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KITZBÜHEL
Das seit 30 Jahren erfolgreiche LANS Med Concept
bekommt für kurze Zeit eine neue Heimat: Von Mai
bis November 2016 haben Sie die einmalige Chance,
das mehrfach ausgezeichnete Team vom Lanserhof
Lans in einer ganz neuen Umgebung zu erleben.
Modernste Medizin verbunden mit traditionellen
Naturheilverfahren in einem der schönsten Ort der
Alpen: Sieben Übernachtungen im Doppelzimmer
inkl. medizinischen Basispakets ab 2.391 EUR p.P.
I N D I E S E M H E F T
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PIA BUBLIES / SPIEGEL WISSEN, ALINA EMRICH & KIÊN HOÀNG LÊ / SPIEGEL WISSEN, NORMAN KONRAD / SPIEGEL WISSEN, PETER MARLOW / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS, NICOLE FARA SILVER / THE NEW YORK TIMES/ REDUX / LAIF
Unsere Selfie-Kultur:
ein Leben für die
Inszenierung
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Das führt zu nix:
Plädoyer gegen das
Hamsterrad
K A P I T E L 1 K A P I T E L 2
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Von Kindesbeinen an:
Die Entwicklung
unseres Selbst beginnt
bei der Geburt
52
Seelenverwandte:
wenn zwei sich ganz ohne 92
Worte verstehen Wir sind so frei: Body-
Aktivistinnen feiern
ihre Körperfreude
K A P I T E L 3
UNTER DRUCK
„Da wir in einer „Ich muss mich daran „Von allen Dingen, die das Ich
erschöpften Gesellschaft leben, gewöhnen, dass sich ausmachen, hat Essen den
wäre es am besten, gewisse Fragen vielleicht großen Charme, gut modellier-
man würde sämtliche niemals beantworten bar zu sein. So kann ich mich
Lebensumstände ändern, lassen. Und gerade daraus selber definieren, mich
die Stress auslösen. Das ist nur entstehen paradoxerweise in einer bestimmten Haltung
leider nicht so einfach.“ die Antworten.“ sehen und zeigen.“
TAMI AVEN, MARGARITA BROICH (6), VAGN HANSEN / GETTY IMAGES, LUBITZ + DORNER / PLAINPICTURE, MANFRED WITT
nach den Gründen geforscht. 150 Studien, sind sie ja dick geworden. Denn Stress ist SPIEGEL: Was sagen Sie diesen Dicken?
die sich mit Tipps zu Bewegungssteige- die Hauptursache für Übergewicht, wie Du darfst so bleiben, wie du bist?
rung, gesünderer Ernährung und Sucht- unsere Forschungen zeigen. Peters: Genau. Denn sie haben ja eine
verhalten befassten, wurden dafür ausge- SPIEGEL: Nun gehen Menschen doch gute Lösung gefunden für Dauerstress. Da
wertet. Ergebnis: Mehr als vier Empfeh- ganz unterschiedlich mit Stress um. wir in einer erschöpften Gesellschaft le-
lungen, das Verhalten zu ändern, überfor- Peters: Ja. Nehmen wir Stress im Büro. ben, wäre es am besten, man würde sämt-
derten die Patienten – sie resignierten. Gab Manche Menschen reagieren auf einen liche Lebensumstände ändern, die Stress
es nur einen einzigen Tipp, so fühlten sie unwirschen Chef mit hohem Blutdruck, auslösen. Das ist nur leider nicht so ein-
sich unterfordert – und ignorierten den ihre Stresshormone steigen stark an. Die- fach. Insgesamt gilt es, die Psyche zu sta-
Vorschlag. Am effektivsten erwiesen sich se Reaktion wiederholt sich über Jahre bilisieren. Deshalb ist ein Anti-Stress-Trai-
zwei bis drei Tipps zur Änderung des Le- und kann Herzinfarkte, Schlaganfälle, ning viel, viel besser als jede Diät.
bensstils, am besten als Gesamtpaket. Wil-
son und ihr Team vermuten, dass diese An-
zahl den Patienten umsetzbar vorkommt
und deshalb die beste Wirkung hat.
Und wo
bleibe ich?
WENN FRAUEN IHR SELBST
ANS MUTTERSEIN VERLIEREN:
O R N A D O N AT H S A K T U E L L E S
B U C H Z U R D E B AT T E Ü B E R
„ # R E G R E T T I N G M OT H E R H O O D “
Sein im Schein
In großer Offenheit haben die 23 Ge-
sprächspartnerinnen der Soziologin davon
berichtet, dass es ihnen genau umgekehrt
ging. Sie fühlen sich durch ihre Mutter-
D I E G R O S S A R T I G E N S C H A U S P I E L E R P O R T R ÄT S schaft daran gehindert, sie selbst zu sein.
VO N M A R G A R I TA B R O I C H Z E I G E N D E N M O M E N T, Dabei trauern sie unterschiedlichen Din-
N AC H D E M D E R VO R H A N G FÄ L LT. gen nach: ihrer ursprünglichen Körper-
lichkeit und ihrer alten Kraft, früherer Lei-
denschaft, ihrer Kreativität und der feh-
„IM BESTEN FALL ERWISCHT MAN EINEN NULLPUNKT, dann sieht man lenden Zeit für sich selbst. Auch wenn die
alles“, sagt die Theaterfotografin und Darstellerin Margarita Broich. „Wenn alles weg meisten Mütter das Gefühl der Reue nicht
ist, erscheint das Ganze.“ Im geschützten Zwischenreich der Garderobe oder des teilen, so kennen viele ambivalente Gefüh-
Theatergangs, kurz nach dem Auftritt, hat sie berühmte und weniger berühmte Freun- le. Donath setzt ein Gespräch in Gang, das
de und Kollegen fotografiert, intime Porträts voller Unmittelbarkeit, Nähe und Schutz- bisher höchstens unter besten Freundin-
losigkeit. In der Übergangsphase zwischen Spiel und echtem Leben scheinen sich die nen geführt wurde.
Porträtierten, erschöpft und leer, erst noch selbst wiederfinden zu müssen.
Das Geheimnis dieser Momente der Wahrheit ist vielleicht ganz einfach: Es gibt nichts
mehr zu spielen. Zwei Bildbände hat Broich, bekannt als Frankfurter „Tatort“-Kom- Autorin Donath
missarin, mit ihren Porträts gefüllt, „Ende der Vorstellung“ (Salzmann Verlag; 64
Seiten; 28 Euro) und „Alles Theater“ (Insel Verlag; 79 Seiten; 18 Euro). Darin findet
sich auch ein Zitat des Berliner Theaterstars Sophie Rois: „Auf der Bühne bin ich
erlöst vom Skript meines eigenen Lebens. Ich muss nichts von dem, was ich da mache,
mit meinem Leben belegen, und das ist wundervoll.“
GUT MÖGLICH, dass der Aufstand mit ei- könnte. Denn verändert sich die Welt nicht
nem alten Werbespruch beginnen wird. „Ich ständig und rasant, braucht es nicht immer
will so bleiben, wie ich bin“, hieß er, und die- neue Fähigkeiten, immer mehr Ressourcen,
jenigen, die den Claim 1978 für ein Diätpro- um klarzukommen, mithalten zu können im
dukt erfanden, konnten unmöglich ahnen, Rennen um die besten Positionen?
welch subversives Potenzial heute, fast 40 2010 befragten Mainzer Forscher Schüler
Jahre später, darin stecken würde. und Studenten, ob sie Medikamente nehmen
Denn Selbstoptimierung ist das erste würden, um ihr Gehirn zu dopen und ihre
Gebot der Zeit, der Wunsch nach ständiger Leistungen zu verbessern. 20 Prozent hatten
Steigerung der Motor der Gegenwart. Von damit bereits Erfahrung. 80 Prozent würden
einer „Upgrade-Kultur“ spricht der Sozio- sie nehmen, wenn sie unproblematisch zu
loge Dierk Spreen, einer Geistesverfassung bekommen und risikolos wären.
also, in der es ständig darum geht, das nächs- Die Älteren belassen es nicht bei Gedan-
te Level zu erreichen, die nächste Version kenspielen: Bereits heute bringen knapp eine
seiner selbst: Erst Ich 2.0, dann Ich 3.0, ir- Million Berufstätige in Deutschland ihr
gendwann Ich 4.7, Ende offen. Denkorgan mit Pillen auf Touren, so der
Es gilt, schöner zu werden. Fitter. Schlan- DAK-Gesundheitsreport 2015. Für den Frei-
ker. Schlagfertiger. Konzentrierter. Acht- zeitsport schätzen Wissenschaftler, dass
samer. Kreativer. Gelassener. Gesünder. Die zumindest 10 bis 20 Prozent der Mitglieder
Liste geht endlos weiter, es gibt keinen Be- deutscher Fitnessstudios schon einmal leis-
reich, in dem nicht noch Luft nach oben tungssteigernde Mittel eingenommen haben.
wäre, es gibt immer jemanden, der ver- Nicht mitgezählt die unzähligen Freizeit-
spricht, dass da noch mehr drin ist. läufer, die sich auf Schmerzmitteln oder Kof-
Es ist paradox: Die meisten Menschen feintabletten durch Marathonläufe quälen.
träumen davon, so geliebt zu werden, wie sie Da wundert es kaum noch, dass in einer
sind. Und Eltern schwören sich an der Wiege interdisziplinären Studie der Sozialwissen-
ihres neugeborenen Babys, ihm zu vermit- schaftlerin Vera King von der Universität
teln, dass es richtig und wunderbar und voll- Hamburg mehr als 60 Prozent von 1000 Be-
kommen ist – genau so, wie es eben auf die fragten der Aussage zustimmten, ihr Kind
Welt gekommen ist. Doch das ist die Theorie. solle von Anfang an zu den Besten gehören.
In der Praxis ist da ständig dieses mulmi-
ge Gefühl, dass es nicht reicht, einfach nur EINFACH SEIN, WIE MAN IST? Reicht
zu sein, wie man ist. Dass da noch mehr sein offenbar nicht mehr. Der Markt der Selbst-
verbesserungen läuft prächtig: Immer mehr
Coachs, Fitnesstrainer und Schönheitschir-
urgen bieten ihre Dienste an. Fitnessarm-
bänder, Schrittzähler und Schlaftracker hel-
fen, Körperfunktionen zu optimieren. Die
Regale mit Ratgeberliteratur in den Buch-
handlungen bersten fast, versprechen mehr
Glück, mehr Erfolg, ein tolleres Leben, Aufstand, eine Verweigerung der Selbst-
wenn man nur die richtige – also die jeweils optimierung nach dem Motto: bleiben, wie
angepriesene – Technik anwendet. man ist. Sich akzeptieren mit Schwächen
Die gegenwärtige Optimierungsgesell- und Macken. Und sich dann um Wichtigeres
schaft ist der Realität gewordene amerika- kümmern als um die Pflege seines eigenen
nische Traum: Die Möglichkeiten sind un- Ichs. Ums Leben nämlich.
begrenzt, jeder kann alles erreichen und al- Natürlich ist die Sache mit der Selbstop-
les sein, wenn er sich nur genug anstrengt. timierung nicht ganz neu. Sie hat sich nur
Das jedenfalls ist die Botschaft, die sich tief verändert – und das nicht unbedingt zum
ins kollektive Unterbewusstsein gebohrt hat. Guten. Schon die alten Griechen glaubten,
„Ich werde an mir arbeiten, ich werde ver- der Mensch könne nur werden, was zu wer-
suchen, besser zu werden, ich weiß, ich den er bestimmt ist, wenn er sich darum be-
kann es schaffen“ proklamieren Casting- müht, also an sich selbst arbeitet. Das Ziel
show-Teilnehmer mantrahaft vor ihrem Pu- war das gute, das bewusste Leben, und dazu
blikum und hämmern auch dem Letzten ins galt es, Vernunft walten zu lassen und Tu-
Hirn: Es liegt allein an dir, was du aus dir genden zu erwerben, statt sich den Tücken
machst, du hast es in der Hand. von Gefühlen und Launen hinzugeben.
Das ist Versprechen und Fluch zugleich. Mit dem mittelalterlichen Christentum
Denn die Schrauberei am eigenen Ich scheint veränderte sich die Perspektive: Nun galt
oft zwar selbstgewählt zu sein, doch der der Mensch als prinzipiell sündig, nicht er
Druck kommt auch von außen: In einer Um- selbst, sondern nur Gott konnte ihn erlösen.
frage der Bertelsmann-Stiftung 2015 beklag- In Sachen Selbstverbesserung galt es also,
ten sich 42 Prozent der Arbeitnehmer über ganz auf den Jenseitigen zu vertrauen, aber
permanent wachsende Anforderungen im gleichzeitig möglichst gemäß der religiösen
Beruf – jeder Dritte weiß schon nicht mehr, Regeln zu leben.
wie er den Ansprüchen gerecht werden soll.
Geht es nach den Forderungen, die von IM LAUFE DER NEUZEIT schließlich be-
verschiedenen Seiten auf einen einströmen, gann der Aufstieg des Individuums, das sich
dann soll man einen Super-Job machen, ei- nach und nach von allen Fesseln befreite:
nen, in dem man sich total verwirklichen Nicht mehr Tradition, Familie, Kirche oder
kann. Soll sich aber auch ständig fortbilden, Schicksal sollte bestimmen, wie der Lebens-
nur nicht auf der Stelle treten. Gleichzeitig weg des Einzelnen auszusehen habe, son-
soll man liebevoller Vater oder Mutter sein, dern nur er selbst. Autonomie, also Selbst-
mit möglichst mehr als einem Kind (der De- bestimmung, und Authentizität, die Idee, die
mografie wegen), soll für die Kids immer ureigenen Anlagen zu entfalten – diese bei-
ansprechbar sein, immer geduldig, sie för- den Konzepte waren die prägenden Ideale
dern, wo es nur geht. Mindestens dreimal der Moderne. Kapitalismus und Demokratie
pro Woche soll man eine Stunde Sport trei- galten als die entscheidenden Rahmenbedin-
ben. Acht Stunden schlafen. Gesund essen, gungen, die dies ermöglichen sollten, und
Selbstgekochtes, natürlich. Gepflegt ausse- zumindest für den Mittelstand funktionierte
hen, möglichst alterslos, die Wohnung das prächtig.
schick machen. Am besten noch täglich me- Doch in den Achtzigerjahren kippte das
ditieren, sich ausreichend Zeit für sich Gleichgewicht aus wirtschaftlicher, politi-
selbst nehmen, Freunde nicht vernachlässi- scher und persönlicher Freiheit. Mit Globa-
gen und das Gehirn auch nicht. Und dann? lisierung und Neoliberalismus, so jedenfalls
Die große Frage bleibt offen: Lohnt sich beschreiben es die meisten Forscher, ent-
all die Arbeit, all die Mühe überhaupt? Wer grenzte sich der Kapitalismus. Er verlor sei-
garantiert eigentlich, dass irgendetwas besser ne Einbindung in gesellschaftliche Zusam-
wird, wenn man in irgendetwas besser wird? menhänge, erhob sich über Politik wie Per-
Gerät man nicht in ein ewiges Hamsterrad son, wurde zum bestimmenden Faktor.
der Selbststeigerung, in dem man sich am Inzwischen habe die Optimierungslogik
Ende selbst verliert? Und kann es wirklich der Wirtschaft das alltägliche Leben geka-
der Sinn des Lebens sein, ständig irgendwel- pert, erklärt die Hamburger Sozialwissen-
chen Ansprüchen – denen von anderen oder schaftlerin Vera King, die gemeinsam mit So-
auch den eigenen – hinterherzurennen? ziologen und Psychoanalytikern die Folgen
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, und Widersprüche der Perfektionierung er-
mein eigenes Leben zu leben“ – das ist ein forscht: Lebensentscheidungen werden zu
Satz, den Palliativpfleger am Sterbebett alter einer fortlaufenden Abwägung von Gewinn,
Menschen häufig hören – kein schönes Fa- Verlust und Risiko in allen Bereichen, nicht
zit. Aber vielleicht nötiger Schubs für einen selten selbst im privatesten Leben.
Das heißt, bei jeder Entscheidung gelte Selbstdarstellung braucht immer neuen,
es zu überprüfen, ob sich damit am Ende möglichst spektakulären Input, denn jedes
mehr Profite erzielen lassen, ob man damit „Like“, jedes geteilte Foto ist eine Art virtu-
weiterkommt. Selbst der Wert des Einzel- elle Schulterklappe, die das Ego weiter adelt.
nen wird dabei primär nach Kosten und Nut- Dass der Optimierungsanspruch von au-
zen – im Job, in Netzwerken, in der Frei- ßen kommt, merkt kaum noch jemand. „In-
zeit – bemessen, und dieser muss sich im dividualisierung ist kein Wunschkonzert,
Wettbewerb mit anderen immer neu bewei- sondern ein Kontrollprogramm, das mittels
sen. Kontrolle verspreche einzig das Invest- institutionalisierter Abhängigkeiten (vor
ment in die eigenen Fähigkeiten, so King. allem der vom Arbeitsmarkt) Steuerungs-
Nur die beständige Steigerung des eige- impulse in Selbstführung übersetzt“, so be-
nen Marktwerts, um konkurrenzfähig zu schreibt es der Soziologe Spreen.
bleiben, verheißt Sicherheit und Unangreif- Manchmal immerhin soll die ganze Sa-
barkeit. Dafür soll man, so beschreibt der che gegen die Angst helfen, vor dem Status-
französische Soziologe Alain Ehrenberg das verlust, dem Abstieg. Manchmal soll sie
Credo des Selbstmanagements, eine Art Vor- neue Optionen eröffnen. Doch gar nicht so
standsvorsitzender seiner Selbst werden, selten wird sie zum Selbstzweck, zum stän-
ein Ego-Unternehmer, der sich ständig neu dig uneingelösten Versprechen, dass irgend-
erfindet. Nur so könne man, so wird sugge- etwas bei so viel Anstrengung schon besser
riert, sich den immer neuen Anforderungen werde – oder zumindest nicht schlechter.
der Außenwelt flexibel anpassen, nur so kön- „Ich habe nicht das fixe Ziel, ich habe nur
ne man jede Chance nutzen, den ansonsten das Ziel: besser“, sagt ein Mann, der mit ei-
drohenden gesellschaftlichen und ökonomi- nem Fitnessarmband täglich seine Bewe-
schen Abstieg zu vermeiden.
Das ist eine umwälzende Veränderung
im Denken – und im Leben: Während es Un-
zufriedenen bis etwa Anfang der Achtziger-
jahre vor allem darum ging, die gesellschaft- Man lebt länger und
lichen und politischen Rahmenbedingungen
zu verbessern, ob durch Revolution, die
stirbt perfekt optimiert.
Gründung neuer Parteien oder Zusammen-
schluss in sozialen Bewegungen, so konzen-
trieren sich die Optimierungsbemühungen
nun auf den Einzelnen. Heute nutzt man gungsmuster überwacht, in der ARD-Repor-
die wenige kostbare Freizeit lieber fürs Fit- tage „Fast perfekt“ (2016), in der die Enter-
nessstudio, anstatt für eine 32-Stunden-Wo- tainerin Anke Engelke gerade dem Optimie-
che für alle demonstrieren zu gehen. rungswahn nachgespürt hat. Am Ende lebt
Das Verrückte dabei ist, wie subtil die Sa- man mit etwas Glück ein paar Jahre länger
che geworden ist, wie stark die neuen Werte und kann dann perfekt optimiert sterben.
verinnerlicht wurden. Ständig ist die Rede
davon, dass wir in einer postmaterialisti- DAS ALLES WÄRE UNSCHÖN, aber
schen Gesellschaft leben, in der – zumindest nicht tragisch, wenn die Sache tatsächlich
bei Jüngeren – Statussymbole nicht mehr positive Folgen hätte oder zumindest gar
viel zählen. Da mag etwas dran sein, Pro- keine. Doch der Trend zur Daueroptimie-
dukte und Konsum verlieren an Bedeutung. rung hat negative Konsequenzen – die nicht
Doch das neue Statussymbol ist die pure nur den Optimierer selbst treffen, sondern
Ego-Performance, die Inszenierung des In- die ganze Gesellschaft.
dividuums im Freundeskreis, im Lebenslauf, Das ziellose Treppauf, die unendlichen
im Facebook-Profil oder in der Instagram- Möglichkeiten, die es zu realisieren gilt, ge-
Timeline: spektakuläre Reisen, möglichst hören zu den Gründen, warum sich so viele
individuell. Tolle neue Selfies. Ein neuer Re- Menschen erschöpft, ausgebrannt und leer
kord auf der Laufstrecke. Wohlgeratene Kin- fühlen, glaubt etwa der Soziologe Alain Eh-
der. Seht her, was ich alles kann. Und die renberg: Wenn es immer noch besser geht,
wann ist es denn endlich mal gut? Und was,
wenn man am Ende doch nicht genügt?
„Es ist ermüdend, ständig der Perfektion
hinterherzuhecheln, sich Erholung zu ver-
sagen, sich um den Schlaf zu bringen, über-
all besser sein zu wollen“, stöhnt auch die
britische Feministin Laurie Penny in ihrem
EYEEM (@CALLIES40, @CISCOVISUALS, @123PHOTOGRAPHER, @NEIJIN0218, @ALEXANDRACR, @ONEANDONLY4ME, @GIMATOVA, @YIIIN, @MICKEYTUNES, @MATHIEU33, @MAUROROCCA, @NANOUCHKKA, @SVETASVETA), EYEEM / GETTY IMAGES (18)
Schau! Mich! An!
Aber was sehen wir eigentlich, wenn wir die Selfies
anderer Menschen auf Instagram betrachten?
TEXT MAREN KELLER
So individuell wie alle anderen auch: Mehr als 70 Millionen Bilder werden täglich auf Instagram hochgeladen
BEVOR AMALIA ULMAN KAM , war girl“, das süße Mädchen, dem sie eine Ge- Wie kann das sein? Es wäre ein Leichtes,
Instagram in Sachen Kunst vor allem für schichte erfindet: Sie lässt die Kunst-Amalia die Selbstdarstellung in sozialen Netzwer-
„Latte Art“ bekannt, also für Fotos von kunst- nach Los Angeles ziehen, weil dort ja viel- ken als bloße Wiederholung von Klischees
voll verziertem Milchkaffee. Ulman ist die leicht doch eine Karriere als It-Girl wartet. zu sehen. Aber so einfach ist es nicht. Denn
Tochter eines argentinischen Skateboard- „Impression Management“ heißt in der seit einiger Zeit sind Kultur- und Kunstwis-
Fabrikanten. Sie lebte in Spanien und hat Sozialpsychologie der bewusste oder unbe- senschaftler dazu übergegangen, die wie-
Kunst in London studiert. Vor fünf Jahren wusste Versuch, den Eindruck zu steuern, derkehrenden Motive als visuelle Konven-
schloss sie ihr Studium ab. Seitdem macht den andere Menschen von uns haben. Und tionen zu betrachten. Als Genres, wenn man
sie Kunst. Ulman wurde 1989 geboren. Sie nirgends kann man besser beobachten, wie so will, wie sie es auch in jeder anderen Kul-
gehört zu der Generation, die Instagram, Fa- Impression Management funktioniert, als tursparte gibt. Für viele dieser Genres gibt
cebook, Twitter und Snapchat so selbstver- in den sozialen Netzwerken. es feststehende Bezeichnungen. TBT steht
ständlich nutzen wie Zahnbürsten. Viel- Monatlich 100 Millionen Nutzer sam- für „Throwback Thursday“ (Rückblick-Don-
leicht deshalb erschien es ihr nur folgerich- meln Bilder auf der digitalen Pinnwand Pin- nerstag). OOTD steht für „Outfit of the Day“
tig, aus ihrer Social-Media-Präsenz eine Per- terest. 200 Millionen Nutzer wenden sich (Kluft des Tages). Beim „Cat Beard Selfie“
formance zu machen. per Snapchat an die Welt. Eine Milliarde Be- sitzt eine Katze im Bildvordergrund.
Vier Monate dauert das Projekt, das sie Das berühmteste Genre aber ist zweifels-
„Excellences and Perfections“ nennt. Von frei das Selfie, das für den Fotografen Daniel
April bis September 2014 bespielt sie ihre Rubinstein sogar das erste Kunstwerk des
Social-Media-Accounts nach einem stren- Netzzeitalters darstellt. Früher einmal war
gen Plan. „Das Besondere ist die bildliche Darstellung des Selbst den hö-
Bei Ausstellungen im Museum of Mo- heren Schichten vorbehalten. Dann kam die
dern Art gelten 10 000 Besucher am Tag als
ausgerechnet, Alltagsfotografie auf und schließlich die ers-
Rekordwert. Ulman performt am Ende vor dass nichts besonders ten Smartphones mit Kameras. Doch es ver-
90 000 Fans, die täglich verfolgen, was sie ging fast ein weiteres Jahrzehnt, bis das Phä-
diesmal hochlädt. Nur die wenigsten von ih- erscheint.“ nomen des Selfies entstand. Es musste noch
nen wissen, dass sie Kunst ansehen. Denn etwas dazukommen: das tiefe innere Bedürf-
das Besondere an Ulmans Performance ist nis der Gesellschaft, sich dauernd selbst dar-
ausgerechnet, dass nichts daran besonders zustellen, sich dauernd selbst medial abzu-
erscheint. Sie kreiert eine absolut durch- bilden. Der amerikanische Kunstkritiker Jer-
schnittliche Onlineidentität, die sich absolut sucher schauen Videos auf YouTube oder ry Saltz hat unsere Gegenwart deshalb als
durchschnittlich inszeniert. Ulman postet laden dort selbst welche hoch. Die am das Zeitalter des Selfies definiert.
Bilder von Blumenröcken. Von Erdbeer- schnellsten wachsende Social-Media-Platt-
kuchen. Selfies vor Spiegeln. Selfies im Bett. form aber ist Instagram. 400 Millionen Nut- IST DAS JETZT GUT? Vieles ist natürlich
Spitzenunterwäsche. Stofftiere. Schmuck. zer gibt es weltweit. Würden sich all diese gut daran. Nie zuvor konnten die Menschen
Blasse Haut. Pastellfarbene Gewöhnlichkeit. Instagrammer zu einem Staat zusammen- sich in diesem Maß darstellen, wann und
Sie inszeniert sich als eines jener Mädchen, tun, wäre es der drittgrößte der Welt, hinter wo und wie sie wollen. Es könnte das Zeit-
deren Augen immer größer sind als ihr Ap- China und Indien und vor den USA. Täglich alter der Authentizität sein (siehe Interview
petit, weil sie von den dünnen Oberschen- werden mehr als 70 Millionen Bilder auf mit dem Kulturhistoriker Thomas Macho
keln der Models in ihren Modezeitschriften Instagram hochgeladen. Aber für die hohe auf S. 50). Und gerade das ist besonders gut
träumen. Sie nennt diese Figur das „cute Anzahl an Bildern gibt es nur eine über- für die Industrie. Im vorletzten Jahr zum
raschend geringe Anzahl verschiedener Beispiel nahm Adidas seinen Turnschuh
Motive. Kupferkerzenständer auf Holz- Stan Smith erst vom Markt, nur um ihn dann
tischen. Avocadotoasts. Lackierte Finger- an bekannte Instagramer zu schicken. Die
VIDEO: Ein Mann wird
zur lebenden Puppe nägel an Kaffeetassen. Schuhe von oben. perfekten Werbefiguren. Das Resultat wäre
spiegel.de/sw012016puppe Eggs Benedict von oben. Bücher auf Betten geeignet, um als Paradebeispiel für eine Stei-
von oben. Von wegen Individualität. gerung der Nachfrage durch Verknappung
„W A S M I R G E F Ä L LT “
des Angebots in jedes Lehrbuch für Volks- Trennung. Drogen. Pole Dance. Twerking. eben nicht gezeigt. Das Bild zeigt nur einen
wirtschaftslehre aufgenommen zu werden. Das süße Mädchen gibt es nicht mehr. Ul- Ausschnitt. Im doppelten Sinn.
Auch Amalia Ulman bekommt sehr mans digitales Selbst hat sich in eine Figur Vor einiger Zeit wurde eine Fotostrecke
schnell T-Shirts mit Aufdrucken geschickt. verwandelt, die sie selbst die „crazy bitch“ auffallend oft in den sozialen Netzwerken
Und lavendelfarbene Dessous, die sie ihren nennt. Später wird sie sagen, dass die Fans geteilt. Die Bildserie zeigte typische Insta-
Fans auf Räkelbildern präsentiert. gar nicht genug bekommen konnten von ih- gram-Motive – nur dass sie einen größeren
rer Verzweiflung. Dass immer mehr Zu- Bildausschnitt wählte. Die Yoga-Pose im
IST DAS JETZT SCHLECHT? Die Auto- schauer ihren vermeintlichen Absturz ver- Park? Nur möglich, wenn jemand die Beine
rin Laura Ewert hat in einem Artikel für die folgen, aber niemand etwas tut. Die Auto- festhält. Der schön gedeckte Frühstücks-
„Welt am Sonntag“ geschrieben, wie sie sich bahn-Unfall-Gaffer des 21. Jahrhunderts. tisch? Gleich daneben liegt die Plastiktüte
nach zu langer Zeit auf Instagram plötzlich Ulmans Bilder deuten an, dass es nun ei- von den Aufbackbrötchen.
selbst dabei ertappt, wie sie die neue Vase nen anonymen Gönner in ihrem Leben gibt.
auf dem Tisch so arrangiert, dass der Ker- Jemanden, der riesige Blumensträuße be- UND NACH DER SÜNDE? Kommt die
zenständer im richtigen Winkel steht. Sie zahlt. Und große Brüste. In einem Forum Reue und dann die Läuterung. Ulman geht
nennt das die Instagramisierung des Alltags. für Anhängerinnen von Schönheitsoperatio- vier Wochen offline. Ihre Fans nehmen an,
Für die „Zeit“ hat Sascha Chaimowicz den nen liest sich Ulman die Vokabeln der Ver- sie sei in einer Entzugsklinik. Als sie wieder
Vollzeit-Snapchatter Riccardo Simonetti be- wandlung an. Sie postet erst ein Selfie im ins Netz zurückkehrt, zeigen ihre Bilder
gleitet, den es fast nur noch wegen Snapchat OP-Kittel. Dann ein Bild von sich mit einem eine reine Welt. Detox. Smoothies. Yoga.
gibt. Das Leben als bloßes Materiallager für Verband um die Brust. Sie scherzt über ihre Schlichte Seidenblusen. Babys. Das gesunde
Content. Die Zeitschrift „Neon“ hat als Ex- „frankenboobs“, die Monstertitten, die sie Leben, in dem es um Achtsamkeit und
periment die Reporterin Nora Reinhardt in sich angeblich hat operieren lassen. Selbstsorge geht, die Verkörperung dessen,
die Karibik geschickt mit einer einzigen Eine einzige Faustformel reicht ihr spä- was in Edward Tory Higgins Selbstbeschrei-
Bedingung: kein Foto für Instagram auf- ter, um dieses düstere Kapitel ihrer Erzäh- bungstheorie das „ought self“ heißt – das
zunehmen. Weil Erinnerungen und innere lung zusammenzufassen: „Je trauriger das Ich also, das wir sein sollten.
Bilder eben doch nie so aussehen, als wären Mädchen, desto glücklicher der Troll.“ Das kommt dem Ergebnis nahe, das alle
sie Teil einer Klickstrecke. Während der Dabei muss sie nicht einmal viele Details Studien haben, die sich mit Selbstdarstel-
Recherche zu diesem Text war ich eines erfinden. Sie lässt bewusst Leerstellen in lung in sozialen Netzwerken beschäftigen.
@BEKLEIDET, EYEEM (@MAZZKA, @BORN4KAOS, @AABG, ), EYEEM / GETTY IMAGES (4)
Abends in der Hamburger Innenstadt. Ich ihrer Erzählung, die ihre Fans mit eigenen Immer geht es darum zu antizipieren, was
habe für 70 Euro einen High-Waist-Rock ge- Erfahrungen und Schlussfolgerungen füllen. das Publikum sehen will, und diese Erwar-
kauft und ein graues Rippshirt, nachdem Denn noch etwas kann man aus Ulmans Per- tungshaltung möglichst gut zu erfüllen. Nur
ich stundenlang Bilder von schönen, jungen formance über die Selbstdarstellung in den so ist es möglich, dass Amalia Ulmans be-
Frauen in High-Waist-Röcken betrachtet sozialen Netzwerken lernen: Sie ist oft lange wusst unauthentischer Instagram-Account
hatte. Dienen diese Bilder noch der Inspi- nicht so persönlich, wie es auf den ersten uns sehen lässt, wie die vermeintliche
ration oder nur noch der Bedürfnisgenerie- Blick scheint. Der Kunstkritiker Jerry Saltz Authentizität entsteht. Ihren Account gibt
rung? Selbstverständlich benötige ich kei- hat eines der berühmtesten Selfies analy- es jetzt, fast zwei Jahre später, noch
nen High-Waist-Rock. siert. Darauf ist Kim Kardashian zu sehen. immer. Vor Kurzem hat sie einen selbst
Das sind die dunklen Seiten von Insta- Sie trägt einen Body mit tiefem Ausschnitt, gezeichneten Cartoon gepostet. Er zeigt
gram, gegen die kein nachträgliches Belich- der die Konturen ihres Körpers betont. Ihre eine Frau am Schreibtisch, die sich neuen
tungstool hilft. Brüste sind deutlich zu erkennen. Sehr deut- Ärger ausdenkt.
Nach zwei Monaten werden auch Amalia lich sogar. Und trotzdem deutet Saltz dieses
Ulmans gepostete Bilder und Nachrichten Bild als Verhüllung des Intimen. Denn im
dunkler. Was früher rosafarben war, ist jetzt Hintergrund ist ein Paravent zu sehen, der
schwarz. Die Ausschnitte werden tiefer und die gesamte Wohnungseinrichtung vor dem Maren Keller hat sich an ihrem ersten
Arbeitstag mit Nudelsoße bekleckert. Den
auch die Abgründe. „Wie viele Menschen voyeuristischen Blick des Betrachters ab-
restlichen Tag fühlte sie sich leider nicht mehr
haben dich vergessen, obwohl sie dir ver- schirmt. Alles Intime, alles Persönliche, alles sehr professionell und erfolgreich, aber dafür
sprochen haben, immer für dich da zu sein?“ wirklich Authentische wird in diesem Bild authentisch. maren.keller@spiegel.de
M
eine Mädchenwangen glühten. Mein Füller auch. Der
erste Tagebuchtext meines Lebens umfasst stolze 16
Seiten. Eine „atemberaubende Show“ galt es damals,
im Jahre 1997, zu dokumentieren: Die Milchbubigesichter auf den
„Bravo“-Postern an den Wänden meines Kinderzimmers hatten
sich in Fleisch und Blut, in Schweiß und Schmalzstimme verwan-
delt. Das Konzert der Backstreet Boys sollte in Schönschrift und
Endlosschleife auf Papier verewigt werden. Mein 14-jähriges Ich
erzählt die Geschichte von fünf „total süßen“ Jungs, die eine „ab-
normal coole Tanzaction abliefern“, dann aber „voll den Beschiss
abziehen“, weil Kevin beim Lied „10 000 Promises“ nur so tut, als
würde er selbst Klavier spielen.
Die Erregung von einst treibt mir heute die Schamröte ins Ge-
sicht. Dennoch bin ich den Backstreet Boys zu ewigem Dank ver-
pflichtet. Ihre kitschigen Schnulzen verhalfen mir zur Erkenntnis:
Tagebuchschreiben macht glücklich. Die Tintenpatrone erlöste
mein klopfendes Teenagerherz. Immer, wenn ich in der Folgezeit
nicht wusste, wohin mit meinen Gefühlen, schrieb ich sie auf.
So mache ich das bis heute. Waren die Spiralblöcke, Hefte und
Blattsammlungen in meinem Bücherregal anfangs eher ein Abkling-
becken für die verstrahlten Gedanken einer Pubertierenden, nutze teratur. Aber darum geht es mir beim Tagebuchschreiben auch
ich mein Tagebuch heute als Stromableiter für Hirnaktivitäten aller nicht.
Art. Der Effekt ist stets derselbe: Mein Kopf wird klar, das Rauschen Ich bin kein Karl Ove Knausgård, der aus seinen schonungslos
des Alltags verschwindet. Ich kann tiefer ausatmen und schneller offenen Selbstbespiegelungen Bestseller gemacht hat. Ich bin keine
einschlafen. Charlotte Roche und kann der Versuchung, aus meinem Sexleben
literarisches Kapital zu schlagen, widerstehen. Ich bin kein neu-
SEIT 20 JAHREN fülle ich Bücher mit Buchstaben. Als den ande- zeitlicher Werther und auch keine Person der Zeitgeschichte, aus
ren ihre Tagebücher peinlich wurden, schrieb ich einfach weiter. deren Beobachtungen meine Mitmenschen etwas Erhebendes ler-
Klar, es gibt auf dieser Welt verheißungsvollere Entspannungsme- nen könnten. Es ist eher so: Je älter ich werde, desto schneller rast
thoden. Yoga im Morgengrauen, die Zigarette danach oder der erste die Zeit an mir vorbei. Das tägliche Diktat fürs digitale Tagebuch
Atemzug Frischluft nach zehn Minuten finnischer Sauna. Mach
ich alles gern – aber nichts lässt mich meine inneren Kräfte so sehr
bündeln wie der kurze Dialog mit mir selbst.
Beim Schreiben forme ich Bilder in meinem Kopf. Empfindun-
gen wie Hoffnung, Angst, Ärger oder Freude werden mir oft erst in
dem Moment bewusst, in dem ich sie formuliere. Über einen län- „Wer permanent im Einklang
geren Zeitraum entstehen aus den Momentaufnahmen authentische
Spiegelbilder. Gut möglich, dass man sich über die Person er-
mit sich selbst ist, verspürt wohl
schreckt, die einen aus alten Tagebucheinträgen anblickt. Unbe- keinen Drang zum Schreiben.“
queme Wahrheiten – besonders die über sich selbst – möchte man
in der Rückschau gern verdrängen. Meine jugendliche Begeisterung
für Plastikpop ist ein harmloses Beispiel. Ohne das Tagebuch aus
dieser Zeit hätte ich die Erinnerung an diese Episode längst gelöscht.
Dabei war sie ein wesentlicher Bestandteil meiner jugendlichen
Identität. gibt mir die Möglichkeit, das Hamsterrad, in dem ich meine Runden
Früher schrieb ich am liebsten abends oder noch lieber nachts: drehe, einen kurzen Moment auf Zeitlupe zu schalten. „Das war
Wehklagen über verflossene Lieben sind so entstanden, genauso mir heute wichtig.“ Nichts anderes erzählen meine kurzen Einträge.
wie die wütende Konsumkritik nach dem ersten Besuch in einem Sie helfen mir, meinen Alltag und meine verschiedenen Identitäten
Berliner Lidl angesichts „aufgeplatzter Krokettenpackungen in der zu ordnen. Ich bezweifele, dass es ein einziges authentisches Ich
Tiefkühltruhe“. Heutzutage fehlt mir die Zeit für lange Besinnungs- gibt. Ich bin viele. An einem Tag Karrierefrau, am anderen Super-
aufsätze, und seitdem ich Mutter bin, fehlt mir zudem permanent mutter. Oder in schlechten Wochen montags der Sündenbock, mitt-
Schlaf. Ich schreibe also lieber tagsüber – und zwar nicht auf Papier, wochs der Depp vom Dienst und freitags ein Häuflein Elend. Mei-
sondern per App. nem Tagebuch kann ich nichts vormachen.
Day One heißt das Programm auf meinem Smartphone, das ich Es tut gut, sich seinen Kummer von der Seele zu schreiben. Als
mehrmals am Tag mit kleinen Alltagsbeobachtungen, Lieblingsfotos ich den an Krebs erkrankten Guido Westerwelle in einer Talkshow
oder kurzen Gefühlsausbrüchen füttere. „Baby unter Gardine be- sitzen sah, sagte der, er habe mit dem Tagebuchschreiben gegen
graben“, „Höllischer Muskelkater“, „Streit um Liebesschlösser auf seine Dämonen kämpfen wollen. Das fand ich ein treffendes Bild.
Facebook“, tippe ich dann in die Tastatur. Per Diktierfunktion kann Tagebücher sind sicherlich keine Wunderheiler, aber dass sie sich
ich sogar auf der Rolltreppe oder während eines Spaziergangs im positiv auf geistige Vorgänge auswirken, ist wissenschaftlich erwie-
Park Tagebuch schreiben. Auf diese Weise entsteht keine große Li- sen. Eine Studie der University of California hat gezeigt, dass das
Schreiben über die eigenen Gefühle dem Gehirn hilft, seine Emo- auf irgendeinem Dachboden findet und über die Welt, in der wir
tionen zu regulieren. Die Selbstheilungskräfte, die das Tagebuch- heute leben, staunt. Vielleicht liest dieser Mensch aus der Zukunft
schreiben entfalten kann, werden auch „Bridget-Jones-Effekt“ ge- genau die Stelle vom ersten Treffen seiner Vorfahren, und mein
nannt. Doof nur, dass nicht nur negative Emotionen durchs Auf- Mann und ich erstehen für den Bruchteil ein paar geblätterter Sei-
schreiben kleiner werden. Auch die guten Gefühle verlieren, so das ten von den Toten auf. Ich persönlich kann meine eigene Familien-
Fazit des amerikanischen Psychologieprofessors Matthew Lieber- geschichte kaum länger als zwei Generationen zurückverfolgen.
man, an Intensität, sobald man sie zu Papier bringt. Wie zum Beispiel der Vater meines Opas mit Vornamen geheißen
hat, geschweige denn, was er für Musik gehört hat, weiß ich nicht
TATSÄCHLICH ÖFFNE ICH IN MOMENTEN großer Freude zu sagen.
eher eine Flasche Champagner als die App „Day One“. Auch in mei- Ganz vielleicht landen meine Aufzeichnungen eines Tages im
nen insgesamt zwölf Tagebuchbänden im Bücherregal besiegt der Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen. Ich kann mir zwar
Schwermut meistens den Schöngeist. Wer permanent im Einklang kaum vorstellen, dass irgendwer außer mir Spaß an der Lektüre
mit sich selbst ist, verspürt wohl keinen Drang zum Schreiben. meiner Zeilen haben könnte. Aber wer weiß, ob sich Forscher nicht
Schöne Momente konserviere ich lieber in Fotos oder ausgeschnit- irgendwann einmal für Dokumente aus der Zeit interessieren, in
tenen Schnipseln statt in Worten. Die Kniffel-Gewinnkarte als An- der die Menschen noch ihr Essen in Discount-Supermärkten ge-
denken an einen Campingurlaub mit Freunden hat im Innern mei- kauft haben.
nes Tagebuchs sieben Umzüge überlebt. Mir fällt nur ein einziger Mensch ein, der mein Tagebuch zu
Trotzdem kann es lohnenswert sein, aus guter Laune heraus Lebzeiten zu Gesicht bekommen hat: Meine kleine Schwester hatte
Tagebuch zu schreiben. Als 22-Jährige habe ich einmal beiläufig es aus meinem Kinderzimmer geklaut, dann aber vergessen, es wie-
ins Tagebuch gekrakelt: „Heute habe ich meinen zukünftigen Ehe- der in meine Schreibtischschublade zurückzulegen. Es ist schon
mann kennengelernt.“ Zwar bekam ich den Kerl, von dem ich mir lange her, aber ich erinnere mich noch sehr gut an den Schock, den
nicht sicher war, „ob er nicht vielleicht zu dünn ist“, die folgenden ich erlitt, als ich mein Tagebuch auf dem Zeitschriftenstapel im
zwei Jahre nicht mehr zu Gesicht; sein Versprechen, mir die größ- Klo entdeckte. Aufgeschlagen war der Text über das Backstreet-
ten Hits der Rapper Die Firma vorzuspielen, blieb uneingelöst. Boys-Konzert.
Das Jawort gab er mir acht Jahre später trotzdem. Mein Bauch-
gefühl hatte recht behalten. Vielleicht hätte ich es damals überhört,
hätte mein Tagebuch nicht als Lautsprecher meiner inneren Stim-
me fungiert. Anna Clauss findet inneren Einklang auch beim Singen. Nach
Ganz manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass in den sieben Strophen des Abendliedes „Der Mond ist aufgegangen“
200 Jahren ein Kind des Kindes meines Kindes meine Tagebücher kommt sogar ihr Baby zur Ruhe. Anna.Clauss@spiegel.de
ANNE FRANK FONDS BASEL / GETTY IMAGES, FRANZ BISCHOF / LAIF, FRITZ ESCHEN / ULLSTEIN BILD, PHILIPPE MATSAS / OPALE / STUDIO X
D E A R D I A R Y
WA S WÄ R E
Dem antiken Schriftsteller Pausanias zufol-
ge saß Narziss an einem See, ein Blatt fiel
D I E W E LT O H N E …
ins Wasser, und kleine Wellen zerstörten
sein liebliches Abbild. Narziss, irrtümlich
überzeugt, er sei hässlich geworden, war so
schockiert, dass er vor Kummer starb.
Spiegel
Die ersten künstlichen Spiegel waren fla-
che Schalen mit Wasser. Die alten Ägypter
kannten Spiegel aus poliertem Metall. Die
frühen Griechen wiederum stellten noch
vor dem Jahr null die ersten kleinen Hand-
spiegel her, was die Eitelkeit der Menschen
erwiesenermaßen förderte. Im Mittelalter
entwickelten die Menschen dann den Glas-
spiegel. Im Barock waren große Spiegelga-
lerien schwer in Mode, Frankreichs Sonnen-
könig Ludwig XIV. ließ den Spiegelsaal von
Versailles mit mehr als 350 großen goldge-
rahmten Spiegeln ausstatten.
DER ALLWISSENDE und sprechende Und nur mit ihrer Hilfe kann der Einzel- bild öffnet uns die Augen für unser äußeres
Spiegel im Märchen ist so ehrlich wie erbar- ne im Alltag erkennen, ob der Leberfleck wie inneres Wesen.
mungslos. Er bringt die von Neid zerfresse- schmückt oder stört, der Rock zu eng oder Hollywoodstar Lauren Bacall (1924 bis
ne Stiefmutter dazu, erst einen Jäger mit die Hose zu kurz ist, die Frisur sitzt oder lä- 2014) hatte ein sehr entspanntes Verhältnis
der Ermordung Schneewittchens zu beauf- cherlich wirkt. Für unser Selbst-Bild ist, zu ihrem Spiegelbild, obwohl Schönheit in
tragen, dann sogar selbst, mit einem vergif- ganz buchstäblich, der Spiegel nicht mehr ihrem Beruf immens wichtig ist. „Ich glaube,
teten Apfel, die Königstochter töten zu wol- wegzudenken – er ist das erste Gegenüber, dass sich das Leben eines Menschen in sei-
len. Am Ende bezahlt die Stiefmutter ihre er zeigt uns, wenn auch seitenverkehrt, wie nem Gesicht widerspiegelt. Man sollte stolz
Ichsucht und Bosheit mit dem Leben. wir uns der Welt präsentieren. darauf sein.“ JOACHIM MOHR
INFORMIERT
„Moderne Frauen neigen
aufgrund ihrer Rollen-
vielfalt dazu, Denken mit
Grübeln zu verwechseln.“
TOPFIT
„Viele Frauen tragen diese
Ich-muss-Maske des
inneren Antreibers, der sie
durch den Tag peitscht.“
Die Philosophin
Rebekka
Reinhard erklärt,
warum Macht
SPIEGEL: Frau Reinhard, Sie arbeiten als SPIEGEL: Sie plädieren dafür auszuhalten,
Frauen guttut „philosophische Beraterin“. Was dürfen wir
uns darunter vorstellen?
dass es keine einfachen Antworten gibt?
Reinhard: Ja, psychologisch gesehen ist das
und Schönheit Reinhard: In meiner Beratung geht es um
Fragen der Orientierung. Zu Beginn bitte
so etwas wie Frustrationstoleranz. Ich for-
muliere es aber lieber so: freudig das Unge-
vom Charakter ich meine Klienten, kurz zu beschreiben,
wie ihre aktuelle Situation ist. Dann frage
wisse umarmen.
SPIEGEL: Wie nähert man sich aber dann
ich relativ schnell: Wofür leben Sie? Für dem, was man als sein Ureigenstes ansieht?
abhängt. viele ist diese Frage ein Schock, weil sie so Reinhard: Wichtige Frage. Erst einmal muss
grundsätzlich ist. Gerade Frauen neigen ich unterscheiden können: Wer bin ich, und
dazu, sozial erwünscht zu antworten: „Für was ist meine soziale Rolle? Heute fällt es
die Familie.“ Männer sagen eher: „Gute Fra- Menschen zunehmend schwer, nicht zuletzt
ge. Habe ich mich selbst schon oft gefragt.“ durch die sozialen Medien, das eine vom an-
Mir geht es nicht darum, diese Frage schnell deren zu trennen. Viele Menschen lassen
zu beantworten. Vielmehr will ich einen le- sich sehr von äußeren Einflüssen lenken,
benslangen Reflexionsprozess anstoßen, im- oder, wie es der amerikanische Soziologe
mer mal wieder auf die Reset-Taste zu drü- David Riesman formuliert hat, sie definieren
cken und zu überlegen: Wo stehe ich? Bin sich wesentlich aus den Augen der anderen.
ich noch in meinem Leben oder vielleicht SPIEGEL: Wie vermeide ich das?
in einem falschen? Reinhard: Für wichtig halte ich Zeiten der
SPIEGEL: Ähneln sich die Antworten nicht Stille. Regelmäßig wenigstens fünf Minuten
sehr? mit sich selbst verbringen, sich selbst
Reinhard: Grundsätzlich lassen sich die Ant- aushalten, am besten in den eigenen vier
worten den Bereichen Autonomie und Zu- Wänden. Das ist für viele Leute, die in einem
gehörigkeit zuordnen. Es gibt Menschen, beschleunigtem Takt des Alltags leben, un-
die haben ein riesiges Streben nach Autono- erträglich. Ich kenne das auch aus der Psy-
mie, wollen am liebsten alles allein entschei- chiatrie, wo ich acht Jahre lang ehrenamt-
den. Andere sagen, nur in der Zugehörigkeit lich gearbeitet habe. Wenn Manager plötz-
und durch die Anerkennung anderer kann lich mit Burnout in der Klinik landen, ist da
ich wirklich ich selbst sein. ja erst einmal nichts. Der Klinikalltag nervt
SPIEGEL: Ist das wirklich so eindeutig? Es und langweilt, man empfindet Leere, aber
sagt ja kaum jemand: Ich will Freiheit, genau diese Leere ist der Zugang zu mir
Zugehörigkeit und Geborgenheit sind mir selbst. Dabei offenbart sich mir der Unter-
gleichgültig. schied zwischen Rolle und Ich.
Reinhard: Richtig, die Sache ist komplex. SPIEGEL: Also würden Sie Menschen, be-
Deshalb halte ich auch nichts von dieser kla- vor es zum Burnout kommt, Rückzug in die
ren, schnellen Zielorientierung, die heute Stille empfehlen? FRITZ BECK / SPIEGEL WISSEN, NORMAN KONRAD / SPIEGEL WISSEN
so beliebt ist. Die Menschen wollen partout Reinhard: Unbedingt. Selber denken heißt
Glück und Sinn aus jeder Ritze rauspressen. kritisch denken. Die Leute glauben oft,
REBEKKA Ich erinnere gern an den englischen Dichter kritisch denken ist negativ. Nein. Kritisch
REINHARD John Keats und seine „negative capability“. kommt von altgriechischen „krinein“, das
Übersetzt ist das die Fähigkeit, im Ungewis- heißt unterscheiden.
arbeitet als freie Philosophin in sen zu verbleiben. SPIEGEL: Sie empfehlen, das eigene Leben
München. Die 43-Jährige ist Keats meint, der kreative Prozess – und es regelmäßig zu überprüfen. Was raten Sie ei-
Autorin zahlreicher Bücher, hält ist ja ein kreativer Prozess, wenn ich mich ner Frau, die zu Ihnen kommen und sagt,
Vorträge für Unternehmen und auf die Suche nach mir selbst begebe – hän- sie sei da in eine Ehe hineingeraten, in der
berät Menschen in philosophi- ge davon ab, eben nicht ziel- und lösungs- sie sehr unglücklich sei, habe aber drei klei-
schen wie lebenspraktischen orientiert vorzugehen. Stattdessen muss ich ne Kinder und wisse nicht, ob sie sich
Fragen. Ihr neues Buch heißt: mich daran gewöhnen, dass sich gewisse trennen solle.
„Kleine Philosophie der Macht Fragen vielleicht niemals beantworten las- Reinhard: In einem solchen Fall geht es auch
(nur für Frauen)“. Ludwig sen. Und gerade daraus entstehen parado- um Verantwortung. Authentisch leben heißt
Buchverlag; 224 Seiten; 19,99 Euro. xerweise die Antworten. nicht, dass man tun kann, was man will. Das
29
MÜTTERLICH
„Frauen haben den Anspruch,
die weibliche Sphäre
weiterhin zu besetzen.“
30
SELBSTERKENNTNIS
missverstehen viele Leute, auch einige mei- SPIEGEL: Was können wir tun, wenn uns Freiheit uns erdrückt. Ich kenne einige Leu-
ner Klienten. Da wir nicht allein sind auf der selbst banale Dinge nicht gelingen, wie et- te unter dreißig, die sind eher biedermeier-
Welt, müssen wir immer wieder die Balance was gesünder zu leben? lich orientiert, häuslich, sie wollen eine frü-
finden zwischen unserer Verantwortung für Reinhard: Erst mal ist kritisch zu fragen: he Ehe, Stabilität. Mich erschreckt, dass bei
andere und für uns selbst. Wir leben in einer Was ist der Stellenwert des zu Verändern- vielen Jungen diese Angst vor Freiheit be-
Zeit metaphysischer Obdachlosigkeit, uns den? Manche Menschen verfallen ja regel- steht, gerade in einem Alter, in dem Rebel-
fehlt das fraglos akzeptierte Zentralgestirn, recht in einen Veränderungswahn: Jetzt lion, Experiment und Freiheit großgeschrie-
der Gott, der uns alle lenkt, wir sind auf uns muss alles anders werden, und zwar pronto. ben und ausgetestet werden sollten.
selbst zurückgeworfen. Und wir haben die Da steckt dieses Müssen drin, das Kämpfen, SPIEGEL: Wo sehen Sie dafür die Gründe?
Aufgabe, aus diesem Leben, das uns gegeben das Sich-Anstrengen. Das kann nichts wer- Reinhard: Viele von uns haben nie einen
ist, etwas zu machen. den. Was wir tun, sollte leicht sein. Die Stoi- Krieg erlebt. Mein Vater, Jahrgang ’37, kann
SPIEGEL: Für nachdenkliche Menschen ker sagen, das Leben ist eine Übung. Jeder sich noch erinnern, wie in München alles
kann diese Aufgabe zu einer Endlosschleife Tag ist ein Neuanfang, ein neuer Versuch. brannte nach einem Bombenangriff. Das ist
im Kopf führen, in der unentwegt verschie- SPIEGEL: Sind es eigentlich auch die vielen der entscheidende Punkt aus lebensphilo-
dene Lebensentwürfe durchgespielt wer- Möglichkeiten – die immense Vielfalt der sophischer Sicht – das Bewusstsein von der
den. Ist das der Sinn der Sache? heutigen Welt – die Unruhe in unser Leben Endlichkeit. Alle Spielräume, die wir haben,
Reinhard: Viele meiner Klienten sind hy- bringen? werden begrenzt durch den Tod, und der
perreflektiert, die erinnere ich gern an die Reinhard: Sicher, zu viele Möglichkeiten kann jederzeit eintreten. Wir, meine Gene-
Worte von Marie von Ebner-Eschenbach: können sich auch als Belastung erweisen. ration und die Jüngeren, wissen das zwar
„Für das Können gibt es nur einen Beweis: Wir nehmen es dann so wahr, als ob die intellektuell, verstehen es aber emotional
das Tun.“ Wichtig ist, dass das Reflektieren und seelisch nicht.
auch an sein Ende kommt. Es ist schön, ein SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch befassen
denkender Mensch zu sein, aber ich sollte Sie sich mit der Angewohnheit moderner
mich auch in die Welt begeben, experimen- Frauen, sich für andere zu optimieren, ei-
tieren, vielleicht auch scheitern. Eine Exis- nem Perfektionsideal hinterherzujagen. Wo
tenz, die kein Scheitern kennt, die immer sehen Sie die Ursachen für diesen Wahn?
so ruhig vor sich hin plätschert, ist per se Reinhard: Die Geschlechterrollen haben
eine gescheiterte Existenz. sich seit der 68er Zeit sehr verändert. Doch
SPIEGEL: Was raten Sie Klienten, die sehr die Rolle der Frau ist immer noch von
verkopft sind? Selbstausbeutung geprägt. Das hängt damit
Reinhard: Die kriegen von mir keine Lese- zusammen, dass wir Frauen heute einerseits
aufgaben, sondern sollten sich idealerweise im Beruf erfolgreich sein wollen, anderer-
ehrenamtlich betätigen, etwa mit Migran- seits immer noch geschlechtsspezifischen
tenkindern arbeiten. Das ist ein radikaler Stereotypen verhaftet sind, die auf die Fünf-
Perspektivwechsel, weg von dieser Nabel- zigerjahre, teilweise sogar auf das 19. Jahr-
schau, raus aus dem Grübelgefängnis. Das hundert zurückgehen. Diese vorurteilsbe-
berührt die eigene Seele. ladenen Klischees legen fest: Frauen sind
SPIEGEL: Nachdenken und Handeln gehö- nett, empathisch, sie bedienen andere, sind
ren zusammen. fürsorgliche Lebewesen, sind einfach lieb.
Reinhard: Ja, das ist Lebenskunst. Ich brau- SPIEGEL: Sie sind nicht machtorientiert.
che Mut, ich muss etwas wagen. Scheitern Reinhard: Nein, Macht geht gar nicht. Und
macht mich auch mit mir bekannt. Ich ent- diese unreflektierte Kraft der Stereotypen
decke, wie viele Potenziale in mir stecken, paart sich mit dem weiblichen Überperfek-
NORMAN KONRAD / SPIEGEL WISSEN
die noch nicht gelebt sind, wie viele ver- tionismus der Gesellschaft. Die britische
schiedene Möglichkeiten es gibt, glücklich GEPFLEGT Kulturhistorikerin Angela McRobbie sagt:
zu sein. Ich bin auch ein großer Freund der „Frauen sind die perfekten Mitglieder der
Stoiker, die das Leben als Experiment an- „All diese Rollen neoliberalen Gesellschaft.“ Sicher gilt das
sahen. Es geht darum, sich immer wieder ausfüllen zu wollen schafft auch für moderne Männer, auch sie sind oft
zu prüfen – nicht im Sinne von Optimierung, ein unsicheres Ich.“ sehr perfektionistisch. Doch Frauen haben
sondern sich immer wieder aus seiner Kom- eine riesige Rollenvielfalt zu erfüllen. Den-
fortzone herauszuwagen. ken wir etwa an die Pflege von Angehörigen.
Glück nenne. Es begann mit dem Glücks- prägen. Wir werden sozialisiert nicht nur
versprechen der Aufklärung, bis heute als mit Märchen, sondern auch von populären
Grundsatz in der amerikanischen Unabhän- TV-Serien wie „Sex and the City“ oder
gigkeitserklärung verankert: Jeder Mensch „Girls“. In all diesen Fantasien werden uns
hat das Recht, nach Glück zu streben. Das Modelle von Beziehungen und Identitäten
war ursprünglich sehr männlich gedacht, präsentiert, mit dem subtilen Angebot, uns
mit Kampf, Unabhängigkeitsstreben, Auto- mit diesen Männern und Frauen zu identi-
nomie. Wenn nun jeder in dieser Weise nach fizieren. Diese Typen sind aber natürlich
Glück strebt, gibt es viele Zielkonflikte. Also stark stilisiert, in der Wirklichkeit finden
entstand als Gegenpol die weibliche Sphäre, sie sich so überhaupt nicht. Deshalb sind
wie sie sich etwa im viktorianischen Eng- Identifikationen mit diesen Typen gefähr-
BLITZBLANK land ausprägte: die Frau, die am Herd steht, lich.
die Kinder wiegt, ein Heim und Geborgen- SPIEGEL: Wieso gefährlich?
„Bis zur Selbstausbeutung heit schafft. Nun ist die moderne Frau ei- Reinhard: Mit der Vielfalt des echten Le-
versuchen viele Frauen, nerseits kämpferisch in die Domäne des bens haben etwa Fernsehserien nichts zu
allem gerecht zu werden.“ Mannes eingebrochen, hat aber auch noch tun. Die Serie „Girls“ habe ich mir an-
den Anspruch, die weibliche Sphäre wei- geschaut und war entsetzt. Es geht um Sex
terhin zu besetzen. Das ist ein Dilemma. und ex negativo um die Frage, wie man den
Perfektes Glück in beiden Sphären zu errei- richtigen Mann findet. Das ist alles. Letzt-
chen, das ist ein Marketinggag. lich ist es die alte Cinderella-Geschichte,
Sobald die Eltern oder die Schwiegereltern SPIEGEL: Was können Frauen tun, um die- nur dass Cinderella heute eben wilden Sex
krank werden, wer ist am Zug? Die Frau. In sem Dilemma zu entkommen? mit wechselnden Partnern hat. Ich finde die
den wenigsten Fällen ist es der Mann. Reinhard: Konzentrieren Frauen sich auf Serie reaktionär. Aber worauf es mir an-
SPIEGEL: Die moderne Frau hat zu viele die männliche Sphäre, erleben sie, dass in kommt: Diese Fiktionen prägen uns, unsere
verschiedene Rollen und Identitäten? ihrer weiblichen Domäne eine Leerstelle Erwartungen an uns selbst und an unsere
Reinhard: Was die moderne Frau im Job bleibt, weil Männer nun mal nicht in Scha- Partner.
leistet, ist ja tatsächlich nur ein kleiner Teil ren herbeiströmen, um die Herdposition zu SPIEGEL: Also muss jeder aufpassen, mit
ihres umfangreichen Repertoires – von Ge- übernehmen. Ein flexibles Rollen- oder welchen Filmen und Büchern er seinen
riatrie über Kulinarik und Pädagogik bis zur Sphären-Switchen, das nötig wäre zwischen Kopf möbliert, will er sich nicht von seinem
Haushaltslogistik. All das meint die moder- den Geschlechtern, funktioniert einfach eigenen Ich entfernen?
ne Frau bewältigen zu müssen. All diese Rol- noch nicht. Das ist meiner Meinung nach Reinhard: Ja. Deswegen sehe ich mein ak-
len ausfüllen zu wollen, schafft ein unsiche- der Hauptgrund, warum es Frauen heute so tuelles Buch als eine Kampfschrift für auf-
res Ich. schwerfällt, zufrieden zu sein, und warum geklärtes, selbstbestimmtes Denken. Wobei
SPIEGEL: Aber wer fordert das alles ein? viele bis zur Selbstausbeutung, bis zum gerade moderne Frauen aufgrund ihrer Rol-
Reinhard: Es kursiert ein Medienimage, Burnout versuchen, allem gerecht zu wer- lenvielfalt dazu neigen, Denken mit Grü-
Bilder von Frauen, die Laptop, Haus, Kind den. beln zu verwechseln. Sie wollen alles men-
jonglieren, scheinbar mühelos. Außerdem SPIEGEL: Zahlreiche Untersuchungen be- tal in den Griff bekommen, statt ihre Ge-
tragen viele Frauen diese Ich-Muss-Maske legen aber auch, dass Frauen den Mann am hirnkammern frei zu räumen und sich zu
des inneren Antreibers, der sie durch den Herd nicht haben wollen. fragen: Was kann ich ändern, in meinen Be-
Tag peitscht: Frauen wollen im eigenen Um- Reinhard: Richtig. Sie wollen einen flexi- ziehungen, in meinem Alltag, in meinem
feld die Perfekte sein. Je mehr die Frauen blen Typen. Verhältnis zu mir selbst? Wer bin ich ei-
buchstäblich „außer sich“ sind, desto weni- SPIEGEL: Mindestens. Akademikerinnen gentlich, und wofür lebe ich? Das ist für
ger sind sie bei sich. Und desto weniger wünschen sich meist Männer, die viel Geld mich die zentrale Frage, um zur eigenen
NORMAN KONRAD / SPIEGEL WISSEN
können sie verstehen, wer sie sind. verdienen, aber trotzdem häuslich sind und Identität zu kommen, und sie gilt für Män-
SPIEGEL: In der Welt der Männer gab es sich um die Kinder kümmern. Zeigt sich da ner und Frauen.
ja immer einen Konkurrenzkampf um auch eine Geschlechterverwirrung mit fal- SPIEGEL: Sie wünschen sich, dass vor allem
Macht, Erfolg, Geld, Frauen. Glauben Sie, schen Erwartungen: Man will den Partner Frauen Lust und Mut zur Macht entwickeln
dass dieser Kampf nun auch die Frauen so haben wie früher, gleichzeitig aber will statt sich anzupassen. Wie geht das? Wie
erfasst hat? man ihn modern? wird man zur Protagonistin seines Lebens?
Reinhard: Ich denke, es ist komplizierter und Reinhard: Ja, genau. Man darf nicht außer Reinhard: Für mich ist Macht das Vermö-
geht um das, was ich das Zwei-Sphären- Acht lassen, wie sehr uns moderne Bilder gen, seine Beziehungen zu verändern, und
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Sage mir,
verurteilt andere. Ellrott: Jemand trägt ein T-Shirt mit der SPIEGEL: Wird ein individueller Ernäh-
SPIEGEL: Eignet sich die intensive Beschäf- Aufschrift „I am vegan“ und fährt einen rie- rungsstil zum neuen Statussymbol?
tigung mit dem eigenen Ernährungsstil, um sigen Pick-up-Truck. Ich kenne einen Vega- Ellrott: Das zeichnet sich gerade ab. Selbst-
dahinter eine Essstörung zu verstecken? ner, der flog einmal First Class nach Hawaii verständlich wird es auch in Zukunft Men-
Ellrott: In der Fachwelt wird diskutiert, ob und zurück, nur um sich seinen Vielflieger- schen geben, die einfach nur günstig satt
extreme selbstoptimierende Ernährungs- status zu sichern. Mit diesem Flug bläst er werden wollen. Aber wenn Lebensmittel
arten in Einzelfällen eine Form von Essstö- mehr CO2 in die Luft, als ein durchschnitt- durch höhere Qualitätsanforderungen, fai-
rung annehmen können, im Sinne einer Or- licher Deutscher in einem ganzen Jahr pro- reren Handel, bessere Ressourcenschonung
thorexia nervosa, der krankhaften Beschäf- duziert. An Bord bestellte er das vegane teurer werden, kann ein entsprechender
tigung mit der richtigen Ernährung. Ent- Menü. Das ist eine neue Individualität, die Ernährungsstil für diejenigen, die es sich
scheidend ist der Grad der Beeinträchti- eine fundamentale Inkonsistenz im Verhal- leisten können, zum neuen Distinktions-
gung. Wenn sich jemand zwanghaft den ten erlaubt. merkmal werden.
3,50
Euro kostet durch-
22
schnittlich bei
einer Haartrans-
plantation in
Deutschland jeder Prozent der Deutschen nutzen einer Um-
einzelne „Graft“ frage der Krankenkasse IKK Classic zufol-
(verpflanzte Haar- ge Apps auf ihrem Smartphone, um ihre
wurzel mit Haar). Gesundheitswerte zu kontrollieren.
52
36,1
Prozent der deutschen Frauen sind
unzufrieden mit ihrem Äußeren.
.
Prozent aller
Deutschen sagen:
700
„Ich treibe keinen
Sport und möchte
auch in Zukunft
95
Jahre v. Chr. finden sich die ersten Spuren nicht damit
der Yoga-Tradition in Indien. anfangen.“
49 7,5
23
Menschen sind seit Jahre lebt man laut
MAREN AMINI / SPIEGEL WISSEN
„Baby,
I was
not
born
that
way“
42 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016
SELBSTDEFINITION
DIETER RITA SCHOLL kommen die ist zu hundert Prozent Mann oder Frau“, Geschlechtsmerkmalen, geht als Mann
Tränen. Er sitzt da und folgt dem Flimmern sagt der in Berlin lebende Fotograf Joseph durchs SchwuZ. Er ist stolz auf den Laden,
des Dokumentarfilms im Berliner Klub Wolfgang Ohlert. Was macht eine Frau zu die Freiheit, die sie hier leben. Auf der Büh-
„SchwuZ“. Sieht die Bilder und hört die einer Frau? Einen Mann zu einem Mann? ne steht gerade Kaey und singt lustvoll, las-
Lieder aus dem Siebzigerjahre-Dokumen- Sind es unsere Geschlechtsmerkmale? Das ziv: eine Transfrau. Sie arbeitet bei einem
tarfilm „Leben wir unser Leben“. In einem Blau und Rosa, in das uns unsere Eltern klei- Berliner Stadtmagazin und hat den Fotogra-
Lied heißt es: „Ihr habt uns ein Gefühl deten? Das Spielzeug, das sie uns schenk- fen Ohlert bei seinem Projekt begleitet. Sie
geklaut.“ Das ist für Dieter Rita immer noch ten? Wer eigentlich, außer einem selbst, hat steckt tief in der LGBTQIA-Community
so. Selbst nach all den Jahrzehnten, in denen das Recht zu sagen, was man ist? Diese Fra- Berlins. LGBTQIA ist eine Abkürzung
er als Künstler für die Rechte von Transgen- gen stellt Ohlert in seinem Fotoband „Gen- aus: Lesbian – Gay – Bisexual – Transgender
der-Menschen gekämpft hat. Er ist jetzt 63 der as a Spectrum“. Zwei Jahre lang hat der – Queer – Intersex – Asexual – Ally.
Jahre alt, kennt die Hochs und Tiefs. Künstler Transgender-Menschen auf der Kaey kann auch laut lachen über die Be-
In den Siebzigern eroberten sie als Eman- ganzen Welt abgelichtet. Sie alle erzählen griffsverwirrung, aber es ist ihr bitter ernst,
zipationsbewegung große Bühnen mit Ka- im Buch ihre Geschichten, mit denen Ohlert wenn sie über die Frage von Identität, Au-
barett und Gesang, in den Achtzigern hat er Normen und Geschlechter infrage stellt. thentizität forscht. Sie ist es leid, als exoti-
unzählige Weggefährten an das HI-Virus scher Schmetterling betrachtet zu werden.
verloren, in den Neunzigern war er so was ES IST UNFASSBAR KOMPLIZIERT, Sie hat alles gelesen über Kulturen, in denen
wie ein Star, drehte mit Dieter Wedel, war durch das gängige Leben zu gehen, wenn es sechs Geschlechter gab, die besondere
gut gebucht. Und jetzt sitzt er doch wieder klassische Geschlechtszuweisungen nicht Rolle, die Transgender-Menschen spielten,
da und fühlt sich manchmal wie am Anfang. passen. Es beginnt bei den Formularen aller als „Two-Spirits“ bei Indianern zum Bei-
„Es ist immer noch so“, sagt er später an der Ämter, die nur Mann oder Frau kennen, und spiel. Dort waren sie nicht die „Abartigen“,
Theke, wo sich aufgedonnerte Dragqueens landet meist in zermürbenden oder befrei- sondern etwas Besonderes, als Schamanen
vorbeiquetschen: „Wir sollen uns rechtfer- enden Gesprächen mit den Eltern. Der Hang oder Menschen mit besonderen Fähigkeiten.
tigen für unser Ich-Sein, unsere Identität.“ zur schrillen Selbstdarstellung, die wir ver- Dort wurde nicht klassifiziert wie in der
Hört das nie auf? kitscht und medial potenziert wahrnehmen, Neuzeit: „Geschlecht und Sexualität sind
Und wann beginnt es? wenn Conchita Wurst zum Eurovision Song eben etwas völlig Verschiedenes“, sagt sie.
Für Menschen, die mit männlichen Ge- Contest antritt, ist eine Antwort auf Aus- „Queer“ bedeutete einst „seltsam, wun-
schlechtsmerkmalen geboren werden, aber grenzung durch stilles Belächeln oder ge- derlich“ und wurde gern als abwertende Vo-
als Frau durchs Leben gehen, oder umge- waltbereite Negierung. „Transgender als kabel für Homosexuelle verwendet. Heute
kehrt, oder beides, oder irgendetwas dazwi- Freakshow, so ertragen wir wohl noch, was sind alle stolz auf ihr „Queer-Leben“, die
schen, ist die Zahl der Begriffe so groß wie uns verunsichert“, sagt Ohlert. sich nicht in Kategorien der sexuellen Ori-
die Unsicherheit der Mehrheitsgesellschaft Im Berliner SchwuZ treten in dieser entierung oder der Geschlechtsdefinitionen
im Umgang mit ihnen. Aktivisten der Szene Nacht unter anderen auf: Pralina Doloris Or- pressen lassen wollen. Sie haben den Begriff
händigen Journalisten vor Treffen mittler- gasma, Lisl Arschfick und Miss Pünktchen. für sich erobert. Warum nicht noch mehr?
weile Wörterbücher aus, um Missverständ- Es hat was von Karaoke, aber auch was von Auffallen, irritieren, Lust leben, scheint oft
nisse zu vermeiden – oder auch Verletzun- den Zwanzigerjahren, als sogenannte Kesse das einzige Motto der sogenannten Queer-
gen. Väter hip waren und in der Folge seit Anfang Partys. Aber das stimmt nicht.
Nach Lektüre solcher Leitfäden ist man der Dreißigerjahre die Diva Marlene Die- Die Frage, was authentisch ist am Ich,
meist noch verunsicherter, aber nach der trich eine Ikone der Grenzgänger zwischen hängt eben nicht nur ab vom Geschlecht
Begegnung mit den Menschen und ein paar den Geschlechtern wurde. oder der Sexualität. Ohlerts Bilder transpor-
Nächten oder Tagen offenbart sich ein Kos- „Die vielen Kunst- oder Künstlernamen tieren bei aller schillernden, provozierenden
mos, den man nicht mehr verlassen kann, von Transgender-Menschen sind eine Ant- und suchenden Verletzlichkeit schlicht ei-
ohne sich zu fragen: Was bin ich? „Niemand wort auf die Schematisierung“, sagt LCava- nes: den Stolz aufs eigene Ich.
liero, künstlerischer Leiter des SchwuZ. Ein
bunter Protest. Wer die körperliche Anpas-
Markus Deggerich fühlt sich wohl mit sich,
BUCH sung will an seine Identität, braucht Opera-
wenn er für seine Frau Bœuf Bourguignon im
tionen oder Hormontherapien. Das geht in
Topf schmurgelt, den sie ihm geschenkt hat,
JOSEPH WOLFGANG OHLERT: der Regel nicht ohne ärztliche Begleitung. seine Kinder sein Püree vom Teller kratzen
„Gender as a Spectrum“. „Du musst dich für krank erklären lassen“, und Sting dazu singt: „How Fragile We Are“.
JWO_studio; 304 Seiten; 48 Euro. sagt LCavaliero. Er, geboren mit weiblichen markus.deggerich@spiegel.de
▲ Dieter Rita Scholl, 63, freischaffende(r) KünstlerIn Das verunsichert und verängstigt oft andere Menschen. Doch ich
JOSEPH WOLFGANG OHLERT
„Ich definiere
mich als männlich, aber
nicht als ‚Mann‘“
„Für mich ist Geschlecht etwas Fließendes. Menschen können sich überall zu jeder
Zeit auf dem Geschlechterspektrum bewegen. Das Problem ist, dass unsere Gesell-
schaft uns diktiert, was als ,weiblich‘ oder ,männlich‘ definiert wird. Am Ende ist das
alles Blödsinn. Menschen sind Menschen. Zum Anfang habe ich den Begriff Boytunte
benutzt. Tunte ist, gerade auch in Berlin, ein Begriff für politische Dragqueens. Es
gab aber noch kein Äquivalent. Solche wie mich nannte man einfach Dragkings. Als
das habe ich mich aber nicht gesehen, sondern tatsächlich eher als eine Tunte. Da
habe ich mir einfach meinen eigenen Begriff ausgedacht. Momentan benutze ich den
Begriff ,dragalienclownslut‘.
In letzter Zeit bin ich mit meinem Look sehr experimentierfreudig und kreativ ge-
worden. Ich will nicht einfach hübsch aussehen. Man soll sich irgendwie unwohl füh-
len, wenn man mich betrachtet, so ähnlich wie bei einem Clown oder einem Alien. Ich
habe nie wirklich irgendwo hingepasst. Meine Mutter hat sich immer beschwert, dass
ich nicht feminin genug bin, während ich immer das Gefühl hatte, ich bin einer von
den Jungs. Irgendwann habe ich dann viel Zeit mit schwulen Freunden verbracht und
mich komplett mit ihnen identifiziert. Jetzt bin ich ein schwuler Mann mit Brüsten.“
„Ich bin ein Zwischenwesen. Ich bezeichne mich nicht als transsexuell und im falschen
Körper geboren. Ich bin eine Transe, und ich werde auch immer eine sein. Hätte Gott
gewollt, dass ich eine Muschi habe, hätte er sie mir gleich gegeben. Zu 80 Prozent bin
ich eine Frau, aber 20 Prozent sind immer noch prollig. Das muss ich akzeptieren,
und das wird sich nicht ändern lassen. Ich habe gemerkt, dass ich als dicker, schwuler
Junge nicht ankomme, sondern viel besser als Frau. Mein Umfeld hat mich dabei un-
terstützt, und mein Exmann hat mir meine Operationen und die Laserbehandlung
finanziert. Hormone habe ich auch schon immer genommen. Jetzt gerade bin ich
dabei, die Namensänderung zu beantragen.
Momentan bin ich Single. Aber ich hatte stets Beziehungen. Vom Computernerd bis
zum Schwerstverbrecher war alles dabei. Als Transe kann man sich vor Angeboten
kaum retten. Wäre ich Prostituierte, würde ich haufenweise Geld verdienen können. „Mein Geschlecht
Meine letzte Beziehung mit einem Schweizer war wie jede andere Beziehung auch.
Aber zu seinen Eltern hätte er mich nie mitgenommen. Alles passierte hinter vorge-
definiere ich“
haltener Hand. Oft ist es so, dass Heteros mit Transen Sex haben, weil sie nicht als
schwul gelten wollen. Falls sie erwischt werden, können sie immer noch sagen, das ▲ LCavaliero Fridel Wildroserich, 35,
sie Sex mit einer Frau hatten. Es ist nicht so, dass ich total darauf versteift bin, als künstlerische Leitung im SchwuZ,
Frau wahrgenommen zu werden. In meinem Kiez wissen alle, dass ich eine Transe DJ, Aktivist
bin, und das ist auch völlig okay. Klar gibt es auch Probleme, und Leute machen
dumme Kommentare. Aber ich bin in Berlin-Kreuzberg groß geworden und auch „Wenn ich gefragt werde, sage ich: ,Ich bin
ziemlich schlagfertig. Meine Freunde sagen zwar, ich bin jetzt mittlerweile so weiblich, Trans*, bitte verwenden Sie das männliche
dass es keiner mehr merkt. Aber wenn ich durch die Straßen gehe, achte ich schon Personalpronomen. Danke!‘ Außerdem
drauf, wie die Leute auf einen reagieren. Ich schreie zurück und schmeiße mit der nutze ich Trans*männlich, Trans*gender,
Handtasche, wenn mir jemand dumm kommt. In meinem persönlichen Umfeld hatte Trans*mann, genderqueer, tuntig. Ich de-
ich immer Glück, Leute zu kennen, bei denen ich so sein kann, wie ich bin. Für andere finiere mein Geschlecht als eindeutig flam-
Menschen, die auf einem Dorf wohnen, ist das wahrscheinlich schwieriger.“ boyant und herrlich verwirrend. Letzteres
zumeist für das Selbstverständnis des
Trans*-unbefleckten Drumherums und
sehr selten nur für mich persönlich. Kein
Produkt der Biologie. Ein Produkt meiner
Geschichte/meines Lebens. Momentane
Lebensweise hat keine Garantie auf End-
gültigkeit. Baby, I was not born that way!
Tätigkeiten einer Person werden auf Teu-
fel komm raus als ‚männlich‘ oder ‚weib-
lich‘ interpretiert, um die beobachtete Per-
son dann in eine der beiden Boxen ‚Mann‘
oder ‚Frau‘ zu pressen. Diese Interpreta-
tionen dienen dann als ‚Beweise‘ des ‚ech-
ten‘ Geschlechts und legitimieren eine Be-
wertung der geschlechtlichen Identität der
Person. Ohne gehört zu werden, fremd-
definiert zu werden – ob gut gemeint, oder
nicht –, ist übrigens ignorant und nervt.
Denn wer außer mir weiß am besten, wer
oder was ich bin? Und beweisen muss ich
das schon gleich gar nicht. Das ist absurd.
Mein Geschlecht definiere ich.“
JOSEPH WOLFGANG OHLERT
LIEBLINGSBUCH
Verfassung, man muss sie sich grau-grünlich
vorstellen, ausgemergelt und meistens am
Umkippen, kurz: sehr nah am authentischen
Ich, bei dem das Drumherum nicht mehr
von Bedeutung ist.
Was die Schriftstellerin Birgit Vanderbeke Ihr Mann kapiert offenbar nicht viel von
der Feldforschung und von seiner Frau, und
als Lektüre zum Heftthema empfiehlt natürlich kommt Fen nicht damit klar, dass
Nell Erfolg hatte, und er hatte bisher keinen
Erfolg, das quält ihn so, dass er zum Schluss
des Romans etwas ganz und gar machomä-
ßig Grässliches tut, womit er in die Ge-
schichte der Anthropologie Einzug halten
möchte, und dabei geht er über Leichen und
ist jämmerlich, dass einem schlecht wird.
und die Erzählung übernimmt mit dem er- te kaum jemand kennt.
munternden Bekenntnis, dass er sich drei Es steht nicht im Buch drin, aber sie re-
Tage zuvor im Fluss zu ertränken versucht den drüber. Von Amy Lowell. Es geht so:
habe. Dekade
Spätestens hier, zu Beginn des zweiten Als du kamst, warst du wie
Kapitels, würde mein Lektor einschreiten, Rotwein und Honig,
B I R G I T VA N D E R B E K E weil ja nicht einfach nach dem ersten Kapi- Und dein Geschmack brannte
tel, in dem es gar keinen Erzähler gibt, eine meinen Mund mit seiner Süße.
schreibt über den hoch gelobten Roman „Eu- Person daherkommen und die Geschichte Jetzt bist du wie Brot am Morgen,
phoria“ (2015) der amerikanischen Autorin als Icherzählung fortführen kann, nachdem Weich und angenehm.
Lily King. Vanderbekes neuer Familienroman sie schon ihren eigenen Selbstmord nicht Ich schmecke dich fast gar nicht, denn
„Ich freue mich, dass ich geboren bin“ er- auf die Reihe gekriegt hat. ich kenne deinen Geschmack,
scheint am 1. März. Das geht gar nicht. Aber die Nahrung ist vollkommen.
WEGE ZU MIR
„Wenn etwa Menschen in Blogs „Wir haben beschlossen, dass „Kinder sollen zwar ehrlich
über sich schreiben, dann wir uns gegenseitig immer sein. Und gleichzeitig
produzieren sie vielleicht keine sagen, was wir denken und von- bekommen sie eingeimpft, sich
literarisch wertvollen Texte, einander halten. Natürlich an Normen und Regeln zu
aber sie verständigen sich über darf man auch nicht alles zer- halten, um innerhalb der
ihr Leben und über reden, aber wir haben genau das Leitplanken der Gesellschaft
das, was es ihnen bedeutet.“ richtige Maß gefunden.“ funktionieren zu können.“
SPIEGEL: Herr Macho, wir wollen fitter, dersetzen, sich Mit-sich-Beschäftigen, Bil- bei vielen neuen Entwicklungen passiert
schöner, perfekter sein. Ist die Arbeit am der-von-sich-Produzieren, all das hat eine eben auch viel Unfug.
Selbst zum kollektiven Trend geworden? positive Qualität. Wenn etwa Menschen in SPIEGEL: Wo sehen Sie die Gefahren der
Macho: Ja, in den westlichen Gesellschaften Blogs über sich schreiben, dann produzieren Selbstoptimierung?
ist sie ganz sicher zum Trend geworden, be- sie vielleicht keine literarisch wertvollen Macho: Es gibt inzwischen Geräte, die do-
fördert durch die sozialen Medien und das Texte, aber sie verständigen sich über ihr kumentieren, wie viel man für die eigene
Internet. Diese Entwicklung kann man kri- Leben und über das, was es für sie bedeutet. Gesundheit tut. Auf diese Weise produziert
tisch beurteilen, ich finde sie eher interes- SPIEGEL: Also eine positive Form der man Daten über sein Leben, erste US-Versi-
sant. So zeigen Studien, die der Philosoph Selbstvergewisserung? cherungen denken bereits darüber nach, auf-
Michel Foucault in seinem Spätwerk ange- Macho: Ja, Selbstvergewisserung für die grund dieser Nachweise die Beiträge zu sen-
stellt hat, dass schon in der Antike Eliten in- breite Masse. Der Prozess hat im 19. Jahr- ken. Das kann im Umkehrschluss bedeuten:
tensive Körperpflege und Techniken der hundert begonnen durch die Alphabetisie- Wer für seine Gesundheit nicht ausreichend
Selbstformung praktiziert haben. rung, jetzt entsteht durch die Digitalisierung viel tut, dessen Prämien werden erhöht oder
SPIEGEL: Sie sehen darin einen Fortschritt? etwas Neues. Wir sollten diese Formen der Leistungen werden nicht mehr gewährt. Da-
Macho: Ich sehe darin eine Form der De- Selbstdarstellung und Selbstoptimierung rin sehe ich durchaus eine Gefahr, die vielen
mokratisierung: dieses Mit-sich-Auseinan- nicht als kulturellen Verfall sehen. Doch wie Benutzern nicht klar ist.
AUF DE R Z IE LGER A D EN
D I E T R AG I KO M Ö D I E „ D E R G E I L S T E TAG “
E R Z Ä H LT VO M L E T Z T E N G R O S S E N A B E N T E U E R .
EIGENTLICH SIND SIE SCHON SO GUT WIE TOT. Andi (Matthias Schweighöfer)
und Benno (Florian David Fitz), beide Mitte dreißig, lernen sich in einem Sterbehospiz
kennen – und stellen fest, dass sie ihre erlöschenden Lebenslichter noch einmal richtig
anfachen wollen. Der geilste Tag des Lebens, so ihre Devise, ist der letzte Tag vor dem
Tod. Die Tragikomödie, bei der Fitz auch Regie führte, jagt seine beiden Helden mit Höchst-
geschwindigkeit über die letzte aller Zielgeraden. Ein schöner Traum, zu schön, um wahr
zu sein, gewiss, diese Geschichte von einem rasanten und erfüllten Ende. Slapstick im An-
gesicht des Todes ist grenzwertig, aber auch befreiend. Ein Film für Menschen, die noch
Zeit haben, endlich nachzuholen, was sie bislang versäumt haben. Kinostart 25. Februar
Was heißt schon normal? einen Zeitraum von zehn Wochen den
anderen gezielt zu unterstützen, ihn zu
ermutigen und ihm in Alltagsdingen zu
I I U S U S I R A J A M AC H T D I E S O N D E R B A R S T E N S E L F I E S D E R W E LT. helfen. Diese Bemühungen des Unter-
stützers wurde vom anderen Mit-
bewohner schon bald mit Rückhalt und
„ZU HAUSE KANNST DU GANZ DU SELBST SEIN, wild und frei“, sagt Iiu Susiraja. Hilfe erwidert, es entstand eine harmo-
In biederen Wohnräumen inszeniert sich die Fotokünstlerin als grotesk-lächerliche Haus- nische Wohngemeinschaft.
haltsgöttin – mit einem Besenstiel, der quer unter ihren schweren Brüsten klemmt, oder Darüber hinaus, so fand Crocker he-
einem Brotlaib, das ein Baby im Arm ersetzt. Die Selbstporträts der jungen Finnin sind raus, steigerte diese Erfahrung das
anarchisch, schonungslos, von bissigem Witz und lösen oft zwiespältige Reaktionen aus. Selbstbewusstsein beider Probanden
Sie solle sich doch einen richtigen Job suchen, beschied ihr ein Fremder per Mail. Liebe, enorm. Die Psychologin führt diesen
Körperbilder, Feminismus, Schönheit, Privatsphäre und Weiblichkeit gehören zu den Anstieg auf die Erfahrung des Gebens
Themen, die Susiraja in ihren Kunst-Selfies anspricht. Meistens stifteten ihre Arbeiten zurück. Crocker: „Du hat ein geringes
Verwirrung, sagt die Fotografin, die durchaus gern provoziert, aber auch inspirieren Selbstwertgefühl? Na und? Du kannst
OLIVIA MUUS / EXCLUISVEPIX / ACTION PRESS (5), HORST GALUSCHKA, IIU SUSIRAJA, WARNER BROS
möchte. Als Leitmotiv ihrer Arbeit sieht sie den Hinweis darauf, dass „das Abnorme trotzdem einen wichtigen Beitrag leis-
normal sein könnte“. ten, du kannst andere Menschen unter-
stützen, du kannst etwas erreichen, was
dir wichtig und wertvoll ist.“
Bei mir
bist du schön
{1}
„Wir ergänzen
uns“
TE RE SA WE RNE R , 25 , U N D C R I ST I A N A C R U Z , 29
Das Paar lernte sich in Brasilien kennen: Teresa
lebte dort während eines Auslandsjahrs bei
Cristianas Familie. Die beiden waren zuerst nur gute
Freundinnen – bis sie sich ineinander verliebten.
Seit sechs Jahren leben sie in Köln in
einer eingetragenen Lebenspartnerschaft.
CRISTIANA CRUZ: Es fühlt sich zum ersten Mal alles zentig man selbst. Teresa kann ich wirklich alles erzäh-
richtig an. In den Beziehungen davor hatte ich immer len. Wenn ich jemanden auf der Straße sehe und denke
so ein komisches Gefühl. Da wusste ich natürlich nicht, „Oh, die ist schön!“, dann sage ich Teresa das, und es ist
was genau fehlt, ich kannte Teresa ja noch nicht. Aber kein Problem für sie. So offen zu sein habe ich erst durch
seitdem wir uns kennen, weiß ich, dass sie es war. Was sie gelernt.
wir haben, ist sehr speziell und besonders.
Ich kann Teresa immer meine Meinung sagen. Sie
denkt manchmal nicht so wie ich, aber sie respektiert TERESA WERNER: Zwischen uns herrscht einfach eine
und akzeptiert alles, was ich sage. Ich habe keine Angst, angenehme Stimmung. Am besten lässt sich das be-
ihr die Wahrheit zu sagen. Bei Freunden und der Familie schreiben durch die Art und Weise, wie wir zusammen
gibt es eine Grenze; bis dahin kann man gehen und nicht reisen: Cris fährt sehr gern Auto, ich hingegen gar
weiter. Und wenn das so ist, ist man nicht hundertpro- nicht. Ich bin aber eine sehr gute Kopilotin, die den
Weg heraussucht. Wir können uns sehr gut auf Musik
einigen und genießen es dann, dass wir auf der Fahrt
zusammen sind. Wir ergänzen uns sehr gut.
Und so fühlt es sich immer an. Wir verbringen sehr
gern sehr viel Zeit miteinander, ohne dass wir etwas
Besonderes machen müssen. Es wird nie langweilig,
und das kommt eben auch dadurch, dass wir so un-
terschiedlich sind. Cris ist sehr emotional und spiri-
tuell. Sie erzählt mir von Dingen, auf die ich allein
niemals gekommen wäre. Zum Beispiel habe ich mich
ALINA EMRICH & KIÊN HOÀNG LÊ / SPIEGEL WISSEN
{2} Dann bin ich auch bereit, Lieder zu spielen, die mir
aus der Seele sprechen. Von denen ich genau weiß: Das
ist ein in Musik umgesetzter Tagebuchtext. Für denjeni-
„Da reicht ein gen, der zwischen den Zeilen lesen will, gebe ich viel von
mir preis und zeige sehr empfindliche Seiten – und da-
Blick“
durch fühle ich mich auch bei den Auftritten ein bisschen
wie zu Hause. Deshalb hieß unsere letzte Tour auch „Un-
terwegs ist das neue Zuhause“.
Dieses Gefühl, dass wir auch in unserem Beruf
diejenigen sein können, die wir sind – das ist ein ganz
großes Glück. Ich spüre überall diese Zufriedenheit mit
TIM LUDW IG, 33, UND OLIVER HAAS, 27 dem, wie ich bin und was ich mache. Für viele Leute,
Die Freunde lernten sich im Schulchor kennen die 40 oder 50 Stunden in der Woche im Büro sind, ist
und schrieben im Urlaub den ersten gemein- das vielleicht nicht immer so. Und dieser Luxus ist für
samen Song. Ihr Lehramtsstudium brachten mich viel mehr wert als eine finanzielle Sicherheit, die
beide zu Ende, wollten danach aber die Musik wir so eben eher nicht haben.
zu ihrem Lebensinhalt machen. Als Singer- Dass das alles so funktioniert, basiert auf einem un-
Songwriter-Duo „byebye“ touren sie durch ausgesprochenen Gesetz, einer stillen Gewissheit zwi-
Deutschland, spielen pro Jahr bis zu 150 schen Tim und mir. Das klingt jetzt ein bisschen schnul-
Konzerte in Klubs und Wohnzimmern. Und zig, aber wir wissen, dass wir zusammengehören, uns
auch sonst sind sie nie lange getrennt: In ihrer vertrauen und loyal zueinander sind. Wir zweifeln nicht
Heimatstadt Leipzig liegt nur ein Stockwerk daran, dass wir in einem sehr großen Teil unseres Le-
zwischen den beiden Wohnungen. bens eine Einheit sind.
Natürlich sind wir trotzdem auch mal genervt von-
einander oder brauchen Zeit allein. Deshalb ist es wich-
tig, ab und zu ein bisschen Abstand zu gewinnen und
sich nicht nur über das Zusammensein zu definieren.
O L I V E R H AAS:Wir sind mindestens fünf Tage die Wo- Dieses Nähe/Distanz-Problem gibt es ja in allen zwi-
che zusammen, immer. Entweder sitzen wir zusammen schenmenschlichen Beziehungen. Wenn wir einen Tag
im Auto, stehen zusammen auf der Bühne, sind zusam- frei haben, achten wir auch darauf, mal Dinge allein
men im Hotel. Auch wenn wir kein Liebespaar
sind: Der Unterschied zwischen einer Ehe-
schließung und einem Bandvertrag ist tatsäch-
lich nicht sehr groß. Es gibt keinen Menschen
in meinem Leben, mit dem ich mehr Zeit ver-
bringe. Dadurch kennen wir auch jede Kleinig-
keit des anderen.
Durch diese Intensität des Zusammenseins
ist etwas sehr Besonderes entstanden. Ich wür-
de behaupten, dass man heutzutage in unserer
westlichen Gesellschaft nicht nur ein Ich hat;
wenn man zu Hause mit sich selbst allein ist,
fühlt und gibt man sich anders, als wenn man
auf die Straße geht und anderen Menschen be-
gegnet. Jeder spielt verschiedene Rollen. Dieses
Verstellen ist bei Tim und mir total weg. Wenn
wir zusammen sind, können wir so sein, wie
wir auch allein zu Hause sind. Es ist ein sehr
enges, vertrauensvolles Verhältnis. Wir können
total offen sein.
Und das Schöne ist, dass wir dieses Gefühl
auch auf die Bühne transportieren können. Tim
ist da derjenige, der etwas zurückgezogener ist;
ich bin extrovertierter und rede viel. Das ent-
spricht unserem Naturell, das müssen wir bei
unseren Auftritten nicht verstecken. Genau des-
halb überzeugen wir auch als Band, wir ergän-
zen uns einfach sehr gut. Ich fühle mich dann
immer sehr wohl in meinem Umfeld und merke, Tim Ludwig und Oliver Haas:
dass es dem Publikum oft auch so geht. „Natürlich sind wir trotzdem auch mal genervt“
bands gespielt. dass man jemanden so gut kennt, dass man das so
Irgendwann hat es mir aber nicht mehr gereicht, schnell sieht. Man weiß dann, wenn ein Moment ist, in
nur Musik von fremden Leuten zu spielen; ich wollte dem man den anderen besser in Ruhe lässt. Und wenn
eigene Sachen machen. Es ist aber gar nicht so einfach, es mir schlecht geht, weiß ich immer, wo ich hingehen
immer neue Songs zu schreiben – du musst ja ständig kann. Das ist eine super Sache.
etwas zu erzählen haben. Deshalb bin ich sehr froh,
dass ich Olli gefunden habe. Ohne ihn hätte ich nicht
den Mut gehabt, mich komplett auf die eigene Musik VIDEO: Seelenverwandte
auszurichten. Ich glaube, genau an den Stellen, wo uns durch die Musik
jeweils der Mut fehlt, ist der eine für den anderen da. spiegel.de/sw012016byebye
Das ist das Besondere: Wir stützen und befruchten uns
SPIEGEL WISSEN
1 / 2016
Lego-Ego
ENTWICKLUNG
Ob wir zu einer
reifen, stimmigen
Identität finden,
wird schon
ter fragte: „Warum ziehst du eigentlich keine
in Kindheit und Röcke an?“ Gute Frage, dachte Nils Pickert.
Er verstand sie als Aufforderung zur Solida-
Jugend angelegt. rität: Ich dachte, das ist nicht zu viel ver-
langt.
Also lieh sich Pickert einen leuchtend
roten Rock, und Vater und Sohn gingen
TEXT gemeinsam im Rock zur Kita. Auf dem Weg
dorthin sahen sie, wie eine Frau sie anstarrte
MARIANNE WELLERSHOFF
und wie im Slapstick gegen eine Laterne lief,
und Theo musste lachen. In der Kita sagte
Pickert zu den verdutzten Kindern: „Heute
ist Rock-und-Kleid-Tag.“ Ein paar Mal zog
Pickert morgens einen Rock an, und das
habe es für Theo „geknackt“: Der Junge fühl-
ALS DER KLEINE JUNGE, nennen wir te sich wieder so frei, anzuziehen, was ihm
ihn Theo, anderthalb Jahre alt war, begann gefiel, Hose, Leggings, Rock, Kleid. Bis zur
er, die Klamotten seiner Schwester anzuzie- dritten Klasse trug er die Klamotten seiner
hen, T-Shirts, Röcke, Kleider. „Weil er der Schwester, dann blieb er bei Hosen. Aus
größte Fan seiner großen Schwester war“, eigenen Stücken, wie Pickert erzählt.
sagt der Vater Nils Pickert, 36. In Theos Kita Die Geschichte von Theo zeigt, wie sehr
in Berlin-Kreuzberg nahm niemand beson- unsere Gesellschaft noch immer geprägt ist
dere Notiz davon, denn da verschwendete von Geschlechtsstereotypen. Die Geschich-
auch keiner einen Gedanken daran, ob die te zeigt aber auch, wie in der Kindheit die
Jungs nun mit blauen oder mit rosa Rädern Grundlagen für ein autonomes Selbst und
herumfuhren. Pickert sagt: „Ich sah nie die für die Identität eines Menschen gelegt wer-
Notwendigkeit, meinen Sohn in seiner Iden- den – also für ein stimmiges Bild davon, wer
titätsfindung zu beschränken. Ob er Prin- man ist und was man wirklich will.
zessin oder Astronaut werden will, ist seine
Sache.“ FÜR EIN GLÜCKLICHES, erfolgreiches
Doch dann, da war Theo fünf Jahre alt, Leben, für das Gefühl, im Einklang mit sich
zog die Familie nach Villingen-Schwennin- zu sein, ist entscheidend, dass man seine
gen, und der Junge ging auch dort in die Kita. Fähigkeiten, Wünsche und Bedürfnisse
Sein Vater war so daran gewöhnt, dass Theo kennt. Und dass man sie einschätzen kann.
auch mal im Kleid herumlief, dass er die Was kann ich gut? Was macht mir Spaß?
Erzieher nicht vorgewarnt hatte. Als Theo Was sind meine Schwächen? Wie finden die
eines Morgens im Rock in der Kita erschien, anderen mich?
lachten die anderen Kinder ihn aus und Einzig eine solch differenzierte Vorstel-
nannten ihn „schwul“, was offensichtlich als lung von sich selbst macht es überhaupt
Beleidigung gemeint war. Theo war verletzt, möglich, die eigenen Interessen und Ansprü-
denn dass Röcke als unpassend für Jungs an- che zu verstehen, zu verfolgen, mit anderen
gesehen wurden und Rockträger als minder- Menschen zu kommunizieren, deren Reak-
wertig oder anormal, verstand er nicht. Seine tionen deuten zu können und belastbare Bin-
von ihm bewunderte Schwester zog doch dungen einzugehen.
auch oft Röcke an, was also war daran falsch? Das Potenzial für ein gesundes Selbst ist
Trotzdem ging Theo erst mal in Hosen in jedem Säugling angelegt, und dieses
in die Kita, Röcke und Kleider trug er nur Selbst entwickelt sich Schritt für Schritt
noch zu Hause. Bis er eines Tages seinen Va- über die Jahre – nach den Theorien heutiger
Kavšek, 53, lehrt Entwicklungspsychologie Das Temperament dagegen gilt als schwerer zu beeinflussen
an der Universität Bonn. und ist in seiner Ausprägung offenbar schon angelegt.
SPIEGEL: Was verstehen Sie unter Temperament?
SPIEGEL: Herr Kavšek, besitzt ein Neugeborenes ein Ich? Kavšek: Die Art und Weise, in der Kinder auf ihre Umwelt rea-
Kavšek: Es hat wahrscheinlich schon bei der Geburt ein soge- gieren und sich selbst regulieren. Wie aufmerksam sind Kin-
nanntes Ich-Selbst. Das bedeutet, es kann von Anfang an zu- der? Wie schüchtern sind sie? Wie heftig reagieren sie? Bereits
mindest rudimentär zwischen sich und der Umwelt unterschei- bei ungeborenen Kindern lassen sich anhand des Herzschlags
den. Diese Differenzierung ist die Voraussetzung dafür, dass große Unterschiede im Aktivitätsniveau messen. Langzeitstu-
ein Säugling überhaupt eine emotionale Bindung eingehen dien zeigen, dass gerade die extremen Temperamente sich
kann. Im Alter von 15 bis 18 Monaten, wenn das Kind sich über die Jahre kaum verändern.
selbst in seinem Spiegelbild erkennt, wird aus der unbewussten SPIEGEL: Eltern haben hier keinen Einfluss?
eine bewusste Selbstwahrnehmung. Es entsteht das sogenannte Kavšek: Doch, den haben sie. Wenn ein Kind schüchtern ist,
Mich-Selbst: Das Kind beginnt, über sich selbst zu reflektieren.zieht es sich zurück und entwickelt allmählich immer größere
SPIEGEL: Wie erforscht man das Selbst von Babys? Ängste. Hier können Eltern oder andere Bezugspersonen das
Kavšek: Durch experimentelle, empirische Studien, was gar Kind schon in den ersten Lebensjahren dabei unterstützen,
nicht so einfach ist, weil Babys ja nicht sprechen können. In ei-
seine Emotionen zu regulieren.
ner Untersuchung aus dem Jahr 2015 wurden Neu-
geborene mit Pinseln entweder an der Wange oder
an der Stirn berührt, und man zeigte ihnen wäh-
renddessen ein Video, in dem ein Neugeborenes an
der gleichen oder aber an der anderen Stelle ge-
kitzelt wurde. Diese ein, zwei Tage alten Säuglinge
betrachteten deutlich länger das übereinstimmende
Bild – sie konnten also einen Zusammenhang her-
stellen zwischen Sehen und Fühlen.
SPIEGEL: Kann man in diesem Alter schon von
bewusstem Erkennen sprechen?
Kavšek: Nein. In der Psychologie nennt man dies
implizite, also unbewusste Wahrnehmungsmomen-
te. Sie sind Vorläuferleistungen zur Entwicklung
des Mich-Selbst. Da Neugeborene zwischen sich
und ihrer Umwelt differenzieren können, ist diese
Unterscheidung offenbar in Grundzügen angelegt.
SPIEGEL: Ist diese Entwicklung des Selbst ein
genetisches Programm, das abgespult wird?
Kavšek: Damit sind wir mitten in der Debatte, was
angelegt und was auf den Einfluss der Umwelt zu-
rückzuführen ist. Es gibt Studien, die zeigen, dass
fürsorgliches Verhalten von Mutter und Vater sich
positiv auf die Entwicklung des Selbst auswirkt.
Wenn Eltern sich viel mit ihren Kinder beschäftigen,
mit ihnen gemeinsam Dinge besprechen, dann er-
kennen die Kinder sich beispielsweise im Spiegel-
test früher. Sie haben schneller gelernt, sich selbst Fotograf Peter Marlow begleitet seine Kinder mit der Kamera durchs
zu beobachten und ihr Mich-Selbst zu entwickeln. Leben: ob im Wochenbett, mit Pumps, Schnurrbart oder Tropenhelm.
ist als der von Jungen – und dass Jungen folge. Und dass sie erfolgreich sein können, was die meisten Menschen unter „erwach-
aus machtstrategischen Motiven Mädchen wenn sie sich anstrengen. sen“ verstehen.
gezielt ausschließen. Kein Wunder, wenn, Der deutsch-amerikanische Psychoana- Erikson war überzeugt, dass Jugendliche
wie das Beispiel von Nils Pickert und seinem lytiker Erik Erikson (1902 bis 1994) erkannte erst durch eine – gern mit Türenschlagen
Sohn zeigt, Rockträger und Rockträgerin- als Entwicklungsforscher und -theoretiker und Gebrüll verbundene – Krise gehen müs-
nen als lächerlich oder minderwertig diffa- Mitte der Sechzigerjahre, dass ein klar struk- sen, um zu ihrer Identität zu finden. Heute
miert werden. turiertes Selbst und ein differenzierter wird die Pubertät in der Forschung nicht
Selbstwert die Vorläufer von Identität im ei- mehr als Krise betrachtet, sondern als Phase
KINDER, DIE VON KLEIN AUF viel kri- gentlichen Sinne sind – und dass erst Ju- des Infragestellens und des Erkundens: Sind
tisiert wurden, glauben schon als Grund- gendliche sich die Fragen stellen: „Wer bin meine Eltern zu konservativ? Finde ich Dro-
schüler: Wenn sie scheitern, liegt das an ih- ich?“ und „Wer will ich sein?“. Auch wenn gen cool? Bin ich eine Künstlerin? Will ich
rer Unfähigkeit. Wenn sie Erfolg haben, war psychoanalytische Theorien oft kritisiert die Welt verbessern und helfen, die Wale
es Glück. Fachbegriff: gelernte Hilflosigkeit. werden: Dass es diese Identitätssuche in der vor dem Aussterben zu retten? Nach dem
Bei Kindern, die von ihren Eltern unter- Pubertät gibt, ist Konsens unter Forschern. Ausprobieren kommt dann die sogenannte
stützt wurden, ist es hingegen umgekehrt: Der amerikanische Erziehungspsycholo- Identitätsbindung: Ich studiere Malerei,
Misserfolg war Pech, und Erfolg ist das Er- ge David Moshman definiert Identität als weil mir das entspricht. Ich arbeite für
gebnis von Können. Aber für eine Neube- die explizite Theorie von sich selbst als ra- Greenpeace, weil ich dort meine Ideale ver-
wertung ist es noch nicht zu spät: Auch im tional Handelndem – also als jemandem, der folgen kann. Im Idealfall ist eine gefestigte,
Alter von sechs bis zehn Jahren können Kin- auf Basis der Vernunft agiert, der Verant- gereifte Identität erreicht. Aus dem Jugend-
der noch lernen, sich nicht über ihre Miss- wortung für sein Handeln übernimmt und lichen ist ein Erwachsener geworden.
erfolge zu definieren, sondern über ihre Er- dieses erklären kann. Das ist im Grunde das,
BLEIBT DAGEGEN das kindliche Selbst
in sich widersprüchlich oder diffus, ist der
Selbstwert niedrig, dann kann der Jugend-
liche in der Phase der Identitätsfindung ver-
harren. Er wird kein eigenständiger Erwach-
„Unser Selbst entwickelt sich Schritt für sener, sondern übernimmt seine Identität
von anderen – er wird genauso erzkonser-
Schritt – bis zum Lebensende.“ vativ wie seine Eltern, dogmatisch, unflexi-
bel; im Extremfall schließt er sich vielleicht
einer Sekte an. Oder es bleibt bei einer dif-
fusen Identität, was sich darin äußern kann,
dass der Jugendliche eine „Mir egal“-Hal-
tung entwickelt, in der Schule versagt und
vielleicht sogar in die Drogenszene ab-
rutscht – eine fatale Mischung aus Apathie
und Impulsivität, der das Gefühl von Hoff-
nungslosigkeit zugrunde liegt.
Die neuesten Forschungsmodelle zu un-
serem Selbst und unserer Identität verste-
hen die Reifung des Menschen als ein dyna-
misches System: Geist, Körper, physische
und soziale Umwelt produzieren ein inte-
griertes System, das sich dauernd neue Fä-
higkeiten aneignet. Gene legen die Entwick-
lung eines Menschen nur skizzenhaft an:
Alle gesunden Kinder beginnen irgendwann
zu sprechen – aber jedes benutzt Sprache
PETER MARLOW / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS
Authentisch? Ach
Eine Warnung vor
der Masche mit der Echtheit
TEXT BERND KRAMER I L L U S T R AT I O N CECILE DORMEAU
MANCHMAL möchte man ihnen nur ent- das Selfie deswegen die Kunstform der Ge-
gegenrufen: Wie schafft ihr das? Warum genwart. Authentizität ist das Biosiegel des
müsst ihr euch nicht schütteln vor Scham Psychosegments und von dessen Erfüllungs-
über euer Getue? Zum Beispiel diese Men- versprechen eines der hinterhältigsten. Die
schen mit „positiver Lebenseinstellung“. Die Antwort liegt in dir, säuselt die gecoachte
schon joggen waren, „Energie tanken“, wie Welt. Finde deinen Weg. Mach dein Ding.
sie sagen, bevor ihr Wecker klingelt. Die ihre Das ist eine so perfide Aufforderung wie:
Kollegen tyrannisieren mit ihrem Ent- Konzentriere dich und denk jetzt nicht an
zücken über „die beste Familie aller Zeiten“. einen weißen Elefanten. Klappt nicht? Viel-
Die jede Schlechtigkeit der Welt, über die leicht ja beim nächsten Mal.
man sich bei ihnen ausheulen will, zu einer Umso schneller wird die Authentizität
„großartigen Chance“ erklären. als Prädikat für diejenigen Umgangsformen
Man wird den Verdacht einfach nicht los, herbeizitiert, die bisher als weniger rühm-
dass sie diesen Optimismus nur durchhal- lich galten. Wir betrügen unseren Partner?
ten, weil er von vornherein als Floskel an- Mag sein, aber wir bleiben uns treu. Wir
gelegt war. Man will der Phrasenmaschine schikanieren unsere Arbeitskollegen? Im-
den Stecker ziehen. Man will die Poser vom merhin spielen wir ihnen nichts vor. Unsere
Sockel stoßen. Man wünscht sich, sie wären Unangepasstheit nervt sogar die geduldigs-
endlich einmal: authentisch. ten Zeitgenossen? Wir lassen uns nun ein-
Aber dann überlegt man, was das eigent- mal nicht verbiegen. Wir sind zwar Hoch-
lich heißt. Authentisch ist heute: regional stapler, aber dabei immer authentisch.
produzierter Käse aus der Großmolkerei, die Der Begriff ist so hohl wie omnipräsent.
Gruppenreise jenseits des Massentourismus, Authentisch ist das Zauberwort der Selbst-
die Tiefkühlpizza, die wie beim Italiener darsteller, das sie vor der Entlarvung schüt-
schmeckt. Authentizität wird angepriesen zen soll. Die Unverfälschtheit dient immer-
als Weg zu Erfolg, Glück und Zufriedenheit. zu der Eindrucksmanipulation. Der franzö-
Man kann sie im Wochenendseminar erwer- sische Dichter André Gide schrieb: „Man
ben, inklusive Teilnahmezertifikat. Und dass kann nicht zugleich aufrichtig sein und es
dabei kaum einer das Wort richtig zu buch- scheinen.“ Wahrhaft authentisch ist nur die
stabieren vermag, ist nur: authentisch. Verlegenheit.
Es ist wie im Märchen vom Wettrennen Aber man versuche einmal, einen Poser
zwischen Hase und Igel: Wann immer man ins Wanken zu bringen. Eine gut gewartete
sich nach dem Unverfälschten, dem Unver- Phrasenmaschine stocken zu lassen. Einem
stellten sehnt, winkt es einem schon als Ma- Menschen mit „positiver Lebenseinstel-
sche von der Ecke entgegen. lung“ einen Moment der Ungefasstheit ab-
Unsere Freunde sind: authentisch. Die zuringen. Man will ihn schütteln und ihm
Nachbarn sind: authentisch. Der Vermieter: entgegenrufen: Sag mir einmal, wo dein
authentisch. Wir wohnen authentisch in der stahlharter Optimismus auseinanderbricht,
Platte, aber noch authentischer im kernsa- einmal nur, was du in dieser wunderbaren
nierten Altbau. Dort trinken wir im authen- Welt so richtig zum Kotzen findest. Man er-
tischen Zeremoniell unseren ayurvedischen wartet den großen Knall. Aber dann lautet
Tee und schneiden uns authentisch die Ze- die Antwort: „Unauthentische Menschen“.
hennägel. Das Leben ist oft banal, immer
aber authentisch.
Je stärker wir uns inszenieren müssen,
Bernd Kramer spürt inneren Einklang immer
im Job, im Privaten, desto ungekünstelter dann, wenn er nicht viel darüber nachdenken
sollen wir dabei erscheinen. Vielleicht ist muss – etwa sonntagsvormittags im Bett.
Eine runde
Sache
welt greifbar: „Seit etwa 15 Jahren hat sich toren, um Erwerbschancen zu kalkulieren.
die Haltung zum Thema Karriere ver- Ein anderer Teil nahm die eigenen Neigun-
ändert“, berichtet die Hamburger Unter- gen als Grundlage für den Berufsweg. Und
nehmensberaterin Carmen Schön, „heute eine dritte Gruppe kombinierte beide Berei-
wollen die Menschen mehr: arbeiten und che. Besonders zufrieden waren die Schüler,
erfolgreich sein, aber auch Freizeit haben, die sich ihrer Interessen und Fähigkeiten
ALS ÜBERFLIEGER hat Jonas Drechsler* sich entwickeln, im Beruf Sinn finden und bewusst waren. Fazit der Studie: Schülern
sich nie gesehen. Doch nach seinem Stu- Familienleben bewerkstelligen.“ Verbunden sollte im Unterricht mehr Raum gegeben
dium ging es wie von selbst bergauf. Der Öko-sei diese Ausrichtung mit der Generation werden, sich und ihre Werte und Interessen
nom fing bei einer Beratungsfirma an, arbei- Y, also den jetzt 20- bis 35-Jährigen. Laut kennenzulernen. „Denn dieses Wissen kann
tete weltweit für Kunden, übernahm Ver- Schön ist sie jedoch längst nicht auf diese man dann in die Berufsplanung einbezie-
antwortung, verdiente gut. Anfangs machte Altersgruppe beschränkt: „Ich beobachte, hen“, erklärt Alemann.
ihn das stolz. Nur: Durch seinen Job hatte dass Klienten sehr differenziert über Le- Die Relevanz der Empfehlung von da-
er kaum noch Zeit für seine Frau und seinen bensziele nachdenken – statt nur über mals habe sich heute noch verstärkt. Eine
großen Freundeskreis. Das machte ihn im- Karriereziele.“ reine Orientierung am Markt, indem man
mer unzufriedener. Als seine Frau schließ- beispielsweise Lehrer wird, weil es in dem
lich schwanger wurde, nahm Drechsler das
Wie komme ich zu einer Bereich heute Stellen gibt, oder Program-
zum Anlass, sich beruflich zu verändern.
Berufsentscheidung? mierer, weil man in der Branche derzeit
„Ich wollte wieder mehr Zeit für soziale „Eine isolierte Karriereplanung gibt es so Geld verdienen kann, sei nicht mehr ratsam.
Kontakte, wollte meinen Sohn aufwachsen gut wie nicht mehr“, sagt auch die Soziolo- Der Arbeitsmarkt ist dafür nicht kalkulier-
sehen“, erklärt er den Karrierebruch. gin Annette von Alemann von der Universi- bar genug. Anders ausgedrückt: Wer äußere
Er suchte sich eine Stelle bei einem Wirt- tät Köln. Zusammen mit Mechtild Oechsle, Aufstiegschancen zu hoch gewichtet, lässt
schaftsinstitut unweit seines Wohnorts: mit Professorin an der Universität Bielefeld, un- sich auf ein Glücksspiel ein. Persönliche Nei-
50 Prozent des bisherigen Gehalts, aber 100 tersucht sie seit Jahren die Einstellungen gungen sind als Fixstern zuverlässiger.
Prozent Gewissheit, um 17 Uhr nach Hause von Schülern, Studierenden und Berufstäti- Natürlich hat es nicht zuletzt gesell-
gehen zu können. Verzicht auf Aufstieg und gen. Laut Alemann zeigen die Forschungen schaftliche Gründe, dass die umfassende
Geld, nur um mit seinem Sohn auf Kinder- zum Thema schon seit längerer Zeit, dass Lebensplanung die Karriereplanung ablöst.
gartenfesten zu sitzen? Auch fünf Jahre sich der Blick geweitet hat: Statt einen en- „Die Vorstellung einer lebenslangen Berufs-
später ist das für den heute 43-Jährigen die gen Fokus auf Karrierechancen und Auf- tätigkeit mit stetigem Aufstieg wurde in den
richtige Wahl: „Ein Leben, in dem Arbeit stiegsstationen zu richten, wird ein umfas- Fünfziger- und Sechzigerjahren geprägt“,
ein Aspekt von vielen ist, passt einfach bes- sender Lebensplan inklusive Sinn und Work- erklärt Alemann. „Die Vereinbarkeit von Be-
ser zu mir.“ Life-Balance formuliert. Alemann begrüßt ruf und Familie war damals klar geregelt.
Für viele dürfte Drechsler ein Held der diese Entwicklung: „Werte, Persönlichkeit Männer gingen arbeiten, Frauen blieben
Arbeit sein, denn sein Handeln spiegelt ei- und Privates bei der beruflichen Orientie- weitgehend zu Hause, stiegen Jahre später
nen Trend wider: Karrierewege sollen heute rung zu berücksichtigen, ist wichtig. Es wieder ein. Das gibt es nicht mehr. Heute
zur Person, ihren Werten und Einstellungen führt zu passenden Entscheidungen.“ Das muss jedes Paar mit Kinderwunsch eine in-
passen. Außerdem wollen die allermeisten habe sich bereits in der Studie „Abitur und dividuelle Lösung finden.“
eine Arbeit, die mit Familie, Freunden und was dann“ gezeigt, die Mechtild Oechsle Das heißt: Ein Aufstieg mit Überstunden
Freizeit vereinbar ist. mit ihren Mitarbeitern vor einigen Jahren und ständiger Präsenz ist für viele schlicht
Bei einer Studie des Instituts der Deut- durchführte. unmöglich geworden. Der Glaube an ihre
schen Wirtschaft gaben 91 Prozent der Be- In dieser Interviewstudie wurde unter- Machbarkeit bröckelt sogar bei glühenden
fragten an, für sie sei es ein wichtiges Ziel, sucht, wie Schüler zu Berufsentscheidungen Fans dieses Modells. Das zeigen Erfah-
genug Zeit für Partner und Kinder zu haben. kommen. Es zeigten sich drei verschiedene rungen, die Alemann in ihren Seminaren
Berufliche Karriere nennen in dieser Studie Orientierungsstrategien: Ein Teil der Abitu- mit BWL-Studenten gemacht hat. Selbst die-
nur etwa 43 Prozent als erstrebenswert. rienten richtete berufliche Pläne am Arbeits- se bisher eher an Karriere orientierte Grup-
Und in einer vom Bertelsmann-Konzern be- markt aus, stützte sich also auf äußere Fak- pe betont mittlerweile, dass sie sich Frei-
auftragten Untersuchung mit 3600 Studie- räume für Freunde, Hobbys und Familie
renden zum Thema Erwartungen ans Be- wünscht.
rufsleben standen Selbstverwirklichung (84
Wie definiere ich
Prozent) und die Suche nach einer sinnvol- BUCH
GARRY OWENS / GALLERY STOCK
K E I N D I E N S T N A C H V O R S C H R I F T
schafft man auch die nö- Erfolg (also Zufrieden- schulabsolventen an Auf- tical, sollte sich an ande- rade grundlegend. Wäh-
tigen Voraussetzungen, heit und Erfüllung) ver- stieg und hohen Gehäl- ren orientieren, die den rend früher Loyalität,
um über eigene Wünsche binden lassen. Klopfen tern interessiert. So gibt Weg bereits gegangen Fleiß und Präsenz am Ar-
– etwa Teilzeitarbeit oder Sie also ruhig mal ab, es Untersuchungen, die sind. Durch Recherchie- beitsplatz relevante Kar-
ein bestimmtes Herzens- ob eine Selbstständigkeit zeigen, dass Aufstiegsori- ren und Herumfragen fin- riereeigenschaften waren,
projekt – irgendwann zu Ihnen passen würde. entierten so etwas wie det man meist eine Hand- ist es neuerdings erfolgs-
überhaupt verhandeln zu Wichtige Voraussetzun- „persönliche Zufrieden- voll Vorreiter, die Mut ma- fördernd, wenn man sich
können. gen: gutes Selbstmanage- heit“ nicht wichtig ist. Sie chen und Rat geben kön- an ständige Veränderun-
ment, überdurchschnitt- suchen einfach Heraus- nen. Und wenn man den gen und neue Anforde-
{4} liche Motivation, Durch- forderungen. Schritt dann gegangen ist, rungen anpassen kann.
VIELLEICHT haltevermögen und klare kann man selbst Vorbild Eine solche Flexibilität
SELBSTSTÄNDIG? Risikoeinschätzung. {6} für andere sein. fällt vor allem unabhängi-
VORBILDER SUCHEN, gen, neugierigen Geistern
Die Freiberuflichkeit er- {5} VORBILD SEIN {7} leicht. Sollten Sie dazuge-
weist sich in manchen KARRIEREWUT FLEXIBILITÄT hören: Nutzen Sie diesen
Fällen als geeignete Ar- IST AUCH GUT Auch wenn es immer ein UND ANPASSUNG Erfolgsfaktor ganz be-
beitsform, in der sich mit bisschen nach Sonntags- wusst, und wählen Sie Ihr
etwas Glück objektiver Nach wie vor sind laut rede klingt: Wer unge- Die Faktoren, die eine er- Arbeitsgebiet entspre-
Erfolg (also Geld und An- Studien immer noch etwa wöhnliche Schritte plant, folgreiche Laufbahn vo- chend aus.
sehen) und subjektiver 20 Prozent aller Hoch- beispielsweise ein Sabba- raussagen, ändern sich ge- Anne Otto
„Was scheint
und wirkt“
Karrierecoach Rainer
Niermeyer erklärt, warum
man sein wahres Ich nicht
ins Büro mitnehmen sollte.
INTERVIEW MARTIN U. MÜLLER
SPIEGEL: Herr Niermeyer, Sie behaupten, SPIEGEL: Schon Kindern wird doch ge- Niermeyer: Langfristig kann das nur gelin-
nur derjenige habe Erfolg, der seine Rolle sagt, dass sie ehrlich und authentisch sein gen – und vor allem mit Zufriedenheit ein-
als Angestellter oder Chef richtig spiele – sollen. hergehen –, wenn sich meine Performance
authentischer Selbstausdruck sei dagegen Niermeyer: Und genau hier liegt der Wi- weitgehend mit meiner Persönlichkeit und
völlig unangebracht. Warum? derspruch. Kinder sollen zwar ehrlich sein. meinen inneren Werten deckt.
Niermeyer: Jedermann wird dafür bezahlt, Und gleichzeitig bekommen sie eingeimpft, SPIEGEL: Aber es macht den Arbeitstag
LARS TUNBJÖRK / LINK IMAGE
auf professionelle Art und Weise seine Rolle sich an Normen und Regeln zu halten, um doch anstrengender, wenn ich immer eine
wahrzunehmen. Personalexperten sprechen innerhalb der Leitplanken der Gesellschaft Performance abliefern muss.
in vergleichbarem Zusammenhang von funktionieren zu können. Die ganze Welt ist Niermeyer: Ich schätze das anders ein. Ich
„Performance-Management“. In jedem Fall eine Bühne, und wir sind die Schauspieler, kann zum Beispiel viel entspannter mit
geht es um das, was nach außen scheint und wie Shakespeare es ausdrückt. Kritik oder negativem Feedback umgehen,
wirkt. Dies ist das für den beruflichen Erfolg SPIEGEL: Ein trauriges Berufsleben, wenn wenn mir klar ist, dass lediglich meine In-
im Wesentlichen Relevante. man nur noch eine Rollen-Marionette ist. terpretation der Rolle bewertet wird und
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Endlich mal r i
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g draufhauen!
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70 SPIEGEL WISSEN
am 1 / 2016
B E F R E I U N G S S C H L AG
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Selbstversuch in einem „Wutraum“
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SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 71
B E F R E I U N G S S C H L AG
Es gibt eine
Ich könnte übrigens verstehen, wenn Sie
langsam wütend werden, weil der Text
schon zur Hälfte vorbei ist und noch kein
Wort über den Wutraum gefallen ist.
Der Wutraum also. Man findet ihn in ei-
nem Industriegebiet in Berlin. Es wird be-
trieben von Christian, er hat BWL studiert
Geschich
und bietet auch Tortenschlachten an. Der
Raum ist klein, nur ein paar Quadratmeter,
darin: ein gedeckter Tisch, ein Spiegel, eine
Kommode, ein Fernsehtisch mit Fernseher
drauf, ein Computermonitor. Es kostet 150
te...
Euro, wenn man das alles zertrümmern will,
danach räumt Christian auf und stellt neue
Möbel hin.
Er sagt, es kommen Väter mit ihren Söh-
nen, denen man in der Schule gesagt hat,
dass sie unterdrückte Aggressionen haben.
... die ich schon so oft erzählt habe, dass ich Es kommen Frauen direkt nach der Schei-
nicht ganz sicher bin, ob sie wahr ist. Sie dung. Es kommen Typen, die Ärger mit der
könnte aber wahr sein. Es war im Musik- Polizei hatten, und Leute, die ihren Chef
unterricht in der sechsten Klasse. Aus ir- hassen. Es gibt Männer, die das Ausrasten
gendwelchen Gründen wurden die vier alt. Wenn er fröhlich ist, freue ich mich. im Wutraum ihren Frauen zu Weihnachten
Temperamente besprochen, Sanguiniker, Wenn er traurig ist, tröste ich ihn. Wenn er schenken, weil sie es satthaben, dass bei je-
Phlegmatiker, Melancholiker – und Chole- wütend ist oder etwas kaputt macht, sage dem Streit das Familiengeschirr zertrüm-
riker. Der Musiklehrer, der sehr nett war, ich, dass er das nicht noch einmal tun soll. mert wird. Wenn man Christian so zuhört,
aber leider keine Ahnung hatte, wie schwer Ich sage Sätze, die auch schon meine Mutter könnte man glauben, dass es sehr viele Men-
es ist, zwölf Jahre alt zu sein, wollte, dass gesagt hat, manchmal aus purer Verzweif- schen gibt, die gern häufiger alles kurz und
jeder Schüler der Reihe nach sagt, was er lung. Ich sage: „Wenn du das noch einmal klein hauen würden.
selbst für ein Temperament hat. Es war so- machst, können wir nicht ins Schwimmbad.“ An der Wand stehen Schraubenschlüssel,
fort klar, dass nur Sanguiniker oder Melan- Es gibt genug Situationen, in denen ich Baseballschläger, ein Vorschlaghammer und
choliker akzeptable Charaktere sind, wel- auch gern ausrasten würde und es doch eine Axt.
cher Zwölfjährige steht schon auf und nennt nicht tue. Zum Beispiel, wenn ich am Ende
sich selbst einen Phlegmatiker? Also sagte einer zweistündigen Konferenz das Gefühl ES KLINGT GANZ LEICHT, einen Vor-
ich, als ich an der Reihe war, sehr tapfer: habe, dass nun wirklich jeder zu jedem The- schlaghammer zu nehmen, in einen Raum
„Ich bin Sanguinikerin.“ ma alles gesagt hat, und der Chef in die Run- zu gehen und auf den Tisch einzuschlagen.
Einige begannen zu lachen, am Schluss de fragt: „Gibt’s noch etwas?“, und nach ei- Es ist aber nicht leicht. Es fühlt sich an wie
lachte sogar der Musiklehrer mit, was zu ei- nem Moment Pause jemand sagt: „Ich hätte ein großer Fehler. Als hätte man 100-mal
nem Wutausbruch führte – am Ende brüllte noch eine Anmerkung auf der kreativen über seinen Chef „Du Riesenarsch“ gedacht
ich „ICH BIN KEIN CHOLERIKER“. Ebene.“ – und soll es ihm dann ins Gesicht sagen.
Es gibt noch etwas, von dem ich nicht Oder wenn ich im Auto sitze, um meinen Erst mal also warm machen. Geschirr
weiß, ob es wirklich wahr ist, aber ich glau- Sohn von der Kita abzuholen – ein bisschen gegen Wand. Geschirr gegen Wand hat jeder
be daran: Die cholerischen Ausbrüche, die zu spät, wie immer –, und in den einzigen schon mal gesehen – oder selbst geworfen.
ich seit diesem Tag hatte, waren nicht der freien Parkplatz einparken will und jemand Geschirr gegen Wand ist eine Einstiegsdro-
Rede wert. Vielleicht habe ich ein paarmal fährt vor mir hinein, jemand, der genau ge- ge, nicht besonders schwer.
eine Tür geknallt, vielleicht drei- oder vier- sehen hat, dass ICH diesen Parkplatz zuerst Baseballschläger gegen Spiegel. Schon
mal ein Argument etwas lauter vorgetragen. erspäht habe. schwieriger, aber nicht wirklich schwierig.
Einmal habe ich eine Tasse geworfen, gegen Oder wenn mir auffällt, dass mein Mann Ein Schlag, und alles ist kaputt.
die Wand. Ich glaube, ich bin kein Choleri- etwas NIE tut, ich dafür aber IMMER. Axt gegen Kommode. Sehr schwer. Beim
ker mehr. Gegen solche Gefühle mache ich Yoga. ersten Versuch treffe ich die Kommode
Es hilft nicht. Ich liege auf der Matte, in der nicht, dafür aber beinahe meinen Fuß. Das
ICH DARF ES AUCH NICHT SEIN. Wut Totenstellung, der Yogalehrer läuft durch hält mich erst mal auf. Die Vorstellung einer
ist verboten. Ich kann nicht als 36-Jährige die Reihen und sagt: Savasana. Ihr seid ganz Axt in meinem Fuß ist schrecklich. Dann
einfach einen Wutanfall bekommen, schon entspannt. Ihr denkt an nichts. In eurer Mit- packt mich der Ehrgeiz. Das. Scheiß. Ding.
gar nicht als Frau, da gelte ich schnell als te herrscht Ruhe. Und ich denke: Warum Muss. Doch. Klein. Zu. Kriegen. Sein.
hysterisch. Ich sehe an den Kindern meiner springe ich nicht auf und laufe raus? Warum ARRGGGGGGHHHH!
Freundinnen, besonders an den Mädchen, ist meine Mitte nicht entspannt? Was, Zertrümmern, das kann ich jetzt schon
wie ihnen immer wieder gesagt wird, dass wenn in meiner Mitte ein cholerischer verraten, macht sehr viel Spaß. Weil es sonst
sie „lieb“ sein sollen. Ich sehe es aber auch Zwerg wohnt? Und der mein authentisches verboten ist, aber auch, weil es sich richtig
an meinem eigenen Sohn. Er ist drei Jahre Ich ist? anfühlt. Vor allem aber ist es wahnsinnig an-
„Ti sch.
Axt.
Lei chte
Ü bung“
Ich weiß natürlich, dass das Zeug aus
Wohnungsauflösungen stammt und Sperr-
müll ist, dass niemand den Tisch, das Regal,
den Spiegel mehr haben wollte. Es tut mir
trotzdem leid. Es würde mir noch sehr viel
mehr leidtun, wenn das meine Sachen ge-
wesen wären. Oder die von jemand ande-
rem, der sie noch braucht, der sie geliebt
ist und mich sehr böse gemacht hat. Ich Ich kann nicht anders, es ist ein körperlicher hat. Eigentlich bin ich froh, dass ich seit der
schaffe es trotzdem nicht, auf Kommando Reflex, wie Gähnen. Christian sagt, das gehe sechsten Klasse keinen echten Wutanfall
wütend zu sein, schon gar nicht auf eine allen hier so: Sie stehen in den Trümmern mehr hatte.
CHRISTOPH NEUMANN / SPIEGEL WISSEN
Kommode. Also schlage ich ohne Wut zu, und lächeln. Für einen Moment bin ich so Am nächsten Tag beim Yoga bin ich ganz
was ein bisschen ist wie laufen, ohne ver- zufrieden wie selten. entspannt. Beim Savasana schlafe ich zum
folgt zu werden: einfach Sport. Und dann passiert etwas, mit dem ich ersten Mal ein.
Nach 20 Minuten ist alles im Raum ka- nicht gerechnet habe. Es tut mir leid.
putt, bis auf den Fernseher, da war nichts Ich sage das nicht, weil diese Geschichte
zu machen. Es sieht aus wie nach einer eine pädagogische Pointe haben muss, son-
Britta Stuff ist besonders im Einklang
Barschlägerei in einem schlechten Western. dern weil ich dort in den Trümmern wirk- mit sich, wenn sie mindestens zehn
Es gibt keinen Spiegel mehr, ich habe ihn lich denke: all die netten Sachen, einfach so Stunden geschlafen hat. Also quasi nie.
zertrümmert, aber ich weiß, dass ich grinse. zerstört. Britta.Stuff@spiegel.de
Eine
glückliche
Frau
Ihr Zuhause strahlt Ruhe aus. Alma und ihr Mann sind Minima- leinerziehenden-Dasein damals geklagt, beteuert Alex. „Ich hatte
listen, sie besitzen nicht einmal einen Fernseher, „sonntags gucke doch Liam“, hält Lukac fröhlich dagegen, „und einen Hund und die
ich ,Tatort‘ auf dem Handy“. Auch Möbel gibt es kaum, ein Sofa, ein Firma. Es ging uns doch gut.“ Als ihr Mann wieder einzog, bekamen
großer Tisch, eine weiße Bank. Zum Anziehen genügen ihr eine sie ihr zweites Kind. „Jetzt sind wir oft 24 Stunden lang am Tag
Jeans und ein Pulli, sie trägt jeden Tag dieselben blauen Chucks, „ich zusammen.“
kleide mich nur in Blau oder Grau“. T-Shirts hat sie vier oder fünf,
„die gibt mir eine Verwandte weiter“, sagt sie fast entschuldigend. HEIRATEN LEHNT ALMA AB. Sie glaubt, dass Liebe auf Frei-
Sie steht in der Küche und rührt Nudelsoße an, über dem Holz- willigkeit basiert. „Bei uns ist die Trennung nur ein Gespräch weit
tisch leuchtet warm eine Lampe aus geschliffenen Kristallen. Die entfernt. Wir bräuchten keine Anwälte. Deshalb müssen wir uns
Kinder haben Hunger. Ihre beste Freundin ist gekommen, Alex, stets umeinander bemühen.“ Nie würden sie so heftig miteinander
noch im Mantel sprudelt sie schon los, Alma hört ihr lächelnd zu. streiten, dass sie sich verletzten. „Ich schweige erst mal und denke
Im Alltag ist sie diejenige, die zuhört, tröstet, hilft. Ob sie, Alex, mit nach, wenn ich ihm grolle.“
Almas Leben glücklich wäre? „Nein!“, ruft die Friseurin. „Zu wenig Ira stürmt in die Küche, die Locken fliegen um ihr Gesicht, ihre
Freiheit! Zu viel Fremdbestimmtheit!“ Alma sagt mit einem Strah- Arme sind nackt, sie verströmt Hitze. Das Temperament habe die
len: „Im Rückblick werden doch alle schwierigen Phasen zu lustigen Kleine von ihr geerbt, sagt Alma und erzählt eine Begebenheit aus
Anekdoten.“ einem Türkei-Urlaub. „Da schrie auf einmal eine Frau auf, eine
Die schwierigste Phase hielt fünf Jahre lang an. Als Liam vier Mo- Roma, sie wurde niedergeschlagen. Ganz viele Männer standen um
nate alt war, verschwand sein Vater auf Montage, im Ausland. Er sie herum. Und ich bin einfach spontan dazwischengegangen.“ Auch
hatte sich dazu verpflichtet, ohne seiner wenn die Männer wütend waren und
Partnerin vorher ein Wort zu sagen, er Messer hatten.
fand, sie müsse das auch so verstehen. „Ich ertrage einfach keine Ungerech-
Alma verstand. „Er wollte die Familie er- tigkeit“, sagt sie. „Da geht etwas mit mir
nähren, hatte aufgrund seiner Herkunft durch.“ Unter Almas ruhiger Oberfläche
aber nur einen Hauptschulabschluss und „Ich ertrage einfach schlummert ein starkes Ich. Eines, das
damit beruflich schlechte Chancen. Das sich nur so lange unterordnet, wie Ge-
ist demütigend, wenn man intelligent ist.“
keine Ungerechtigkeit. rechtigkeit herrscht. Und das sich be-
Nie habe Alma über ihr unfreiwilliges Al- Da geht etwas haupten kann, wenn es wirklich nottut.
DR.
ist nämlich die Erbsünde, von der sich nach
christlicher Lehre niemand frei fühlen darf,
A L LW I S S E N D
seit Adam und Eva aus dem Paradies vertrie-
ben wurden. Witze gibt es darüber etliche.
So schlug der Satiriker Tom Lehrer vor: Geh
doch nach Rom und lass im Vatikan klären,
„Die Tragik
des Touristen“
Der Schweizer Soziologe Robert
Schäfer erklärt, warum wir im Urlaub
so gern authentisch sein wollen.
INTERVIEW TOBIAS BECKER F OTO S MARTIN PARR
Robert Schäfer lehrt Soziologie sen sollen, dass sie gegenüber den anderen Schäfer: Sie entlarven den Reisenden. Sie
an der Universität Fribourg. Touristen eine kritische Distanz einnimmt. sind ein Hinweis darauf, dass er doch Teil
Sie steht dafür ein wenig abseits, fotografiert einer Inszenierung ist – und selbst ein Tou-
SPIEGEL: Herr Schäfer, es gibt etwas, was die anderen beim Fotografieren und mar- rist. In einem Blog klagt eine Rom-Reisende
Touristen noch weniger mögen als Staus, kiert in der Bildbeschreibung explizit: „Ich darüber, dass sie keine Fotos machen kann
schmutzige Strände und schlechtes Wetter. habe mich abgekoppelt.“ ohne Touristen drauf, außer vielleicht mor-
Schäfer: Andere Touristen. SPIEGEL: Woher kommt dieses Bedürfnis, gens um vier Uhr, weil dann noch keiner da
SPIEGEL: Ist das nicht absurd? sich abzugrenzen? ist. Mit anderen Worten: Das „authentische“
Schäfer: Ich war auch erstaunt, wie verbrei- Schäfer: Touristen sind per Definition keine Foto erfordert frühes Aufstehen, einen rie-
tet die Abneigung ist. In der Sozialwissen- Individuen, sie treten als Masse auf, als Tou- sigen Inszenierungsaufwand. Man kann
schaft gibt es natürlich eine lange Tradition ristenhorde. Der einzelne Reisende aber will daran sehr schön das Paradox erkennen, das
der Tourismuskritik: die touristische Welt als die ausgetretenen Pfade verlassen, auch im einem überall im Tourismus begegnet, so-
künstliche Scheinwelt. Aber der Tourist selbst übertragenen Sinn. Er sucht ein authenti- wohl bei den Reisenden als auch bei den
sieht den Tourismus nicht weniger kritisch, sches Erlebnis. Ein Erlebnis, das außerhalb Reiseveranstaltern. Die betonen in ihren
das hat meine Studie gezeigt. Er verwendet der Logik seines Alltags steht – ähnlich wie Prospekten gern, dass es in der Nähe des
den Begriff manchmal gar als Schimpfwort. die Religion oder die Kunst. Da gibt es in- Hotels einen „echten Basar“ gebe, in dem
Touristen, das sind immer die anderen. teressante Parallelen zum Tourismus. man die „traditionelle Küche“ kennenlernen
SPIEGEL: Wie äußert sich die Abneigung? SPIEGEL: Wieso stören die anderen Tou- könne.
Schäfer: Ich habe Reiseblogs im Internet risten dieses Erlebnis? SPIEGEL: Mit welchen Tricks arbeiten die
untersucht. Dabei bin ich immer wieder auf Reiseveranstalter?
Beiträge wie den einer jungen Weltreisen- Schäfer: Nehmen Sie den kostenlosen Wel-
den gestoßen, die mit einer Reisegruppe un- come-Drink im Hotel: Er soll dem Reisen-
terwegs war. Sie zeigt dort Fotos, die bewei- „Der Reisende sucht ein den das Gefühl geben, dem kapitalistischen
Erlebnis, das außerhalb der Logik
seines Alltags steht.“
W A S S C H Ä T Z E N S I E A N S I C H ?
E I N FA C H M A L I C H
„Menschen, die häufiger im „Dass man Trost und Feedback „Die meisten verlieren ihr
Fernsehen zu sehen von Menschen bekommt, die Leben, weil sie es
sind, trainieren regelrecht, wie dem Blog folgen, ist schon etwas abtreten an andere, weil
sie ausdrucksstark ganz Besonderes. Trotzdem gibt sie nicht dem Ruf
auftreten. Und je überzeugen- es eine Grenze: Mit bestimmten ihres Herzens folgen und
der sie dabei sind, Trauergefühlen ist man in sol- sich nicht um ihr inneres
desto attraktiver wirken sie.“ chen Lebenslagen immer allein.“ Wachstum kümmern.“
IN VE RA
VERITAS
P O S T U M E R YO U T U B E - S TA R :
DIE WUNDERBARE
M OT I VAT I O N S T R A I N E R I N
VERA BIRKENBIHL
„Schöne Blitze“
tube.com/watch?v=LgwMeykyYCQ
„LOVE YOUR LINES“ heißt eine Social-Media-Kampagne, bei der Frauen auf ganz be-
sondere Art Haut zeigen: Sie fotografieren ihre Cellulite, ihre Schwangerschaftsstreifen
oder Risslinien, die durch Gewichtsveränderungen oder Sport entstanden. Die Idee der
amerikanischen Kreativ-Unternehmerinnen und Mütter Erika Salazar und Alex Smith,
„echte Frauen, echte Körper und echte Schönheit“ auf den Internetplattformen Instagram
„Selig ist der Mensch, und Tumblr zu zeigen, traf auf ein starkes Bedürfnis. Nach anderthalb Jahren hat die
Kampagne jetzt 152 000 Abonnentinnen, einige davon in Europa. Manche Menschen
der mit sich glaubten, Schwangerschaftsstreifen seien ein Zeichen nachlässiger Pflege, schreibt etwa
eine junge Mutter namens Melanie zum Schwarz-Weiß-Foto ihres Bauchs: „Das ist falsch.
selbst in Frieden lebt. Es ist Haut. Haut dehnt sich und zieht sich auseinander. Das ist ein Wunder und keine
Es gibt auf Erden Abnormalität.“ Ihre Streifen sähe sie als „schöne Blitze“, mit denen sie freudig bis zum
Tod leben wolle. Eine Sportlerin, die nach 20 Jahren Fußball rissige Oberschenkel hat,
kein größeres Glück.“ hörte auf, die Risse mit Vaseline wegzureiben. Neuerdings liebe sie ihre Linien, schreibt
sie, denn sie seien mit „Blut, Liebe und Tränen“ erarbeitet. Gründerin Smith erklärt, die
M AT T H I A S C L A U D I U S
Idee zur Kampagne sei aus Gesprächen über Selbstliebe entstanden. Angesichts der gro-
ßen Nachfrage, so Smith, „sehen wir, dass wir eine riesige Lücke gefüllt haben“.
Mehr Humor!
MIT EINEM INTERNETPROGRAMM KANN MAN
KRAFTTRAINING FÜR DIE SEELE BETREIBEN.
„Geschminkt ungeschminkt“
D E R B E R L I N E R S OZ I O LO G I N C O R N E L I A KO P P E T S C H E R K L Ä R T,
W I E M A N AT T R A K T I V U N D A U T H E N T I S C H W I R K T.
WERNER SCHUERING / IMAGETRUST, BROPHOTO / PLAINPICTURE, JUSTIN WINZ / PLAINPICTURE THORSTEN JOCHIM / VISUM, #LOVEYOURLINES
SPIEGEL: Frau Koppetsch, viele Menschen optimieren ihr Aus- treten. Und je überzeugender sie dabei sind, desto attraktiver wir-
sehen mit Make-up, Botox, Chirurgie oder anderen Tricks. Macht ken sie. In der Soziologie sprechen wir dabei von Inkorporierung:
das wirklich attraktiver? Die Rolle ist Teil meines körperlichen Ausdrucksschemas ge-
Koppetsch: Sicher, schaut man sich etwa Madonna oder Tina worden.
Turner an, die immer noch gut und jung ausschauen. Allerdings SPIEGEL: Deshalb wollen wir uns attraktiver machen?
verfügen sie auch über Darstellungskompetenz und Charisma, sie Koppetsch: Ja, aber auch, um Blicke auf sich zu ziehen. Attraktivität
spüren genau, wie sie gut beim Publikum ankommen. Und das ist ist Aufmerksamkeitskapital in Interaktionen. Das Angeblicktwerden
entscheidend – eine Person muss eben ihre Attraktivität auch dar- ist für unser Selbstbewusstsein elementar.
stellen können. SPIEGEL: Können wir uns mittels der Darstellungskompetenz als
SPIEGEL: Kann man das üben? etwas darstellen, was wir gar nicht sind?
Koppetsch: Ja, sicherlich. Aber das ist trick- Koppetsch: Auch hier gilt: ja, in begrenzter
reich. Denn es muss ja trotzdem natürlich, Weise. Denn die Forderung nach Authentizität,
das heißt authentisch, rüberkommen. Es darf also die Norm der Natürlichkeit, wirkt wie eine
keineswegs wie aufgesetzt wirken oder so Imitationsbarriere gegenüber unliebsamen
aussehen, als ob man es einstudiert hätte. Nachahmern. Sie ist ein Distinktionsinstrument.
Oder anders formuliert: Man muss auch Dies zeigt sich, wenn es darum geht, Klassen-
geschminkt so aussehen wie ungeschminkt barrieren zu überbrücken. Etwa bei sozialen
– nur eben besser. Aber auch das kann man Aufsteigern, die die Verhaltenscodes des neuen
lernen. Manche nehmen dafür Schauspiel- Milieus nicht vollständig beherrschen und
unterricht oder gehen zum Coaching. Au- leicht als Parvenüs entlarvt werden, als Perso-
thentizität ist ein wichtiger werdender Teil nen, die den Stallgeruch, das gewisse Etwas,
eines effektiven Rollenspiels geworden – vor nicht mitbringen. Dies zeigt sich in Umgangs-
allem in öffentlichkeitswirksamen Berufen, formen und Gesten, auch in der Redegewandt-
man denke nur an Schauspieler, Politiker heit und der Leichtigkeit des Auftretens. Viele
oder Dozenten. Diese können heute nicht Berufsmilieus der gehobenen Kreise verfügen
mehr nur sachlich überzeugen, sondern über solche Verhaltenscodes und lösen bei den
müssen expressiv wirken. Menschen, die Novizen Beschämungen aus. Aber auch Adlige
häufiger im Fernsehen zu sehen sind, trai- etwa können unglaublich distinguiert wirken,
nieren regelrecht, wie sie ausdrucksstark auf- das lässt sich, in seinen Nuancen, nicht kopieren.
Ganz
ehrlich
88
WA H R H E I T E N
WIE VIELE KREATIVE habe ich eine Liste, auf der ich
Themen festhalte, die ich irgendwann verwirklichen will.
Auf meiner stand, dass ich eine Dokumentation über „Abso-
lute Beginners“ machen wollte, also über Menschen, die
selbst als Erwachsene keinerlei Beziehungserfahrung haben, eher akzeptiert habe. Dadurch ver-
auch noch nie Sex hatten. Dass dieses Thema so weit oben schwand der Druck. Irgendwann hat es
stand, war kein Zufall – denn es war mein Thema, ich war dann sogar mit einer Frau geklappt. Und
selbst betroffen. Allerdings hatte ich zunächst geplant, mir als ich das erste Mal mit meiner Freun-
andere Protagonisten zu suchen und nicht mich selbst in din schlief, war es nicht mehr das über-
den Mittelpunkt zu stellen. Doch je länger ich mich mit der frachtete Wahnsinnsereignis mit Feuer-
Idee beschäftigte, desto passender schien es mir, einen per- werk und einem Himmel voller Geigen,
sönlichen Film zu drehen. Ich dokumentierte das Jahr zwi- sondern passierte einfach.
schen meinem 29. und 30. Geburtstag, in dem ich mehrere Heute gehe ich offen mit dem Thema
Dinge ausprobierte, um meine Schüchternheit und Un- Sex um, aber zu Beginn des Projekts habe
erfahrenheit in Sachen Sex zu verstehen und zu verändern. ich mich sehr vorsichtig an alles heran-
Wichtig war mir, dass ich mir nichts extra für den Film aus- getastet. Zunächst habe ich an der Hoch-
dachte, sondern nur Dinge tat, die ich ohnehin vorhatte. schule einigen wenigen Menschen von
Man sah mich also in Therapiesitzungen, bei Typberaterin- meiner Idee erzählt – sie ermutigten
nen, beim Ausprobieren einer Datingplattform. Am Ende mich. Dann habe ich das Thema auf ei-
des Jahres hatte ich immer noch keine Frau kennengelernt nem Branchentreffen vorgestellt, auf dem
– der Film hat also ein offenes Ende. Podium. Das war eine Überwindung, aber
Seltsamerweise hat sich danach trotzdem viel verändert: es war gut zu spüren, dass mich danach
Ich hatte mich in dem einen Jahr so viel mit dem Thema keiner meiner Mitstudenten komisch an-
„Warum habe ich keinen Sex?“ beschäftigt, dass es mir am schaute. Und von Sendern und Produzen-
Ende so vorkam, als hätte sich mein riesiges Problem zerre- ten bekam ich sowieso nur positive Rück-
det. Ich glaube, dass ich durch den Film meine Situation meldungen. Ich wollte von Anfang an ei-
nen leichten Film erzählen, ohne mich
dabei aber selbst zum Clown zu machen. Damit hatte ich wohl
eine gute Form gefunden, das Thema öffentlich zu machen.
Die Resonanz auf den Film war unerwartet groß. Bei ei-
„DER DRUCK ner kurzen Filmtour durch mehrere Städte warteten an je-
dem Abend ein, zwei Menschen geduldig, bis alle Besucher
VERSCHWAND“ gegangen waren, und sprachen mich dann an, dass sie ein
ähnliches Problem hätten. Mit vielen habe ich lange geredet.
Ich bekam auch viele Mails, etwa eine von einem ranghohen
Wolfram Huke, 34, Filme- Manager, der mir mit Klarnamen und Firmensignatur
macher aus Mühlhausen schrieb und sich bedankte. Er erzählte, er habe noch nie die
(Thüringen), hat 2012 den Dokumen- Hand einer Frau gehalten und sei jetzt fünfzig. Er habe im-
tarfilm „Love Alien“ fertiggestellt. mer gedacht, dass sich das Problem irgendwann von selbst
Er schildert darin seine Erfahrungen löse, aber es werde immer schlimmer. Das hat mich berührt,
als Erwachsener, der noch nie Sex denn ich konnte das nachfühlen.
hatte, auch sonst keinerlei Erfahrun-
gen mit Liebe und Beziehungen –
und das gern ändern würde. Der VIDEO: Die Suche nach
Film war so erfolgreich, dass Huke der ersten Freundin
als Dokumentarfilm
gerade ein Buch zum Thema schreibt.
spiegel.de/sw012016lovealien
www.love-alien.de
„Ich darf
leben,
wie ich
will“
ihre Kindheit, „ich wollte nur noch eins: Es sind Menschen aller Rassen, die für
verschwinden.“ Körperakzeptanz trommeln. Eine Afroame-
Heute stellt sie ihren Körper sogar im Bi- rikanerin namens „Juicy D. Light“ etwa
kini zur Schau, auf ihrer Website, in ihrem schüttelt mit ihrer Strip-Truppe „Rube-
Blog und in YouTube-Videos. Dicke brau- nesque Burlesque“ Bauch und Brüste nackt
chen Sichtbarkeit, sagen die Body-Aktivis- vor Publikum oder organisiert Flashmobs mit
ten, sie gehören genauso auf Litfaßsäulen „Fatties“ an zentralen Orten von San Francis-
wie die 90-60-90-Idealfrau. Und tatsächlich co. Jessamyn Stanley, eine schwarze, schwere
erobert sich die Bewegung den öffentlichen Yogafrau, ist auf Instagram mit 147 000 An-
Raum, in Form pfundiger Hollywoodstars hängern ein Star. Der Latino-Aktivist Aaron
wie Melissa McCarthy oder Popstars wie Flores in Los Angeles steht zu seiner Wampe
Beth Ditto. Die Südstaatlerin Tess Holliday – als Ernährungsberater. Und sogar eine Frau,
ist das erste Topmodel mit Kleidergröße 52. die fast am eigenen Fett erstickt wäre, zeigt
Dass sie sich vor Aufträgen nicht retten ihr Schicksal auf YouTube: Samantha Geballe
kann, erklärte Holliday jüngst damit, dass will damit vor dem Nichtverhältnis zum ei-
sie „eine große Mehrheit der Frauen in Ame- genen Körper warnen. Die Frage der Fragen
rika und der Welt“ repräsentiere. an sie alle lautet: Wie geht das, den eigenen,
unidealen Körper lieb zu gewinnen?
NICHT JEDER FINDET DAS GUT: Im
Internet musste das Model schon Shitstorms
über sich ergehen lassen, weil es einen „un- Sie schüttelt ihren
gesunden Lebensstil“ propagiere. Pionierin mächtigen Busen.
Holliday tröstet sich damit, dass sie ohne
Facebook und Co. „niemals so weit gekom- ES IST SONNTAG, ELF UHR, Virgie To-
men“ wäre. var steht in einem weißen, anliegenden Kleid
Body-Aktivismus findet heute überwie- und mit orangefarbenem Hut vor einem
gend im Netz statt. Dabei hat er lange Wur- Dutzend Acht- bis Elfjähriger. Die jungen
zeln: 1967 fand die erste Demonstration ge- Zuhörerinnen fläzen sich im verschlissenen
gen die Diskriminierung Fettleibiger im New Mobiliar eines Hippieladens von Oakland,
Yorker Central Park statt. Proportional zur einem Vorort von San Francisco, in dem die
Betroffenheit wächst seitdem die Bewegung; Mieten noch erschwinglich sind. Die Mäd-
rund zwei Drittel aller US-Amerikaner gel- chen haben dunkle Haut und tragen braune
ten inzwischen als übergewichtig. Nicht nur Baskenmützen sowie Westen, auf denen „Ra-
die Aktivisten rufen zum Frieden mit dem dical Monarchs“ gestickt ist. So nennt sich
eigenen Körper auf. Die kalifornische Ernäh- ihr Klub, dessen Gründerin, eine vollschlan-
rungsprofessorin Linda Bacon propagiert ke Latina, entschieden hat, dass ihre Tochter
„Gesundheit bei jedem Gewicht“ („Health sich niemals ihrer Rasse, ihres Geschlechts
At Every Size“, www.haescommunity.org). oder ihres Körpers schämen wird.
Bacons Programm: Bewegung und gesunde „Als ich fünf Jahre alt war“, erzählt Gast-
Ernährung ja, Diäten nein. Gegen das for- dozentin Tovar, „begriff ich, dass Dicksein
cierte Abnehmen macht die schlanke For- etwas Schlechtes war. Ich war dick. Also
scherin gewichtige Gründe geltend: Statis- war ich schlecht.“ Noch ein Jahr zuvor sei
Lebensfülle tisch gesehen wirke es nicht lebensverlän- sie nackt durch das Haus ihrer Großmutter
gernd. Zudem gewinne die Mehrheit der getollt und habe stolz vor der alten Dame
Body-Aktivistin Virgie Tovar Menschen, die Gewicht verlieren, es an- getanzt. Demonstrativ schüttelt sie ihren
bietet Fernkurse in schließend wieder zurück – ein Jo-Jo-Effekt, mächtigen Busen und ihr Hinterteil, die
Selbstliebe an. „Essen ist der Körper und Seele schädigt. Mädchen kreischen, Tovar ruft: „Scham ist
Essen“, sagt sie, „nicht An der Body-Front stehen aber nicht nur nicht angeboren, sie wird anerzogen!“
böse, nicht gut.“ dicke Menschen. Auch Dünne lehnen oft- Schuld seien gesellschaftliche Normen.
mals ihren Körper ab und kasteien sich. Ess- Finger schnippen; Beispiele fliegen durch
störungen wie Anorexie und Bulimie bilden den Raum: „Jungen müssen groß sein“,
SUMA JANE DARK FOR WEAR YOUR VOICE
die Kehrseite der Diätkultur. Die kaliforni- „Mädchen hübsch“, alle nicken, „unsere
sche Initiative „The Body Positive“ begann Haare lang und glatt“. Die meisten kleinen
1997 mit einem Programm für Highschools. Monarchinnen haben krauses Haar. Sie bas-
Seitdem wurden mehr als 5000 „Youth Lea- teln jetzt aus zwei Papierscheiben eine
ders“ ausgebildet, die an Kinder und Jugend- „Selbstwertpizza“. „I am me“ („Ich bin ich“),
liche aller Hautfarben und Gewichtsklassen schreibt ein schwarzes Mädchen in eins der
die Kunst der Selbstliebe weitergeben. Auf Pizzaviertel, dann: „Ich liebe meine Augen“,
ihrer Website, www.thebodypositive.org, und „Ich liebe die Art, wie ich mich kleide“.
gibt es ein kostenloses E-Book zum Thema. Keine schreibt: „Ich liebe meinen Bauch“.
BIS ZUR SELBSTLIEBE der eigenen For- SEI GUT 26, „aber das langte, um mich alle 13 Schul-
men sei es ein weiter Weg, sagt Tovar. In ei- jahre hindurch fertigzumachen“. Fette Kuh,
nem kleinen Szenecafé, bei Rührei mit Speck, ZU DIR riefen die Kinder, lahme Ente. Die Mädchen
holt die Expertin weit aus. Die heutige ame- tuschelten und schlossen sie aus. Mit 15 lag
rikanische Esskultur habe viel mit Tabus zu Wenn’s mal dicke kommt: Jankuhn schluchzend auf ihrem Bett und
tun – beginnend beim Sex. Ernährung sei in Ratschläge der jammerte, dass niemand sie je lieb haben
den USA eine Art Religion, die streng Body-Aktivistin Virgie Tovar würde. „Du wirst dich noch zwischen zwei-
zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Essen en entscheiden müssen“, sagte ihre dünne
unterscheidet. Kohlenhydrate, „carbs“, zum französische Mutter bloß.
Beispiel gelten derzeit gerade als böse, {1} Als ihre Mutter vor drei Jahren starb, rea-
„proteins“ dagegen als gut. Die moralische LOBE DICH SELBST gierte die Studentin mit einer Essstörung,
Bewertung von Essen hätten der Prediger Deine Reaktion auf eine ungerechte dem „Binge Eating“. Im Gegensatz zur Bu-
Sylvester Graham und der Gesundheits- Welt ist sensibel und vernünftig. limie werden die unkontrollierbaren Ess-
reformer John Kellogg im 19. Jahrhundert Glückwunsch! attacken nicht durch Erbrechen, Extrem-
in die Welt gesetzt, erzählt Tovar. „Sie haben sport oder Hungern kompensiert, sondern
etwa Fleisch und Eier für schlecht erklärt, {2} schlagen direkt auf die Figur. Jankuhn such-
weil diese Lebensmittel Menschen angeblich WIEDERHOLE DIESES te Heilung in Selbsthilfegruppen. „Aus einer
sexuell stimulieren würden.“ Und Sex galt MANTRA: floh ich gleich wieder: Da hatten alle nur
den Moralaposteln als krank machend. „Es fühlt sich an, als würde es nie das Ziel abzunehmen“, erzählt sie. „Das war
Zwei Kreationen der beiden christlichen aufhören, aber das ist nicht wahr; nicht mein Weg. Ich war jahrelang bei den
Abstinenzadvokaten stehen heute noch in dies ist jetzt gerade unangenehm, Weight Watchers und weiß, dass Kalorien-
den Regalen aller US-Supermärkte: „Gra- aber es wird nicht ewig anhalten.“ zählen krank macht.“ Jankuhn wollte statt-
ham Crackers“ und „Kellogg’s Cornflakes“. dessen lernen, wieder auf die Signale ihres
Ihre Erfinder hielten die Vollkornkekse und {3} Körpers zu hören: Will ich essen und wenn
Maisflocken deshalb für gut, weil sie angeb- VERFANGE DICH NICHT IN ja, was? Wie viel mag ich, wann bin ich satt?
lich die Libido hemmen würden. „Heutzu- PARADOXEM DENKEN
tage gelten beide eher als schlecht, da reich Paradoxes Denken geht so: DER ERSTE SCHRITT, ein besseres Ver-
an Kohlenhydraten“, sagt Virgie Tovar und 1. „Ich fühle mich heute schlecht in hältnis zu ihrem von den Essanfällen ge-
bricht in ihr ohrenbetäubendes Gelächter meinem Körper.“ zeichneten Körper zu entwickeln, war ein
aus. „Was für ein Quatsch“, sagt sie dann. 2. „Ich bin schlecht, weil ich mich Tattoo, das die Studentin auf einen ihrer un-
„Essen ist Essen, nicht böse, nicht gut, schlecht in meinem Körper fühle. geliebtesten Körperteile gravieren ließ: den
sondern lecker, sättigend, lebenswichtig. Ge- Ich habe versagt.“ Oberschenkel. Es zeigt eine Lady-Godiva-
nau wie Sex.“ Sei nett zu dir, und vergib dir. Figur. Die legendäre Engländerin soll in
Und dann sagt sie etwas zu den Folgen Denke dran: Das sind alles nur einem Protestakt nackt über den Dorfplatz
des Schlankheitswahns. Diät zu halten be- Kopfgeburten. geritten sein. Jankuhns Reiterin zieht sich
deute, das Leben aufzuschieben. Auf Ziele zugleich am Haar aus dem Sumpf, in An-
wie: „Mit zehn Kilo weniger suche ich einen {4} spielung auf den Baron von Münchhausen.
neuen Job“, „Ab 70 Kilo melde ich mich zum MANAGE DEINE ONLINE-ZEIT „So ein Tattoo braucht Pflege“, sagt Doro-
Onlinedaten an“. Hungern habe viel mit der Mache eine Pause vom Internet. thée Jankuhn. „Je öfter ich den tätowierten
gesellschaftlichen Rolle der Frau zu tun, „mit Trenne dich von Facebook- Schenkel eincreme, desto mehr gewinne ich
dem Versuch, sich kleinzumachen, wenig Freunden, die dir nicht guttun, oder ihn lieb.“ Sie will jetzt auch ihren Bauch
Platz einzunehmen, kaum Ressourcen zu lösche die Facebook-App ganz. häufiger streicheln.
verbrauchen“. Die Wahrheit sei, sagt Tovar Finde dein Gleichgewicht in deinem Der zweite Schritt war das Babecamp.
und kneift ihre schwarzen Augen zu Pfeilen ganz normalen Alltag. Bei Jankuhn machte es Klick, als Tovar ihr
zusammen, dass eine Frau, die sich mit ih- die Mechanismen der Diätindustrie erklärte.
rem Aussehen verrückt mache, nie wirklich {5} In Amerika werden jährlich 60 Milliarden
unabhängig sein könne. „Niemals.“ WENN ALLES NICHTS HILFT, Dollar mit Abspeckpillen oder fettreduzier-
Die Göttingerin Dorothée Jankuhn kennt BASTLE ETWAS GLÄNZENDES ten Produkten umgesetzt – Tendenz stei-
Virgie Tovar nur vom Telefon. Jankuhn hat MIT KATZEN DRAUF gend. Jedes Marketing beruhe auf einem
von Deutschland aus Tovars „Babecamp“ ab- Sprüh #supersexy in Gold auf schlichten Mechanismus, erklärte Tovar ih-
solviert. Das ist ein vierwöchiger Kurs, bei ein T-Shirt, leg dir Tarotkarten, iss ren Babes: „Sell to the pain“ – „Verkaufe an
dem in täglichen Mails mit Aufgaben und Erdbeertörtchen, schreib ein Ge- den wunden Punkt“. „Plötzlich war mir klar,
Anstupsern – darunter Schnappschüssen dicht. Tu etwas, was deine gesamte warum überall nur glückliche Dünne ge-
GABRIELA HASBUN / REDUX / LAIF
von drallen Beach-„Babes“ – Selbstliebe ge- Hirnflüssigkeit aufsaugt! zeigt werden“, sagt Jankuhn wütend. „Je
lehrt wird. Samstags telefonieren die Teil- mehr wir an unseren Polstern leiden, desto
nehmer eine Stunde lang mit Tovar. „Die mehr kaufen wir Abnehmkuren, Cellulite-
99 Dollar haben sich total rentiert“, sagt die Das nächste „Babecamp“ findet
Cremes, Steptrainer.“ Im November fährt
angehende Kulturwissenschaftlerin. vom 4. bis 30. April 2016 statt Jankuhn zum Live-Babecamp mit Virgie
Adipös ist die 34-Jährige nicht. In ihrer und ist online buchbar. Tovar auf Jamaika. „Da herrscht Fatkini-
Jugend pendelte ihr BMI zwischen 25 und Infos: www.virgietovar.com Pflicht“, sagt sie und lacht.
Gleichgewicht
Die Künstlerin Samantha
Geballe musste ihr Körper-
gefühl erst wiederfinden.
Jessamyn Stanley ist Yoga-
lehrerin und Body-Aktivistin.
Dann kamen die ersten Klienten zur Be- nicht mehr anfallartig vollstopfen, wenn sie
VIDEO: Samantha Geballe
ratung, und Flores merkte, wie sie an seinen nur dann naschen, wenn sie dazu Lust ha- über ihre Selbstporträts
Diäten scheiterten. Nächtelang verschlang ben, wenn sie bemerken, dass sie nicht mehr spiegel.de/sw012016selbstportraits
der Kalifornier Fachliteratur. Ein Buch wur- jede Minute an Essen denken – dann sind
Chaos statt
Botox DIE BRÜNETTE
Drei sehr unterschiedliche BLONDINE
neue Sachbücher erzählen von
der Selbstfindung. Die Hamburger Autorin Ildikó von Kürthy
widmet sich ihren Neurosen mit bemerkens-
werter Hingabe: Sie stolpert von einer Sinn-
TEXTE: ANGELA GATTERBURG krise in die nächste, schlägt sich wahlweise
mit Diäten, Alkoholexzessen und Ehepro-
blemen herum und beschließt deshalb an
Silvester einen Neustart: Sie will sich auf
die Suche nach ihrem besseren Ich begeben.
Ein Jahr der Rundumerneuerung soll es
werden, ohne Alkohol, ohne Zucker, ohne
OHNE Zigaretten, mit blonden Haaren, weil Blon-
dinen bekanntlich mehr vom Leben haben.
MICH „Ein Jahr lang alles richtig machen: Träume
verwirklichen, Sehnsüchte aufspüren, ge-
sund leben, Wesentliches erkennen, Aben-
teuer wagen, selber glücklicher werden und
Ständig das eigene Ich polieren in all seinen andere glücklicher machen.“
Facetten, wie anstrengend, wie lästig. Re- Autorin Niazi-Shahabi: Tapfer begibt sich die Autorin aus ihren
ARMIN SMAILOVIC / AGENTUR FOCUS, CHRISTIAN KERBER / LAIF, BILL RAY / THE LIFE PICTURE COLLECTION / GETTY IMAGES, ULLSTEIN BILD
becca Niazi-Shahabi hat die Nase voll von „Selbstverwirklichung wird Komfortzonen in diverse Problemzonen, be-
Selbstoptimierungsaufforderungen aller Art. zu ihrem Gegenteil, wenn sucht ein Schweigekloster, absolviert Darm-
„Die Selbstverwirklichung wird zu ihrem sie gelingen muss“ reinigung und Kautraining, lässt sich das
Gegenteil, wenn sie gelingen muss“, findet Gesicht mit Botox und Hyaluron aufsprit-
die Berliner Autorin. Sie sehnt sich nach ei- zen, übt sich in Achtsamkeit, Meditation
nem erfüllten Leben, das sich „richtig“ an- und Yoga. „Ein Jahr lang habe ich Selbst-
fühlt. Aber wie genau sieht das richtige Le- erfahrungen gesammelt wie andere Leute
ben aus? Pilze“, schreibt Kürthy, ihr Buch ist ein Rei-
Niazi-Shahabi, 45, macht sich auf die Su- sebericht aus der „seltsamen Welt der Selbst-
che bei Philosophen, Revolutionären, Er- verwirklicher“.
folgsbloggern; ihr Bericht ist geistreich und Die Reise mit ihren Selbstversuchen, Pan-
erfrischend ehrlich. Etwa wenn sie den nen und Verzichtsgezeter gerät höchst un-
Zwang beschreibt, sich immerzu mit ande- terhaltsam, ist jedoch auch voller Erkennt-
ren zu vergleichen. „Es fühlt sich komisch nisse und Einsichten, nicht zuletzt, weil die
an, für ein Angestelltengehalt zu arbeiten, Autorin immer, wenn sie nicht weiter weiß,
wenn man weiß, dass sich ein Vermögen kluge Leute um Rat bittet. Überhaupt ste-
scheffeln lässt, indem man seine Katze cken Lebenserfahrung und Selbstironie,
filmt.“ aber auch viel Wärme in Kürthys Buch,
Shahabi will die Suche nach dem Heili- etwa, wenn sie über die Liebe zu ihren El-
gen Gral des perfekten Ich nicht mehr mit- tern schreibt. Nach einem Jahr zieht sie Bi-
machen. Selbstverwirklichung beginnt für lanz und kehrt freudig zurück zu ihrem brü-
sie in dem Moment, wo sie sich sämtlichen netten Selbst und ihrem manchmal chaoti-
Vorschlägen widersetzt. Ihr radikales Fazit: schen Dasein. Fortan, so ihr Bekenntnis,
„Verweigerung ist das stärkste Bekenntnis Autorin Kürthy: „Ein Jahr wird sie einfach ganz unbekümmert so blei-
zu mir selbst.“ lang habe ich Selbsterfah- ben, wie sie ist.
rungen gesammelt wie
REBECCA NIAZI-SHAHABI: „Scheiß auf andere Leute Pilze“ ILDIKÓ VON KÜRTHY: „Neuland. Wie
die anderen. Sich nicht verbiegen lassen ich mich selber suchte und jemand ganz
und mehr vom Leben haben“. Piper Ver- anderen fand“. Wunderlich Verlag; 396
lag; 196 Seiten; 9,99 Euro. Seiten; 19,95 Euro.
NACH DEM
KOMA
Geburtshelfer
fürs Ich
C O A C H I N G
COACH IN G ist Hilfe zur Selbsthilfe und damit eine kurzfristige, lösungsorientierte Begleitung von
Menschen, die ein konkretes Problem in ihrem Leben bearbeiten möchten. Darin unterscheidet es
sich von einer längerfristigen Psychotherapie. Im Coaching können aber verschiedene Methoden aus
psychotherapeutischen Schulen eingesetzt werden, wie etwa Gesprächstherapie, kognitive Verfahren
oder Verhaltenstherapie. Wie gut ein Coach ist und ob er zum eigenen Anliegen passt, muss letztlich
jeder selbst erproben, denn das Berufsbild ist an keine formale Qualifikation gebunden – jeder kann
sich Coach nennen. Prinzipiell richtet sich Coaching an „gesunde“ Personen und nicht an Menschen,
die unter psychischen Erkrankungen leiden wie etwa Phobien, Depressionen, Angstzuständen, Sucht-
krankheiten, Traumata. Psychotherapie hingegen kann in Deutschland nur von Fachärzten, Psycholo-
gen, Psychotherapeuten und Heilpraktikern für Psychotherapie angeboten werden.
I LIKE BIRDS / SPIEGEL WISSEN, NIKO GUIDO/GETTY IMAGES, WESTEND61/GETTY IMAGES, SDOMINICK/ GETTY IMAGES
F R A U B U R M E S T E R H AT
Stichwaffen an den Fingern, mit denen sie
Kleintiere wie Mäuse oder Hamster töten
EINEN TERMIN
könnte. Angelika mit den Scherenhänden,
sozusagen. Seit fünf Jahren bewältigt sie mit
diesen etwa vier Zentimeter langen, kunst-
voll dekorierten Gerätschaften ihren Alltag.
Bad putzen, Unkraut zupfen, Nägel formen.
… im Nagelstudio Was ich ihr auf die Arbeitsplatte lege,
steht in deutlichem Kontrast zu dem, was
ihr hübscher kleiner Salon ausstrahlt. Aber
Frau Hoffmann ist ja da, um die Welt schö-
ner zu machen. Nägel in Mandelform findet
sie für mich passend. Klingt okay. Wobei ich
an das runde Ende der Mandel denke, Frau
Hoffmann an das spitze. Egal. Wenn ich Da-
menhaftigkeit will, ist es wichtig, die Hirn-
region abzuschalten, in der die Einwände
geformt werden. Und das Gegenüber ein-
fach mal machen zu lassen, zwei Stunden
lang, bis da, wo es eben noch grob und rissig
war, höchst wohlgeformte Nägel glänzen.
Ginge es nach mir, verließe ich den Salon
„Pinselstrich“ mit Nägeln, die so lang sind
wie die, mit denen ich hineingekommen bin.
Das kann es ja nicht sein. Insgeheim sehne
auch ich mich nach etwas mehr Glanz und
Gloria für mein Selbst. Gloria läuft bei Frau
Hoffmann unter „Bonanza“, und das hat sie
in großer Auswahl. Strass, Glitzer, Gold- und
Metallfolie und Unmengen von Motiven, die
sich in einer Vielzahl von Techniken auf die
neuen Nägel aufbringen lassen. Meine Man-
deln schreien förmlich nach einem beerigen,
MEINE NACHBARIN, eine sehr gepflegte entfernt, in einem Kaff an der Ostsee. Seit satten Pinkton. Und, ja auch, nach dem Stan-
ältere Dame, sagte zu mir: „Silke, es ist an ich bei einem Hamburger Stadtmagazin vo- nioleffekt französischer Schokoladenoster-
der Zeit, dass du etwas damenhafter wirst!“ lontiert und im Heft den Satz „Waffenschein eier und Silbersternchen.
Das ist jetzt gut 20 Jahre her, und ich übe für Fingernägel“ gelesen habe, träume ich In der Nacht schlafe ich extrem schlecht.
immer noch. Ich glaube, mir fehlt das Da- Ich spüre die Nägel bei jedem Umdrehen,
men-Gen. Jedoch sehe ich ein, dass es ir- bei jedem Anfassen der Bettdecke. Die Fra-
gendwann Zeit ist, so Frauenzeugs zu ma- ge, wer ich bin, ist mit unter die Decke ge-
chen. Für jemanden wie mich, der sich oft krochen und lässt mich wirres Zeug träu- OLIVER SCHWARZWALD / SPIEGEL WISSEN, ILONA HABBEN
fühlt wie ein neunjähriger Wildfang im Fe- men. Am Morgen bin ich gerädert und
rienlager, lautet allerdings die Frage, was das schaue auf Finger, die hübsch sind, aber
sein kann, ohne meine innere Identität auf- nicht meine. Es ist der Urlaubshut-Effekt:
zugeben. Ich will es mal mit Fingernägel- Was in dem Salon an der Ostsee schön aus-
ankleben versuchen. sah, wirkt in meiner Lebensumgebung un-
Nägel, die Frauen zu Wesen machen, die passend. Aber so schnell kommt mein altes
nicht einmal mehr ihre eigenen Hosenknöp- Ich da nicht raus. Um die Damendeko los-
fe schließen können, sind ja sehr beliebt. SILKE BURMESTER zuwerden, müsste ich sie abfeilen lassen. Im
„Wenn du dir die Nägel machen lässt, musst Nagelsalon. Dafür habe ich die nächsten
du zu Angelika Hoffmann fahren!“, kreischt stöbert in den Ecken und Nischen des Tage keine Zeit. Die Nägel kriegen Aufschub.
eine Kollegin ins Telefon. „Vergiss alle an- deutschen Alltags. Hier schreibt sie Und meine unterdrückten Sehnsüchte eine
deren. Die Hoffmann ist eine Göttin!“ Die regelmäßig über ihre interessantesten faire Chance, mein rabiates Alltags-Ich doch
Göttin klebt ihre Nägel anderthalb Stunden Entdeckungen. noch vom Stannioleffekt zu überzeugen.
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falsch! – Erfolgreiche Fit bleiben, Spaß haben, Wie Niederlagen zum Erfolg Wie futuristische Technik
Kommunikation in der Liebe, länger leben führen können unser Leben verändert
im Beruf, in der digitalen Welt
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„HIER DRAUSSEN
KANN ICH SO
RICHTIG ICH SEIN.“
Marina – Manager Audit Corporate