not – damit
Mensch und Tier sich nicht gefährden

03/2024 P.M. 97
 P.M. TIERLEBEN FOLGE 117

DAS SCHNABELTIER
O R N I T H O R H Y N C H U S A N AT I N U S
Zu verrückt, um wahr zu sein? Nein! Die Natur brachte auch das Schnabeltier
hervor. Es vereint Merkmale von Säugetieren, Vögeln und Reptilien.
Ausgestopfte Exemplare hielten europäische Gelehrte zunächst für Fälschungen
TEXT: CAROLINE RING

GEPLÄTTET
Der flache, breite
Schwanz erinnert an
die Kelle eines Bibers,
doch ist er nicht kahl,
sondern wie der restli-
che Körper dicht
behaart. Er dient dem
Tier als Fettspeicher.

GESTOCHEN
Männchen besitzen
Giftsporne an den
hinteren Knöcheln,
mit ­denen sie kämpfen.
Wird ein Mensch damit
verletzt, verursacht GEMISCHT
das teils starke Schmer- Entenähnliche
zen, die monate­lang Schwimmhäute zwi-
anhalten können. schen den Zehen ­helfen
beim Paddeln. Wie ein
Vogel legt es Eier –
gibt seinen ­Jungen je-
doch Milch aus Drüsen
wie ein Säugetier.
FOTO: MINDEN PICTURE/SMAURITIUS IMAGES

GESCHWISTER GESPÜRT GESCHÜTZT

Wo sonst könnte es 40 000 Elektrosenso- Sein dichtes Fell
leben als im Land der ren sitzen auf dem schützt vor Kälte,
schrägen Tiere? In Hornschnabel. Mit wenn es in der
Australien bildet es ihnen bemerkt es un- Dämmerung und
mit seinem Verwand- ter Wasser schwache nachts auf die Jagd
ten, dem Schnabeligel, Spannungsfelder, die geht. Schwimmt es
die Gruppe der seine Beute durch gerade nicht, ruht es
Kloakentiere. ­Bewegung verursacht. sich in seinem Bau aus.

98 P.M. 03/2024
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