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E D I TO R I A L F E B R UA R 2 0 1 6

stärken unser authentisches Ich. Für Antworten auf die Frage


Die „Wann ist der Mann ein Mann – oder eine Frau?“ lud Redakteur
Unzertrennlichen: Markus Deggerich in Berlin mehrere Transgender-Menschen
Zwillinge zum Essen nach Hause ein. Bei jedem Gast, dem er die Tür öff-
Mareike und Anika nete, tippte Deggerich innerlich auf Mann oder Frau – und lag
Flörke jedes Mal falsch. Erst nach mehreren Nächten in der Trans-
queer-Szene und langen Gesprächen begriff er: Es geht weder
um Geschlecht noch um sexuelle Orientierung. Transgender-
Menschen folgen einfach ihrer Seele, leben den Versuch, sie
selbst zu sein (Seite 42).
ALS WIR MITTE JANUAR DIE ARBEIT an diesem Heft
aufnahmen, waren – wie eine vollkommen unrepräsentative
Umfrage unter Kollegen ergab – die meisten guten Vorsätze fürs
neue Jahr schon wieder perdu. Geblieben war nur: ein schlechtes
Gewissen. Denn von allen Seiten wird uns eingeredet, dass wir
unablässig an uns „arbeiten“ müssen, um die fitteste, gesündeste,
leistungsfähigste, aufmerksamste, mitfühlendste, attraktivste
und erfolgreichste Fassung unseres Ichs zu erreichen: ein ewiges,
atemloses Treppauf der Selbstoptimierung. Doch mit dieser
„Upgrade-Kultur“ setzen wir uns nur unnötig unter Druck – und Die Kaputt-
riskieren Unzufriedenheit und Scheitern. macher: Autorin
Stuff, Fotograf
„DESHALB PLÄDIEREN WIR FÜR SELBSTAKZEPTANZ“, Neumann im
sagt Heftredakteurin Angela Gatterburg, „dafür, uns mit allen „Wutraum“
CHRISTOPH NEUMANN / SPIEGEL WISSEN, ALINA EMRICH & KIÊN HOÀNG LÊ / SPIEGEL WISSEN

unseren Stärken und Schwächen lieben zu lernen.“ Wie das ge-


lingen kann, erklären Philosophen, Psychologen und Coaches;
von der Erziehung bis zur Berufswahl werden Weichen für ein
starkes Selbst und ein stimmiges Leben gestellt. Auch Seelen-
verwandtschaften, bei denen zwei Menschen sich fraglos ver-
stehen, wie die Zwillinge Mareike und Anika Flörke (Seite 52),

UNSERER AUTORIN BRITTA STUFF geht es wie vielen


Frauen: Sie hasst es, fotografiert zu werden. Nun sollte sie bei
einer besonders unvorteilhaften Tätigkeit abgelichtet werden.
Die Transzenden- Für die Reportage über einen „Wutraum“ in Berlin, in dem
ten: Autor Menschen gegen Bezahlung mal so richtig ihre unterdrückten
Deggerich (3. v. l.), Aggressionen mit Axt, Vorschlaghammer und Baseballschläger
Gesprächspartner ausleben dürfen, schlug sie – in Blaumann und mit Schutzbrille –
im Berliner Möbel, Fernseher, Spiegel und Geschirr kurz und klein. Der
Klub „SchwuZ“ Fotograf Christoph Neumann machte dann alles genau richtig:
Er sagte immer wieder Dinge wie „Ja, genau so!“ und „Bitte
noch mal fürs Foto!“. Stuff begann ihn dafür zu hassen – und
ließ ihre Wut an den Möbeln aus (Seite 70).

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I N H A LT

I N D I E S E M H E F T

18
26

PIA BUBLIES / SPIEGEL WISSEN, ALINA EMRICH & KIÊN HOÀNG LÊ / SPIEGEL WISSEN, NORMAN KONRAD / SPIEGEL WISSEN, PETER MARLOW / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS, NICOLE FARA SILVER / THE NEW YORK TIMES/ REDUX / LAIF
Unsere Selfie-Kultur:
ein Leben für die
Inszenierung

Was steht Frauen


statt Perfektion?
Natürlich: Macht!

12
Das führt zu nix:
Plädoyer gegen das
Hamsterrad

K A P I T E L 1 K A P I T E L 2

UNTER DRUCK 25 Was wäre die Welt ohne WEGE ZU MIR


... Spiegel?
Sie öffnen uns die Augen für unser
12 Lasst gut sein äußeres wie inneres Wesen 52 Bei mir bist du schön
Wider den Optimierungswahn: Sich fraglos angenommen fühlen:
Du darfst so bleiben, wie du bist 26 „Raus aus dem Seelenverwandte erzählen vom
Grübelgefängnis“ Glück ihrer besonderen Beziehung
18 Schau! Mich! An! Die Philosophin Rebekka Reinhard
Was ist eigentlich so faszinierend über Wege zum stimmigen Leben 58 Lego-Ego
an Selfies auf Instagram? Eine stabile Identität wird bereits
34 Eigentlich bin ich in der Kindheit angelegt
20 „Was mir gefällt“ ganz anders
Instagram-Star Jana Windoffer Eine Bankerin bricht aus: die 61 „Von Anfang an“
über erfolgreiche Inszenierungen Geschichte einer Selbstfindung Psychologe Michael Kavšek über
das Selbst von Neugeborenen
22 Altes Ego 38 Sage mir, was du isst …
Wie Tagebuchschreiben Gefühle Ernährungspsychologe Thomas 63 Authentisch? Ach
klärt und der Seele guttut Ellrott erklärt, was unser Wenn Echtheit zur Masche wird
Essverhalten über uns aussagt
64 Eine runde Sache
42 „Baby, I was not born Karriere über alles? Viele stellen
that way“ sich Lebenserfolg ganz anders vor
Transgender-Menschen befreien
Titelbild:
L Ancheles / Johner /
sich vom biologischen Geschlecht 66 Kein Dienst nach
plainpicture
Vorschrift
Bearbeitung: 47 Lieblingsbuch Wie finde ich die Arbeit, die zu
Elektronische Schönheit Was die Schriftstellerin meinem Dasein passt?
Birgit Vanderbeke als Lektüre
zum Heftthema empfiehlt

4 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


I N H A LT

58
Von Kindesbeinen an:
Die Entwicklung
unseres Selbst beginnt
bei der Geburt

52
Seelenverwandte:
wenn zwei sich ganz ohne 92
Worte verstehen Wir sind so frei: Body-
Aktivistinnen feiern
ihre Körperfreude

K A P I T E L 3

68 „Was scheint und wirkt“ EINFACH MAL ICH


Karrierecoach Rainer Niermeyer 107 Werde, der du bist!
über unser Büro-Ich Wie finde ich zu mehr
88 Ganz ehrlich Selbstliebe? Was bedeutet
70 Is’ ja hammer- Unfruchtbarkeit, Depression, Selbsterkenntnis?
hammer-hart kein Sex: Drei Tabubrecher
Mit Axt und Baseballschläger: ein erklären, warum sie sich mit 108 Frau Burmester hat
Selbstversuch im „Wutraum“ heiklen Problemen an einen Termin
die Öffentlichkeit wagten ... im Nagelstudio
74 Eine glückliche Frau
Das starke Ich der Alma Lukac 92 „Ich darf leben,
wie ich will“
77 Dr. Allwissend Amerikanische Body-Aktivisten
Wie originell ist das Original? kämpfen dafür, jeden Körper schön
zu finden
78 „Die Tragik des
Touristen“ 100 Chaos statt Botox 3 Editorial
Der Schweizer Soziologe Robert Drei sehr unterschiedliche neue 6 Ein Bild und seine Geschichte
Schäfer über unsere Sehnsucht, im Sachbücher erzählen von der 10 Meldungen: Ich muss
Urlaub das wahre Leben zu finden Selbstfindung 41 Zahlen
50 Meldungen: Ich will
82 Was schätzen Sie 102 Geburtshelfer fürs Ich 86 Meldungen: Ich kann
an sich? Wie werde ich endlich zum Helden 110 Impressum
Gutmütigkeit, Pünktlichkeit, meines eigenen Daseins? Ein Coach
Sarkasmus. Eine Straßenumfrage kann helfen
Wir freuen uns, von Ihnen zu hören:
106 Wegweiser info@spiegel-wissen.de
Fünf Apps für ein ganzheitliches Folgen Sie uns auch auf Facebook unter:
Leben facebook.com/spiegelwissendasheft

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 5


D A S V E R S P R E C H E N
D E R B I L D E R
WIE POSTMODERNE GÖTTER wachen sie über unsere Straßen, ma-
kellos, überlebensgroß und wirkmächtig – die Models auf den Plakatwän-
den. Als stumme Einpeitscher der Konsumgesellschaft suggerieren sie
Ideale von Schönheit und Perfektion, die Normalsterbliche bei noch so
mühevoller Selbstoptimierung nicht erreichen können. In einer Serie von
Straßenszenen kontrastiert der in New York lebende Fotograf Natan Dvir
photogeshoppte Werbewelten mit der weit weniger perfekten Realität der
Passanten. Und zeigt: Wir machen uns viel zu klein vor den Götzenbildern.
NATAN DVIR / POLARIS / LAIF

6 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 7
8
SPIEGEL WISSEN
1 / 2016
FOTOGRAFIE: RENÉ FIETZEK, COLLAGEN: ANNIKA LISCHKE FÜR SPIEGEL WISSEN
1

UNTER DRUCK

Gut ist schon lange nicht mehr gut genug. Unsere


Gesellschaft fordert uns permanente Selbstoptimierung
in Beruf und Privatleben ab – und wir selbst
tun es auch. Das stresst und schadet uns. Schluss damit!

„Da wir in einer „Ich muss mich daran „Von allen Dingen, die das Ich
erschöpften Gesellschaft leben, gewöhnen, dass sich ausmachen, hat Essen den
wäre es am besten, gewisse Fragen vielleicht großen Charme, gut modellier-
man würde sämtliche niemals beantworten bar zu sein. So kann ich mich
Lebensumstände ändern, lassen. Und gerade daraus selber definieren, mich
die Stress auslösen. Das ist nur entstehen paradoxerweise in einer bestimmten Haltung
leider nicht so einfach.“ die Antworten.“ sehen und zeigen.“

Achim Peters, Hirnforscher Rebekka Reinhard, Philosophin Thomas Ellrott, Ernährungspsychologe


Seite 10 Seite 26 Seite 38

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 9


I C H M U S S

„Besser als jede Diät“


WA R U M A B N E H M A P P E L L E U N F U G S I N D

Der Hirnforscher Achim Peters Depressionen auslösen. Äußerlich entwi-


plädiert dafür, Übergewichtige in Ruhe ckeln diese Menschen durch die dauernde
zu lassen („Mythos Übergewicht. Cortisolausschüttung einen Stressbauch
Warum dicke Menschen länger leben“. mit gefährlichem inneren Bauchfett. Um
C. Bertelsmann Verlag; 272 Seiten; die mache ich mir Sorgen, denn die leben
Auf ein Neues 19,99 Euro). riskant.
SPIEGEL: Andere Leute haben denselben
WIR HABEN SO GUTE Chef, kriegen aber keinen Stressbauch.
VO R S ÄT Z E – U N D S C H E I T E R N Peters: Die haben eine Art Schutzschalter
D O C H . W I E S O B LO S S ? im Vorderhin, sie sind viel stressresisten-
ter, entwickeln keine Ängste und keinen
hohen Blutdruck. Sie kriegen deutlich
NICHT RAUCHEN, wenig Alkohol trin- weniger Herzinfarkte und keinen Stress-
ken, dafür joggen und täglich meditieren. bauch. Doch damit ihr Gehirn optimal
Ach, all diese Verbesserungsappelle und SPIEGEL: Herr Peters, Ihr Credo lautet: arbeitet und seine Stressschutzfunktion
Verzichtsbeschwörungen! An guten Vor- Macht Schluss mit allen Diäten und ausüben kann, müssen diese Menschen
sätzen fehlt es nicht, alle Jahre wieder. Nur Selbstvorwürfen! Was ist verkehrt daran, mehr essen, als sie es ohne Stress täten,
dass es nicht klappt – meist jedenfalls. sein Gewicht zu vermindern? und nehmen insgesamt zu. Das vermehrte
Aber warum nicht? Peters: Übergewichtige mit Vorwürfen Essen ist ihre Methode, die chronische
Die US-Psychologin Kristina Wilson der und Diäten zu traktieren ist grundfalsch. Belastung zu kompensieren, und klappt
Pennsylvania University hat mit Kollegen Die haben eh schon genug Druck, deshalb gut. Insgesamt sind sie viel robuster.

TAMI AVEN, MARGARITA BROICH (6), VAGN HANSEN / GETTY IMAGES, LUBITZ + DORNER / PLAINPICTURE, MANFRED WITT
nach den Gründen geforscht. 150 Studien, sind sie ja dick geworden. Denn Stress ist SPIEGEL: Was sagen Sie diesen Dicken?
die sich mit Tipps zu Bewegungssteige- die Hauptursache für Übergewicht, wie Du darfst so bleiben, wie du bist?
rung, gesünderer Ernährung und Sucht- unsere Forschungen zeigen. Peters: Genau. Denn sie haben ja eine
verhalten befassten, wurden dafür ausge- SPIEGEL: Nun gehen Menschen doch gute Lösung gefunden für Dauerstress. Da
wertet. Ergebnis: Mehr als vier Empfeh- ganz unterschiedlich mit Stress um. wir in einer erschöpften Gesellschaft le-
lungen, das Verhalten zu ändern, überfor- Peters: Ja. Nehmen wir Stress im Büro. ben, wäre es am besten, man würde sämt-
derten die Patienten – sie resignierten. Gab Manche Menschen reagieren auf einen liche Lebensumstände ändern, die Stress
es nur einen einzigen Tipp, so fühlten sie unwirschen Chef mit hohem Blutdruck, auslösen. Das ist nur leider nicht so ein-
sich unterfordert – und ignorierten den ihre Stresshormone steigen stark an. Die- fach. Insgesamt gilt es, die Psyche zu sta-
Vorschlag. Am effektivsten erwiesen sich se Reaktion wiederholt sich über Jahre bilisieren. Deshalb ist ein Anti-Stress-Trai-
zwei bis drei Tipps zur Änderung des Le- und kann Herzinfarkte, Schlaganfälle, ning viel, viel besser als jede Diät.
bensstils, am besten als Gesamtpaket. Wil-
son und ihr Team vermuten, dass diese An-
zahl den Patienten umsetzbar vorkommt
und deshalb die beste Wirkung hat.

„Es ist leichter, zum


Mars vorzudringen
als zu sich selbst.“
CARL JUNG

10 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


ICH MUSS

Und wo
bleibe ich?
WENN FRAUEN IHR SELBST
ANS MUTTERSEIN VERLIEREN:
O R N A D O N AT H S A K T U E L L E S
B U C H Z U R D E B AT T E Ü B E R
„ # R E G R E T T I N G M OT H E R H O O D “

ICH HÄTTE das nicht tun sollen. So lau-


tet das Resümee aller 23 Frauen, die in
„#regretting motherhood“ (Knaus Verlag;
272 Seiten; 16,99 Euro) über ihre Rolle als
Mutter sprechen. Es sind junge und alte
Frauen, manche von ihnen haben schon
Enkelkinder, andere möchten ihre Töchter
und Söhne nicht missen, doch sie würden –
wenn sie nur könnten – die Zeit zurück-
drehen und sich dagegen entscheiden,
Mutter zu werden. Sie bereuen diesen
Schritt. Ein Tabubruch.
Die israelische Soziologin Orna Donath
hat zu ihrer Mütterstudie, die voriges Jahr
auch in Deutschland Aufsehen erregte,
nun ein Buch geschrieben. Noch immer
sei die große Erzählung vorherrschend,
nach der eine Frau in der Mutterrolle Er-
füllung finden würde, schreibt Donath,
und dass sie es später im Leben bereuen
könnte, wenn sie sich gegen Kinder ent-
scheidet.

Sein im Schein
In großer Offenheit haben die 23 Ge-
sprächspartnerinnen der Soziologin davon
berichtet, dass es ihnen genau umgekehrt
ging. Sie fühlen sich durch ihre Mutter-
D I E G R O S S A R T I G E N S C H A U S P I E L E R P O R T R ÄT S schaft daran gehindert, sie selbst zu sein.
VO N M A R G A R I TA B R O I C H Z E I G E N D E N M O M E N T, Dabei trauern sie unterschiedlichen Din-
N AC H D E M D E R VO R H A N G FÄ L LT. gen nach: ihrer ursprünglichen Körper-
lichkeit und ihrer alten Kraft, früherer Lei-
denschaft, ihrer Kreativität und der feh-
„IM BESTEN FALL ERWISCHT MAN EINEN NULLPUNKT, dann sieht man lenden Zeit für sich selbst. Auch wenn die
alles“, sagt die Theaterfotografin und Darstellerin Margarita Broich. „Wenn alles weg meisten Mütter das Gefühl der Reue nicht
ist, erscheint das Ganze.“ Im geschützten Zwischenreich der Garderobe oder des teilen, so kennen viele ambivalente Gefüh-
Theatergangs, kurz nach dem Auftritt, hat sie berühmte und weniger berühmte Freun- le. Donath setzt ein Gespräch in Gang, das
de und Kollegen fotografiert, intime Porträts voller Unmittelbarkeit, Nähe und Schutz- bisher höchstens unter besten Freundin-
losigkeit. In der Übergangsphase zwischen Spiel und echtem Leben scheinen sich die nen geführt wurde.
Porträtierten, erschöpft und leer, erst noch selbst wiederfinden zu müssen.
Das Geheimnis dieser Momente der Wahrheit ist vielleicht ganz einfach: Es gibt nichts
mehr zu spielen. Zwei Bildbände hat Broich, bekannt als Frankfurter „Tatort“-Kom- Autorin Donath
missarin, mit ihren Porträts gefüllt, „Ende der Vorstellung“ (Salzmann Verlag; 64
Seiten; 28 Euro) und „Alles Theater“ (Insel Verlag; 79 Seiten; 18 Euro). Darin findet
sich auch ein Zitat des Berliner Theaterstars Sophie Rois: „Auf der Bühne bin ich
erlöst vom Skript meines eigenen Lebens. Ich muss nichts von dem, was ich da mache,
mit meinem Leben belegen, und das ist wundervoll.“

Porträts im Uhrzeigersinn: Julia Bossen, Lars Eidinger, Sabin Tambrea,


Sophie Rois, Ulrich Matthes, Maria Gruber

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O P T I M I E R U N G S W A H N

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Lasst
gut sein!

PIA BUBLIES / SPIEGEL WISSEN

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O P T I M I E R U N G S WA H N

Schöner, schlauer, stärker, fitter:


Ständige Selbstverbesserung
ist das Gebot unserer Gesellschaft.
Sie soll glücklich machen.
Doch das Gegenteil ist der Fall.
TEXT EVA-MARIA SCHNURR I L L U S T R AT I O N E N PIA BUBLIES

GUT MÖGLICH, dass der Aufstand mit ei- könnte. Denn verändert sich die Welt nicht
nem alten Werbespruch beginnen wird. „Ich ständig und rasant, braucht es nicht immer
will so bleiben, wie ich bin“, hieß er, und die- neue Fähigkeiten, immer mehr Ressourcen,
jenigen, die den Claim 1978 für ein Diätpro- um klarzukommen, mithalten zu können im
dukt erfanden, konnten unmöglich ahnen, Rennen um die besten Positionen?
welch subversives Potenzial heute, fast 40 2010 befragten Mainzer Forscher Schüler
Jahre später, darin stecken würde. und Studenten, ob sie Medikamente nehmen
Denn Selbstoptimierung ist das erste würden, um ihr Gehirn zu dopen und ihre
Gebot der Zeit, der Wunsch nach ständiger Leistungen zu verbessern. 20 Prozent hatten
Steigerung der Motor der Gegenwart. Von damit bereits Erfahrung. 80 Prozent würden
einer „Upgrade-Kultur“ spricht der Sozio- sie nehmen, wenn sie unproblematisch zu
loge Dierk Spreen, einer Geistesverfassung bekommen und risikolos wären.
also, in der es ständig darum geht, das nächs- Die Älteren belassen es nicht bei Gedan-
te Level zu erreichen, die nächste Version kenspielen: Bereits heute bringen knapp eine
seiner selbst: Erst Ich 2.0, dann Ich 3.0, ir- Million Berufstätige in Deutschland ihr
gendwann Ich 4.7, Ende offen. Denkorgan mit Pillen auf Touren, so der
Es gilt, schöner zu werden. Fitter. Schlan- DAK-Gesundheitsreport 2015. Für den Frei-
ker. Schlagfertiger. Konzentrierter. Acht- zeitsport schätzen Wissenschaftler, dass
samer. Kreativer. Gelassener. Gesünder. Die zumindest 10 bis 20 Prozent der Mitglieder
Liste geht endlos weiter, es gibt keinen Be- deutscher Fitnessstudios schon einmal leis-
reich, in dem nicht noch Luft nach oben tungssteigernde Mittel eingenommen haben.
wäre, es gibt immer jemanden, der ver- Nicht mitgezählt die unzähligen Freizeit-
spricht, dass da noch mehr drin ist. läufer, die sich auf Schmerzmitteln oder Kof-
Es ist paradox: Die meisten Menschen feintabletten durch Marathonläufe quälen.
träumen davon, so geliebt zu werden, wie sie Da wundert es kaum noch, dass in einer
sind. Und Eltern schwören sich an der Wiege interdisziplinären Studie der Sozialwissen-
ihres neugeborenen Babys, ihm zu vermit- schaftlerin Vera King von der Universität
teln, dass es richtig und wunderbar und voll- Hamburg mehr als 60 Prozent von 1000 Be-
kommen ist – genau so, wie es eben auf die fragten der Aussage zustimmten, ihr Kind
Welt gekommen ist. Doch das ist die Theorie. solle von Anfang an zu den Besten gehören.
In der Praxis ist da ständig dieses mulmi-
ge Gefühl, dass es nicht reicht, einfach nur EINFACH SEIN, WIE MAN IST? Reicht
zu sein, wie man ist. Dass da noch mehr sein offenbar nicht mehr. Der Markt der Selbst-
verbesserungen läuft prächtig: Immer mehr
Coachs, Fitnesstrainer und Schönheitschir-
urgen bieten ihre Dienste an. Fitnessarm-
bänder, Schrittzähler und Schlaftracker hel-
fen, Körperfunktionen zu optimieren. Die
Regale mit Ratgeberliteratur in den Buch-
handlungen bersten fast, versprechen mehr

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O P T I M I E R U N G S WA H N

Glück, mehr Erfolg, ein tolleres Leben, Aufstand, eine Verweigerung der Selbst-
wenn man nur die richtige – also die jeweils optimierung nach dem Motto: bleiben, wie
angepriesene – Technik anwendet. man ist. Sich akzeptieren mit Schwächen
Die gegenwärtige Optimierungsgesell- und Macken. Und sich dann um Wichtigeres
schaft ist der Realität gewordene amerika- kümmern als um die Pflege seines eigenen
nische Traum: Die Möglichkeiten sind un- Ichs. Ums Leben nämlich.
begrenzt, jeder kann alles erreichen und al- Natürlich ist die Sache mit der Selbstop-
les sein, wenn er sich nur genug anstrengt. timierung nicht ganz neu. Sie hat sich nur
Das jedenfalls ist die Botschaft, die sich tief verändert – und das nicht unbedingt zum
ins kollektive Unterbewusstsein gebohrt hat. Guten. Schon die alten Griechen glaubten,
„Ich werde an mir arbeiten, ich werde ver- der Mensch könne nur werden, was zu wer-
suchen, besser zu werden, ich weiß, ich den er bestimmt ist, wenn er sich darum be-
kann es schaffen“ proklamieren Casting- müht, also an sich selbst arbeitet. Das Ziel
show-Teilnehmer mantrahaft vor ihrem Pu- war das gute, das bewusste Leben, und dazu
blikum und hämmern auch dem Letzten ins galt es, Vernunft walten zu lassen und Tu-
Hirn: Es liegt allein an dir, was du aus dir genden zu erwerben, statt sich den Tücken
machst, du hast es in der Hand. von Gefühlen und Launen hinzugeben.
Das ist Versprechen und Fluch zugleich. Mit dem mittelalterlichen Christentum
Denn die Schrauberei am eigenen Ich scheint veränderte sich die Perspektive: Nun galt
oft zwar selbstgewählt zu sein, doch der der Mensch als prinzipiell sündig, nicht er
Druck kommt auch von außen: In einer Um- selbst, sondern nur Gott konnte ihn erlösen.
frage der Bertelsmann-Stiftung 2015 beklag- In Sachen Selbstverbesserung galt es also,
ten sich 42 Prozent der Arbeitnehmer über ganz auf den Jenseitigen zu vertrauen, aber
permanent wachsende Anforderungen im gleichzeitig möglichst gemäß der religiösen
Beruf – jeder Dritte weiß schon nicht mehr, Regeln zu leben.
wie er den Ansprüchen gerecht werden soll.
Geht es nach den Forderungen, die von IM LAUFE DER NEUZEIT schließlich be-
verschiedenen Seiten auf einen einströmen, gann der Aufstieg des Individuums, das sich
dann soll man einen Super-Job machen, ei- nach und nach von allen Fesseln befreite:
nen, in dem man sich total verwirklichen Nicht mehr Tradition, Familie, Kirche oder
kann. Soll sich aber auch ständig fortbilden, Schicksal sollte bestimmen, wie der Lebens-
nur nicht auf der Stelle treten. Gleichzeitig weg des Einzelnen auszusehen habe, son-
soll man liebevoller Vater oder Mutter sein, dern nur er selbst. Autonomie, also Selbst-
mit möglichst mehr als einem Kind (der De- bestimmung, und Authentizität, die Idee, die
mografie wegen), soll für die Kids immer ureigenen Anlagen zu entfalten – diese bei-
ansprechbar sein, immer geduldig, sie för- den Konzepte waren die prägenden Ideale
dern, wo es nur geht. Mindestens dreimal der Moderne. Kapitalismus und Demokratie
pro Woche soll man eine Stunde Sport trei- galten als die entscheidenden Rahmenbedin-
ben. Acht Stunden schlafen. Gesund essen, gungen, die dies ermöglichen sollten, und
Selbstgekochtes, natürlich. Gepflegt ausse- zumindest für den Mittelstand funktionierte
hen, möglichst alterslos, die Wohnung das prächtig.
schick machen. Am besten noch täglich me- Doch in den Achtzigerjahren kippte das
ditieren, sich ausreichend Zeit für sich Gleichgewicht aus wirtschaftlicher, politi-
selbst nehmen, Freunde nicht vernachlässi- scher und persönlicher Freiheit. Mit Globa-
gen und das Gehirn auch nicht. Und dann? lisierung und Neoliberalismus, so jedenfalls
Die große Frage bleibt offen: Lohnt sich beschreiben es die meisten Forscher, ent-
all die Arbeit, all die Mühe überhaupt? Wer grenzte sich der Kapitalismus. Er verlor sei-
garantiert eigentlich, dass irgendetwas besser ne Einbindung in gesellschaftliche Zusam-
wird, wenn man in irgendetwas besser wird? menhänge, erhob sich über Politik wie Per-
Gerät man nicht in ein ewiges Hamsterrad son, wurde zum bestimmenden Faktor.
der Selbststeigerung, in dem man sich am Inzwischen habe die Optimierungslogik
Ende selbst verliert? Und kann es wirklich der Wirtschaft das alltägliche Leben geka-
der Sinn des Lebens sein, ständig irgendwel- pert, erklärt die Hamburger Sozialwissen-
chen Ansprüchen – denen von anderen oder schaftlerin Vera King, die gemeinsam mit So-
auch den eigenen – hinterherzurennen? ziologen und Psychoanalytikern die Folgen
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, und Widersprüche der Perfektionierung er-
mein eigenes Leben zu leben“ – das ist ein forscht: Lebensentscheidungen werden zu
Satz, den Palliativpfleger am Sterbebett alter einer fortlaufenden Abwägung von Gewinn,
Menschen häufig hören – kein schönes Fa- Verlust und Risiko in allen Bereichen, nicht
zit. Aber vielleicht nötiger Schubs für einen selten selbst im privatesten Leben.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 15


O P T I M I E R U N G S WA H N

Das heißt, bei jeder Entscheidung gelte Selbstdarstellung braucht immer neuen,
es zu überprüfen, ob sich damit am Ende möglichst spektakulären Input, denn jedes
mehr Profite erzielen lassen, ob man damit „Like“, jedes geteilte Foto ist eine Art virtu-
weiterkommt. Selbst der Wert des Einzel- elle Schulterklappe, die das Ego weiter adelt.
nen wird dabei primär nach Kosten und Nut- Dass der Optimierungsanspruch von au-
zen – im Job, in Netzwerken, in der Frei- ßen kommt, merkt kaum noch jemand. „In-
zeit – bemessen, und dieser muss sich im dividualisierung ist kein Wunschkonzert,
Wettbewerb mit anderen immer neu bewei- sondern ein Kontrollprogramm, das mittels
sen. Kontrolle verspreche einzig das Invest- institutionalisierter Abhängigkeiten (vor
ment in die eigenen Fähigkeiten, so King. allem der vom Arbeitsmarkt) Steuerungs-
Nur die beständige Steigerung des eige- impulse in Selbstführung übersetzt“, so be-
nen Marktwerts, um konkurrenzfähig zu schreibt es der Soziologe Spreen.
bleiben, verheißt Sicherheit und Unangreif- Manchmal immerhin soll die ganze Sa-
barkeit. Dafür soll man, so beschreibt der che gegen die Angst helfen, vor dem Status-
französische Soziologe Alain Ehrenberg das verlust, dem Abstieg. Manchmal soll sie
Credo des Selbstmanagements, eine Art Vor- neue Optionen eröffnen. Doch gar nicht so
standsvorsitzender seiner Selbst werden, selten wird sie zum Selbstzweck, zum stän-
ein Ego-Unternehmer, der sich ständig neu dig uneingelösten Versprechen, dass irgend-
erfindet. Nur so könne man, so wird sugge- etwas bei so viel Anstrengung schon besser
riert, sich den immer neuen Anforderungen werde – oder zumindest nicht schlechter.
der Außenwelt flexibel anpassen, nur so kön- „Ich habe nicht das fixe Ziel, ich habe nur
ne man jede Chance nutzen, den ansonsten das Ziel: besser“, sagt ein Mann, der mit ei-
drohenden gesellschaftlichen und ökonomi- nem Fitnessarmband täglich seine Bewe-
schen Abstieg zu vermeiden.
Das ist eine umwälzende Veränderung
im Denken – und im Leben: Während es Un-
zufriedenen bis etwa Anfang der Achtziger-
jahre vor allem darum ging, die gesellschaft- Man lebt länger und
lichen und politischen Rahmenbedingungen
zu verbessern, ob durch Revolution, die
stirbt perfekt optimiert.
Gründung neuer Parteien oder Zusammen-
schluss in sozialen Bewegungen, so konzen-
trieren sich die Optimierungsbemühungen
nun auf den Einzelnen. Heute nutzt man gungsmuster überwacht, in der ARD-Repor-
die wenige kostbare Freizeit lieber fürs Fit- tage „Fast perfekt“ (2016), in der die Enter-
nessstudio, anstatt für eine 32-Stunden-Wo- tainerin Anke Engelke gerade dem Optimie-
che für alle demonstrieren zu gehen. rungswahn nachgespürt hat. Am Ende lebt
Das Verrückte dabei ist, wie subtil die Sa- man mit etwas Glück ein paar Jahre länger
che geworden ist, wie stark die neuen Werte und kann dann perfekt optimiert sterben.
verinnerlicht wurden. Ständig ist die Rede
davon, dass wir in einer postmaterialisti- DAS ALLES WÄRE UNSCHÖN, aber
schen Gesellschaft leben, in der – zumindest nicht tragisch, wenn die Sache tatsächlich
bei Jüngeren – Statussymbole nicht mehr positive Folgen hätte oder zumindest gar
viel zählen. Da mag etwas dran sein, Pro- keine. Doch der Trend zur Daueroptimie-
dukte und Konsum verlieren an Bedeutung. rung hat negative Konsequenzen – die nicht
Doch das neue Statussymbol ist die pure nur den Optimierer selbst treffen, sondern
Ego-Performance, die Inszenierung des In- die ganze Gesellschaft.
dividuums im Freundeskreis, im Lebenslauf, Das ziellose Treppauf, die unendlichen
im Facebook-Profil oder in der Instagram- Möglichkeiten, die es zu realisieren gilt, ge-
Timeline: spektakuläre Reisen, möglichst hören zu den Gründen, warum sich so viele
individuell. Tolle neue Selfies. Ein neuer Re- Menschen erschöpft, ausgebrannt und leer
kord auf der Laufstrecke. Wohlgeratene Kin- fühlen, glaubt etwa der Soziologe Alain Eh-
der. Seht her, was ich alles kann. Und die renberg: Wenn es immer noch besser geht,
wann ist es denn endlich mal gut? Und was,
wenn man am Ende doch nicht genügt?
„Es ist ermüdend, ständig der Perfektion
hinterherzuhecheln, sich Erholung zu ver-
sagen, sich um den Schlaf zu bringen, über-
all besser sein zu wollen“, stöhnt auch die
britische Feministin Laurie Penny in ihrem

16 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


O P T I M I E R U N G S WA H N

Buch „Unsagbare Dinge“ über den Druck WEITERLESEN


zur permanenten Optimierung, der sie
selbst bis in die Magersucht trieb. Gar nicht CHRISTIAN SCHÜLE: „Vom
davon zu sprechen, dass das beständige Stre- Ich zum Wir. Was die nächste
ben nach Perfektion furchtbar langweilig, Gesellschaft zusammenhält“.
angepasst und vorhersehbar macht. Piper; 16,95 Euro. Schlaue Analyse
der Optimierungskultur und Ideen,
DER WETTBEWERB und das Nutzenden- was an ihre Stelle treten könnte.
ken, beides heimliche Antriebe hinter dem
Selbstoptimierungswahn, führen außerdem MICHAEL J. SANDEL: „Plädo-
zum Zerfall der solidarischen Gesellschaft: yer gegen die Perfektion“. Ber-
Wenn das Risiko, etwa Krebs zu bekommen, lin University Press; 20 Euro. Der
sich durch ausreichende Investitionen in Philosoph Sandel liefert gute Ar-
die Gesundheit – Sport, gesunde Ernährung, gumente gegen die gentechnische
Nichtrauchen – mindern lässt, warum soll Optimierung des Menschen.
man sich dann für den anderen mitverant-
wortlich fühlen? Und warum sollen die
Krankenkassen zahlen? Schon jetzt planen in der Welt, womit auch seine Zweifel an
private Kassen, mit Fitness-Apps ihre Ver- sich selbst und am Sinn des Lebens ver-
sicherten zu überwachen und ihnen je nach schwinden“, schrieb der deutsch-amerika-
Trainings-Level bessere Tarife anzubieten. nische Psychoanalytiker und Philosoph
Auch politische Fragen verlieren an Be- Erich Fromm.
deutung: „Die dunkle Seite des Indivi- Der Soziologe Hartmut Rosa drückt das
dualismus ist eine Konzentration auf das Gleiche anders aus: Er spricht von „Reso-
Selbst, die zu einer Verflachung und Ver- nanzerfahrungen“, Momenten, in denen
engung des Lebens führt, das dadurch man sich wirklich verbunden fühlt mit an-
bedeutungsärmer wird und das Interesse deren Menschen, aber auch mit der Natur,
am Ergehen anderer oder der Gesellschaft mit Musik oder Kunst. Situationen, in denen
mindert“, schreibt der kanadische Philo- man sein kann, wie man ist, in denen man
soph Charles Taylor in seinem Buch „Das angekommen ist, nichts mehr leisten muss,
Unbehagen an der Moderne“. sondern das Gefühl hat, eingebunden zu
Und nicht zuletzt macht Ego-Tuning ein- sein in einen größeren Zusammenhang.
sam: Soziale Bindung entsteht auch durch Zu beobachten war das in den letzten
das Gefühl gegenseitiger Abhängigkeit. Die Monaten zum Beispiel bei Menschen, die
Konkurrenz jedoch und das Profitdenken Flüchtlingen halfen, gespendete Kleider für
selbst im Privaten untergraben diesen Zu- sie sortierten, Patenschaften übernahmen,
sammenhalt, werfen jeden Menschen auf sie zum Essen einluden. Davon, wie unmit-
sich selbst zurück, im ewigen Kampf mit ei- telbar sinnvoll sie ihr Tun erlebt hätten,
genen und fremden Ansprüchen. schwärmten viele von ihnen. Wie berei-
Zeit für einen Aufstand, wie gesagt. Denn chernd die spontane Zusammenarbeit mit
offenbar ist Ego-Tuning nicht der wahre anderen Helfern gewesen sei. Wie befriedi-
Weg zum guten, gelingenden Leben. Im Ge- gend es gewesen sei, konkrete Probleme zu
genteil: Es gibt zahlreiche Denker der Ge- lösen. Es ging nicht darum, sich zu beweisen,
genwart, die überzeugt sind, dass die ständi- der Beste zu sein oder überhaupt bewertet
ge Selbstbeschäftigung und Selbstbezüglich- zu werden. Es ging darum, da zu sein, anzu-
keit das Gefühl von Selbstüberdruss und packen, zu handeln.
Selbstentfremdung eher vergrößern. Dass Vielleicht kann man sich so der Logik
man sich also gerade nicht authentisch, stim- des „Immer mehr“ entziehen: indem man
mig und bei sich fühlt, wenn man ständig Nischen und Momente sucht, in denen man
über sich nachdenkt und darüber, was man sich richtig fühlt, so wie man eben ist, ge-
noch alles ändern – also verbessern – könnte. fragt mit dem, was man kann. Indem man
Das Individuum schöpft seine Identität erfährt, wie es sich anfühlt, wenn man seine
nicht aus sich allein, sondern aus der Begeg- Ideen verwirklicht, selbstbestimmt lebt,
nung mit anderen, aus der Interaktion. handelt. Könnte sein, dass man von sich
„Wenn ein Mensch durch spontanes Tätig- selbst überrascht wird.
sein sein Selbst verwirklicht und auf diese
Weise zur Welt in Beziehung tritt, hört er
auf, ein isoliertes Atom zu sein, er und die
Eva Maria Schnurr hat weder einen Fitness-
Welt werden Teil eines strukturierten Gan- tracker noch einen Coach und nicht vor, das
zen, er hat seinen ihm zukommenden Platz zu ändern. Eva-Maria.Schnurr@spiegel.de

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 17


S E L B S T DA R S T E L L U N G

EYEEM (@CALLIES40, @CISCOVISUALS, @123PHOTOGRAPHER, @NEIJIN0218, @ALEXANDRACR, @ONEANDONLY4ME, @GIMATOVA, @YIIIN, @MICKEYTUNES, @MATHIEU33, @MAUROROCCA, @NANOUCHKKA, @SVETASVETA), EYEEM / GETTY IMAGES (18)
Schau! Mich! An!
Aber was sehen wir eigentlich, wenn wir die Selfies
anderer Menschen auf Instagram betrachten?
TEXT MAREN KELLER

So individuell wie alle anderen auch: Mehr als 70 Millionen Bilder werden täglich auf Instagram hochgeladen

18 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


S E L B S T DA R S T E L L U N G

BEVOR AMALIA ULMAN KAM , war girl“, das süße Mädchen, dem sie eine Ge- Wie kann das sein? Es wäre ein Leichtes,
Instagram in Sachen Kunst vor allem für schichte erfindet: Sie lässt die Kunst-Amalia die Selbstdarstellung in sozialen Netzwer-
„Latte Art“ bekannt, also für Fotos von kunst- nach Los Angeles ziehen, weil dort ja viel- ken als bloße Wiederholung von Klischees
voll verziertem Milchkaffee. Ulman ist die leicht doch eine Karriere als It-Girl wartet. zu sehen. Aber so einfach ist es nicht. Denn
Tochter eines argentinischen Skateboard- „Impression Management“ heißt in der seit einiger Zeit sind Kultur- und Kunstwis-
Fabrikanten. Sie lebte in Spanien und hat Sozialpsychologie der bewusste oder unbe- senschaftler dazu übergegangen, die wie-
Kunst in London studiert. Vor fünf Jahren wusste Versuch, den Eindruck zu steuern, derkehrenden Motive als visuelle Konven-
schloss sie ihr Studium ab. Seitdem macht den andere Menschen von uns haben. Und tionen zu betrachten. Als Genres, wenn man
sie Kunst. Ulman wurde 1989 geboren. Sie nirgends kann man besser beobachten, wie so will, wie sie es auch in jeder anderen Kul-
gehört zu der Generation, die Instagram, Fa- Impression Management funktioniert, als tursparte gibt. Für viele dieser Genres gibt
cebook, Twitter und Snapchat so selbstver- in den sozialen Netzwerken. es feststehende Bezeichnungen. TBT steht
ständlich nutzen wie Zahnbürsten. Viel- Monatlich 100 Millionen Nutzer sam- für „Throwback Thursday“ (Rückblick-Don-
leicht deshalb erschien es ihr nur folgerich- meln Bilder auf der digitalen Pinnwand Pin- nerstag). OOTD steht für „Outfit of the Day“
tig, aus ihrer Social-Media-Präsenz eine Per- terest. 200 Millionen Nutzer wenden sich (Kluft des Tages). Beim „Cat Beard Selfie“
formance zu machen. per Snapchat an die Welt. Eine Milliarde Be- sitzt eine Katze im Bildvordergrund.
Vier Monate dauert das Projekt, das sie Das berühmteste Genre aber ist zweifels-
„Excellences and Perfections“ nennt. Von frei das Selfie, das für den Fotografen Daniel
April bis September 2014 bespielt sie ihre Rubinstein sogar das erste Kunstwerk des
Social-Media-Accounts nach einem stren- Netzzeitalters darstellt. Früher einmal war
gen Plan. „Das Besondere ist die bildliche Darstellung des Selbst den hö-
Bei Ausstellungen im Museum of Mo- heren Schichten vorbehalten. Dann kam die
dern Art gelten 10 000 Besucher am Tag als
ausgerechnet, Alltagsfotografie auf und schließlich die ers-
Rekordwert. Ulman performt am Ende vor dass nichts besonders ten Smartphones mit Kameras. Doch es ver-
90 000 Fans, die täglich verfolgen, was sie ging fast ein weiteres Jahrzehnt, bis das Phä-
diesmal hochlädt. Nur die wenigsten von ih- erscheint.“ nomen des Selfies entstand. Es musste noch
nen wissen, dass sie Kunst ansehen. Denn etwas dazukommen: das tiefe innere Bedürf-
das Besondere an Ulmans Performance ist nis der Gesellschaft, sich dauernd selbst dar-
ausgerechnet, dass nichts daran besonders zustellen, sich dauernd selbst medial abzu-
erscheint. Sie kreiert eine absolut durch- bilden. Der amerikanische Kunstkritiker Jer-
schnittliche Onlineidentität, die sich absolut sucher schauen Videos auf YouTube oder ry Saltz hat unsere Gegenwart deshalb als
durchschnittlich inszeniert. Ulman postet laden dort selbst welche hoch. Die am das Zeitalter des Selfies definiert.
Bilder von Blumenröcken. Von Erdbeer- schnellsten wachsende Social-Media-Platt-
kuchen. Selfies vor Spiegeln. Selfies im Bett. form aber ist Instagram. 400 Millionen Nut- IST DAS JETZT GUT? Vieles ist natürlich
Spitzenunterwäsche. Stofftiere. Schmuck. zer gibt es weltweit. Würden sich all diese gut daran. Nie zuvor konnten die Menschen
Blasse Haut. Pastellfarbene Gewöhnlichkeit. Instagrammer zu einem Staat zusammen- sich in diesem Maß darstellen, wann und
Sie inszeniert sich als eines jener Mädchen, tun, wäre es der drittgrößte der Welt, hinter wo und wie sie wollen. Es könnte das Zeit-
deren Augen immer größer sind als ihr Ap- China und Indien und vor den USA. Täglich alter der Authentizität sein (siehe Interview
petit, weil sie von den dünnen Oberschen- werden mehr als 70 Millionen Bilder auf mit dem Kulturhistoriker Thomas Macho
keln der Models in ihren Modezeitschriften Instagram hochgeladen. Aber für die hohe auf S. 50). Und gerade das ist besonders gut
träumen. Sie nennt diese Figur das „cute Anzahl an Bildern gibt es nur eine über- für die Industrie. Im vorletzten Jahr zum
raschend geringe Anzahl verschiedener Beispiel nahm Adidas seinen Turnschuh
Motive. Kupferkerzenständer auf Holz- Stan Smith erst vom Markt, nur um ihn dann
tischen. Avocadotoasts. Lackierte Finger- an bekannte Instagramer zu schicken. Die
VIDEO: Ein Mann wird
zur lebenden Puppe nägel an Kaffeetassen. Schuhe von oben. perfekten Werbefiguren. Das Resultat wäre
spiegel.de/sw012016puppe Eggs Benedict von oben. Bücher auf Betten geeignet, um als Paradebeispiel für eine Stei-
von oben. Von wegen Individualität. gerung der Nachfrage durch Verknappung

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S E L B S T DA R S T E L L U N G

„W A S M I R G E F Ä L LT “

Instagram-Star Jana Windoffer über Echtheit und Inszenierung


INTERVIEW RIKE UHLENKAMP

wäre ich dann nicht mehr authentisch


gewesen.
SPIEGEL: Was bedeutet denn für Sie,
authentisch zu sein?
Windoffer: So zu sein, wie man ist. Wenn
man für seine Prinzipien einsteht – so-
wohl offline als auch online. Ich empfeh-
le auf meinem Blog nur Dinge, die ich
auch meinen Freunden empfehlen wür-
de. Es ist mir egal, ob mir eine Firma
10 000 Euro gibt. Ich schaue, was mir
gefällt und was ich weitergeben möchte.
Anders funktioniert Bloggen auf Dauer
auch nicht.
SPIEGEL: Ist die „Jana“ auf Instagram
und Ihrem Blog eine Kunstfigur, oder ist
es dieselbe Jana Windoffer wie im All-
tag?
Windoffer: Das ist dieselbe Jana. Ich zei-
ge dort aber nur einen Teil von mir. Ich
bin nicht nur mein Blog, ich interessiere
mich nicht nur für Mode, und ich bin
auch nicht immer gut gelaunt. Auf dem
Blog und bei Instagram präsentiere ich
vor allem positive Dinge. Sachen, die
mich freuen. Natürlich bin ich auch mal
traurig und habe Probleme, die ich nicht
auf dem Blog breittrete.
SPIEGEL: Sie zeigen im Internet also vor
Aus Spaß hat Jana Windoffer, 26, vor Ihrem Blog und bei Instagram vorstel- allem schöne Dinge und glückliche Mo-
fast sieben Jahren angefangen, über len. Kann man sich da immer treu blei- mente. Inszenieren Sie dort nicht ein
Mode zu schreiben. Heute kann sie von ben? Leben, das es gar nicht gibt?
der Werbung auf ihrem Instagram- Windoffer: Bei mir war das nie so ein Windoffer: Man versucht eben, das
Kanal „bekleidet“ und ihrem großes Problem, weil ich immer gesagt Schönste herauszufiltern, ganz beson-
gleichnamigen Blog leben. habe, dass ich erst einmal nicht vom ders bei Instagram. Da wird alles schick
Bloggen leben möchte. So musste ich kei- gemacht, zum Beispiel mit tollen Filtern.
SPIEGEL: Frau Windoffer, Sie haben ne Sachen annehmen, die ich nicht an- Deswegen glaube ich, dass man Insta-
mehr als 82000 Abonnenten bei Instagram. nehmen wollte. Und auch jetzt will ich gram auch nicht zu ernst nehmen darf.
Erschreckt Sie diese Zahl manchmal? das auf gar keinen Fall. Da würde ich auf Ich lasse mich gern von den schönen Bil-
Windoffer: Ja, das ist schon irgendwie Dauer richtig unglücklich werden. Dann dern dort inspirieren. Instagram verkör-
krass. Das hätte ich nie gedacht, als ich fahre ich lieber wieder Pizzen aus. Letz- pert das Image des perfekten Lebens. Es
angefangen habe zu bloggen. Erst im Lau- tens hat mir eine Schuhmarke die fal- ist aber fast allen klar, glaube ich, dass
fe der Zeit habe ich gemerkt, dass ich schen Schuhe geschickt. Ich fand die das nicht das echte Leben und nicht die
eine Werbefläche habe, die wertvoll für furchtbar! Ich habe am Ende dann auf Person ganz privat ist. Man muss einfach
andere Leute ist und mit der ich Geld das Geld verzichtet und den Stress mit lernen, dass das nicht die Wahrheit ist.
verdienen kann. der Schuhmarke in Kauf genommen. Eigentlich eignen sich Social Media dafür
SPIEGEL: Sie bekommen von Firmen Vielleicht wäre es meinen Lesern gar ganz gut. Es kann wirklich jeder nutzen
Geld, damit Sie deren Produkte auf nicht aufgefallen, aber in meinen Augen und sehen, wie es funktioniert.

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S E L B S T DA R S T E L L U N G

des Angebots in jedes Lehrbuch für Volks- Trennung. Drogen. Pole Dance. Twerking. eben nicht gezeigt. Das Bild zeigt nur einen
wirtschaftslehre aufgenommen zu werden. Das süße Mädchen gibt es nicht mehr. Ul- Ausschnitt. Im doppelten Sinn.
Auch Amalia Ulman bekommt sehr mans digitales Selbst hat sich in eine Figur Vor einiger Zeit wurde eine Fotostrecke
schnell T-Shirts mit Aufdrucken geschickt. verwandelt, die sie selbst die „crazy bitch“ auffallend oft in den sozialen Netzwerken
Und lavendelfarbene Dessous, die sie ihren nennt. Später wird sie sagen, dass die Fans geteilt. Die Bildserie zeigte typische Insta-
Fans auf Räkelbildern präsentiert. gar nicht genug bekommen konnten von ih- gram-Motive – nur dass sie einen größeren
rer Verzweiflung. Dass immer mehr Zu- Bildausschnitt wählte. Die Yoga-Pose im
IST DAS JETZT SCHLECHT? Die Auto- schauer ihren vermeintlichen Absturz ver- Park? Nur möglich, wenn jemand die Beine
rin Laura Ewert hat in einem Artikel für die folgen, aber niemand etwas tut. Die Auto- festhält. Der schön gedeckte Frühstücks-
„Welt am Sonntag“ geschrieben, wie sie sich bahn-Unfall-Gaffer des 21. Jahrhunderts. tisch? Gleich daneben liegt die Plastiktüte
nach zu langer Zeit auf Instagram plötzlich Ulmans Bilder deuten an, dass es nun ei- von den Aufbackbrötchen.
selbst dabei ertappt, wie sie die neue Vase nen anonymen Gönner in ihrem Leben gibt.
auf dem Tisch so arrangiert, dass der Ker- Jemanden, der riesige Blumensträuße be- UND NACH DER SÜNDE? Kommt die
zenständer im richtigen Winkel steht. Sie zahlt. Und große Brüste. In einem Forum Reue und dann die Läuterung. Ulman geht
nennt das die Instagramisierung des Alltags. für Anhängerinnen von Schönheitsoperatio- vier Wochen offline. Ihre Fans nehmen an,
Für die „Zeit“ hat Sascha Chaimowicz den nen liest sich Ulman die Vokabeln der Ver- sie sei in einer Entzugsklinik. Als sie wieder
Vollzeit-Snapchatter Riccardo Simonetti be- wandlung an. Sie postet erst ein Selfie im ins Netz zurückkehrt, zeigen ihre Bilder
gleitet, den es fast nur noch wegen Snapchat OP-Kittel. Dann ein Bild von sich mit einem eine reine Welt. Detox. Smoothies. Yoga.
gibt. Das Leben als bloßes Materiallager für Verband um die Brust. Sie scherzt über ihre Schlichte Seidenblusen. Babys. Das gesunde
Content. Die Zeitschrift „Neon“ hat als Ex- „frankenboobs“, die Monstertitten, die sie Leben, in dem es um Achtsamkeit und
periment die Reporterin Nora Reinhardt in sich angeblich hat operieren lassen. Selbstsorge geht, die Verkörperung dessen,
die Karibik geschickt mit einer einzigen Eine einzige Faustformel reicht ihr spä- was in Edward Tory Higgins Selbstbeschrei-
Bedingung: kein Foto für Instagram auf- ter, um dieses düstere Kapitel ihrer Erzäh- bungstheorie das „ought self“ heißt – das
zunehmen. Weil Erinnerungen und innere lung zusammenzufassen: „Je trauriger das Ich also, das wir sein sollten.
Bilder eben doch nie so aussehen, als wären Mädchen, desto glücklicher der Troll.“ Das kommt dem Ergebnis nahe, das alle
sie Teil einer Klickstrecke. Während der Dabei muss sie nicht einmal viele Details Studien haben, die sich mit Selbstdarstel-
Recherche zu diesem Text war ich eines erfinden. Sie lässt bewusst Leerstellen in lung in sozialen Netzwerken beschäftigen.
@BEKLEIDET, EYEEM (@MAZZKA, @BORN4KAOS, @AABG, ), EYEEM / GETTY IMAGES (4)

Abends in der Hamburger Innenstadt. Ich ihrer Erzählung, die ihre Fans mit eigenen Immer geht es darum zu antizipieren, was
habe für 70 Euro einen High-Waist-Rock ge- Erfahrungen und Schlussfolgerungen füllen. das Publikum sehen will, und diese Erwar-
kauft und ein graues Rippshirt, nachdem Denn noch etwas kann man aus Ulmans Per- tungshaltung möglichst gut zu erfüllen. Nur
ich stundenlang Bilder von schönen, jungen formance über die Selbstdarstellung in den so ist es möglich, dass Amalia Ulmans be-
Frauen in High-Waist-Röcken betrachtet sozialen Netzwerken lernen: Sie ist oft lange wusst unauthentischer Instagram-Account
hatte. Dienen diese Bilder noch der Inspi- nicht so persönlich, wie es auf den ersten uns sehen lässt, wie die vermeintliche
ration oder nur noch der Bedürfnisgenerie- Blick scheint. Der Kunstkritiker Jerry Saltz Authentizität entsteht. Ihren Account gibt
rung? Selbstverständlich benötige ich kei- hat eines der berühmtesten Selfies analy- es jetzt, fast zwei Jahre später, noch
nen High-Waist-Rock. siert. Darauf ist Kim Kardashian zu sehen. immer. Vor Kurzem hat sie einen selbst
Das sind die dunklen Seiten von Insta- Sie trägt einen Body mit tiefem Ausschnitt, gezeichneten Cartoon gepostet. Er zeigt
gram, gegen die kein nachträgliches Belich- der die Konturen ihres Körpers betont. Ihre eine Frau am Schreibtisch, die sich neuen
tungstool hilft. Brüste sind deutlich zu erkennen. Sehr deut- Ärger ausdenkt.
Nach zwei Monaten werden auch Amalia lich sogar. Und trotzdem deutet Saltz dieses
Ulmans gepostete Bilder und Nachrichten Bild als Verhüllung des Intimen. Denn im
dunkler. Was früher rosafarben war, ist jetzt Hintergrund ist ein Paravent zu sehen, der
schwarz. Die Ausschnitte werden tiefer und die gesamte Wohnungseinrichtung vor dem Maren Keller hat sich an ihrem ersten
Arbeitstag mit Nudelsoße bekleckert. Den
auch die Abgründe. „Wie viele Menschen voyeuristischen Blick des Betrachters ab-
restlichen Tag fühlte sie sich leider nicht mehr
haben dich vergessen, obwohl sie dir ver- schirmt. Alles Intime, alles Persönliche, alles sehr professionell und erfolgreich, aber dafür
sprochen haben, immer für dich da zu sein?“ wirklich Authentische wird in diesem Bild authentisch. maren.keller@spiegel.de

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ICH-PERSPEKTIVE

Wer in seinem Tagebuch von früher liest, muss


starke Nerven haben. Und kann doch viel über sich
lernen. Eine Tagebuchschreiberin packt aus.
TEXT ANNA CLAUSS F OTO S SORIN MORAR

22 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


ICH-PERSPEKTIVE

M
eine Mädchenwangen glühten. Mein Füller auch. Der
erste Tagebuchtext meines Lebens umfasst stolze 16
Seiten. Eine „atemberaubende Show“ galt es damals,
im Jahre 1997, zu dokumentieren: Die Milchbubigesichter auf den
„Bravo“-Postern an den Wänden meines Kinderzimmers hatten
sich in Fleisch und Blut, in Schweiß und Schmalzstimme verwan-
delt. Das Konzert der Backstreet Boys sollte in Schönschrift und
Endlosschleife auf Papier verewigt werden. Mein 14-jähriges Ich
erzählt die Geschichte von fünf „total süßen“ Jungs, die eine „ab-
normal coole Tanzaction abliefern“, dann aber „voll den Beschiss
abziehen“, weil Kevin beim Lied „10 000 Promises“ nur so tut, als
würde er selbst Klavier spielen.
Die Erregung von einst treibt mir heute die Schamröte ins Ge-
sicht. Dennoch bin ich den Backstreet Boys zu ewigem Dank ver-
pflichtet. Ihre kitschigen Schnulzen verhalfen mir zur Erkenntnis:
Tagebuchschreiben macht glücklich. Die Tintenpatrone erlöste
mein klopfendes Teenagerherz. Immer, wenn ich in der Folgezeit
nicht wusste, wohin mit meinen Gefühlen, schrieb ich sie auf.
So mache ich das bis heute. Waren die Spiralblöcke, Hefte und
Blattsammlungen in meinem Bücherregal anfangs eher ein Abkling-
becken für die verstrahlten Gedanken einer Pubertierenden, nutze teratur. Aber darum geht es mir beim Tagebuchschreiben auch
ich mein Tagebuch heute als Stromableiter für Hirnaktivitäten aller nicht.
Art. Der Effekt ist stets derselbe: Mein Kopf wird klar, das Rauschen Ich bin kein Karl Ove Knausgård, der aus seinen schonungslos
des Alltags verschwindet. Ich kann tiefer ausatmen und schneller offenen Selbstbespiegelungen Bestseller gemacht hat. Ich bin keine
einschlafen. Charlotte Roche und kann der Versuchung, aus meinem Sexleben
literarisches Kapital zu schlagen, widerstehen. Ich bin kein neu-
SEIT 20 JAHREN fülle ich Bücher mit Buchstaben. Als den ande- zeitlicher Werther und auch keine Person der Zeitgeschichte, aus
ren ihre Tagebücher peinlich wurden, schrieb ich einfach weiter. deren Beobachtungen meine Mitmenschen etwas Erhebendes ler-
Klar, es gibt auf dieser Welt verheißungsvollere Entspannungsme- nen könnten. Es ist eher so: Je älter ich werde, desto schneller rast
thoden. Yoga im Morgengrauen, die Zigarette danach oder der erste die Zeit an mir vorbei. Das tägliche Diktat fürs digitale Tagebuch
Atemzug Frischluft nach zehn Minuten finnischer Sauna. Mach
ich alles gern – aber nichts lässt mich meine inneren Kräfte so sehr
bündeln wie der kurze Dialog mit mir selbst.
Beim Schreiben forme ich Bilder in meinem Kopf. Empfindun-
gen wie Hoffnung, Angst, Ärger oder Freude werden mir oft erst in
dem Moment bewusst, in dem ich sie formuliere. Über einen län- „Wer permanent im Einklang
geren Zeitraum entstehen aus den Momentaufnahmen authentische
Spiegelbilder. Gut möglich, dass man sich über die Person er-
mit sich selbst ist, verspürt wohl
schreckt, die einen aus alten Tagebucheinträgen anblickt. Unbe- keinen Drang zum Schreiben.“
queme Wahrheiten – besonders die über sich selbst – möchte man
in der Rückschau gern verdrängen. Meine jugendliche Begeisterung
für Plastikpop ist ein harmloses Beispiel. Ohne das Tagebuch aus
dieser Zeit hätte ich die Erinnerung an diese Episode längst gelöscht.
Dabei war sie ein wesentlicher Bestandteil meiner jugendlichen
Identität. gibt mir die Möglichkeit, das Hamsterrad, in dem ich meine Runden
Früher schrieb ich am liebsten abends oder noch lieber nachts: drehe, einen kurzen Moment auf Zeitlupe zu schalten. „Das war
Wehklagen über verflossene Lieben sind so entstanden, genauso mir heute wichtig.“ Nichts anderes erzählen meine kurzen Einträge.
wie die wütende Konsumkritik nach dem ersten Besuch in einem Sie helfen mir, meinen Alltag und meine verschiedenen Identitäten
Berliner Lidl angesichts „aufgeplatzter Krokettenpackungen in der zu ordnen. Ich bezweifele, dass es ein einziges authentisches Ich
Tiefkühltruhe“. Heutzutage fehlt mir die Zeit für lange Besinnungs- gibt. Ich bin viele. An einem Tag Karrierefrau, am anderen Super-
aufsätze, und seitdem ich Mutter bin, fehlt mir zudem permanent mutter. Oder in schlechten Wochen montags der Sündenbock, mitt-
Schlaf. Ich schreibe also lieber tagsüber – und zwar nicht auf Papier, wochs der Depp vom Dienst und freitags ein Häuflein Elend. Mei-
sondern per App. nem Tagebuch kann ich nichts vormachen.
Day One heißt das Programm auf meinem Smartphone, das ich Es tut gut, sich seinen Kummer von der Seele zu schreiben. Als
mehrmals am Tag mit kleinen Alltagsbeobachtungen, Lieblingsfotos ich den an Krebs erkrankten Guido Westerwelle in einer Talkshow
oder kurzen Gefühlsausbrüchen füttere. „Baby unter Gardine be- sitzen sah, sagte der, er habe mit dem Tagebuchschreiben gegen
graben“, „Höllischer Muskelkater“, „Streit um Liebesschlösser auf seine Dämonen kämpfen wollen. Das fand ich ein treffendes Bild.
Facebook“, tippe ich dann in die Tastatur. Per Diktierfunktion kann Tagebücher sind sicherlich keine Wunderheiler, aber dass sie sich
ich sogar auf der Rolltreppe oder während eines Spaziergangs im positiv auf geistige Vorgänge auswirken, ist wissenschaftlich erwie-
Park Tagebuch schreiben. Auf diese Weise entsteht keine große Li- sen. Eine Studie der University of California hat gezeigt, dass das

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 23


ICH-PERSPEKTIVE

Schreiben über die eigenen Gefühle dem Gehirn hilft, seine Emo- auf irgendeinem Dachboden findet und über die Welt, in der wir
tionen zu regulieren. Die Selbstheilungskräfte, die das Tagebuch- heute leben, staunt. Vielleicht liest dieser Mensch aus der Zukunft
schreiben entfalten kann, werden auch „Bridget-Jones-Effekt“ ge- genau die Stelle vom ersten Treffen seiner Vorfahren, und mein
nannt. Doof nur, dass nicht nur negative Emotionen durchs Auf- Mann und ich erstehen für den Bruchteil ein paar geblätterter Sei-
schreiben kleiner werden. Auch die guten Gefühle verlieren, so das ten von den Toten auf. Ich persönlich kann meine eigene Familien-
Fazit des amerikanischen Psychologieprofessors Matthew Lieber- geschichte kaum länger als zwei Generationen zurückverfolgen.
man, an Intensität, sobald man sie zu Papier bringt. Wie zum Beispiel der Vater meines Opas mit Vornamen geheißen
hat, geschweige denn, was er für Musik gehört hat, weiß ich nicht
TATSÄCHLICH ÖFFNE ICH IN MOMENTEN großer Freude zu sagen.
eher eine Flasche Champagner als die App „Day One“. Auch in mei- Ganz vielleicht landen meine Aufzeichnungen eines Tages im
nen insgesamt zwölf Tagebuchbänden im Bücherregal besiegt der Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen. Ich kann mir zwar
Schwermut meistens den Schöngeist. Wer permanent im Einklang kaum vorstellen, dass irgendwer außer mir Spaß an der Lektüre
mit sich selbst ist, verspürt wohl keinen Drang zum Schreiben. meiner Zeilen haben könnte. Aber wer weiß, ob sich Forscher nicht
Schöne Momente konserviere ich lieber in Fotos oder ausgeschnit- irgendwann einmal für Dokumente aus der Zeit interessieren, in
tenen Schnipseln statt in Worten. Die Kniffel-Gewinnkarte als An- der die Menschen noch ihr Essen in Discount-Supermärkten ge-
denken an einen Campingurlaub mit Freunden hat im Innern mei- kauft haben.
nes Tagebuchs sieben Umzüge überlebt. Mir fällt nur ein einziger Mensch ein, der mein Tagebuch zu
Trotzdem kann es lohnenswert sein, aus guter Laune heraus Lebzeiten zu Gesicht bekommen hat: Meine kleine Schwester hatte
Tagebuch zu schreiben. Als 22-Jährige habe ich einmal beiläufig es aus meinem Kinderzimmer geklaut, dann aber vergessen, es wie-
ins Tagebuch gekrakelt: „Heute habe ich meinen zukünftigen Ehe- der in meine Schreibtischschublade zurückzulegen. Es ist schon
mann kennengelernt.“ Zwar bekam ich den Kerl, von dem ich mir lange her, aber ich erinnere mich noch sehr gut an den Schock, den
nicht sicher war, „ob er nicht vielleicht zu dünn ist“, die folgenden ich erlitt, als ich mein Tagebuch auf dem Zeitschriftenstapel im
zwei Jahre nicht mehr zu Gesicht; sein Versprechen, mir die größ- Klo entdeckte. Aufgeschlagen war der Text über das Backstreet-
ten Hits der Rapper Die Firma vorzuspielen, blieb uneingelöst. Boys-Konzert.
Das Jawort gab er mir acht Jahre später trotzdem. Mein Bauch-
gefühl hatte recht behalten. Vielleicht hätte ich es damals überhört,
hätte mein Tagebuch nicht als Lautsprecher meiner inneren Stim-
me fungiert. Anna Clauss findet inneren Einklang auch beim Singen. Nach
Ganz manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass in den sieben Strophen des Abendliedes „Der Mond ist aufgegangen“
200 Jahren ein Kind des Kindes meines Kindes meine Tagebücher kommt sogar ihr Baby zur Ruhe. Anna.Clauss@spiegel.de

ANNE FRANK FONDS BASEL / GETTY IMAGES, FRANZ BISCHOF / LAIF, FRITZ ESCHEN / ULLSTEIN BILD, PHILIPPE MATSAS / OPALE / STUDIO X
D E A R D I A R Y

Das alltägliche Ringen mit dem eigenen kleinen Leben –


berühmte Tagebuchschreiber über ihre stete Selbstbeobachtung:

„Am besten gefällt „Ich entdecke „Da ich nicht recht


mir noch, dass ich das, immer und immer daran glaube, dass es
was ich denke und wieder, dass das im Geschriebenen
fühle, wenigstens auf- Tagebuch eine Unmittelbarkeit gebe,
schreiben kann, Anstrengung gegen sind auch die Tage-
sonst würde ich das Dahinschwinden bücher Fiktion. Das
„In meinem Falle komplett ersticken.“ ist, gegen das „Das Tagebuch ist heißt: Antworten auf
setze ich an die erste Verlieren, gegen das Prüfstein und die Unzumutbarkeiten
Stelle, was ich Not- Sterben, gegen die Abenteuer für den des menschlichen Da-
wehr nenne: Entwurzelungen, Autor, nur wer seins. Also Literatur.“
versuchen, mit dem gegen Verfall und Un- genug Selbstironie
Leben fertig zu wirklichkeit. besitzt, wird es
werden, indem man Ich habe das Gefühl, schadlos
Dinge benennt, dass ich etwas rette, überstehen.“
die man vielleicht vor wenn ich es in das
einem anderen gar Tagebuch aufnehme.
nicht benennen kann.“ Dort ist es lebendig.“
MAX FRISCH ANNE FRANK ANAIS NIN HELMUT KRAUSSER MARTIN WALSER
(1911 BIS 1991) (1929 BIS 1945) (1903 BIS 1977) (*1964) (*1927)

24 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


In der griechischen Mythologie verliebt
sich Narziss, der schöne Sohn des Flussgot-
tes Kephissos, in sein eigenes Spiegelbild –
auch diese eitle Selbstliebe endet tödlich.

WA S WÄ R E
Dem antiken Schriftsteller Pausanias zufol-
ge saß Narziss an einem See, ein Blatt fiel

D I E W E LT O H N E …
ins Wasser, und kleine Wellen zerstörten
sein liebliches Abbild. Narziss, irrtümlich
überzeugt, er sei hässlich geworden, war so
schockiert, dass er vor Kummer starb.

Spiegel
Die ersten künstlichen Spiegel waren fla-
che Schalen mit Wasser. Die alten Ägypter
kannten Spiegel aus poliertem Metall. Die
frühen Griechen wiederum stellten noch
vor dem Jahr null die ersten kleinen Hand-
spiegel her, was die Eitelkeit der Menschen
erwiesenermaßen förderte. Im Mittelalter
entwickelten die Menschen dann den Glas-
spiegel. Im Barock waren große Spiegelga-
lerien schwer in Mode, Frankreichs Sonnen-
könig Ludwig XIV. ließ den Spiegelsaal von
Versailles mit mehr als 350 großen goldge-
rahmten Spiegeln ausstatten.

HEUTZUTAGE ist eine Welt ohne Spiegel


gar nicht mehr denkbar: Fürs Rasieren gibt
es den Rasierspiegel, fürs Schminken den
Schminkspiegel, beim Autofahren brauchen
wir den Rückspiegel, die Medizin verwen-
det massenhaft Spiegel in Endoskopen (da-
her auch der nette Begriff Magenspiege-
lung), und ohne Spiegelteleskope könnten
wir nicht so gut in den Weltraum blicken.
In der Verhaltensforschung gilt das Er-
kennen des eigenen Spiegelbildes als Zei-
chen von Intelligenz und Abstraktionsver-
mögen. Ein Kleinkind kann dies erst zwi-
schen dem 12. und 18. Monat, die meisten
Tiere sind dazu nicht in der Lage. Sich selbst
betrachten zu können hilft, ein eigenständi-
ges Ich zu entwickeln.
Doch warum fürchten viele Menschen
„Spieglein, Spieglein an der Wand, Doch nicht nur in den wilden deutschen den Blick in den Spiegel? Alles Gute wie
wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Volkssagen der Gebrüder Grimm zeigt der Schlechte, das er zeigt, können die anderen
„Frau Königin, Ihr seid die Spiegel seinen doppeldeutigen Charakter. ja sowieso sehen. Die ungeschönte Ansicht
Schönste hier, aber Schneewittchen ist Spiegel stehen seit schon Jahrtausenden ei- unseres Äußeren verlangt nicht nur Mut,
noch tausendmal schöner als Ihr.“ nerseits für Eitelkeit, Selbstsucht und Woll- weil sie den Weichzeichner der Imagination
lust, andererseits symbolisieren sie Selbst- ausschaltet, sondern sie zwingt uns auch
erkenntnis, Klugheit und Wahrheit. zur Reflexion über uns selbst. Ein Spiegel-
OLIVER SCHWARZWALD / SPIEGEL WISSEN

DER ALLWISSENDE und sprechende Und nur mit ihrer Hilfe kann der Einzel- bild öffnet uns die Augen für unser äußeres
Spiegel im Märchen ist so ehrlich wie erbar- ne im Alltag erkennen, ob der Leberfleck wie inneres Wesen.
mungslos. Er bringt die von Neid zerfresse- schmückt oder stört, der Rock zu eng oder Hollywoodstar Lauren Bacall (1924 bis
ne Stiefmutter dazu, erst einen Jäger mit die Hose zu kurz ist, die Frisur sitzt oder lä- 2014) hatte ein sehr entspanntes Verhältnis
der Ermordung Schneewittchens zu beauf- cherlich wirkt. Für unser Selbst-Bild ist, zu ihrem Spiegelbild, obwohl Schönheit in
tragen, dann sogar selbst, mit einem vergif- ganz buchstäblich, der Spiegel nicht mehr ihrem Beruf immens wichtig ist. „Ich glaube,
teten Apfel, die Königstochter töten zu wol- wegzudenken – er ist das erste Gegenüber, dass sich das Leben eines Menschen in sei-
len. Am Ende bezahlt die Stiefmutter ihre er zeigt uns, wenn auch seitenverkehrt, wie nem Gesicht widerspiegelt. Man sollte stolz
Ichsucht und Bosheit mit dem Leben. wir uns der Welt präsentieren. darauf sein.“ JOACHIM MOHR

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 25


SELBSTERKENNTNIS

„Raus aus dem


Grübelgefängnis“

INFORMIERT
„Moderne Frauen neigen
aufgrund ihrer Rollen-
vielfalt dazu, Denken mit
Grübeln zu verwechseln.“

26 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


SELBSTERKENNTNIS

Wofür lebe ich? Was macht Lebenskunst aus?


Und warum wollen Frauen immer so perfekt sein?
Ein Gespräch mit der Philosophin Rebekka Reinhard
INTERVIEW ANGELA GATTERBURG, JOACHIM MOHR F OTO S NORMAN KONRAD

TOPFIT
„Viele Frauen tragen diese
Ich-muss-Maske des
inneren Antreibers, der sie
durch den Tag peitscht.“

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 27


SELBSTERKENNTNIS

Die Philosophin
Rebekka
Reinhard erklärt,
warum Macht
SPIEGEL: Frau Reinhard, Sie arbeiten als SPIEGEL: Sie plädieren dafür auszuhalten,
Frauen guttut „philosophische Beraterin“. Was dürfen wir
uns darunter vorstellen?
dass es keine einfachen Antworten gibt?
Reinhard: Ja, psychologisch gesehen ist das
und Schönheit Reinhard: In meiner Beratung geht es um
Fragen der Orientierung. Zu Beginn bitte
so etwas wie Frustrationstoleranz. Ich for-
muliere es aber lieber so: freudig das Unge-
vom Charakter ich meine Klienten, kurz zu beschreiben,
wie ihre aktuelle Situation ist. Dann frage
wisse umarmen.
SPIEGEL: Wie nähert man sich aber dann
ich relativ schnell: Wofür leben Sie? Für dem, was man als sein Ureigenstes ansieht?
abhängt. viele ist diese Frage ein Schock, weil sie so Reinhard: Wichtige Frage. Erst einmal muss
grundsätzlich ist. Gerade Frauen neigen ich unterscheiden können: Wer bin ich, und
dazu, sozial erwünscht zu antworten: „Für was ist meine soziale Rolle? Heute fällt es
die Familie.“ Männer sagen eher: „Gute Fra- Menschen zunehmend schwer, nicht zuletzt
ge. Habe ich mich selbst schon oft gefragt.“ durch die sozialen Medien, das eine vom an-
Mir geht es nicht darum, diese Frage schnell deren zu trennen. Viele Menschen lassen
zu beantworten. Vielmehr will ich einen le- sich sehr von äußeren Einflüssen lenken,
benslangen Reflexionsprozess anstoßen, im- oder, wie es der amerikanische Soziologe
mer mal wieder auf die Reset-Taste zu drü- David Riesman formuliert hat, sie definieren
cken und zu überlegen: Wo stehe ich? Bin sich wesentlich aus den Augen der anderen.
ich noch in meinem Leben oder vielleicht SPIEGEL: Wie vermeide ich das?
in einem falschen? Reinhard: Für wichtig halte ich Zeiten der
SPIEGEL: Ähneln sich die Antworten nicht Stille. Regelmäßig wenigstens fünf Minuten
sehr? mit sich selbst verbringen, sich selbst
Reinhard: Grundsätzlich lassen sich die Ant- aushalten, am besten in den eigenen vier
worten den Bereichen Autonomie und Zu- Wänden. Das ist für viele Leute, die in einem
gehörigkeit zuordnen. Es gibt Menschen, beschleunigtem Takt des Alltags leben, un-
die haben ein riesiges Streben nach Autono- erträglich. Ich kenne das auch aus der Psy-
mie, wollen am liebsten alles allein entschei- chiatrie, wo ich acht Jahre lang ehrenamt-
den. Andere sagen, nur in der Zugehörigkeit lich gearbeitet habe. Wenn Manager plötz-
und durch die Anerkennung anderer kann lich mit Burnout in der Klinik landen, ist da
ich wirklich ich selbst sein. ja erst einmal nichts. Der Klinikalltag nervt
SPIEGEL: Ist das wirklich so eindeutig? Es und langweilt, man empfindet Leere, aber
sagt ja kaum jemand: Ich will Freiheit, genau diese Leere ist der Zugang zu mir
Zugehörigkeit und Geborgenheit sind mir selbst. Dabei offenbart sich mir der Unter-
gleichgültig. schied zwischen Rolle und Ich.
Reinhard: Richtig, die Sache ist komplex. SPIEGEL: Also würden Sie Menschen, be-
Deshalb halte ich auch nichts von dieser kla- vor es zum Burnout kommt, Rückzug in die
ren, schnellen Zielorientierung, die heute Stille empfehlen? FRITZ BECK / SPIEGEL WISSEN, NORMAN KONRAD / SPIEGEL WISSEN

so beliebt ist. Die Menschen wollen partout Reinhard: Unbedingt. Selber denken heißt
Glück und Sinn aus jeder Ritze rauspressen. kritisch denken. Die Leute glauben oft,
REBEKKA Ich erinnere gern an den englischen Dichter kritisch denken ist negativ. Nein. Kritisch
REINHARD John Keats und seine „negative capability“. kommt von altgriechischen „krinein“, das
Übersetzt ist das die Fähigkeit, im Ungewis- heißt unterscheiden.
arbeitet als freie Philosophin in sen zu verbleiben. SPIEGEL: Sie empfehlen, das eigene Leben
München. Die 43-Jährige ist Keats meint, der kreative Prozess – und es regelmäßig zu überprüfen. Was raten Sie ei-
Autorin zahlreicher Bücher, hält ist ja ein kreativer Prozess, wenn ich mich ner Frau, die zu Ihnen kommen und sagt,
Vorträge für Unternehmen und auf die Suche nach mir selbst begebe – hän- sie sei da in eine Ehe hineingeraten, in der
berät Menschen in philosophi- ge davon ab, eben nicht ziel- und lösungs- sie sehr unglücklich sei, habe aber drei klei-
schen wie lebenspraktischen orientiert vorzugehen. Stattdessen muss ich ne Kinder und wisse nicht, ob sie sich
Fragen. Ihr neues Buch heißt: mich daran gewöhnen, dass sich gewisse trennen solle.
„Kleine Philosophie der Macht Fragen vielleicht niemals beantworten las- Reinhard: In einem solchen Fall geht es auch
(nur für Frauen)“. Ludwig sen. Und gerade daraus entstehen parado- um Verantwortung. Authentisch leben heißt
Buchverlag; 224 Seiten; 19,99 Euro. xerweise die Antworten. nicht, dass man tun kann, was man will. Das

28 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


SELBSTBEWUSST
„Die moderne Frau ist
kämpferisch in die Domäne
des Mannes eingebrochen.“

29
MÜTTERLICH
„Frauen haben den Anspruch,
die weibliche Sphäre
weiterhin zu besetzen.“

30
SELBSTERKENNTNIS

„Ich brauche Mut,


ich muss etwas wagen.“

missverstehen viele Leute, auch einige mei- SPIEGEL: Was können wir tun, wenn uns Freiheit uns erdrückt. Ich kenne einige Leu-
ner Klienten. Da wir nicht allein sind auf der selbst banale Dinge nicht gelingen, wie et- te unter dreißig, die sind eher biedermeier-
Welt, müssen wir immer wieder die Balance was gesünder zu leben? lich orientiert, häuslich, sie wollen eine frü-
finden zwischen unserer Verantwortung für Reinhard: Erst mal ist kritisch zu fragen: he Ehe, Stabilität. Mich erschreckt, dass bei
andere und für uns selbst. Wir leben in einer Was ist der Stellenwert des zu Verändern- vielen Jungen diese Angst vor Freiheit be-
Zeit metaphysischer Obdachlosigkeit, uns den? Manche Menschen verfallen ja regel- steht, gerade in einem Alter, in dem Rebel-
fehlt das fraglos akzeptierte Zentralgestirn, recht in einen Veränderungswahn: Jetzt lion, Experiment und Freiheit großgeschrie-
der Gott, der uns alle lenkt, wir sind auf uns muss alles anders werden, und zwar pronto. ben und ausgetestet werden sollten.
selbst zurückgeworfen. Und wir haben die Da steckt dieses Müssen drin, das Kämpfen, SPIEGEL: Wo sehen Sie dafür die Gründe?
Aufgabe, aus diesem Leben, das uns gegeben das Sich-Anstrengen. Das kann nichts wer- Reinhard: Viele von uns haben nie einen
ist, etwas zu machen. den. Was wir tun, sollte leicht sein. Die Stoi- Krieg erlebt. Mein Vater, Jahrgang ’37, kann
SPIEGEL: Für nachdenkliche Menschen ker sagen, das Leben ist eine Übung. Jeder sich noch erinnern, wie in München alles
kann diese Aufgabe zu einer Endlosschleife Tag ist ein Neuanfang, ein neuer Versuch. brannte nach einem Bombenangriff. Das ist
im Kopf führen, in der unentwegt verschie- SPIEGEL: Sind es eigentlich auch die vielen der entscheidende Punkt aus lebensphilo-
dene Lebensentwürfe durchgespielt wer- Möglichkeiten – die immense Vielfalt der sophischer Sicht – das Bewusstsein von der
den. Ist das der Sinn der Sache? heutigen Welt – die Unruhe in unser Leben Endlichkeit. Alle Spielräume, die wir haben,
Reinhard: Viele meiner Klienten sind hy- bringen? werden begrenzt durch den Tod, und der
perreflektiert, die erinnere ich gern an die Reinhard: Sicher, zu viele Möglichkeiten kann jederzeit eintreten. Wir, meine Gene-
Worte von Marie von Ebner-Eschenbach: können sich auch als Belastung erweisen. ration und die Jüngeren, wissen das zwar
„Für das Können gibt es nur einen Beweis: Wir nehmen es dann so wahr, als ob die intellektuell, verstehen es aber emotional
das Tun.“ Wichtig ist, dass das Reflektieren und seelisch nicht.
auch an sein Ende kommt. Es ist schön, ein SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch befassen
denkender Mensch zu sein, aber ich sollte Sie sich mit der Angewohnheit moderner
mich auch in die Welt begeben, experimen- Frauen, sich für andere zu optimieren, ei-
tieren, vielleicht auch scheitern. Eine Exis- nem Perfektionsideal hinterherzujagen. Wo
tenz, die kein Scheitern kennt, die immer sehen Sie die Ursachen für diesen Wahn?
so ruhig vor sich hin plätschert, ist per se Reinhard: Die Geschlechterrollen haben
eine gescheiterte Existenz. sich seit der 68er Zeit sehr verändert. Doch
SPIEGEL: Was raten Sie Klienten, die sehr die Rolle der Frau ist immer noch von
verkopft sind? Selbstausbeutung geprägt. Das hängt damit
Reinhard: Die kriegen von mir keine Lese- zusammen, dass wir Frauen heute einerseits
aufgaben, sondern sollten sich idealerweise im Beruf erfolgreich sein wollen, anderer-
ehrenamtlich betätigen, etwa mit Migran- seits immer noch geschlechtsspezifischen
tenkindern arbeiten. Das ist ein radikaler Stereotypen verhaftet sind, die auf die Fünf-
Perspektivwechsel, weg von dieser Nabel- zigerjahre, teilweise sogar auf das 19. Jahr-
schau, raus aus dem Grübelgefängnis. Das hundert zurückgehen. Diese vorurteilsbe-
berührt die eigene Seele. ladenen Klischees legen fest: Frauen sind
SPIEGEL: Nachdenken und Handeln gehö- nett, empathisch, sie bedienen andere, sind
ren zusammen. fürsorgliche Lebewesen, sind einfach lieb.
Reinhard: Ja, das ist Lebenskunst. Ich brau- SPIEGEL: Sie sind nicht machtorientiert.
che Mut, ich muss etwas wagen. Scheitern Reinhard: Nein, Macht geht gar nicht. Und
macht mich auch mit mir bekannt. Ich ent- diese unreflektierte Kraft der Stereotypen
decke, wie viele Potenziale in mir stecken, paart sich mit dem weiblichen Überperfek-
NORMAN KONRAD / SPIEGEL WISSEN

die noch nicht gelebt sind, wie viele ver- tionismus der Gesellschaft. Die britische
schiedene Möglichkeiten es gibt, glücklich GEPFLEGT Kulturhistorikerin Angela McRobbie sagt:
zu sein. Ich bin auch ein großer Freund der „Frauen sind die perfekten Mitglieder der
Stoiker, die das Leben als Experiment an- „All diese Rollen neoliberalen Gesellschaft.“ Sicher gilt das
sahen. Es geht darum, sich immer wieder ausfüllen zu wollen schafft auch für moderne Männer, auch sie sind oft
zu prüfen – nicht im Sinne von Optimierung, ein unsicheres Ich.“ sehr perfektionistisch. Doch Frauen haben
sondern sich immer wieder aus seiner Kom- eine riesige Rollenvielfalt zu erfüllen. Den-
fortzone herauszuwagen. ken wir etwa an die Pflege von Angehörigen.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 31


SELBSTERKENNTNIS

„Sind Sie eitel?“


„Ja, natürlich.“

Glück nenne. Es begann mit dem Glücks- prägen. Wir werden sozialisiert nicht nur
versprechen der Aufklärung, bis heute als mit Märchen, sondern auch von populären
Grundsatz in der amerikanischen Unabhän- TV-Serien wie „Sex and the City“ oder
gigkeitserklärung verankert: Jeder Mensch „Girls“. In all diesen Fantasien werden uns
hat das Recht, nach Glück zu streben. Das Modelle von Beziehungen und Identitäten
war ursprünglich sehr männlich gedacht, präsentiert, mit dem subtilen Angebot, uns
mit Kampf, Unabhängigkeitsstreben, Auto- mit diesen Männern und Frauen zu identi-
nomie. Wenn nun jeder in dieser Weise nach fizieren. Diese Typen sind aber natürlich
Glück strebt, gibt es viele Zielkonflikte. Also stark stilisiert, in der Wirklichkeit finden
entstand als Gegenpol die weibliche Sphäre, sie sich so überhaupt nicht. Deshalb sind
wie sie sich etwa im viktorianischen Eng- Identifikationen mit diesen Typen gefähr-
BLITZBLANK land ausprägte: die Frau, die am Herd steht, lich.
die Kinder wiegt, ein Heim und Geborgen- SPIEGEL: Wieso gefährlich?
„Bis zur Selbstausbeutung heit schafft. Nun ist die moderne Frau ei- Reinhard: Mit der Vielfalt des echten Le-
versuchen viele Frauen, nerseits kämpferisch in die Domäne des bens haben etwa Fernsehserien nichts zu
allem gerecht zu werden.“ Mannes eingebrochen, hat aber auch noch tun. Die Serie „Girls“ habe ich mir an-
den Anspruch, die weibliche Sphäre wei- geschaut und war entsetzt. Es geht um Sex
terhin zu besetzen. Das ist ein Dilemma. und ex negativo um die Frage, wie man den
Perfektes Glück in beiden Sphären zu errei- richtigen Mann findet. Das ist alles. Letzt-
chen, das ist ein Marketinggag. lich ist es die alte Cinderella-Geschichte,
Sobald die Eltern oder die Schwiegereltern SPIEGEL: Was können Frauen tun, um die- nur dass Cinderella heute eben wilden Sex
krank werden, wer ist am Zug? Die Frau. In sem Dilemma zu entkommen? mit wechselnden Partnern hat. Ich finde die
den wenigsten Fällen ist es der Mann. Reinhard: Konzentrieren Frauen sich auf Serie reaktionär. Aber worauf es mir an-
SPIEGEL: Die moderne Frau hat zu viele die männliche Sphäre, erleben sie, dass in kommt: Diese Fiktionen prägen uns, unsere
verschiedene Rollen und Identitäten? ihrer weiblichen Domäne eine Leerstelle Erwartungen an uns selbst und an unsere
Reinhard: Was die moderne Frau im Job bleibt, weil Männer nun mal nicht in Scha- Partner.
leistet, ist ja tatsächlich nur ein kleiner Teil ren herbeiströmen, um die Herdposition zu SPIEGEL: Also muss jeder aufpassen, mit
ihres umfangreichen Repertoires – von Ge- übernehmen. Ein flexibles Rollen- oder welchen Filmen und Büchern er seinen
riatrie über Kulinarik und Pädagogik bis zur Sphären-Switchen, das nötig wäre zwischen Kopf möbliert, will er sich nicht von seinem
Haushaltslogistik. All das meint die moder- den Geschlechtern, funktioniert einfach eigenen Ich entfernen?
ne Frau bewältigen zu müssen. All diese Rol- noch nicht. Das ist meiner Meinung nach Reinhard: Ja. Deswegen sehe ich mein ak-
len ausfüllen zu wollen, schafft ein unsiche- der Hauptgrund, warum es Frauen heute so tuelles Buch als eine Kampfschrift für auf-
res Ich. schwerfällt, zufrieden zu sein, und warum geklärtes, selbstbestimmtes Denken. Wobei
SPIEGEL: Aber wer fordert das alles ein? viele bis zur Selbstausbeutung, bis zum gerade moderne Frauen aufgrund ihrer Rol-
Reinhard: Es kursiert ein Medienimage, Burnout versuchen, allem gerecht zu wer- lenvielfalt dazu neigen, Denken mit Grü-
Bilder von Frauen, die Laptop, Haus, Kind den. beln zu verwechseln. Sie wollen alles men-
jonglieren, scheinbar mühelos. Außerdem SPIEGEL: Zahlreiche Untersuchungen be- tal in den Griff bekommen, statt ihre Ge-
tragen viele Frauen diese Ich-Muss-Maske legen aber auch, dass Frauen den Mann am hirnkammern frei zu räumen und sich zu
des inneren Antreibers, der sie durch den Herd nicht haben wollen. fragen: Was kann ich ändern, in meinen Be-
Tag peitscht: Frauen wollen im eigenen Um- Reinhard: Richtig. Sie wollen einen flexi- ziehungen, in meinem Alltag, in meinem
feld die Perfekte sein. Je mehr die Frauen blen Typen. Verhältnis zu mir selbst? Wer bin ich ei-
buchstäblich „außer sich“ sind, desto weni- SPIEGEL: Mindestens. Akademikerinnen gentlich, und wofür lebe ich? Das ist für
ger sind sie bei sich. Und desto weniger wünschen sich meist Männer, die viel Geld mich die zentrale Frage, um zur eigenen
NORMAN KONRAD / SPIEGEL WISSEN

können sie verstehen, wer sie sind. verdienen, aber trotzdem häuslich sind und Identität zu kommen, und sie gilt für Män-
SPIEGEL: In der Welt der Männer gab es sich um die Kinder kümmern. Zeigt sich da ner und Frauen.
ja immer einen Konkurrenzkampf um auch eine Geschlechterverwirrung mit fal- SPIEGEL: Sie wünschen sich, dass vor allem
Macht, Erfolg, Geld, Frauen. Glauben Sie, schen Erwartungen: Man will den Partner Frauen Lust und Mut zur Macht entwickeln
dass dieser Kampf nun auch die Frauen so haben wie früher, gleichzeitig aber will statt sich anzupassen. Wie geht das? Wie
erfasst hat? man ihn modern? wird man zur Protagonistin seines Lebens?
Reinhard: Ich denke, es ist komplizierter und Reinhard: Ja, genau. Man darf nicht außer Reinhard: Für mich ist Macht das Vermö-
geht um das, was ich das Zwei-Sphären- Acht lassen, wie sehr uns moderne Bilder gen, seine Beziehungen zu verändern, und

32 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


SELBSTERKENNTNIS

da sind wir wieder beim Ich. Zunächst geht


es um die Beziehung zu mir selbst. Wir sind
nicht mehr gewohnt, die Beziehung zu uns
selbst zu pflegen. Wir kennen uns alle gar
nicht mehr. Macht heißt, eine eigene Bezie-
hung zu mir herzustellen und idealerweise
in Richtung Selbstliebe, Selbstrespekt, kri-
tische Selbsterkenntnis zu lenken.
SPIEGEL: Frauen wird oft nahegelegt, dass
ihr Weg zur Macht über die Schönheit füh-
re. Kann äußere Schönheit helfen, glücklich
zu sein?
Reinhard: Ein attraktiver Mensch hat viel-
leicht einen Startvorteil, aber Glück hat
mehr zu tun mit Persönlichkeit, mit Ent-
scheidungen, die man trifft, mit Erfahrun-
gen, die das Leben an einen heranträgt. Äu-
ßere Schönheit, das zeigen empirische Stu-
dien, hat natürlich Auswirkungen. Men-
schen mit harmonisch-symmetrischen Ge-
sichtern traut man mehr zu, schlanke Ma-
nagerinnen werden besser bezahlt als dicke,
aber mit einem erfüllten, glücklichen Leben SCHLANK
hat das nichts zu tun.
SPIEGEL: Sind Sie eitel? „Es kursiert ein Medien-
Reinhard: Ja, natürlich. Ich interessiere image, Bilder von Frauen,
mich für Mode und für Ästhetik. Es ist für die Laptop, Haus, Kind jong-
mich eine Frage der Haltung, mich selbst lieren, scheinbar mühelos.“
schön zu machen, durch Make-up, durch
einen bestimmten Kleidungsstil. Ich finde,
das bin ich meiner Würde schuldig.
SPIEGEL: Was macht denn einen schönen
Menschen aus? Ein attraktiver Körper, schi- SPIEGEL: Schönheit ohne guten Charakter Reinhard: Das ist die Frage nach den Werten.
cke Kleidung – oder eine lebensbejahende gibt es nicht? Für ein authentisches Leben ist wichtig: An wel-
innere Haltung? Reinhard: Richtig. Die alten Griechen hat- chen Werten will ich mich orientieren? Wenn
Reinhard: Das hängt vom Lebensalter ab. ten dafür den Begriff Kalokagathia, die Ein- ich immer nur das mache, was mir Spaß macht,
Schönheit ist zunächst ein Geschenk an die heit des Schönen, Wahren und Guten. ist das eine sehr unreife, ja pubertäre Form des
Jugend. Ein hübsches Mädchen besticht Schaut man sich etwa die Kandidatinnen Lebens. Meine philosophische Position besagt:
durch seine Jugendlichkeit, selbst wenn es von „Germany’s Next Topmodel“ an, sieht Es ist wichtig, eine Balance zu finden zwischen
sich einen Jutesack überstülpt. Für mich be- man, wie sich diese Mädchen präsentieren: subjektiven und objektiven Werten. Ich glaube,
ginnt wirkliche Schönheit erst ab 40, frü- Sie versuchen immer auch, ihre geistigen für ein gelingendes Leben sind Tugenden wie
hestens. Schöne Frauen mit interessantem und charakterlichen Interessen herauszu- Verantwortung, Hilfsbereitschaft entscheidend.
Gesicht sind für mich etwa die Schauspie- stellen. Offensichtlich lebt das griechische Es kann für uns nicht darum gehen, die Welt so
lerin Hannelore Elsner oder ihre französi- Ideal bis heute weiter. dumm zu verlassen, wie wir sie betreten haben.
sche Kollegin Fanny Ardant. Als Philosophin SPIEGEL: In Ihren Büchern betonen Sie Sondern wir sollten uns nach Maßgabe unserer
glaube ich, auch wenn es trivial klingt, dass immer wieder, dass Zufriedenheit und Möglichkeiten darum bemühen, die Welt ein
Schönheit von innen kommt. Schönheit hat Ausgeglichenheit mit Verantwortung an- bisschen weiser und besser zu machen. Wenn
mit Intelligenz, mit Herzensbildung, mit In- deren gegenüber zu tun haben. Es gibt ja das gelingt, durch immer neues Versuchen und
spiriertsein und Moralität zu tun. Also mit auch Verhalten, das eher unsozial ist, da- Üben, leben wir authentisch im besten Sinne.
einer Haltung, die versucht, Gutes in die für aber sehr angenehm, die Faulheit zum SPIEGEL: Frau Reinhard, wir danken Ihnen
Welt zu tragen. Beispiel. für dieses Gespräch.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 33


B E R U F U N G

Eigentlich bin ich


ganz anders

Werke und Werkzeug: In ihrem Atelier schafft


Ingrid Sonntag detailbesessene Menschenbilder.

Sie war artig, ängstlich und machte die Banklehre,


die von ihr erwartet wurde. Aber in ihr
rumorte die Liebe zur Kunst. Jahrzehntelang.
Die Geschichte einer Selbstfindung.
TEXT SILVIA DAHLKAMP F OTO S KATRIN BINNER

34 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


BERUFUNG

„NEIN!“ Der Vater hatte gesprochen. Und


jetzt stand das Wort im Raum wie eine Mau-
er. Es gab Neins, die waren verhandelbar.
Und es gab Neins, die sagten: Du tust, was
ich dir sage. So ein Nein also. Es war ein Tag,
den Ingrid Sonntag-Ramirez Ponce, 50, nie
vergisst. Das Familienmittagessen, die un-
heilvolle Stille, als zu Hause in Butzbach
nur noch die Löffel zu hören waren, die
übers Porzellan schabten. Niemand sagte et-
was, aber jeder wusste, was die Eltern dach-
ten: Die ist verrückt geworden. So ungeheu-
erlich war ihr Wunsch gewesen.
Mehr als 30 Jahre ist es jetzt her, dieses
Mittagessen. Sie hat vergessen, warum der
Streit so eskaliert war. Vielleicht, weil der
Kunstlehrer ihr 15 Punkte gegeben hatte. 15
Punkte im Leistungskurs, das war damals
wirklich eine Leistung. Der alte Soltau ver-
schenkte keine Noten. Nie. Als er dann auch
noch sagte: Fräulein Sonntag, Sie haben Ta-
lent, ist sie wohl so glücklich gewesen, dass
sie am Esstisch gefragt hat: „Darf ich Kunst
studieren?“ Die Unbefangenheit der Jugend.
Kunst? Der Vater war fassungslos: Und
wovon willst du deine Miete bezahlen? Und
das Essen und das Leben? Viel hatte man
damals ohnehin nicht, in der nördlichen
Wetterau. Deutschland steckte in der Re-
zession. Jeder Zehnte hatte seinen Job ver-
loren. Ordentliche Männer, die immer ge-
schuftet hatten. Und seine Tochter wagte Ihre Arbeiten signiert Ingrid Sonntag mit dem Künstlernamen INK. In
tatsächlich zu fragen: Darf ich malen? Von Großbuchstaben, das trifft ihr Gefühl von Glück und Befreiung.
den alten Meistern wollte er nichts hören.
Dürer, Rembrandt, Vermeer – das waren
Bildchen im Abrisskalender. Diskussion
zwecklos. Also brach Ingrid mit ihrem sen sein soll: „Ich bin selbstbewusst gewor- Spatzen, die im Baum vor ihrem Fenster sa-
Traum und ging zur Bank. In ein solides, den“, sagt sie, „ich kann organisieren.“ Aber ßen. „Ich konnte nie ruhig auf dem Sofa sit-
aber falsches Leben. vor allem: „Es war Schicksal.“ Am ersten zen. Die Bilder mussten einfach raus.“
Fast 20 Jahre sollte sie bei einer großen Lehrtag hat sie ihren späteren Mann ken- An den Wochenenden und im Urlaub ist
Frankfurter Bank verbringen. Damals, nach nengelernt, auch einen Banker. Er hat als sie in Galerien und Museen gepilgert. Und
dem Mittagessen, stürmte sie in ihr Zimmer, Einziger gemerkt, dass die Entscheidung während sie mal wieder in den Gesichtern
hat stundenlang geweint. Abends hatte die nicht richtig war, damals nicht, niemals. auf den Gemälden versank, schlenderte ihr
Vernunft dann den Jungmädchenwunsch be- Und das lag nicht daran, dass das schüch- Mann Santiago weiter und wartete draußen.
siegt. Einser-Abi und Kunst? Der Vater hatte terne Fräulein Sonntag seinen Job nicht gut Manchmal, bis das Museum schloss. Doch
recht. Das passte nicht. Am nächsten Tag gemacht hätte. Im Gegenteil. Sie hat die Aus- an ihrem 40. Geburtstag machte er mit ih-
ging die Bewerbung raus. Als die Zusage bildung frühzeitig beendet, ist schnell auf- rem Doppelleben Schluss.
kam, waren die Eltern froh, und sie war es gestiegen: bis zur Chefin im Auslandszah-
auch. Sie sagt: „Für mich war immer klar, lungsverkehr. Fräulein Sonntag guckte nie INK SCHWEIGT. An der Wand lächelt
dass die Entscheidung richtig war.“ auf die Uhr, sorgte zuverlässig dafür, dass Schorsch, Hochformat, 100 mal 70 Zentime-
Jetzt sitzt sie in ihrem Atelier und ver- die Gelder pünktlich in alle Welt gingen. ter, eine Bleistiftzeichnung, die auf dem ers-
sucht zu erklären, warum sie richtig gewe- Alles perfekt, wenn das zweite Leben ten Blick wie ein Schwarz-Weiß-Foto wirkt.
nicht gewesen wäre, nach Feierabend. Dann Sie hängt in einer ehemaligen Tabakfabrik im
verwandelte sich Ingrid in Ink. So hatten Jossgrund, einem 3600-Einwohner-Ort tief
VIDEO: Auf Umwegen
sie alle schon als Kind genannt, weil sie mit im Spessart. In der Luft liegt ein Geruch ver-
zur Kunst dem Tintenfüller immer Bildchen malte. gangener Tage. Schweiß, Staub, Öl – unde-
spiegel.de/sw012016malerin Abends malte Ink den Granatapfel, den sie finierbar. Hier haben einst Arbeiter Zigarren
in der Mittagspause gekauft hatte. Oder die gerollt, später Stoffe gewalkt. Ein Ort, an

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 35


dem sie sich wohlfühlt. Sie sagt: „Manchmal Damit sie rechtzeitig fertig wird, hat Ink
kann ich es immer noch nicht fassen.“ schon im Januar des ganze Jahr durchge-
Der 20. Februar 2006, ihr Geburtstag: taktet. Für Urlaub ist mal wieder keine Zeit.
Morgens sitzt Ingrid Sonntag mit ihrer Fa- Aber das ist ihr geringstes Problem: „Künst-
milie am Frühstückstisch. Ihr Mann sagt: ler sein ist eben keine Wellness. Ich durfte
„Überraschung, wir haben heute einen Ter- ja erst mit 40 anfangen, muss noch so viel
min in einer Galerie.“ Sie glaubt, er macht aufholen.“ Das Problem ist der Druck. Die
Spaß, aber er meint es ernst. Also klaubt sie Angst, nicht gut genug zu sein. Die Panik,
einige Aquarelle, Zeichnungen und Porträts wenn etwas nicht perfekt ist. Ink glaubt, es
zusammen und kauft auf dem Weg nach kommt aus Kindertagen: „Meine Eltern lob-
Frankfurt noch schnell ihre erste Mappe. ten nur, wenn etwas bombastisch war.“ Es
Die Galerie liegt in der Nähe vom Hotel sollte Ansporn sein. Heute ist es Last und
Hessischer Hof. Die Inhaberin schwebt ihnen Leidenschaft zugleich. Manchmal zerbricht
im Chanel-Kostüm und pastellfarbenen Stie- sie fast daran.
feln entgegen, an ihrer Seite trottet ein kleiner „Ich war wie gedopt,
Hund. Sie ruft überspannt: „Es tut mir so leid, VOR ZWEI JAHREN etwa, da hat Ink in
ich habe doch keine Zeit.“ Ink sieht, wie die
bin vor Glück ihrem Arbeitszimmer gestanden, bis ihre
Mundwinkel ihres Mannes nach unten sinken, fast explodiert.“ Augen tränten und der Arm so schmerzte,
denkt: Was hat er denn erwartet? Aber dann dass sie ihn nicht mehr heben konnte. Tag
kommt alles anders. Die Dame in Chanel heißt und Nacht. Sie steckte in der letzten Phase
Eva-Maria Wild. Sie erinnert sich auch noch eines anderen mehrjährigen Mammutpro-
an den trüben Wintertag, als das Ehepaar ver- jektes. Zur Eröffnung des Kultursommers
legen in ihrer Galerie stand. Sie denkt damals: zeichnet. Tausende Striche übereinander. im Main-Kinzig-Kreis sollten ihre Bilder auf
Schon wieder eine, die glaubt, dass sie malen Hell, dunkel, dunkel, hell. Graphitschicht eine vier mal fünf Meter große Leinwand
kann. Doch sie sagt : „Fünf Minuten.“ legt sich über Graphitschicht. Fast kann man geworfen werden, während der aus New
Aus fünf Minuten werden zwei Stunden. den alten Mann atmen hören. Doch er duckt York eingeflogene Komponist Johan de Meij
Wild ist seit mehr als 35 Jahren im Geschäft, sich weg. Das Bild heißt „Ende“. Ink sagt: seine „Dutch Masters Suite“ dirigierte.
sie vergisst, dass sie eigentlich keine Zeit „Das Ende meines alten Lebens.“ Mehr als tausend Einladungen waren
hatte. Sie blättert und staunt: „Die Bilder Zwei Jahre später erhält sie den ersten schon gedruckt, im Dorf gab es nur noch ein
hatten eine Seele.“ Als die beiden die Galerie Kunstpreis und verkauft gleichzeitig das ers- Thema, und sie war nicht fertig. Im Atelier
verlassen, sagt Santiago zu seiner Frau: „So, te Bild. Heute fragen Galerien an. Im Früh- standen überall unvollendete Werke: eine
jetzt weißt du, was du zu tun hast.“ jahr hat sie eine Ausstellung in den Nieder- Trompeterin mit Pausbäckchen, eine Saxo-
Ink lacht, die Bleistift-Stummel, die sie landen, im Herbst in Bern, im Winter in Ber- fonistin im Dirndl. Viel Mensch, viel Blech,
als Ohrringe trägt, baumeln aufgeregt hin lin. In ihrer guten Stube haben schon Vor- das mit unzähligen Bleistiftstrichen auf
und her, als sie vom schönsten Moment in stände und Schauspieler gesessen und sogar Hochglanz poliert werden musste. Ein Qua-
ihrem Leben erzählt: „Mein Mann hat mir ein Priester aus Manila, der für den Frie- dratzentimeter kostete sie eine Stunde: Ink
die Freiheit geschenkt. Ich war wie gedopt, densnobelpreis nominiert war. Morgen er- hatte die Arbeit unterschätzt, die Hunderte
bin vor Glück fast explodiert.“ wartet sie eine Delegation einer Frankfurter Klappen, Schrauben und Knöpfe machten.
90 Minuten dauerte die Autofahrt von Bank. Ink strahlt. Bis 2019 ist sie ausgebucht. Sie war so gereizt, dass ihre Familie sie
Frankfurt zurück in den Spessart. Ink hörte Aber sie macht nicht nur Auftragsarbei- erst ansprach, als alles vollbracht war. Heute
nicht mehr auf zu reden. In ihrem Kopf war ten. Sie zeichnet auch Menschen, denen sie ist die Panik nur noch ferne Erinnerung. Heu-
alles da. Und jetzt purzelte ein Konzept im Alltag begegnet. Menschen wie Schorsch. te erzählt sie nur noch vom Erfolg und rau-
nach dem anderen aus Schubladen, die bis- Ihn hat sie entdeckt, als er von der Arbeit schendem Applaus: „Mir kamen die Tränen.“
her verschlossen gewesen waren: was sie nach Hause kam. Ein Handwerker aus dem Abends sitzt sie mit ihrem Mann im Gast-
porträtieren, wo sie ausstellen wollte. Und Dorf. Sie hat spontan gefragt: „Darf ich dich hof, ein Mann spricht sie an: „Hi, Ink, alles
vor allem: das erste Bild, das sie mit INK zeichnen? Er hat gesagt: „Ich dusche klar?“ Lausbubengesicht, bekanntes Lä-
signieren würde. schnell.“ Sie hat gesagt: „Nein, so bist du mir cheln. Es ist Schorsch, zehn Jahre älter als
am liebsten.“ Dann hat sie ihn fotografiert, auf der Zeichnung im Atelier. Sie sind Freun-
DIE GROSSE LEBENSFRAGE: „Ist es bei anschließend skizziert. Lachend, lausbü- de geworden, als er sein Bild zum ersten
der Bank nicht viel sicherer?“, hat sie ein- bisch, mit Dutzenden Fältchen, einem Fus- Mal sah. Er hat lange stumm davor gestan-
fach weggewischt. Es war nicht der Tag der selbart und verschwitzten Haaren. den. Sie bekam schon Angst. Dann hat er ge-
Vernunft. Es war der Tag, an dem ihre Zu- 150 Stunden braucht sie für ein Porträt. sagt: „Du hast mich erkannt.“ Das größte
kunft begann – Jahre ohne Urlaub und mit Für Studien wie diese hat sie zahlreiche Prei- Lob. Dafür lebt Ink.
KATRIN BINNER / SPIEGEL WISSEN

Tagen, an dem die Finger so verkrampfen se erhalten. Im Nachbarzimmer steht gera-


würden, dass ihr der Stift aus den Fingern de wieder ein verhülltes Bild. „Wollen Sie
fiel. Egal. Sie wollte nur noch zeichnen. mal sehen?“ Sie lüftet ein Stück vom Stoff. Silvia Dahlkamp hat als Kind Violine im
Kaum zu Hause, hat sie den Tisch im Gäs- Es ist ein Wirt aus dem Nachbarort, er sieht Orchester gespielt. Bei schwierigen
Passagen hat sie den Bogen bewegt, aber
tezimmer frei geräumt und angefangen: Ein aber aus wie Jesus Christ Superstar. Deshalb die Saiten nicht berührt. Heute
Greis vergräbt sein Gesicht in zerfurchte Ar- ist ereine Figur in ihrem nächsten Großpro- bedauert sie, dass sie so vielleicht eine
beiterhände. Seine Haut ist vom Leben ge- jekt, einer Bilderreihe zum Luther-Jahr. musikalische Karriere vergeigt hat.

36 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


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ICH-PERFORMANCE

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ARTWORK: SARAH ILLENBERGER FOTO: SABRINA RYNAS

was du isst ...


38 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016
ICH-PERFORMANCE

haben. Manchmal werden gar Beschwerden


mit anderer Ursache solchen populären
Diagnosen zugeschrieben.
SPIEGEL: Geht es da noch um Gesundheit?
Wir essen, um uns Ellrott: Bei manchen Menschen sicher, auch
um Tierwohl oder Nachhaltigkeit. Immer
zu definieren, inszenieren häufiger geht es jedoch um Selbstinszenie-
rung und Zugehörigkeit.

und optimieren. Warum SPIEGEL: Warum wird Essen so überhöht?


Ellrott: Wir leben in einer Welt, die schwer
überschaubar ist. Gleichzeitig erleben wir
das so ist, erklärt der einen Verlust von tradierten Ordnungssys-
temen wie Religion und Familie. Wir sind
Ernährungspsychologe also auf der Suche nach Identität und nach
Sinn. Die Hauptfrage, die sich Menschen
Thomas Ellrott. heute stellen, lautet: Wer bin ich? Oder bes-
ser: Wer will ich sein? Wie will ich von an-
deren wahrgenommen werden?
SPIEGEL: Und da hilft es, kein Fleisch zu
INTERVIEW BETTINA MUSALL
essen?
Ellrott: Es gibt Dinge, die man kurzfristig
nur schwer oder gar nicht ändern kann. Die
Frage etwa, woran ich glaube, hat viel mit
meiner Herkunft und Familie zu tun, so et-
was kann ich kaum beeinflussen. Auch wie
ich wohne, ist nicht so schnell zu verändern.
Anders ist es mit den Dingen, die wir kon-
SPIEGEL: Vegetarisch, vegan, glutenfrei, sumieren. Welches Smartphone ich habe,
high-carb, low-carb und vor allem alles bio: was ich anziehe, wie mein Körper aussieht
Herr Ellrott, was sagen die Ernährungsstile und wofür ich mich engagiere – das sind
unserer Zeit über die Menschen aus? Facetten eines Ichs, die sich vergleichsweise
Ellrott: Einer der Megatrends heißt Indivi- gut modellieren lassen.
dualisierung. Das Essverhalten „der“ Deut- SPIEGEL: Sofern die finanziellen Mittel
schen gibt es nicht mehr. Es gibt nur noch dafür vorhanden sind.
das Essverhalten jedes Einzelnen von knapp Ellrott: Richtig. Und da trägt die Frage, was
80 Millionen Einwohnern. Und es gibt im- und wie viel ich esse, heute stark zur Iden-
mer mehr Extreme – zum Beispiel Männer, titätsstiftung bei. Denn mein Ernährungsstil
die ihre Männlichkeit über teures Beef in- ist leicht änderbar. Selbst mit einem be-
szenieren. Auf der anderen Seite der Skala schränkten Budget.
die Hardcore-Veganer, auch das können THOMAS ELLROTT SPIEGEL: Früher gab es den Diätwahn.
Männer sein. Häufiger aber sind es Frauen. Ellrott: Zur Identitätsbildung laden Diäten
SPIEGEL: Was ist heute anders als vor 20 leitet das Institut für Ernährungspsy- eher nicht ein. Sie sind ein ziemlich trocke-
oder 50 Jahren? chologie an der Universität Göttingen. nes Mittel zu dem Zweck, Kilos zu verlieren.
Ellrott: Die Pluralisierung der Ernährungs- Der promovierte Mediziner steht Diät ohne Religion, ohne Ideologie funktio-
stile. Das reicht von der sogenannten Stein- auch der Deutschen Gesellschaft für niert für die Sinnsuche nicht. Dafür braucht
zeiternährung oder Paleo-Diät, bei der alles Ernährung in Niedersachsen vor. es einen großen Überbau, wie eben Nach-
so ursprünglich wie möglich sein soll, bis haltigkeit, Klimaschutz oder Tierwohl.
zum Functional Food, also genau dem Ge- SPIEGEL: Wie wird aus einem individuel-
genteil, den künstlich optimierten Nah- len Ernährungsverhalten ein Trend?
rungsmitteln. Am meisten getwittert wird Ellrott: Wir kommunizieren Zugehörigkeit
derzeit über Vegetarismus und vor allem heute anders. Früher war es etwa wichtig,
Veganismus. Aber Paleo und Kobe-Rind, zu welchem Sportverein ich gehöre oder
also extrem hochwertiges Fleisch, sind auch welches Auto ich fahre. Heute signalisieren
weit vorn. Und die gefühlte Laktose- oder die digitalen Tattoos Zugehörigkeit.
Gluten-Unverträglichkeit gehört ebenfalls SPIEGEL: Digitale Tattoos?
FRANZ BISCHOF / LAIF

zu den Hotspots. Ellrott: Selbstbilder, die sich digital kommu-


SPIEGEL: Was heißt „gefühlt“? nizieren lassen. Essen eignet sich ganz her-
Ellrott: Solche Leute meinen, es sei gesün- vorragend als digitales Tattoo.
der, auf Laktose oder Gluten zu verzichten, SPIEGEL: Der Schnappschuss von meinem
auch ohne eine entsprechende Diagnose zu perfekt arrangierten Teller ...

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 39


ICH-PERFORMANCE

„Der individuelle Ernährungsstil


wird gnadenlos überhöht.“
Ellrott: ... oder die Facebook- oder Twitter- ganzen Tag mit der vermeintlich korrekten
gruppe oder der Blog, in dem Veganismus Ernährung beschäftigt und darüber den be-
oder Paleo-Diät inszeniert werden. Von all ruflichen Pflichten und sozialen Kontakten
den Dingen, die das Ich ausmachen, hat Es- nicht mehr nachkommt, liegt tatsächlich die
sen den großen Charme, gut modellierbar Diagnose einer Essstörung nahe.
zu sein. So kann ich mich selbst definieren, SPIEGEL: Ist die Individualisierung der Er-
mich in einer bestimmten Haltung sehen nährungsstile ein Wohlstandsphänomen? SPIEGEL: Eigentlich das Gegenteil von
und zeigen. Ich kann mich zugehörig fühlen, Ellrott: Es setzt eine gewisse materielle Aus- Authentizität.
zugleich von anderen absetzen und damit stattung voraus, sich nach ethischen und Ellrott: Der Einzelne definiert, was seine
Individualität generieren. politischen Überzeugungen zu ernähren. In Authentizität ausmacht.
SPIEGEL: Was drückt sich beispielsweise unserer Gesellschaft geben wir mal gerade SPIEGEL: Könnte daraus eine Gesellschaft
in der Zugehörigkeit zu Vegetarismus oder zwölf Prozent dessen, was wir finanziell zur aus kulinarischen Egomanen werden?
Veganismus aus? Verfügung haben, für Essen aus. In anderen Ellrott: Nicht unbedingt. Es ist heute schon
Ellrott: Da gibt es jede Menge positive Kon- Weltregionen geht es erst mal um Nahrungs- erkennbar, dass wir uns parallel danach seh-
notationen. Selbstdisziplin, Engagement, kalorien, egal woher. Die können nix opti- nen, durch gemeinsames Essen mit anderen
Rücksichtnahme, Tierschutz, vielleicht mieren, die müssen sehen, dass sie ihr täg- Bindungen zu stabilisieren. Essen stellt so-
auch Klimaschutz, Verantwortung, also et- lich Brot auf den Tisch bekommen. zialen Kitt dar. Facebook kann oberflächlich
was frech ausgedrückt: ein Besser-Men- SPIEGEL: Wir zeigen durch unser Essver- Zusammengehörigkeit erzeugen, aber ge-
schentum. Darum ist es so attraktiv, sich halten, zu welcher sozialen Schicht wir ge- meinsames Essen schafft ein tragfähigeres
dazu zu bekennen. hören? soziales Netz. Erlebnisessen am Wochen-
SPIEGEL: Und wer nicht mitmacht? Ellrott: Essen hatte immer auch mit Zu- ende mit Freunden zu zelebrieren ist ein ge-
Ellrott: Da sind wir mitten in den Religions- gehörigkeit und Wohlstand zu tun. In den meinschafts- und sinnstiftendes Szenario.
diskussionen des Mittelalters. Für die christ- Überflussgesellschaften kann heute fast je- SPIEGEL: Wohlfühlessen analog?
lichen Missionare waren die Heiden die der fast alles auf den Tisch bringen. Da Ellrott: Genau, was ja nicht heißt, dass man
schlechteren Menschen. Die mussten be- braucht es andere Maßnahmen, um sich von die Bilder davon nicht auch postet. Und es
kehrt werden. Das erleben Leute, die heute der Masse abzugrenzen. Mit Selbstkas- gibt noch einen Trend, der in diese Richtung
noch Fleisch essen, teilweise auch. Der in- teiung kann man zum Beispiel zeigen, wie weist: Betriebsverpflegung. Unternehmen
dividuelle Ernährungsstil wird gnadenlos konsequent man isst – und ist. setzen das gemeinsame Essen zur Teambil-
überhöht. Je mehr man das zum eigentli- SPIEGEL: Durch Selbstkasteiung zur Selbst- dung und Wertschätzung ein. Da geht es
chen Sinn des Lebens macht, umso mehr verwirklichung? nicht mehr um die Kalorien, sondern um
idealisiert man es auch als Wert, das kann Ellrott: Das ist nur eine Facette. Außerdem – das sozial verbindende Element.
dann zur Quasi-Religion werden. und das ist wirklich völlig anders als früher – SPIEGEL: Und um die Gesunderhaltung der
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich eine solche muss das ja nicht heißen, rundum Verzicht Belegschaft.
Hysterie? zu üben. Wenn ich mich früher zum Vega- Ellrott: Natürlich. Bei Selbstoptimierung
Ellrott: Vegetarismus oder Veganismus sind nismus bekannte, hieß das automatisch: denken die meisten an körperliche Optimie-
ja per se nicht schlecht, aber manche An- Fahrrad fahren statt Auto, Bahn fahren statt rung. Aber gemeint ist auch Leistung im All-
hänger suchen vor allem eine Ordnungs- fliegen, wenn man überhaupt reiste, ge- tag und im Beruf. Schon heute wird das Es-
struktur und finden sie in einem Essverhal- brauchte statt neuer Kleidung kaufen. Heute sen daraufhin überprüft, ob ich dadurch pro-
ten, das ihnen plötzlich Sinn und Halt gibt. zeigen Studien, dass der Verbraucher einen duktiver werde, weniger schlafen muss und
Und wem die individuelle Entscheidung nie gekannten Wankelmut an den Tag legt. besser denken kann: eine Art Hirndoping
nicht reicht, der wird zum Missionar und SPIEGEL: Zum Beispiel? durch optimierte Ernährung.
ARTWORK: SARAH ILLENBERGER FOTO: SABRINA RYNAS

verurteilt andere. Ellrott: Jemand trägt ein T-Shirt mit der SPIEGEL: Wird ein individueller Ernäh-
SPIEGEL: Eignet sich die intensive Beschäf- Aufschrift „I am vegan“ und fährt einen rie- rungsstil zum neuen Statussymbol?
tigung mit dem eigenen Ernährungsstil, um sigen Pick-up-Truck. Ich kenne einen Vega- Ellrott: Das zeichnet sich gerade ab. Selbst-
dahinter eine Essstörung zu verstecken? ner, der flog einmal First Class nach Hawaii verständlich wird es auch in Zukunft Men-
Ellrott: In der Fachwelt wird diskutiert, ob und zurück, nur um sich seinen Vielflieger- schen geben, die einfach nur günstig satt
extreme selbstoptimierende Ernährungs- status zu sichern. Mit diesem Flug bläst er werden wollen. Aber wenn Lebensmittel
arten in Einzelfällen eine Form von Essstö- mehr CO2 in die Luft, als ein durchschnitt- durch höhere Qualitätsanforderungen, fai-
rung annehmen können, im Sinne einer Or- licher Deutscher in einem ganzen Jahr pro- reren Handel, bessere Ressourcenschonung
thorexia nervosa, der krankhaften Beschäf- duziert. An Bord bestellte er das vegane teurer werden, kann ein entsprechender
tigung mit der richtigen Ernährung. Ent- Menü. Das ist eine neue Individualität, die Ernährungsstil für diejenigen, die es sich
scheidend ist der Grad der Beeinträchti- eine fundamentale Inkonsistenz im Verhal- leisten können, zum neuen Distinktions-
gung. Wenn sich jemand zwanghaft den ten erlaubt. merkmal werden.

40 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


Z A H L E N

3,50
Euro kostet durch-

22
schnittlich bei
einer Haartrans-
plantation in
Deutschland jeder Prozent der Deutschen nutzen einer Um-
einzelne „Graft“ frage der Krankenkasse IKK Classic zufol-
(verpflanzte Haar- ge Apps auf ihrem Smartphone, um ihre
wurzel mit Haar). Gesundheitswerte zu kontrollieren.

52
36,1
Prozent der deutschen Frauen sind
unzufrieden mit ihrem Äußeren.
.
Prozent aller
Deutschen sagen:

700
„Ich treibe keinen
Sport und möchte
auch in Zukunft

95
Jahre v. Chr. finden sich die ersten Spuren nicht damit
der Yoga-Tradition in Indien. anfangen.“

Prozent der Frauen behaupten, sie


würden eine Botox-Behandlung nie in
Betracht ziehen.

49 7,5
23
Menschen sind seit Jahre lebt man laut
MAREN AMINI / SPIEGEL WISSEN

2014 laut einer einer US-Studie der


Medienumfrage Universität Miami
Prozent der umgekommen beim und Harvard mit
deutschen Frauen Versuch, ein Selfie einer positiven
haben Angst davor, von sich zu schie- Einstellung zum
auszusehen wie ßen – mehr Tote als Altern im Durch-
ihre Mutter. durch Haiangriffe. schnitt länger.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 41


SELBSTDEFINITION

„Baby,
I was
not
born
that
way“
42 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016
SELBSTDEFINITION

Transgender-Menschen identifizieren sich nicht


mit ihrem biologischen Geschlecht. Sie kämpfen darum,
so authentisch zu leben wie alle anderen.
TEXT MARKUS DEGGERICH F OTO S JOSEPH WOLFGANG OHLERT

DIETER RITA SCHOLL kommen die ist zu hundert Prozent Mann oder Frau“, Geschlechtsmerkmalen, geht als Mann
Tränen. Er sitzt da und folgt dem Flimmern sagt der in Berlin lebende Fotograf Joseph durchs SchwuZ. Er ist stolz auf den Laden,
des Dokumentarfilms im Berliner Klub Wolfgang Ohlert. Was macht eine Frau zu die Freiheit, die sie hier leben. Auf der Büh-
„SchwuZ“. Sieht die Bilder und hört die einer Frau? Einen Mann zu einem Mann? ne steht gerade Kaey und singt lustvoll, las-
Lieder aus dem Siebzigerjahre-Dokumen- Sind es unsere Geschlechtsmerkmale? Das ziv: eine Transfrau. Sie arbeitet bei einem
tarfilm „Leben wir unser Leben“. In einem Blau und Rosa, in das uns unsere Eltern klei- Berliner Stadtmagazin und hat den Fotogra-
Lied heißt es: „Ihr habt uns ein Gefühl deten? Das Spielzeug, das sie uns schenk- fen Ohlert bei seinem Projekt begleitet. Sie
geklaut.“ Das ist für Dieter Rita immer noch ten? Wer eigentlich, außer einem selbst, hat steckt tief in der LGBTQIA-Community
so. Selbst nach all den Jahrzehnten, in denen das Recht zu sagen, was man ist? Diese Fra- Berlins. LGBTQIA ist eine Abkürzung
er als Künstler für die Rechte von Transgen- gen stellt Ohlert in seinem Fotoband „Gen- aus: Lesbian – Gay – Bisexual – Transgender
der-Menschen gekämpft hat. Er ist jetzt 63 der as a Spectrum“. Zwei Jahre lang hat der – Queer – Intersex – Asexual – Ally.
Jahre alt, kennt die Hochs und Tiefs. Künstler Transgender-Menschen auf der Kaey kann auch laut lachen über die Be-
In den Siebzigern eroberten sie als Eman- ganzen Welt abgelichtet. Sie alle erzählen griffsverwirrung, aber es ist ihr bitter ernst,
zipationsbewegung große Bühnen mit Ka- im Buch ihre Geschichten, mit denen Ohlert wenn sie über die Frage von Identität, Au-
barett und Gesang, in den Achtzigern hat er Normen und Geschlechter infrage stellt. thentizität forscht. Sie ist es leid, als exoti-
unzählige Weggefährten an das HI-Virus scher Schmetterling betrachtet zu werden.
verloren, in den Neunzigern war er so was ES IST UNFASSBAR KOMPLIZIERT, Sie hat alles gelesen über Kulturen, in denen
wie ein Star, drehte mit Dieter Wedel, war durch das gängige Leben zu gehen, wenn es sechs Geschlechter gab, die besondere
gut gebucht. Und jetzt sitzt er doch wieder klassische Geschlechtszuweisungen nicht Rolle, die Transgender-Menschen spielten,
da und fühlt sich manchmal wie am Anfang. passen. Es beginnt bei den Formularen aller als „Two-Spirits“ bei Indianern zum Bei-
„Es ist immer noch so“, sagt er später an der Ämter, die nur Mann oder Frau kennen, und spiel. Dort waren sie nicht die „Abartigen“,
Theke, wo sich aufgedonnerte Dragqueens landet meist in zermürbenden oder befrei- sondern etwas Besonderes, als Schamanen
vorbeiquetschen: „Wir sollen uns rechtfer- enden Gesprächen mit den Eltern. Der Hang oder Menschen mit besonderen Fähigkeiten.
tigen für unser Ich-Sein, unsere Identität.“ zur schrillen Selbstdarstellung, die wir ver- Dort wurde nicht klassifiziert wie in der
Hört das nie auf? kitscht und medial potenziert wahrnehmen, Neuzeit: „Geschlecht und Sexualität sind
Und wann beginnt es? wenn Conchita Wurst zum Eurovision Song eben etwas völlig Verschiedenes“, sagt sie.
Für Menschen, die mit männlichen Ge- Contest antritt, ist eine Antwort auf Aus- „Queer“ bedeutete einst „seltsam, wun-
schlechtsmerkmalen geboren werden, aber grenzung durch stilles Belächeln oder ge- derlich“ und wurde gern als abwertende Vo-
als Frau durchs Leben gehen, oder umge- waltbereite Negierung. „Transgender als kabel für Homosexuelle verwendet. Heute
kehrt, oder beides, oder irgendetwas dazwi- Freakshow, so ertragen wir wohl noch, was sind alle stolz auf ihr „Queer-Leben“, die
schen, ist die Zahl der Begriffe so groß wie uns verunsichert“, sagt Ohlert. sich nicht in Kategorien der sexuellen Ori-
die Unsicherheit der Mehrheitsgesellschaft Im Berliner SchwuZ treten in dieser entierung oder der Geschlechtsdefinitionen
im Umgang mit ihnen. Aktivisten der Szene Nacht unter anderen auf: Pralina Doloris Or- pressen lassen wollen. Sie haben den Begriff
händigen Journalisten vor Treffen mittler- gasma, Lisl Arschfick und Miss Pünktchen. für sich erobert. Warum nicht noch mehr?
weile Wörterbücher aus, um Missverständ- Es hat was von Karaoke, aber auch was von Auffallen, irritieren, Lust leben, scheint oft
nisse zu vermeiden – oder auch Verletzun- den Zwanzigerjahren, als sogenannte Kesse das einzige Motto der sogenannten Queer-
gen. Väter hip waren und in der Folge seit Anfang Partys. Aber das stimmt nicht.
Nach Lektüre solcher Leitfäden ist man der Dreißigerjahre die Diva Marlene Die- Die Frage, was authentisch ist am Ich,
meist noch verunsicherter, aber nach der trich eine Ikone der Grenzgänger zwischen hängt eben nicht nur ab vom Geschlecht
Begegnung mit den Menschen und ein paar den Geschlechtern wurde. oder der Sexualität. Ohlerts Bilder transpor-
Nächten oder Tagen offenbart sich ein Kos- „Die vielen Kunst- oder Künstlernamen tieren bei aller schillernden, provozierenden
mos, den man nicht mehr verlassen kann, von Transgender-Menschen sind eine Ant- und suchenden Verletzlichkeit schlicht ei-
ohne sich zu fragen: Was bin ich? „Niemand wort auf die Schematisierung“, sagt LCava- nes: den Stolz aufs eigene Ich.
liero, künstlerischer Leiter des SchwuZ. Ein
bunter Protest. Wer die körperliche Anpas-
Markus Deggerich fühlt sich wohl mit sich,
BUCH sung will an seine Identität, braucht Opera-
wenn er für seine Frau Bœuf Bourguignon im
tionen oder Hormontherapien. Das geht in
Topf schmurgelt, den sie ihm geschenkt hat,
JOSEPH WOLFGANG OHLERT: der Regel nicht ohne ärztliche Begleitung. seine Kinder sein Püree vom Teller kratzen
„Gender as a Spectrum“. „Du musst dich für krank erklären lassen“, und Sting dazu singt: „How Fragile We Are“.
JWO_studio; 304 Seiten; 48 Euro. sagt LCavaliero. Er, geboren mit weiblichen markus.deggerich@spiegel.de

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 43


SELBSTDEFINITION

„Ich lebe die Uneindeutigkeit“

▲ Dieter Rita Scholl, 63, freischaffende(r) KünstlerIn Das verunsichert und verängstigt oft andere Menschen. Doch ich
JOSEPH WOLFGANG OHLERT

lasse alle Strömungen in mir leben und versuche, nichts davon


„Ich definiere mein Geschlecht als Mann und Frau und ALLES abzutöten.
dazwischen. Meine geschlechtliche Identität hat sich entwickelt Das KIND ist immer da. Der MANN ist immer da. Die FRAU ist im-
durch Experimentieren und Erfahrungen. Ich möchte immer SUB- mer da. Inzwischen auch die GREISIN? Der GreisIN? Meine Se-
JEKT meines Lebensentwurfs sein und habe mich schon sehr früh xualität ist vielschichtig: heterosexuell erzogen und geprägt, schwul
zum INDIVIDUUM entwickelt. Ich lebe die UNEINDEUTIGKEIT. ausgelebt, lesbisch gefühlt, transsexuell ersehnt.“

44 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


SELBSTDEFINITION

„Ich definiere
mich als männlich, aber
nicht als ‚Mann‘“

▼ Kay P. Rinha, 31, Sozialpädagoge


und Drag-/Burlesque
Performer_in

„Ich definiere mich als männlich, aber


nicht als ,Mann‘. Geschlecht ist mehr als
das, was du mit einer Unterhose bedecken
kannst. Also sei kreativ, und finde dich
selbst! Anhand von gesellschaftlichen Bil-
dern und Stereotypen, die oft an körper-
lichen Merkmalen, der Stimme, Verhalten,
Kleidung und Chromosomensätzen fest-
gemacht werden. Durch Ausprobieren,
Hinfühlen, Hinterfragen und Verändern
bin ich zu dem geworden, der ich jetzt bin.
Und auch das wird vielleicht nicht der
letzte Stand der Dinge sein, sondern sich
stetig weiterentwickeln.
Ich möchte, dass Leute durch meine Per-
formances angeregt werden, über Ge-
schlecht und dessen Konstruktion nach-
zudenken. Ansonsten nutze ich Kleidung
und andere Hilfsmittel, um Geschlecht(er)
darzustellen. Außerdem nehme ich Hor-
mone, um meinen Körper in eine für mich
stimmige Richtung zu verändern. Ansons-
ten habe ich das Glück, ein Stück weit ,be-
rufstrans*‘ sein zu dürfen und mich neben
dem künstlerischen auch im sozialpäda-
gogischen Bereich mit Menschen zum
Thema Geschlechterdiversität austau-
schen zu können.“ „Jetzt bin ich ein schwuler
Mann mit Brüsten“

▲ Ryan Stecken, 29, tagsüber Anzeigenverkäufer,


nachts Drag-Boywunder

„Für mich ist Geschlecht etwas Fließendes. Menschen können sich überall zu jeder
Zeit auf dem Geschlechterspektrum bewegen. Das Problem ist, dass unsere Gesell-
schaft uns diktiert, was als ,weiblich‘ oder ,männlich‘ definiert wird. Am Ende ist das
alles Blödsinn. Menschen sind Menschen. Zum Anfang habe ich den Begriff Boytunte
benutzt. Tunte ist, gerade auch in Berlin, ein Begriff für politische Dragqueens. Es
gab aber noch kein Äquivalent. Solche wie mich nannte man einfach Dragkings. Als
das habe ich mich aber nicht gesehen, sondern tatsächlich eher als eine Tunte. Da
habe ich mir einfach meinen eigenen Begriff ausgedacht. Momentan benutze ich den
Begriff ,dragalienclownslut‘.
In letzter Zeit bin ich mit meinem Look sehr experimentierfreudig und kreativ ge-
worden. Ich will nicht einfach hübsch aussehen. Man soll sich irgendwie unwohl füh-
len, wenn man mich betrachtet, so ähnlich wie bei einem Clown oder einem Alien. Ich
habe nie wirklich irgendwo hingepasst. Meine Mutter hat sich immer beschwert, dass
ich nicht feminin genug bin, während ich immer das Gefühl hatte, ich bin einer von
den Jungs. Irgendwann habe ich dann viel Zeit mit schwulen Freunden verbracht und
mich komplett mit ihnen identifiziert. Jetzt bin ich ein schwuler Mann mit Brüsten.“

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 45


SELBSTDEFINITION

„Als Transe kann man sich vor


Angeboten kaum retten“

▼ Linda Pearl, 43, Friseurin und Stylistin

„Ich bin ein Zwischenwesen. Ich bezeichne mich nicht als transsexuell und im falschen
Körper geboren. Ich bin eine Transe, und ich werde auch immer eine sein. Hätte Gott
gewollt, dass ich eine Muschi habe, hätte er sie mir gleich gegeben. Zu 80 Prozent bin
ich eine Frau, aber 20 Prozent sind immer noch prollig. Das muss ich akzeptieren,
und das wird sich nicht ändern lassen. Ich habe gemerkt, dass ich als dicker, schwuler
Junge nicht ankomme, sondern viel besser als Frau. Mein Umfeld hat mich dabei un-
terstützt, und mein Exmann hat mir meine Operationen und die Laserbehandlung
finanziert. Hormone habe ich auch schon immer genommen. Jetzt gerade bin ich
dabei, die Namensänderung zu beantragen.
Momentan bin ich Single. Aber ich hatte stets Beziehungen. Vom Computernerd bis
zum Schwerstverbrecher war alles dabei. Als Transe kann man sich vor Angeboten
kaum retten. Wäre ich Prostituierte, würde ich haufenweise Geld verdienen können. „Mein Geschlecht
Meine letzte Beziehung mit einem Schweizer war wie jede andere Beziehung auch.
Aber zu seinen Eltern hätte er mich nie mitgenommen. Alles passierte hinter vorge-
definiere ich“
haltener Hand. Oft ist es so, dass Heteros mit Transen Sex haben, weil sie nicht als
schwul gelten wollen. Falls sie erwischt werden, können sie immer noch sagen, das ▲ LCavaliero Fridel Wildroserich, 35,
sie Sex mit einer Frau hatten. Es ist nicht so, dass ich total darauf versteift bin, als künstlerische Leitung im SchwuZ,
Frau wahrgenommen zu werden. In meinem Kiez wissen alle, dass ich eine Transe DJ, Aktivist
bin, und das ist auch völlig okay. Klar gibt es auch Probleme, und Leute machen
dumme Kommentare. Aber ich bin in Berlin-Kreuzberg groß geworden und auch „Wenn ich gefragt werde, sage ich: ,Ich bin
ziemlich schlagfertig. Meine Freunde sagen zwar, ich bin jetzt mittlerweile so weiblich, Trans*, bitte verwenden Sie das männliche
dass es keiner mehr merkt. Aber wenn ich durch die Straßen gehe, achte ich schon Personalpronomen. Danke!‘ Außerdem
drauf, wie die Leute auf einen reagieren. Ich schreie zurück und schmeiße mit der nutze ich Trans*männlich, Trans*gender,
Handtasche, wenn mir jemand dumm kommt. In meinem persönlichen Umfeld hatte Trans*mann, genderqueer, tuntig. Ich de-
ich immer Glück, Leute zu kennen, bei denen ich so sein kann, wie ich bin. Für andere finiere mein Geschlecht als eindeutig flam-
Menschen, die auf einem Dorf wohnen, ist das wahrscheinlich schwieriger.“ boyant und herrlich verwirrend. Letzteres
zumeist für das Selbstverständnis des
Trans*-unbefleckten Drumherums und
sehr selten nur für mich persönlich. Kein
Produkt der Biologie. Ein Produkt meiner
Geschichte/meines Lebens. Momentane
Lebensweise hat keine Garantie auf End-
gültigkeit. Baby, I was not born that way!
Tätigkeiten einer Person werden auf Teu-
fel komm raus als ‚männlich‘ oder ‚weib-
lich‘ interpretiert, um die beobachtete Per-
son dann in eine der beiden Boxen ‚Mann‘
oder ‚Frau‘ zu pressen. Diese Interpreta-
tionen dienen dann als ‚Beweise‘ des ‚ech-
ten‘ Geschlechts und legitimieren eine Be-
wertung der geschlechtlichen Identität der
Person. Ohne gehört zu werden, fremd-
definiert zu werden – ob gut gemeint, oder
nicht –, ist übrigens ignorant und nervt.
Denn wer außer mir weiß am besten, wer
oder was ich bin? Und beweisen muss ich
das schon gleich gar nicht. Das ist absurd.
Mein Geschlecht definiere ich.“
JOSEPH WOLFGANG OHLERT

VIDEO:Ohlert über sein


Dragqueen-Fotoprojekt
spiegel.de/sw012016ohlert

46 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


Und so geht das weiter. Die Forscher sind
gewissermaßen im Nettozustand: angeschla-
gen und abgebrannt, gründlich verdreckt,
Nell ist verletzt und in keiner appetitlichen

LIEBLINGSBUCH
Verfassung, man muss sie sich grau-grünlich
vorstellen, ausgemergelt und meistens am
Umkippen, kurz: sehr nah am authentischen
Ich, bei dem das Drumherum nicht mehr
von Bedeutung ist.
Was die Schriftstellerin Birgit Vanderbeke Ihr Mann kapiert offenbar nicht viel von
der Feldforschung und von seiner Frau, und
als Lektüre zum Heftthema empfiehlt natürlich kommt Fen nicht damit klar, dass
Nell Erfolg hatte, und er hatte bisher keinen
Erfolg, das quält ihn so, dass er zum Schluss
des Romans etwas ganz und gar machomä-
ßig Grässliches tut, womit er in die Ge-
schichte der Anthropologie Einzug halten
möchte, und dabei geht er über Leichen und
ist jämmerlich, dass einem schlecht wird.

GENAUER GESAGT geht er über eine


Leiche, die von Xambun, einer geheimen
Hauptfigur des Romans, die zum Stamm der
Tam gehört, und da sind wir mitten in den
anderen literarischen Unmöglichkeiten die-
ser Geschichte: Es wimmelt nur so von un-
aussprechlichen Stämmen und Namen und
Formeln, die man sich so wenig merken
kann wie die Namen bei Tolstoi, und außer-
dem sind die meisten auch noch erfunden.
Wenn davon mindestens fünf oder sechs
pro Seite vorkommen, weiß jeder Lektor, dass
das den Leser auf jeden Fall stört. Nur stört
mich das gar nicht. Ich folge Lily King in ihren
DREIECKSGESCHICHTEN sind guter Männer auf sie fliegen und es existenziell Abenteuerroman, der bis in die dreckigsten
Stoff, sofern es nicht um simple Seiten- wird. Lumpen und Zehenspitzen ihrer Helden vom
springerei geht. Besonders guter Stoff sind In „Euphoria“ ist die Frau ziemlich gut. Verhängnis des letzten Jahrhunderts getränkt
die Jules-et-Jim-Konstellationen, die na- Sie heißt Nell Stone, ist von fern der Ethno- ist, von unserem Verhängnis, der angeschla-
türlich davon leben, dass die Frau zwischen login Margaret Mead nachempfunden, vor genen Zivilität, ihrer Kaputtheit und Ver-
den Männern ziemlich gut sein muss, viel- nicht allzu langer Zeit weltbekannt gewor- stricktheit in den Irrsinn der Herrschsucht,
leicht nicht unbedingt wie Jeanne Moreau, den und mit ihrem Mann Fen Anfang der die alles plattmacht, und natürlich hat mein
aber doch immerhin so gut, dass zwei Dreißigerjahre in Neuguinea unterwegs, Lektor recht: Das geht gar nicht, also kriegen
um die Sitten und Gebräuche dortiger Stäm- wir nicht mal ein Happy End, nur diesen ei-
me zu studieren, als ein dritter Wissen- nen Moment aus dem Titel.
schaftler ins Spiel kommt, Andrew Bankson, Und ein Gedicht über die Liebe, das heu-
OLIVER SCHWARZWALD / SPIEGEL WISSEN, PETER PEITSCH

und die Erzählung übernimmt mit dem er- te kaum jemand kennt.
munternden Bekenntnis, dass er sich drei Es steht nicht im Buch drin, aber sie re-
Tage zuvor im Fluss zu ertränken versucht den drüber. Von Amy Lowell. Es geht so:
habe. Dekade
Spätestens hier, zu Beginn des zweiten Als du kamst, warst du wie
Kapitels, würde mein Lektor einschreiten, Rotwein und Honig,
B I R G I T VA N D E R B E K E weil ja nicht einfach nach dem ersten Kapi- Und dein Geschmack brannte
tel, in dem es gar keinen Erzähler gibt, eine meinen Mund mit seiner Süße.
schreibt über den hoch gelobten Roman „Eu- Person daherkommen und die Geschichte Jetzt bist du wie Brot am Morgen,
phoria“ (2015) der amerikanischen Autorin als Icherzählung fortführen kann, nachdem Weich und angenehm.
Lily King. Vanderbekes neuer Familienroman sie schon ihren eigenen Selbstmord nicht Ich schmecke dich fast gar nicht, denn
„Ich freue mich, dass ich geboren bin“ er- auf die Reihe gekriegt hat. ich kenne deinen Geschmack,
scheint am 1. März. Das geht gar nicht. Aber die Nahrung ist vollkommen.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 47


48
SPIEGEL WISSEN
1 / 2016
FOTOGRAFIE: RENÉ FIETZEK, COLLAGEN: ANNIKA LISCHKE FÜR SPIEGEL WISSEN
2

WEGE ZU MIR

Ganz ich selbst sein können. Traurig. Albern. Wütend.


Schwach. Oder voller Liebe. Wer seinen inneren Ein-
klang findet, kann sein Leben enorm bereichern. Nur:
Wie lernt man, sich so zu akzeptieren, wie man ist?

„Wenn etwa Menschen in Blogs „Wir haben beschlossen, dass „Kinder sollen zwar ehrlich
über sich schreiben, dann wir uns gegenseitig immer sein. Und gleichzeitig
produzieren sie vielleicht keine sagen, was wir denken und von- bekommen sie eingeimpft, sich
literarisch wertvollen Texte, einander halten. Natürlich an Normen und Regeln zu
aber sie verständigen sich über darf man auch nicht alles zer- halten, um innerhalb der
ihr Leben und über reden, aber wir haben genau das Leitplanken der Gesellschaft
das, was es ihnen bedeutet.“ richtige Maß gefunden.“ funktionieren zu können.“

Thomas Macho, Kulturhistoriker Tim Ludwig, Musiker Rainer Niermeyer, Karrierecoach


Seite 50 Seite 52 Seite 68

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 49


I C H W I L L

„Leben und was es bedeutet“


D E R B E R L I N E R K U LT U R H I S TO R I K E R T H O M A S M AC H O Ü B E R D I E A R B E I T
A M S E L B S T U N D D I E G E FA H R E N D E R O P T I M I E R U N G

SPIEGEL: Herr Macho, wir wollen fitter, dersetzen, sich Mit-sich-Beschäftigen, Bil- bei vielen neuen Entwicklungen passiert
schöner, perfekter sein. Ist die Arbeit am der-von-sich-Produzieren, all das hat eine eben auch viel Unfug.
Selbst zum kollektiven Trend geworden? positive Qualität. Wenn etwa Menschen in SPIEGEL: Wo sehen Sie die Gefahren der
Macho: Ja, in den westlichen Gesellschaften Blogs über sich schreiben, dann produzieren Selbstoptimierung?
ist sie ganz sicher zum Trend geworden, be- sie vielleicht keine literarisch wertvollen Macho: Es gibt inzwischen Geräte, die do-
fördert durch die sozialen Medien und das Texte, aber sie verständigen sich über ihr kumentieren, wie viel man für die eigene
Internet. Diese Entwicklung kann man kri- Leben und über das, was es für sie bedeutet. Gesundheit tut. Auf diese Weise produziert
tisch beurteilen, ich finde sie eher interes- SPIEGEL: Also eine positive Form der man Daten über sein Leben, erste US-Versi-
sant. So zeigen Studien, die der Philosoph Selbstvergewisserung? cherungen denken bereits darüber nach, auf-
Michel Foucault in seinem Spätwerk ange- Macho: Ja, Selbstvergewisserung für die grund dieser Nachweise die Beiträge zu sen-
stellt hat, dass schon in der Antike Eliten in- breite Masse. Der Prozess hat im 19. Jahr- ken. Das kann im Umkehrschluss bedeuten:
tensive Körperpflege und Techniken der hundert begonnen durch die Alphabetisie- Wer für seine Gesundheit nicht ausreichend
Selbstformung praktiziert haben. rung, jetzt entsteht durch die Digitalisierung viel tut, dessen Prämien werden erhöht oder
SPIEGEL: Sie sehen darin einen Fortschritt? etwas Neues. Wir sollten diese Formen der Leistungen werden nicht mehr gewährt. Da-
Macho: Ich sehe darin eine Form der De- Selbstdarstellung und Selbstoptimierung rin sehe ich durchaus eine Gefahr, die vielen
mokratisierung: dieses Mit-sich-Auseinan- nicht als kulturellen Verfall sehen. Doch wie Benutzern nicht klar ist.

AUF DE R Z IE LGER A D EN
D I E T R AG I KO M Ö D I E „ D E R G E I L S T E TAG “
E R Z Ä H LT VO M L E T Z T E N G R O S S E N A B E N T E U E R .

EIGENTLICH SIND SIE SCHON SO GUT WIE TOT. Andi (Matthias Schweighöfer)
und Benno (Florian David Fitz), beide Mitte dreißig, lernen sich in einem Sterbehospiz
kennen – und stellen fest, dass sie ihre erlöschenden Lebenslichter noch einmal richtig
anfachen wollen. Der geilste Tag des Lebens, so ihre Devise, ist der letzte Tag vor dem
Tod. Die Tragikomödie, bei der Fitz auch Regie führte, jagt seine beiden Helden mit Höchst-
geschwindigkeit über die letzte aller Zielgeraden. Ein schöner Traum, zu schön, um wahr
zu sein, gewiss, diese Geschichte von einem rasanten und erfüllten Ende. Slapstick im An-
gesicht des Todes ist grenzwertig, aber auch befreiend. Ein Film für Menschen, die noch
Zeit haben, endlich nachzuholen, was sie bislang versäumt haben. Kinostart 25. Februar

50 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


Helfen hilft
den Helfern
D E R E I N S AT Z F Ü R A N D E R E
S TÄ R K T U N S E R E I G E N E S
SELBSTBEWUSSTSEIN.

EGAL, ob in Partnerschaft, Familie


oder Karriere – fehlendes Selbstbe-
wusstsein kann Menschen ihr Leben
lang beeinträchtigen. Die amerikani-
sche Psychologin Jennifer Crocker
wollte daher wissen, wie man die Sicher-
heit des eigenen Ichs stärken kann. Sie
führte an der University of Michigan
ein Experiment mit Studienanfängern,
die sich eine Wohnung teilten, durch.
Beide Studenten waren zuvor als selbst-
wertschwach getestet worden. Ein Mit-
bewohner erhielt die Aufgabe, über

Was heißt schon normal? einen Zeitraum von zehn Wochen den
anderen gezielt zu unterstützen, ihn zu
ermutigen und ihm in Alltagsdingen zu
I I U S U S I R A J A M AC H T D I E S O N D E R B A R S T E N S E L F I E S D E R W E LT. helfen. Diese Bemühungen des Unter-
stützers wurde vom anderen Mit-
bewohner schon bald mit Rückhalt und
„ZU HAUSE KANNST DU GANZ DU SELBST SEIN, wild und frei“, sagt Iiu Susiraja. Hilfe erwidert, es entstand eine harmo-
In biederen Wohnräumen inszeniert sich die Fotokünstlerin als grotesk-lächerliche Haus- nische Wohngemeinschaft.
haltsgöttin – mit einem Besenstiel, der quer unter ihren schweren Brüsten klemmt, oder Darüber hinaus, so fand Crocker he-
einem Brotlaib, das ein Baby im Arm ersetzt. Die Selbstporträts der jungen Finnin sind raus, steigerte diese Erfahrung das
anarchisch, schonungslos, von bissigem Witz und lösen oft zwiespältige Reaktionen aus. Selbstbewusstsein beider Probanden
Sie solle sich doch einen richtigen Job suchen, beschied ihr ein Fremder per Mail. Liebe, enorm. Die Psychologin führt diesen
Körperbilder, Feminismus, Schönheit, Privatsphäre und Weiblichkeit gehören zu den Anstieg auf die Erfahrung des Gebens
Themen, die Susiraja in ihren Kunst-Selfies anspricht. Meistens stifteten ihre Arbeiten zurück. Crocker: „Du hat ein geringes
Verwirrung, sagt die Fotografin, die durchaus gern provoziert, aber auch inspirieren Selbstwertgefühl? Na und? Du kannst
OLIVIA MUUS / EXCLUISVEPIX / ACTION PRESS (5), HORST GALUSCHKA, IIU SUSIRAJA, WARNER BROS

möchte. Als Leitmotiv ihrer Arbeit sieht sie den Hinweis darauf, dass „das Abnorme trotzdem einen wichtigen Beitrag leis-
normal sein könnte“. ten, du kannst andere Menschen unter-
stützen, du kannst etwas erreichen, was
dir wichtig und wertvoll ist.“

YOGA ALPIN „Jedenfalls


SELBSTFINDUNG IN DÜNNER LUFT
ist es besser, ein
IN EINEM 500 JAHRE alten Herrenhaus am eckiges Etwas
Fernpass in den Tiroler Alpen haben vier Yoga-
Enthusiasten ein behagliches Retreat mit Work- zu sein als ein
shops, Kursen und Urlaub zwischen Spiritualität
und Skipiste eingerichtet. Loslassen, „was nicht rundes Nichts.“
mehr zu uns passt, was aufgesetzt und nicht echt
ist“, sollen die Teilnehmer des Wochenendsemi- CHRISTIAN FRIEDRICH
nars „In the Flow“ mit Meditation, Massage und HEBBEL
Yoga (27. April bis 1. Mai). www.alpenretreat.com

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 51


S E E L E N V E R W A N D T E

Bei mir
bist du schön

Fast jeder kennt das Gefühl, sich von einem anderen


fraglos verstanden und angenommen
zu fühlen. Drei Beziehungsduos erzählen, warum
sie beieinander ganz sie selbst sein können.
P R OTO KO L L E CHRISTINE HAAS F OTO S LÊMRICH

52 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


S E E L E N V E R WA N DT E

{1}
„Wir ergänzen
uns“
TE RE SA WE RNE R , 25 , U N D C R I ST I A N A C R U Z , 29
Das Paar lernte sich in Brasilien kennen: Teresa
lebte dort während eines Auslandsjahrs bei
Cristianas Familie. Die beiden waren zuerst nur gute
Freundinnen – bis sie sich ineinander verliebten.
Seit sechs Jahren leben sie in Köln in
einer eingetragenen Lebenspartnerschaft.

CRISTIANA CRUZ: Es fühlt sich zum ersten Mal alles zentig man selbst. Teresa kann ich wirklich alles erzäh-
richtig an. In den Beziehungen davor hatte ich immer len. Wenn ich jemanden auf der Straße sehe und denke
so ein komisches Gefühl. Da wusste ich natürlich nicht, „Oh, die ist schön!“, dann sage ich Teresa das, und es ist
was genau fehlt, ich kannte Teresa ja noch nicht. Aber kein Problem für sie. So offen zu sein habe ich erst durch
seitdem wir uns kennen, weiß ich, dass sie es war. Was sie gelernt.
wir haben, ist sehr speziell und besonders.
Ich kann Teresa immer meine Meinung sagen. Sie
denkt manchmal nicht so wie ich, aber sie respektiert TERESA WERNER: Zwischen uns herrscht einfach eine
und akzeptiert alles, was ich sage. Ich habe keine Angst, angenehme Stimmung. Am besten lässt sich das be-
ihr die Wahrheit zu sagen. Bei Freunden und der Familie schreiben durch die Art und Weise, wie wir zusammen
gibt es eine Grenze; bis dahin kann man gehen und nicht reisen: Cris fährt sehr gern Auto, ich hingegen gar
weiter. Und wenn das so ist, ist man nicht hundertpro- nicht. Ich bin aber eine sehr gute Kopilotin, die den
Weg heraussucht. Wir können uns sehr gut auf Musik
einigen und genießen es dann, dass wir auf der Fahrt
zusammen sind. Wir ergänzen uns sehr gut.
Und so fühlt es sich immer an. Wir verbringen sehr
gern sehr viel Zeit miteinander, ohne dass wir etwas
Besonderes machen müssen. Es wird nie langweilig,
und das kommt eben auch dadurch, dass wir so un-
terschiedlich sind. Cris ist sehr emotional und spiri-
tuell. Sie erzählt mir von Dingen, auf die ich allein
niemals gekommen wäre. Zum Beispiel habe ich mich
ALINA EMRICH & KIÊN HOÀNG LÊ / SPIEGEL WISSEN

durch sie mit dem Gesetz der Anziehung auseinander-


gesetzt, das besagt, dass positive Gedanken positive
Dinge hervorrufen. Wenn ich mit ihr zusammen bin,
habe ich ständig dieses gute Gefühl, dass ich bereichert
werde.
Und ein wichtiger Punkt ist auch, dass wir uns fast
nur auf Portugiesisch unterhalten. Ich fühle mich bes-
ser, wenn ich Portugiesisch spreche. Ich kann dann
anders sein, als wenn ich Deutsch rede; lustiger, netter.
Cristiana Cruz und Teresa Werner: Wenn wir uns in dieser Sprache unterhalten, sind wir
„So offen zu sein habe ich erst durch sie gelernt“ auf einer besonderen Ebene.

54 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


S E E L E N V E R WA N DT E

{2} Dann bin ich auch bereit, Lieder zu spielen, die mir
aus der Seele sprechen. Von denen ich genau weiß: Das
ist ein in Musik umgesetzter Tagebuchtext. Für denjeni-

„Da reicht ein gen, der zwischen den Zeilen lesen will, gebe ich viel von
mir preis und zeige sehr empfindliche Seiten – und da-

Blick“
durch fühle ich mich auch bei den Auftritten ein bisschen
wie zu Hause. Deshalb hieß unsere letzte Tour auch „Un-
terwegs ist das neue Zuhause“.
Dieses Gefühl, dass wir auch in unserem Beruf
diejenigen sein können, die wir sind – das ist ein ganz
großes Glück. Ich spüre überall diese Zufriedenheit mit
TIM LUDW IG, 33, UND OLIVER HAAS, 27 dem, wie ich bin und was ich mache. Für viele Leute,
Die Freunde lernten sich im Schulchor kennen die 40 oder 50 Stunden in der Woche im Büro sind, ist
und schrieben im Urlaub den ersten gemein- das vielleicht nicht immer so. Und dieser Luxus ist für
samen Song. Ihr Lehramtsstudium brachten mich viel mehr wert als eine finanzielle Sicherheit, die
beide zu Ende, wollten danach aber die Musik wir so eben eher nicht haben.
zu ihrem Lebensinhalt machen. Als Singer- Dass das alles so funktioniert, basiert auf einem un-
Songwriter-Duo „byebye“ touren sie durch ausgesprochenen Gesetz, einer stillen Gewissheit zwi-
Deutschland, spielen pro Jahr bis zu 150 schen Tim und mir. Das klingt jetzt ein bisschen schnul-
Konzerte in Klubs und Wohnzimmern. Und zig, aber wir wissen, dass wir zusammengehören, uns
auch sonst sind sie nie lange getrennt: In ihrer vertrauen und loyal zueinander sind. Wir zweifeln nicht
Heimatstadt Leipzig liegt nur ein Stockwerk daran, dass wir in einem sehr großen Teil unseres Le-
zwischen den beiden Wohnungen. bens eine Einheit sind.
Natürlich sind wir trotzdem auch mal genervt von-
einander oder brauchen Zeit allein. Deshalb ist es wich-
tig, ab und zu ein bisschen Abstand zu gewinnen und
sich nicht nur über das Zusammensein zu definieren.
O L I V E R H AAS:Wir sind mindestens fünf Tage die Wo- Dieses Nähe/Distanz-Problem gibt es ja in allen zwi-
che zusammen, immer. Entweder sitzen wir zusammen schenmenschlichen Beziehungen. Wenn wir einen Tag
im Auto, stehen zusammen auf der Bühne, sind zusam- frei haben, achten wir auch darauf, mal Dinge allein
men im Hotel. Auch wenn wir kein Liebespaar
sind: Der Unterschied zwischen einer Ehe-
schließung und einem Bandvertrag ist tatsäch-
lich nicht sehr groß. Es gibt keinen Menschen
in meinem Leben, mit dem ich mehr Zeit ver-
bringe. Dadurch kennen wir auch jede Kleinig-
keit des anderen.
Durch diese Intensität des Zusammenseins
ist etwas sehr Besonderes entstanden. Ich wür-
de behaupten, dass man heutzutage in unserer
westlichen Gesellschaft nicht nur ein Ich hat;
wenn man zu Hause mit sich selbst allein ist,
fühlt und gibt man sich anders, als wenn man
auf die Straße geht und anderen Menschen be-
gegnet. Jeder spielt verschiedene Rollen. Dieses
Verstellen ist bei Tim und mir total weg. Wenn
wir zusammen sind, können wir so sein, wie
wir auch allein zu Hause sind. Es ist ein sehr
enges, vertrauensvolles Verhältnis. Wir können
total offen sein.
Und das Schöne ist, dass wir dieses Gefühl
auch auf die Bühne transportieren können. Tim
ist da derjenige, der etwas zurückgezogener ist;
ich bin extrovertierter und rede viel. Das ent-
spricht unserem Naturell, das müssen wir bei
unseren Auftritten nicht verstecken. Genau des-
halb überzeugen wir auch als Band, wir ergän-
zen uns einfach sehr gut. Ich fühle mich dann
immer sehr wohl in meinem Umfeld und merke, Tim Ludwig und Oliver Haas:
dass es dem Publikum oft auch so geht. „Natürlich sind wir trotzdem auch mal genervt“

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 55


S E E L E N V E R WA N DT E

gegenseitig, das könnte ich mir mit niemand anderem


vorstellen.
Die Songs, die Olli schreibt, sind wunderschön. Sie
spiegeln immer genau das wider, was ich denke und füh-
le. Wir haben die gleichen Werte, uns sind ähnliche Din-
ge wichtig, wir wollen das Gleiche vom Leben. Zum Bei-
spiel ist bei uns beiden der Wunsch groß, unser Publi-
kum kennenzulernen. Ich kann mir nichts Schlimmeres
vorstellen, als auf eine Bühne zu gehen und vor einer
riesigen Menge aufzutreten, und ich weiß überhaupt
nicht, was das für Menschen sind. Deswegen machen
wir in neuen Städten zu Beginn gern einige Wohnzim-
merkonzerte, fahren zu Leuten nach Hause, schlafen
dann auch bei ihnen und lernen sie kennen. Und wenn
wir dann wieder in die Stadt kommen und in einem Klub
spielen, sind Menschen im Publikum, deren Geschichten
und Mentalitäten man kennt. Und sie mögen neben un-
serer Musik vielleicht auch uns und ticken auf einer be-
stimmten Ebene so wie wir. Das ist ein total schönes Ge-
fühl. Das haben Olli und ich uns zusammen aufgebaut.
Dabei ist es ganz wichtig, dass man sich angemessen
Tim Ludwig und Oliver Haas: kritisieren kann. Wenn einer dem anderen einen neuen
„Ich habe keine Angst, dass etwas kaputtgehen könnte“ Song zeigt, dann ist das ein magischer Moment. Da ist
man in einem Bereich, der für einen selbst total heilig
ist, wo man auf Kritik sehr emotional reagiert. Und da
hat sich bei uns etwas Gutes entwickelt: Es ist das Ver-
trauen da, dass wir zusammen schon eine Lösung finden
werden, wenn einem etwas nicht gefällt. Ich habe keine
„Ich glaube, genau an den Stellen, Angst, dass etwas kaputtgehen könnte.
Und das gilt auch für unsere Freundschaft insgesamt.
wo uns jeweils der Mut fehlt, Wir können uns sagen, wenn uns etwas am anderen
ist der eine für den anderen da.“ stört. Das kommt natürlich vor, wenn man so wie wir
ständig zusammen ist. Früher bin ich eher so ein Typ
gewesen, der viele Sachen erst einmal runtergeschluckt
und abgewartet hat. Aber ich habe gemerkt, dass das
nicht gut ist. Manchmal stören einen ja nur Kleinig-
zu machen und uns Freiräume zu geben. Damit muss keiten, aber die füllen dann einen Tank auf, und der
man sensibel umgehen, aber das gelingt uns mittler- läuft irgendwann über. Dann kommt es zum Streit, und
weile sehr gut, weil wir offen darüber reden. Durch man lässt alles auf einmal raus. Das gibt es bei uns nicht
diese Gespräche und durch die Konflikte denkt man mehr. Wir haben beschlossen, dass wir einander immer
viel darüber nach, wie man ist und wie man sein möch- sagen, was wir denken und voneinander halten. Das
te. Ich bin zu einem sehr reflektierten Umgang mit mir geht nur mit sehr viel Vertrauen und absoluter Ehr-
selbst gekommen. lichkeit. Das ist etwas, wo ich mich sehr stark entwickelt
habe durch Olli. Natürlich darf man auch nicht alles
zerreden, aber wir haben genau das richtige Maß
T I M LU DW I G : Ich wusste schon in der Endphase des gefunden.
Studiums, dass ich nicht in diese normale Berufswelt Dadurch wissen wir so viel voneinander, dass wir
will. Deshalb habe ich bereits damals alles auf die Musik sofort sehen, ob es dem anderen gut oder schlecht geht.
ausgerichtet, Gitarrenunterricht gegeben und in Cover- Da reicht ein Blick. Das finde ich etwas sehr Schönes,
ALINA EMRICH & KIÊN HOÀNG LÊ / SPIEGEL WISSEN

bands gespielt. dass man jemanden so gut kennt, dass man das so
Irgendwann hat es mir aber nicht mehr gereicht, schnell sieht. Man weiß dann, wenn ein Moment ist, in
nur Musik von fremden Leuten zu spielen; ich wollte dem man den anderen besser in Ruhe lässt. Und wenn
eigene Sachen machen. Es ist aber gar nicht so einfach, es mir schlecht geht, weiß ich immer, wo ich hingehen
immer neue Songs zu schreiben – du musst ja ständig kann. Das ist eine super Sache.
etwas zu erzählen haben. Deshalb bin ich sehr froh,
dass ich Olli gefunden habe. Ohne ihn hätte ich nicht
den Mut gehabt, mich komplett auf die eigene Musik VIDEO: Seelenverwandte
auszurichten. Ich glaube, genau an den Stellen, wo uns durch die Musik
jeweils der Mut fehlt, ist der eine für den anderen da. spiegel.de/sw012016byebye
Das ist das Besondere: Wir stützen und befruchten uns

56 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


{3}
„Ich kann ihr
alles sagen“
ANIKA UND MAREIKE FLÖRKE, 24
Die Zwillinge gingen zusammen
zur Schule, verbrachten die Nachmittage
zusammen auf dem Reiterhof, haben
den gleichen Abi-Schnitt und dieselbe beste
Freundin. Sie wohnen Wand an Wand bei
ihren Eltern und fahren jeden Tag gemeinsam
zur Universität nach Hannover,
wo beide Landschaftswissenschaften studieren.

A N I KA F LÖ R K E : Wir haben immer alles zusam-


men gemacht. Und auch jetzt ist das noch so:
Wir sehen uns den ganzen Tag. Wir schauen
morgens ins Zimmer, ob die andere schon wach
ist. Tagsüber bereiten wir zum Beispiel Referate
gemeinsam vor. Und abends gucken wir zusam-
men fern. Deshalb denkt man gar nicht darüber
nach, wie man sich verhält oder wie das beim anderen meinte unsere Chefin: „Wie kann das sein, dass ihr euch
ankommt. Das gab es bei uns nie, das kann es ja auch so viel zu erzählen habt? Ihr seht euch doch den ganzen
einfach nicht gegeben haben, weil wir schon von Beginn Tag.“ Das ist ein wichtiger Punkt: Wir sind uns sehr
an zusammen sind. Wir teilen seit der Kindheit sehr ähnlich, können uns stundenlang über das Gleiche auf-
viele Erfahrungen. Mareike war bei allen Erlebnissen, regen. Und es ist dieses Gefühl von Sicherheit, wenn
die für mich wichtig waren, dabei. Dadurch haben wir der andere dabei ist. Man weiß, man hat immer einen
eine sehr enge Verbindung. Wenn man etwas erzählt, auf seiner Seite. Man ist mutiger, sich durchzusetzen,
weiß der andere, worum es geht, kann Gedanken sofort und forscher zu sagen: Wir machen das jetzt so. Bei
nachvollziehen. Das ist total schön; bei anderen muss anderen wäre ich vorsichtiger, würde meine Meinung
man viel mehr erklären. nicht so durchsetzen.
Ich bin eher ein schüchterner Typ und bei anderen
Leuten zurückhaltend. Aber wenn wir zusammen sind, MAREIKE FLÖRKE: Das Besondere zwischen uns ist die
reden wir ständig. Ich weiß noch genau, bei der Arbeit Selbstverständlichkeit. Andere Beziehungen muss man
haben wir uns mal die ganze Zeit unterhalten, und dann pflegen und daran denken, sich zu melden. Das ist bei
uns nicht so, Anika ist einfach immer da. Wenn wir uns
mal streiten, entschuldigen wir uns nicht beim anderen.
Das ist nach einer halben Stunde vergessen. Bei Freun-
den ist das anders. Wenn man sich bei denen über etwas
geärgert hat, muss man es besprechen – und wenn nicht,
dann wird das manchmal Monate später wieder heraus-
geholt. Anika trage ich nie etwas nach und umgekehrt
auch nicht. Deshalb wissen wir auch, dass die andere
immer ehrlich ist. Ich kann ihr alles sagen, sie ist der
erste Ansprechpartner und die wichtigste Bezugsper-
son. Wenn ich mich nicht entscheiden kann, dann frage
ich sie und mache es dann genau so, wie sie es mir rät.
Auch wenn ich ein Problem habe, diskutiere ich mit
ihr alles aus. Und es ist bei Anika auch total egal, wie
oft und wie lange ich davon erzähle. Sie hört sich das
immer an – auch dann noch, wenn andere sagen würden:
Anika und Mareike Flörke: Jetzt ist aber mal gut. Wir verstehen einfach, dass der
„Man hat immer einen auf seiner Seite“ andere das gerade braucht.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 57


58
PETER MARLOW / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS

SPIEGEL WISSEN
1 / 2016
Lego-Ego
ENTWICKLUNG

Ob wir zu einer
reifen, stimmigen
Identität finden,
wird schon
ter fragte: „Warum ziehst du eigentlich keine
in Kindheit und Röcke an?“ Gute Frage, dachte Nils Pickert.
Er verstand sie als Aufforderung zur Solida-
Jugend angelegt. rität: Ich dachte, das ist nicht zu viel ver-
langt.
Also lieh sich Pickert einen leuchtend
roten Rock, und Vater und Sohn gingen
TEXT gemeinsam im Rock zur Kita. Auf dem Weg
dorthin sahen sie, wie eine Frau sie anstarrte
MARIANNE WELLERSHOFF
und wie im Slapstick gegen eine Laterne lief,
und Theo musste lachen. In der Kita sagte
Pickert zu den verdutzten Kindern: „Heute
ist Rock-und-Kleid-Tag.“ Ein paar Mal zog
Pickert morgens einen Rock an, und das
habe es für Theo „geknackt“: Der Junge fühl-
ALS DER KLEINE JUNGE, nennen wir te sich wieder so frei, anzuziehen, was ihm
ihn Theo, anderthalb Jahre alt war, begann gefiel, Hose, Leggings, Rock, Kleid. Bis zur
er, die Klamotten seiner Schwester anzuzie- dritten Klasse trug er die Klamotten seiner
hen, T-Shirts, Röcke, Kleider. „Weil er der Schwester, dann blieb er bei Hosen. Aus
größte Fan seiner großen Schwester war“, eigenen Stücken, wie Pickert erzählt.
sagt der Vater Nils Pickert, 36. In Theos Kita Die Geschichte von Theo zeigt, wie sehr
in Berlin-Kreuzberg nahm niemand beson- unsere Gesellschaft noch immer geprägt ist
dere Notiz davon, denn da verschwendete von Geschlechtsstereotypen. Die Geschich-
auch keiner einen Gedanken daran, ob die te zeigt aber auch, wie in der Kindheit die
Jungs nun mit blauen oder mit rosa Rädern Grundlagen für ein autonomes Selbst und
herumfuhren. Pickert sagt: „Ich sah nie die für die Identität eines Menschen gelegt wer-
Notwendigkeit, meinen Sohn in seiner Iden- den – also für ein stimmiges Bild davon, wer
titätsfindung zu beschränken. Ob er Prin- man ist und was man wirklich will.
zessin oder Astronaut werden will, ist seine
Sache.“ FÜR EIN GLÜCKLICHES, erfolgreiches
Doch dann, da war Theo fünf Jahre alt, Leben, für das Gefühl, im Einklang mit sich
zog die Familie nach Villingen-Schwennin- zu sein, ist entscheidend, dass man seine
gen, und der Junge ging auch dort in die Kita. Fähigkeiten, Wünsche und Bedürfnisse
Sein Vater war so daran gewöhnt, dass Theo kennt. Und dass man sie einschätzen kann.
auch mal im Kleid herumlief, dass er die Was kann ich gut? Was macht mir Spaß?
Erzieher nicht vorgewarnt hatte. Als Theo Was sind meine Schwächen? Wie finden die
eines Morgens im Rock in der Kita erschien, anderen mich?
lachten die anderen Kinder ihn aus und Einzig eine solch differenzierte Vorstel-
nannten ihn „schwul“, was offensichtlich als lung von sich selbst macht es überhaupt
Beleidigung gemeint war. Theo war verletzt, möglich, die eigenen Interessen und Ansprü-
denn dass Röcke als unpassend für Jungs an- che zu verstehen, zu verfolgen, mit anderen
gesehen wurden und Rockträger als minder- Menschen zu kommunizieren, deren Reak-
wertig oder anormal, verstand er nicht. Seine tionen deuten zu können und belastbare Bin-
von ihm bewunderte Schwester zog doch dungen einzugehen.
auch oft Röcke an, was also war daran falsch? Das Potenzial für ein gesundes Selbst ist
Trotzdem ging Theo erst mal in Hosen in jedem Säugling angelegt, und dieses
in die Kita, Röcke und Kleider trug er nur Selbst entwickelt sich Schritt für Schritt
noch zu Hause. Bis er eines Tages seinen Va- über die Jahre – nach den Theorien heutiger

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 59


Wissenschaftler bis ans Lebensende. Aber
wie entscheidet sich, ob alle diese Schritte
gelingen? Ob aus dem Baby ein selbstbe-
wusster, reflektierter Erwachsener wird mit
einer klaren, positiven Identität – oder aber
ein Mensch, der sein Leben lang auf der
Suche ist nach seinem wahren Ich? Die Ant-
wort hängt von vielen Faktoren ab: von den
Bezugspersonen und deren Erziehungsstil,
von sozialen und kulturellen Einflüssen,
vom Feedback der Lehrer, vom Freundes-
kreis.
Wichtigste Grundlage ist eine stabile
emotionale Beziehung zu den Bezugsperso-
nen. Die gibt dem Kind die Sicherheit, Neu-
es zu erforschen, Verhaltensweisen auszu-
probieren und den eigenen Kopf durchzu-
setzen. Aus den Reaktionen der Umwelt
zieht es Schlüsse, nämlich erstens, wie die
anderen ticken, und zweitens, wie es von
den anderen bewertet wird. Und aus diesen
Erfahrungen entwickeln sich das Selbst und
später die Identität.
Schon Säuglinge haben ein sogenanntes
implizites Selbst, ein angeborenes Wissen
darüber, dass die Umwelt etwas anderes ist
als sie selbst (siehe Interview rechts). Aber
der dramatische Startpunkt des bewussten,
expliziten Selbst besteht darin, dass das „Im Vorschulalter haben Kinder verstanden,
Kind sich im Alter von etwa 15 Monaten im
Spiegel erkennt – dass es also sein Bild sieht
dass Menschen unterschiedlich ticken.“
und weiß: Das bin ich.

WIE STARK DAS SELBST eines zweijäh-


rigen Kindes ist, kann man an der Intensität das!“, „Ich bin groß“, sagen Kleinkinder, und sie im Gespräch mit ihren Kindern die Wör-
ablesen, mit der es die Worte „ich“ oder sie nennen ihren Namen, wenn sie von sich ter „möchten“, „wollen“, „wünschen“ und
„meins“ benutzt, und ob es bereit ist, das ei- sprechen: „Mia trinkt.“ Drei- bis Vierjährige später „denken“, „glauben“ benutzen, desto
gene Spielzeug mit anderen zu teilen. Spra- merken sich ihre Beobachtungen und Erfah- mehr wird das Kind über diese inneren Zu-
che ist fundamental für die Entwicklung des rungen und setzen aus diesen allmählich stände reflektieren und sich und die ande-
Selbst. Sie macht es nämlich überhaupt erst eine Vorstellung des Selbst zusammen. ren besser kennen- und verstehen lernen.
möglich, über sich zu reflektieren: „Ich kann Die Sprache erlaubt es dem Kind auch,
die Perspektive zu wechseln. Es versteht, DIESES SELBSTKONZEPT besteht dann
dass andere Menschen ebenfalls Eigenschaf- beim Grundschulkind aus Eigenschaften,
ten, Wünsche und Überzeugungen haben Meinungen, Fähigkeiten: „Ich bin gut in Ma-
PETER MARLOW / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS (2), NILS PICKERT
und dass diese – manchmal schmerzhaft – the “, „Ich kann Spagat“, „Ich bin Fußballer.“
abweichen können von den eigenen. Ein Bei- Nun vergleicht es sich auch mit seinen
spiel: Das Kind liebt Schokopudding, stellt Freunden: „Luise kann noch besser Spagat
aber fest, dass Mama Obst liebt und dieses als ich.“ Der soziale Vergleich führt fast im-
zum Nachtisch serviert. Kinder ab vier Jah- mer dazu, dass der kindliche Selbstwert im
ren werden nun versuchen, die Mutter da- Grundschulalter sinkt: Zum Selbst ist damit
von zu überzeugen, dass sie besser Schoko- die Bewertung des Selbst hinzugekommen.
pudding auf den Tisch stellen sollte. In dieser Phase sind Kinder empfänglich
Im Vorschulalter haben Kinder verstan- für Stereotypen, also auch für Geschlechts-
den, dass Menschen unterschiedlich ticken, stereotypen. Studien haben gezeigt: Der
und je besser Kinder in der Lage sind, die Selbstwert von Mädchen dieses Alters sinkt
Perspektive des anderen einzunehmen, des- langfristig deutlich, wenn sie Modelshows
Wenn der Vater mit to besser werden ihre eigenen sozialen Kom- im TV sehen und mit ihren Freundinnen da-
dem Sohne: Nils Pickert petenzen – auch die Fähigkeit, die Überzeu- rüber sprechen, wie toll es ist, dünn zu sein.
und sein Sprössling, beide gungen anderer zu ändern. Wieder haben Die Forschung geht davon aus, dass der
im roten Rock Eltern hier maßgeblichen Einfluss: Je mehr Selbstwert von Mädchen ohnehin niedriger

60 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


F R Ü H E K I N D H E I T

„VON ANFANG AN“


Entwicklungspsychologe Michael Kavšek über Babys und ihr Selbst
INTERVIEW MARIANNE WELLERSHOFF

Kavšek, 53, lehrt Entwicklungspsychologie Das Temperament dagegen gilt als schwerer zu beeinflussen
an der Universität Bonn. und ist in seiner Ausprägung offenbar schon angelegt.
SPIEGEL: Was verstehen Sie unter Temperament?
SPIEGEL: Herr Kavšek, besitzt ein Neugeborenes ein Ich? Kavšek: Die Art und Weise, in der Kinder auf ihre Umwelt rea-
Kavšek: Es hat wahrscheinlich schon bei der Geburt ein soge- gieren und sich selbst regulieren. Wie aufmerksam sind Kin-
nanntes Ich-Selbst. Das bedeutet, es kann von Anfang an zu- der? Wie schüchtern sind sie? Wie heftig reagieren sie? Bereits
mindest rudimentär zwischen sich und der Umwelt unterschei- bei ungeborenen Kindern lassen sich anhand des Herzschlags
den. Diese Differenzierung ist die Voraussetzung dafür, dass große Unterschiede im Aktivitätsniveau messen. Langzeitstu-
ein Säugling überhaupt eine emotionale Bindung eingehen dien zeigen, dass gerade die extremen Temperamente sich
kann. Im Alter von 15 bis 18 Monaten, wenn das Kind sich über die Jahre kaum verändern.
selbst in seinem Spiegelbild erkennt, wird aus der unbewussten SPIEGEL: Eltern haben hier keinen Einfluss?
eine bewusste Selbstwahrnehmung. Es entsteht das sogenannte Kavšek: Doch, den haben sie. Wenn ein Kind schüchtern ist,
Mich-Selbst: Das Kind beginnt, über sich selbst zu reflektieren.zieht es sich zurück und entwickelt allmählich immer größere
SPIEGEL: Wie erforscht man das Selbst von Babys? Ängste. Hier können Eltern oder andere Bezugspersonen das
Kavšek: Durch experimentelle, empirische Studien, was gar Kind schon in den ersten Lebensjahren dabei unterstützen,
nicht so einfach ist, weil Babys ja nicht sprechen können. In ei-
seine Emotionen zu regulieren.
ner Untersuchung aus dem Jahr 2015 wurden Neu-
geborene mit Pinseln entweder an der Wange oder
an der Stirn berührt, und man zeigte ihnen wäh-
renddessen ein Video, in dem ein Neugeborenes an
der gleichen oder aber an der anderen Stelle ge-
kitzelt wurde. Diese ein, zwei Tage alten Säuglinge
betrachteten deutlich länger das übereinstimmende
Bild – sie konnten also einen Zusammenhang her-
stellen zwischen Sehen und Fühlen.
SPIEGEL: Kann man in diesem Alter schon von
bewusstem Erkennen sprechen?
Kavšek: Nein. In der Psychologie nennt man dies
implizite, also unbewusste Wahrnehmungsmomen-
te. Sie sind Vorläuferleistungen zur Entwicklung
des Mich-Selbst. Da Neugeborene zwischen sich
und ihrer Umwelt differenzieren können, ist diese
Unterscheidung offenbar in Grundzügen angelegt.
SPIEGEL: Ist diese Entwicklung des Selbst ein
genetisches Programm, das abgespult wird?
Kavšek: Damit sind wir mitten in der Debatte, was
angelegt und was auf den Einfluss der Umwelt zu-
rückzuführen ist. Es gibt Studien, die zeigen, dass
fürsorgliches Verhalten von Mutter und Vater sich
positiv auf die Entwicklung des Selbst auswirkt.
Wenn Eltern sich viel mit ihren Kinder beschäftigen,
mit ihnen gemeinsam Dinge besprechen, dann er-
kennen die Kinder sich beispielsweise im Spiegel-
test früher. Sie haben schneller gelernt, sich selbst Fotograf Peter Marlow begleitet seine Kinder mit der Kamera durchs
zu beobachten und ihr Mich-Selbst zu entwickeln. Leben: ob im Wochenbett, mit Pumps, Schnurrbart oder Tropenhelm.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 61


ENTWICKLUNG

ist als der von Jungen – und dass Jungen folge. Und dass sie erfolgreich sein können, was die meisten Menschen unter „erwach-
aus machtstrategischen Motiven Mädchen wenn sie sich anstrengen. sen“ verstehen.
gezielt ausschließen. Kein Wunder, wenn, Der deutsch-amerikanische Psychoana- Erikson war überzeugt, dass Jugendliche
wie das Beispiel von Nils Pickert und seinem lytiker Erik Erikson (1902 bis 1994) erkannte erst durch eine – gern mit Türenschlagen
Sohn zeigt, Rockträger und Rockträgerin- als Entwicklungsforscher und -theoretiker und Gebrüll verbundene – Krise gehen müs-
nen als lächerlich oder minderwertig diffa- Mitte der Sechzigerjahre, dass ein klar struk- sen, um zu ihrer Identität zu finden. Heute
miert werden. turiertes Selbst und ein differenzierter wird die Pubertät in der Forschung nicht
Selbstwert die Vorläufer von Identität im ei- mehr als Krise betrachtet, sondern als Phase
KINDER, DIE VON KLEIN AUF viel kri- gentlichen Sinne sind – und dass erst Ju- des Infragestellens und des Erkundens: Sind
tisiert wurden, glauben schon als Grund- gendliche sich die Fragen stellen: „Wer bin meine Eltern zu konservativ? Finde ich Dro-
schüler: Wenn sie scheitern, liegt das an ih- ich?“ und „Wer will ich sein?“. Auch wenn gen cool? Bin ich eine Künstlerin? Will ich
rer Unfähigkeit. Wenn sie Erfolg haben, war psychoanalytische Theorien oft kritisiert die Welt verbessern und helfen, die Wale
es Glück. Fachbegriff: gelernte Hilflosigkeit. werden: Dass es diese Identitätssuche in der vor dem Aussterben zu retten? Nach dem
Bei Kindern, die von ihren Eltern unter- Pubertät gibt, ist Konsens unter Forschern. Ausprobieren kommt dann die sogenannte
stützt wurden, ist es hingegen umgekehrt: Der amerikanische Erziehungspsycholo- Identitätsbindung: Ich studiere Malerei,
Misserfolg war Pech, und Erfolg ist das Er- ge David Moshman definiert Identität als weil mir das entspricht. Ich arbeite für
gebnis von Können. Aber für eine Neube- die explizite Theorie von sich selbst als ra- Greenpeace, weil ich dort meine Ideale ver-
wertung ist es noch nicht zu spät: Auch im tional Handelndem – also als jemandem, der folgen kann. Im Idealfall ist eine gefestigte,
Alter von sechs bis zehn Jahren können Kin- auf Basis der Vernunft agiert, der Verant- gereifte Identität erreicht. Aus dem Jugend-
der noch lernen, sich nicht über ihre Miss- wortung für sein Handeln übernimmt und lichen ist ein Erwachsener geworden.
erfolge zu definieren, sondern über ihre Er- dieses erklären kann. Das ist im Grunde das,
BLEIBT DAGEGEN das kindliche Selbst
in sich widersprüchlich oder diffus, ist der
Selbstwert niedrig, dann kann der Jugend-
liche in der Phase der Identitätsfindung ver-
harren. Er wird kein eigenständiger Erwach-
„Unser Selbst entwickelt sich Schritt für sener, sondern übernimmt seine Identität
von anderen – er wird genauso erzkonser-
Schritt – bis zum Lebensende.“ vativ wie seine Eltern, dogmatisch, unflexi-
bel; im Extremfall schließt er sich vielleicht
einer Sekte an. Oder es bleibt bei einer dif-
fusen Identität, was sich darin äußern kann,
dass der Jugendliche eine „Mir egal“-Hal-
tung entwickelt, in der Schule versagt und
vielleicht sogar in die Drogenszene ab-
rutscht – eine fatale Mischung aus Apathie
und Impulsivität, der das Gefühl von Hoff-
nungslosigkeit zugrunde liegt.
Die neuesten Forschungsmodelle zu un-
serem Selbst und unserer Identität verste-
hen die Reifung des Menschen als ein dyna-
misches System: Geist, Körper, physische
und soziale Umwelt produzieren ein inte-
griertes System, das sich dauernd neue Fä-
higkeiten aneignet. Gene legen die Entwick-
lung eines Menschen nur skizzenhaft an:
Alle gesunden Kinder beginnen irgendwann
zu sprechen – aber jedes benutzt Sprache
PETER MARLOW / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS

anders, denn jedes Kind macht individuelle


Erfahrungen. Statt von einer linearen Ent-
wicklung geht die Idee des dynamischen
Systems deshalb von einem Netz aus, das
immer engmaschiger wird.
Die gute Nachricht: An diesem Netz
knüpft der Mensch sein Leben lang.

Marianne Wellershoff findet inneren


Einklang ab Kilometer zehn beim Laufen.
marianne.wellershoff@spiegel.de

62 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


ZWISCHENRUF

Authentisch? Ach
Eine Warnung vor
der Masche mit der Echtheit
TEXT BERND KRAMER I L L U S T R AT I O N CECILE DORMEAU

MANCHMAL möchte man ihnen nur ent- das Selfie deswegen die Kunstform der Ge-
gegenrufen: Wie schafft ihr das? Warum genwart. Authentizität ist das Biosiegel des
müsst ihr euch nicht schütteln vor Scham Psychosegments und von dessen Erfüllungs-
über euer Getue? Zum Beispiel diese Men- versprechen eines der hinterhältigsten. Die
schen mit „positiver Lebenseinstellung“. Die Antwort liegt in dir, säuselt die gecoachte
schon joggen waren, „Energie tanken“, wie Welt. Finde deinen Weg. Mach dein Ding.
sie sagen, bevor ihr Wecker klingelt. Die ihre Das ist eine so perfide Aufforderung wie:
Kollegen tyrannisieren mit ihrem Ent- Konzentriere dich und denk jetzt nicht an
zücken über „die beste Familie aller Zeiten“. einen weißen Elefanten. Klappt nicht? Viel-
Die jede Schlechtigkeit der Welt, über die leicht ja beim nächsten Mal.
man sich bei ihnen ausheulen will, zu einer Umso schneller wird die Authentizität
„großartigen Chance“ erklären. als Prädikat für diejenigen Umgangsformen
Man wird den Verdacht einfach nicht los, herbeizitiert, die bisher als weniger rühm-
dass sie diesen Optimismus nur durchhal- lich galten. Wir betrügen unseren Partner?
ten, weil er von vornherein als Floskel an- Mag sein, aber wir bleiben uns treu. Wir
gelegt war. Man will der Phrasenmaschine schikanieren unsere Arbeitskollegen? Im-
den Stecker ziehen. Man will die Poser vom merhin spielen wir ihnen nichts vor. Unsere
Sockel stoßen. Man wünscht sich, sie wären Unangepasstheit nervt sogar die geduldigs-
endlich einmal: authentisch. ten Zeitgenossen? Wir lassen uns nun ein-
Aber dann überlegt man, was das eigent- mal nicht verbiegen. Wir sind zwar Hoch-
lich heißt. Authentisch ist heute: regional stapler, aber dabei immer authentisch.
produzierter Käse aus der Großmolkerei, die Der Begriff ist so hohl wie omnipräsent.
Gruppenreise jenseits des Massentourismus, Authentisch ist das Zauberwort der Selbst-
die Tiefkühlpizza, die wie beim Italiener darsteller, das sie vor der Entlarvung schüt-
schmeckt. Authentizität wird angepriesen zen soll. Die Unverfälschtheit dient immer-
als Weg zu Erfolg, Glück und Zufriedenheit. zu der Eindrucksmanipulation. Der franzö-
Man kann sie im Wochenendseminar erwer- sische Dichter André Gide schrieb: „Man
ben, inklusive Teilnahmezertifikat. Und dass kann nicht zugleich aufrichtig sein und es
dabei kaum einer das Wort richtig zu buch- scheinen.“ Wahrhaft authentisch ist nur die
stabieren vermag, ist nur: authentisch. Verlegenheit.
Es ist wie im Märchen vom Wettrennen Aber man versuche einmal, einen Poser
zwischen Hase und Igel: Wann immer man ins Wanken zu bringen. Eine gut gewartete
sich nach dem Unverfälschten, dem Unver- Phrasenmaschine stocken zu lassen. Einem
stellten sehnt, winkt es einem schon als Ma- Menschen mit „positiver Lebenseinstel-
sche von der Ecke entgegen. lung“ einen Moment der Ungefasstheit ab-
Unsere Freunde sind: authentisch. Die zuringen. Man will ihn schütteln und ihm
Nachbarn sind: authentisch. Der Vermieter: entgegenrufen: Sag mir einmal, wo dein
authentisch. Wir wohnen authentisch in der stahlharter Optimismus auseinanderbricht,
Platte, aber noch authentischer im kernsa- einmal nur, was du in dieser wunderbaren
nierten Altbau. Dort trinken wir im authen- Welt so richtig zum Kotzen findest. Man er-
tischen Zeremoniell unseren ayurvedischen wartet den großen Knall. Aber dann lautet
Tee und schneiden uns authentisch die Ze- die Antwort: „Unauthentische Menschen“.
hennägel. Das Leben ist oft banal, immer
aber authentisch.
Je stärker wir uns inszenieren müssen,
Bernd Kramer spürt inneren Einklang immer
im Job, im Privaten, desto ungekünstelter dann, wenn er nicht viel darüber nachdenken
sollen wir dabei erscheinen. Vielleicht ist muss – etwa sonntagsvormittags im Bett.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 63


G A N Z H E I T L I C H K E I T

Eine runde
Sache

Karriere als höchstes Ziel? Hm.


Gerade Jüngere wollen lieber, dass der Beruf im
Einklang mit anderen Lebensträumen steht.
TEXT ANNE OTTO

64 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


GANZHEITLICHKEIT

welt greifbar: „Seit etwa 15 Jahren hat sich toren, um Erwerbschancen zu kalkulieren.
die Haltung zum Thema Karriere ver- Ein anderer Teil nahm die eigenen Neigun-
ändert“, berichtet die Hamburger Unter- gen als Grundlage für den Berufsweg. Und
nehmensberaterin Carmen Schön, „heute eine dritte Gruppe kombinierte beide Berei-
wollen die Menschen mehr: arbeiten und che. Besonders zufrieden waren die Schüler,
erfolgreich sein, aber auch Freizeit haben, die sich ihrer Interessen und Fähigkeiten
ALS ÜBERFLIEGER hat Jonas Drechsler* sich entwickeln, im Beruf Sinn finden und bewusst waren. Fazit der Studie: Schülern
sich nie gesehen. Doch nach seinem Stu- Familienleben bewerkstelligen.“ Verbunden sollte im Unterricht mehr Raum gegeben
dium ging es wie von selbst bergauf. Der Öko-sei diese Ausrichtung mit der Generation werden, sich und ihre Werte und Interessen
nom fing bei einer Beratungsfirma an, arbei- Y, also den jetzt 20- bis 35-Jährigen. Laut kennenzulernen. „Denn dieses Wissen kann
tete weltweit für Kunden, übernahm Ver- Schön ist sie jedoch längst nicht auf diese man dann in die Berufsplanung einbezie-
antwortung, verdiente gut. Anfangs machte Altersgruppe beschränkt: „Ich beobachte, hen“, erklärt Alemann.
ihn das stolz. Nur: Durch seinen Job hatte dass Klienten sehr differenziert über Le- Die Relevanz der Empfehlung von da-
er kaum noch Zeit für seine Frau und seinen bensziele nachdenken – statt nur über mals habe sich heute noch verstärkt. Eine
großen Freundeskreis. Das machte ihn im- Karriereziele.“ reine Orientierung am Markt, indem man
mer unzufriedener. Als seine Frau schließ- beispielsweise Lehrer wird, weil es in dem
lich schwanger wurde, nahm Drechsler das
Wie komme ich zu einer Bereich heute Stellen gibt, oder Program-
zum Anlass, sich beruflich zu verändern.
Berufsentscheidung? mierer, weil man in der Branche derzeit
„Ich wollte wieder mehr Zeit für soziale „Eine isolierte Karriereplanung gibt es so Geld verdienen kann, sei nicht mehr ratsam.
Kontakte, wollte meinen Sohn aufwachsen gut wie nicht mehr“, sagt auch die Soziolo- Der Arbeitsmarkt ist dafür nicht kalkulier-
sehen“, erklärt er den Karrierebruch. gin Annette von Alemann von der Universi- bar genug. Anders ausgedrückt: Wer äußere
Er suchte sich eine Stelle bei einem Wirt- tät Köln. Zusammen mit Mechtild Oechsle, Aufstiegschancen zu hoch gewichtet, lässt
schaftsinstitut unweit seines Wohnorts: mit Professorin an der Universität Bielefeld, un- sich auf ein Glücksspiel ein. Persönliche Nei-
50 Prozent des bisherigen Gehalts, aber 100 tersucht sie seit Jahren die Einstellungen gungen sind als Fixstern zuverlässiger.
Prozent Gewissheit, um 17 Uhr nach Hause von Schülern, Studierenden und Berufstäti- Natürlich hat es nicht zuletzt gesell-
gehen zu können. Verzicht auf Aufstieg und gen. Laut Alemann zeigen die Forschungen schaftliche Gründe, dass die umfassende
Geld, nur um mit seinem Sohn auf Kinder- zum Thema schon seit längerer Zeit, dass Lebensplanung die Karriereplanung ablöst.
gartenfesten zu sitzen? Auch fünf Jahre sich der Blick geweitet hat: Statt einen en- „Die Vorstellung einer lebenslangen Berufs-
später ist das für den heute 43-Jährigen die gen Fokus auf Karrierechancen und Auf- tätigkeit mit stetigem Aufstieg wurde in den
richtige Wahl: „Ein Leben, in dem Arbeit stiegsstationen zu richten, wird ein umfas- Fünfziger- und Sechzigerjahren geprägt“,
ein Aspekt von vielen ist, passt einfach bes- sender Lebensplan inklusive Sinn und Work- erklärt Alemann. „Die Vereinbarkeit von Be-
ser zu mir.“ Life-Balance formuliert. Alemann begrüßt ruf und Familie war damals klar geregelt.
Für viele dürfte Drechsler ein Held der diese Entwicklung: „Werte, Persönlichkeit Männer gingen arbeiten, Frauen blieben
Arbeit sein, denn sein Handeln spiegelt ei- und Privates bei der beruflichen Orientie- weitgehend zu Hause, stiegen Jahre später
nen Trend wider: Karrierewege sollen heute rung zu berücksichtigen, ist wichtig. Es wieder ein. Das gibt es nicht mehr. Heute
zur Person, ihren Werten und Einstellungen führt zu passenden Entscheidungen.“ Das muss jedes Paar mit Kinderwunsch eine in-
passen. Außerdem wollen die allermeisten habe sich bereits in der Studie „Abitur und dividuelle Lösung finden.“
eine Arbeit, die mit Familie, Freunden und was dann“ gezeigt, die Mechtild Oechsle Das heißt: Ein Aufstieg mit Überstunden
Freizeit vereinbar ist. mit ihren Mitarbeitern vor einigen Jahren und ständiger Präsenz ist für viele schlicht
Bei einer Studie des Instituts der Deut- durchführte. unmöglich geworden. Der Glaube an ihre
schen Wirtschaft gaben 91 Prozent der Be- In dieser Interviewstudie wurde unter- Machbarkeit bröckelt sogar bei glühenden
fragten an, für sie sei es ein wichtiges Ziel, sucht, wie Schüler zu Berufsentscheidungen Fans dieses Modells. Das zeigen Erfah-
genug Zeit für Partner und Kinder zu haben. kommen. Es zeigten sich drei verschiedene rungen, die Alemann in ihren Seminaren
Berufliche Karriere nennen in dieser Studie Orientierungsstrategien: Ein Teil der Abitu- mit BWL-Studenten gemacht hat. Selbst die-
nur etwa 43 Prozent als erstrebenswert. rienten richtete berufliche Pläne am Arbeits- se bisher eher an Karriere orientierte Grup-
Und in einer vom Bertelsmann-Konzern be- markt aus, stützte sich also auf äußere Fak- pe betont mittlerweile, dass sie sich Frei-
auftragten Untersuchung mit 3600 Studie- räume für Freunde, Hobbys und Familie
renden zum Thema Erwartungen ans Be- wünscht.
rufsleben standen Selbstverwirklichung (84
Wie definiere ich
Prozent) und die Suche nach einer sinnvol- BUCH
GARRY OWENS / GALLERY STOCK

len Arbeit (94 Prozent) bei den Jobneulin-


eigentlich Erfolg?
gen auffällig im Vordergrund. CORDULA NUSSBAUM: Dass derart freigeistige Ideen sich in leis-
Solche Statements sind natürlich erst „Bunte Vögel fliegen höher. tungsorientierten Arbeitsfeldern verbreiten,
einmal vor allem Wunschträume. Doch der Die Karriere-Geheimnisse hat auch Unternehmensberaterin Schön
Wertewandel ist auch schon in der Arbeits- der kreativen Chaoten“. festgestellt. Unter den Juraabsolventen etwa
Campus Verlag; 286 Seiten; seien nur noch wenige bereit, in die Arbeits-
* Namen von der Redaktion geändert. 19,99 Euro. routine von Großkanzleien einzusteigen, in

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 65


denen 15-Stunden-Tage, Wochenendarbeit
und Feuerwehreinsätze Alltag seien. Sogar
renommierte Kanzleien hatten phasenweise
Personalmangel, mussten umstellen und
bieten mittlerweile familienfreundlichere
Modelle und flexiblere Arbeitszeiten.
Als weiteres Beispiel für die einschnei-
denden Veränderung nennt Schön ein Füh-
rungskräftetraining für Frauen, das sie re-
gelmäßig durchführt: Von den zwölf ambi-
tionierten Frauen, die sie dort trainiert, ist
in den letzten Jahren nur noch ein kleiner
Teil an einer klassischen „vertikalen“ Kar-
riere interessiert.
Die anderen streben Fachkarrieren an,
bereiten im Training eine Unternehmens-
gründung vor oder spekulieren auf eine
Position, die ihnen Zeit für Familie lässt. „In
diesem Kreis habe ich deutlich gemerkt, wie Bald blieb kaum mehr Ruhe für neue Ide- Facette der neuen Karrieren angesehen, er-
unterschiedlich die Definitionen von be- en und Spinnereien. Und schon gar keine klärt Schön: „Die Akzeptanz hat auch rein
ruflichem Erfolg mittlerweile sind“, sagt Zeit für die spanische Ausgehkultur am pragmatische Gründe. Es herrscht Fachkräf-
Schön, „mit dieser Pluralität müssen wir Wochenende, die sie an Madrid lange so temangel, sodass Arbeitnehmer den Markt
umgehen.“ geliebt hatte. Vier Jahre blieb Brauckmann. ein wenig mitbestimmen können.“ Will hei-
Für Kathrin Brauckmann* bedeutet Er- Dann kündigte sie. Gerade bildet sie sich in ßen: Für Eigenheiten und persönliche Wün-
folg, sich beruflich und persönlich ständig Innovationsmanagement weiter, will nach sche gibt es im Moment etwas mehr Raum.
weiterzuentwickeln. Die Marketingfachfrau Berlin, irgendwo in die Marktforschung. Sie

GARRY OWENS / GALLERY STOCK


studierte im Nebenfach Spanisch, ging nach hat gute Chancen, einen Job zu bekommen,
Wie finde ich den
dem Abschluss nach Madrid, schlug sich schätzt Carmen Schön.
richtigen Arbeitgeber?
dort mit Freelancejobs durch. Dann bekam Bis vor einigen Jahren noch hätte sie in Den Traum vom Sabbatical auf Mykonos
die heute 35-Jährige eine gute Position bei Personalabteilungen mit ihrem eigenwilli- sollte man beim Einstellungsgespräch den-
einer spanischen Solaranlagenfirma. Weil gen Lebenslauf kaum Beachtung gefunden. noch nicht herausposaunen. „Ich rate nach
sie die Arbeit sinnvoll fand, hängte sie sich Heute seien Zickzack-Lebensläufe nicht nur wie vor zu Fingerspitzengefühl“, sagt Cor-
rein, hatte immer mehr zu tun. häufiger geworden, sie würden schlicht als dula Nussbaum. Zwar ist die Münchnerin

K E I N D I E N S T N A C H V O R S C H R I F T

Lebensplan statt Karriereplan machen – wie geht das? Strategische


Überlegungen können helfen, Arbeit zu finden, die zu den eigenen Wünschen passt.

arbeiten alle Abteilungen Selbstverwirklichung


{1} nach den gleichen Wer- {2} streben, zwar oft zufrie- {3}
VORSICHT MIT SINN ten. Einige Bereiche sind PRIORITÄTEN den mit ihrem Berufsle- LEISTUNG
für „Ethik und Nachhal- KLÄREN ben sind, häufig aber we- WICHTIG NEHMEN
Sich darüber bewusst zu tigkeit“ quasi zuständig, der viel Geld verdienen
werden, welche Werte andere sind auf Wirt- Jede Herangehensweise noch tolle Positionen er- Die Öffnung für neue Kar-
man vertritt, ist oft ein schaftlichkeit ausgelegt. an die Berufswahl hat ih- reichen. Wer dagegen eif- rieremodelle bedeutet
Schlüssel zu einer passen- Persönliche Sinnfragen ren Preis: Die Bamberger rig an einer Aufstiegskar- nicht, dass Arbeitgeber
den Stelle. So kann sich eignen sich also nicht als Wirtschaftspsychologin riere arbeitet, erntet eher weniger Leistung fordern,
jemand, der ökologisches Maßstab, den man eins zu Judith Volmer hat in einer objektiven Erfolg, also gu- sie lassen Mitarbeitern
Handeln wichtig findet, eins auf ein Unternehmen Studie verglichen, wie tes Gehalt und eine gute nur mehr Planungs- und
ein nachhaltig arbeiten- anlegen könnte. Übrigens: sich Karriereeinstellun- Position. Diese Fakten Gestaltungsfreiheit. Es ist
des Unternehmen aussu- Sie brauchen ja nicht alle gen auf den Joberfolg aus- sollten Sie abwägen und im Berufsleben nach wie
chen. Dennoch bleibt zu Ihrer Werte innerhalb der wirken. Sie fand heraus, sich ehrlich befragen, be- vor wichtig, mit Leistung
bedenken: So gut wie nie Arbeit leben. dass Menschen, die nach vor Sie neue Wege gehen. zu punkten. Nur so

66 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


GANZHEITLICHKEIT

Sie glaubt, dass es sich auf jeden Fall


lohnt, die eigenen Forderungen gut zu
„Wenn man ähnlich tickt, fühlt man durchdenken und dann klar zu formulieren.
„Ich habe mehrere Klienten, bei denen sich
sich wohler bei der Arbeit.“ dadurch viel geändert hat“, erzählt Nuss-
baum. Ein IT-Fachmann habe etwa eine ein-
jährige Weltreise mit seiner Frau machen
als Coach auf „bunte Vögel“ spezialisiert Dennoch gibt es Möglichkeiten, seinen wollen. Die Firma genehmigte es nicht, der
und zeigt in ihren Büchern Wege, wie man Beruf nach seinem Lebensplan zu gestalten. Mann kündigte. Zur Halbzeit der Reise er-
auch eigenwillige Berufsentscheidungen Der Trick ist, sich nach Arbeitgebern um- hielt er aber eine Mail von seinem ehemali-
immer wieder erfolgreich gestalten kann. zuschauen, die zu den eigenen Werten und gen Chef. Diese sagte, er habe eine Stelle für
Doch: „Auch wenn es für bunte Vögel tat- Lebensstil passen. Das oberflächliche ihn, wenn er wieder da sei. Der Mut des IT-
sächlich etwas leichter geworden ist – die Image einer Firma sei aber keine gute Ori- Spezialisten hatte den Chef offenbar beein-
meisten Unternehmen orientieren sich an entierung, erklärt Nussbaum. Bedeutsamer druckt – und umdenken lassen.
Karrieren und weniger an einem erfüllten sei die Haltung der direkten Vorgesetzten. Dass nur das beherzte Vorgehen und Aus-
Leben ihrer Mitarbeiter.“ Eigentlich klar: Wenn die Chefin eine öko- probieren neue Berufswege möglich macht,
Eins von vielen Beispielen dafür sei die logisch orientierte Querdenkerin ist, wird glaubt auch Annette von Alemann. Bisher sei
berühmte Wo-wollen-Sie-in-fünf-Jahren- sie für einen Gleichgesinnten und seine Ide- der große Umschwung vor allem im Kopf
stehen-Frage. „Diese können im Grunde nur en eher ein offenes Ohr haben. Und wenn passiert, es gebe ein „soziales Leitbild“ hin zu
die Mitarbeiter vorbehaltlos beantworten, der Chef passionierter Familienvater ist, Berufswegen, die zum eigenen Leben passen.
die einen Aufstieg innerhalb der Firma ver- wird er Stundenausfälle durch Kinder- Mit Hirngespinsten habe das nichts zu tun:
folgen.“ Familienmenschen würden ehr- krankheiten oder Ballettaufführungen ent- „Wir haben in Studien häufig nachgewiesen,
licherweise sagen, dass sie bleiben wollen, spannter sehen. Wenn man in Werten und dass soziale Leitbilder die Praxis voraus-
wo sie sind, bis die Kinder älter sind. Und Vorstellungen ähnlich tickt, trägt das dazu sagen.“ Das heißt: Mittelfristig wird das, was
für Lebenskünstler mit Zickzack-Vita sei das bei, dass man sich wohler bei der Arbeit wir uns jetzt wünschen, wohl Alltag werden.
Leben eh eine Spielwiese – sie könnten sich fühlt. Und erfüllter: Denn man arbeitet
zum Teil nicht einmal vorstellen, was in fünf dann mit Menschen zusammen, die ähn-
Jahren sein könnte. Auch wenn diese Ant- liche Prioritäten setzen. „Die Entwicklung
worten von Herzen kämen: Verständnis soll- zu einer individualisierten Arbeitswelt Als Anne Otto den Begriff Zickzack-Lebens-
te man dafür im Bewerbungsgespräch oder steht noch am Anfang“, so Nussbaums Fazit. lauf las, war sie erleichtert. Denn sie selbst
studierte erst Medizin, dann Psychologie, war
Jahres-Mitarbeiter-Gespräch nicht erwar- „Es ist also wichtig, passende Nischen und Therapeutin, wurde Journalistin. Jetzt kann
ten, so Nussbaums Einschätzung. Authenti- Wege zu finden und für die Suche auch sie alles in ihrer Arbeit nutzen. Und das fühlt
sche Planung hat also auch ihre Grenzen. etwas Zeit aufzuwenden.“ sich authentisch an. info@spiegel-wissen.de

schafft man auch die nö- Erfolg (also Zufrieden- schulabsolventen an Auf- tical, sollte sich an ande- rade grundlegend. Wäh-
tigen Voraussetzungen, heit und Erfüllung) ver- stieg und hohen Gehäl- ren orientieren, die den rend früher Loyalität,
um über eigene Wünsche binden lassen. Klopfen tern interessiert. So gibt Weg bereits gegangen Fleiß und Präsenz am Ar-
– etwa Teilzeitarbeit oder Sie also ruhig mal ab, es Untersuchungen, die sind. Durch Recherchie- beitsplatz relevante Kar-
ein bestimmtes Herzens- ob eine Selbstständigkeit zeigen, dass Aufstiegsori- ren und Herumfragen fin- riereeigenschaften waren,
projekt – irgendwann zu Ihnen passen würde. entierten so etwas wie det man meist eine Hand- ist es neuerdings erfolgs-
überhaupt verhandeln zu Wichtige Voraussetzun- „persönliche Zufrieden- voll Vorreiter, die Mut ma- fördernd, wenn man sich
können. gen: gutes Selbstmanage- heit“ nicht wichtig ist. Sie chen und Rat geben kön- an ständige Veränderun-
ment, überdurchschnitt- suchen einfach Heraus- nen. Und wenn man den gen und neue Anforde-
{4} liche Motivation, Durch- forderungen. Schritt dann gegangen ist, rungen anpassen kann.
VIELLEICHT haltevermögen und klare kann man selbst Vorbild Eine solche Flexibilität
SELBSTSTÄNDIG? Risikoeinschätzung. {6} für andere sein. fällt vor allem unabhängi-
VORBILDER SUCHEN, gen, neugierigen Geistern
Die Freiberuflichkeit er- {5} VORBILD SEIN {7} leicht. Sollten Sie dazuge-
weist sich in manchen KARRIEREWUT FLEXIBILITÄT hören: Nutzen Sie diesen
Fällen als geeignete Ar- IST AUCH GUT Auch wenn es immer ein UND ANPASSUNG Erfolgsfaktor ganz be-
beitsform, in der sich mit bisschen nach Sonntags- wusst, und wählen Sie Ihr
etwas Glück objektiver Nach wie vor sind laut rede klingt: Wer unge- Die Faktoren, die eine er- Arbeitsgebiet entspre-
Erfolg (also Geld und An- Studien immer noch etwa wöhnliche Schritte plant, folgreiche Laufbahn vo- chend aus.
sehen) und subjektiver 20 Prozent aller Hoch- beispielsweise ein Sabba- raussagen, ändern sich ge- Anne Otto

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 67


A R B E I T S W E LT

„Was scheint
und wirkt“

Karrierecoach Rainer
Niermeyer erklärt, warum
man sein wahres Ich nicht
ins Büro mitnehmen sollte.
INTERVIEW MARTIN U. MÜLLER

SPIEGEL: Herr Niermeyer, Sie behaupten, SPIEGEL: Schon Kindern wird doch ge- Niermeyer: Langfristig kann das nur gelin-
nur derjenige habe Erfolg, der seine Rolle sagt, dass sie ehrlich und authentisch sein gen – und vor allem mit Zufriedenheit ein-
als Angestellter oder Chef richtig spiele – sollen. hergehen –, wenn sich meine Performance
authentischer Selbstausdruck sei dagegen Niermeyer: Und genau hier liegt der Wi- weitgehend mit meiner Persönlichkeit und
völlig unangebracht. Warum? derspruch. Kinder sollen zwar ehrlich sein. meinen inneren Werten deckt.
Niermeyer: Jedermann wird dafür bezahlt, Und gleichzeitig bekommen sie eingeimpft, SPIEGEL: Aber es macht den Arbeitstag
LARS TUNBJÖRK / LINK IMAGE

auf professionelle Art und Weise seine Rolle sich an Normen und Regeln zu halten, um doch anstrengender, wenn ich immer eine
wahrzunehmen. Personalexperten sprechen innerhalb der Leitplanken der Gesellschaft Performance abliefern muss.
in vergleichbarem Zusammenhang von funktionieren zu können. Die ganze Welt ist Niermeyer: Ich schätze das anders ein. Ich
„Performance-Management“. In jedem Fall eine Bühne, und wir sind die Schauspieler, kann zum Beispiel viel entspannter mit
geht es um das, was nach außen scheint und wie Shakespeare es ausdrückt. Kritik oder negativem Feedback umgehen,
wirkt. Dies ist das für den beruflichen Erfolg SPIEGEL: Ein trauriges Berufsleben, wenn wenn mir klar ist, dass lediglich meine In-
im Wesentlichen Relevante. man nur noch eine Rollen-Marionette ist. terpretation der Rolle bewertet wird und

68 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


A R B E I T S W E LT

nicht ich persönlich als Mensch. Das macht


mich im innersten Kern weniger angreifbar.
Eine Arbeitsplatzbeschreibung ist eine
Regieanweisung. Beim Töpferkurs auf Fuer-
„Klopfen einem die
Wenn sie kritisiert werden, denken viele An- teventura kann man in reiner Form authen- Leute weiterhin auf
gestellte, dass ihr Chef sie persönlich nicht tisch sein, aber bitte nicht im Job.
mag – sachliche Kritik und Beziehungsebene SPIEGEL: Gehören dazu auch Äußerlich-
die Schulter, haben
geraten durcheinander. Wenn an einem keiten, etwa Kleidung, die Frisur oder gar sie wenig Respekt.“
Theater der Regisseur seinem Schauspieler das Auto?
vorschlägt, seine Rolle anders zu spielen, ist Niermeyer: Selbstverständlich. Davon lebt
dies ein notwendiger professioneller Aus- eine ganze Industrie. Insignien hierar-
tausch über mögliche Rolleninterpretatio- chischer Kompetenz differieren dabei je
nen. nach Branche. Was bei einer Privatbank den blitzschnellen Rollentausch, auch darin
SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel dafür, wie nach wie vor die Krawatte eines Luxuslabels liegt ihre Kunst.
jemandem Authentizität geschadet hat? ist, mag bei bestimmten politischen Parteien SPIEGEL: Welche Rolle spielen heute so-
Niermeyer: Kurt Beck. Er war von 2006 bis genau das Fehlen derselben sein. ziale Medien in der beruflichen Selbstdar-
2008 Bundesvorsitzender der SPD, musste SPIEGEL: Dann kann ich also auch mit Kol- stellung?
damit die Bühne wechseln: raus aus den legen nicht befreundet sein? Die würden ja Niermeyer: Jede Facebook-Seite ist eine
Wäldern der Pfalz, rauf aufs glatte Parkett ziemlich schnell mein wahres Ich kennen- Bühne. Ist ein Twitter-Account gut durch-
Berlins. Da machte er eine weniger gute lernen. dacht, kann auch der karriereförderlich
Figur. Dort ist er niemals richtig angekom- Niermeyer: Ein CEO kann womöglich mit sein. So zeigt man, dass man spontan re-
men. Kurt Beck war so authentisch, dass er seinem Vorstandskollegen die Woche über agieren kann und auch Mensch ist.
nicht mehr lernbereit war – so schrieb der WG-ähnlich eng zusammenleben. Es dürf- SPIEGEL: Kann man ohne jede Fachkennt-
SPIEGEL seinerzeit. ten beide den gleichen Reifegrad hinsicht- nis die Rolle einer guten Führungskraft
SPIEGEL: Hat also nur noch der Schauspie- lich des Verständnisses vom Spiel haben. spielen?
ler in allen Lebenslagen Erfolg? Dadurch gibt es keine überzogenen Vorbild- Niermeyer: Ein Grundrüstzeug an Fach-
Niermeyer: Wer nur nach der Devise „Ich erwartungen. Über Führungsebenen hin- wissen ist unabdingbar. Je höher man jedoch
bin so, wie ich bin“ im Job agiert, lässt keine weg befreundet zu sein kann hingegen aufgestiegen ist, desto weniger kommt es auf
Veränderung zu. Gerhard Schröder oder schwierig sein. fachliche Kompetenzen an. Werde ich be-
Joschka Fischer konnten im Gegensatz zu SPIEGEL: Wie ist das im Fall eines Jobauf- zahlt für das Anschrauben von Autospiegeln,
Beck die verschiedensten Rollen spielen. stiegs? Wie schlüpft man in die neue Rolle, muss ich Autospiegel anschrauben können.
Sie haben ihr Verhaltensspektrum intelli- ohne sich unglaubwürdig zu machen? Aber je weniger messbar die Leistung ist, des-
gent genutzt, indem sie ihr Handeln den Niermeyer: In der Tat machen sich manche to mehr braucht man die Fähigkeit, in Rollen
Erwartungen ihres jeweiligen Umfelds an- Aufsteiger unglaubwürdig. Sie fangen un- schlüpfen zu können. Soziale und Manage-
passten. vermittelt an, ihre ehemaligen Kollegen zu mentkompetenzen rücken in den Mittel-
SPIEGEL: Sind die wirklich erfolgreichen siezen, auch wenn sie eine Woche zuvor punkt. Nur so ist es erklärbar, dass in Berlin
Menschen im Job also Hollywoodanwärter, noch „du“ sagten, sie geraten in einen über- völlig Fachfremde zum Bundesminister wer-
die Versager dagegen Laiendarsteller? zogen distanzierten Habitus – eine klassi- den – und teilweise gar keinen so schlechten
Niermeyer: Hart gesagt: Ja. Aber wie defi- sche Fehlinterpretation der neuen Rolle, um Job machen. martin.mueller@spiegel.de
nieren wir „wirklichen Erfolg“? Wer im ja nicht zu fraternisierend zu erscheinen.
landläufigen Sinne ganz oben mitspielen Denn klopfen einem die Leute weiterhin auf
will, sollte zumindest die Kompetenz haben, die Schulter, haben sie womöglich wenig
Kompetenzvermutungen beim Gegenüber Respekt. Als Chef kann man nicht von jedem
herzustellen. geliebt werden. Man braucht ein dickeres
SPIEGEL: Wie muss man sich das konkret Fell, das ist Teil des Spiels.
vorstellen? Was sollten meine Kollegen über SPIEGEL: Gehören auch Lügen zur Insze-
mich wissen? nierung?
Niermeyer: Ihre Kollegen sollten das über Niermeyer: Nein. Ich sollte mir lediglich
Sie wissen, was Ihrer Karriere nicht im klar darüber sein, welchen Teil meiner
Wege steht. Profile in Online-Berufsnetz- Interpretation der Realität mein Umfeld
werken beispielsweise sind bewusst formu- verträgt.
lierte Steckbriefe mehr oder weniger cleve- SPIEGEL: Muss man authentisch wirkende
rer „Erwartungsentsprecher“. Auftritte proben?
SPIEGEL: Sind authentische Menschen Niermeyer: Manchem wird es in die Wiege RAINER NIERMEYER
nicht beliebter? gelegt. Andere Leute sollten dies üben. Man
Niermeyer: Wenn man einen Kollegen hat, hat oft nur eine Chance. arbeitet als Personalberater und
der morgens schlecht gelaunt in die Firma SPIEGEL: Wie sehr färbt die Rolle ab? Ver- Managementcoach für Führungs-
kommt, ist der zwar authentisch. Dieser ändert man sich dann nicht auch privat? kräfte. Der Diplompsychologe hat
Kollege ist aber seinen eigenen Emotionen Niermeyer: Ja. Die sogenannte professio- den Ratgeber „Mythos Authentizität:
ausgeliefert. Es geht im Job eben auch um nelle Deformation birgt Gefahren. Die Frage Die Kunst, die richtigen Führungs-
emotionales Selbstmanagement. Niemals lautet dann am Wochenende: Wer bin ich – rollen zu spielen“ (Campus Verlag;
steht im Arbeitsvertrag: Sei authentisch! jenseits der Rollen? Profis beherrschen aber 216 Seiten; 24,90 Euro) verfasst.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 69


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B E F R E I U N G S S C H L AG

Is’ j
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Endlich mal r i
ch
ti
g draufhauen!

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70 SPIEGEL WISSEN
am 1 / 2016
B E F R E I U N G S S C H L AG

ammer - TEXT BRITTA STUFF F OTO S CHRISTOPH NEUMANN

e
Selbstversuch in einem „Wutraum“

r- har t
SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 71
B E F R E I U N G S S C H L AG

Es gibt eine
Ich könnte übrigens verstehen, wenn Sie
langsam wütend werden, weil der Text
schon zur Hälfte vorbei ist und noch kein
Wort über den Wutraum gefallen ist.
Der Wutraum also. Man findet ihn in ei-
nem Industriegebiet in Berlin. Es wird be-
trieben von Christian, er hat BWL studiert

Geschich
und bietet auch Tortenschlachten an. Der
Raum ist klein, nur ein paar Quadratmeter,
darin: ein gedeckter Tisch, ein Spiegel, eine
Kommode, ein Fernsehtisch mit Fernseher
drauf, ein Computermonitor. Es kostet 150

te...
Euro, wenn man das alles zertrümmern will,
danach räumt Christian auf und stellt neue
Möbel hin.
Er sagt, es kommen Väter mit ihren Söh-
nen, denen man in der Schule gesagt hat,
dass sie unterdrückte Aggressionen haben.
... die ich schon so oft erzählt habe, dass ich Es kommen Frauen direkt nach der Schei-
nicht ganz sicher bin, ob sie wahr ist. Sie dung. Es kommen Typen, die Ärger mit der
könnte aber wahr sein. Es war im Musik- Polizei hatten, und Leute, die ihren Chef
unterricht in der sechsten Klasse. Aus ir- hassen. Es gibt Männer, die das Ausrasten
gendwelchen Gründen wurden die vier alt. Wenn er fröhlich ist, freue ich mich. im Wutraum ihren Frauen zu Weihnachten
Temperamente besprochen, Sanguiniker, Wenn er traurig ist, tröste ich ihn. Wenn er schenken, weil sie es satthaben, dass bei je-
Phlegmatiker, Melancholiker – und Chole- wütend ist oder etwas kaputt macht, sage dem Streit das Familiengeschirr zertrüm-
riker. Der Musiklehrer, der sehr nett war, ich, dass er das nicht noch einmal tun soll. mert wird. Wenn man Christian so zuhört,
aber leider keine Ahnung hatte, wie schwer Ich sage Sätze, die auch schon meine Mutter könnte man glauben, dass es sehr viele Men-
es ist, zwölf Jahre alt zu sein, wollte, dass gesagt hat, manchmal aus purer Verzweif- schen gibt, die gern häufiger alles kurz und
jeder Schüler der Reihe nach sagt, was er lung. Ich sage: „Wenn du das noch einmal klein hauen würden.
selbst für ein Temperament hat. Es war so- machst, können wir nicht ins Schwimmbad.“ An der Wand stehen Schraubenschlüssel,
fort klar, dass nur Sanguiniker oder Melan- Es gibt genug Situationen, in denen ich Baseballschläger, ein Vorschlaghammer und
choliker akzeptable Charaktere sind, wel- auch gern ausrasten würde und es doch eine Axt.
cher Zwölfjährige steht schon auf und nennt nicht tue. Zum Beispiel, wenn ich am Ende
sich selbst einen Phlegmatiker? Also sagte einer zweistündigen Konferenz das Gefühl ES KLINGT GANZ LEICHT, einen Vor-
ich, als ich an der Reihe war, sehr tapfer: habe, dass nun wirklich jeder zu jedem The- schlaghammer zu nehmen, in einen Raum
„Ich bin Sanguinikerin.“ ma alles gesagt hat, und der Chef in die Run- zu gehen und auf den Tisch einzuschlagen.
Einige begannen zu lachen, am Schluss de fragt: „Gibt’s noch etwas?“, und nach ei- Es ist aber nicht leicht. Es fühlt sich an wie
lachte sogar der Musiklehrer mit, was zu ei- nem Moment Pause jemand sagt: „Ich hätte ein großer Fehler. Als hätte man 100-mal
nem Wutausbruch führte – am Ende brüllte noch eine Anmerkung auf der kreativen über seinen Chef „Du Riesenarsch“ gedacht
ich „ICH BIN KEIN CHOLERIKER“. Ebene.“ – und soll es ihm dann ins Gesicht sagen.
Es gibt noch etwas, von dem ich nicht Oder wenn ich im Auto sitze, um meinen Erst mal also warm machen. Geschirr
weiß, ob es wirklich wahr ist, aber ich glau- Sohn von der Kita abzuholen – ein bisschen gegen Wand. Geschirr gegen Wand hat jeder
be daran: Die cholerischen Ausbrüche, die zu spät, wie immer –, und in den einzigen schon mal gesehen – oder selbst geworfen.
ich seit diesem Tag hatte, waren nicht der freien Parkplatz einparken will und jemand Geschirr gegen Wand ist eine Einstiegsdro-
Rede wert. Vielleicht habe ich ein paarmal fährt vor mir hinein, jemand, der genau ge- ge, nicht besonders schwer.
eine Tür geknallt, vielleicht drei- oder vier- sehen hat, dass ICH diesen Parkplatz zuerst Baseballschläger gegen Spiegel. Schon
mal ein Argument etwas lauter vorgetragen. erspäht habe. schwieriger, aber nicht wirklich schwierig.
Einmal habe ich eine Tasse geworfen, gegen Oder wenn mir auffällt, dass mein Mann Ein Schlag, und alles ist kaputt.
die Wand. Ich glaube, ich bin kein Choleri- etwas NIE tut, ich dafür aber IMMER. Axt gegen Kommode. Sehr schwer. Beim
ker mehr. Gegen solche Gefühle mache ich Yoga. ersten Versuch treffe ich die Kommode
Es hilft nicht. Ich liege auf der Matte, in der nicht, dafür aber beinahe meinen Fuß. Das
ICH DARF ES AUCH NICHT SEIN. Wut Totenstellung, der Yogalehrer läuft durch hält mich erst mal auf. Die Vorstellung einer
ist verboten. Ich kann nicht als 36-Jährige die Reihen und sagt: Savasana. Ihr seid ganz Axt in meinem Fuß ist schrecklich. Dann
einfach einen Wutanfall bekommen, schon entspannt. Ihr denkt an nichts. In eurer Mit- packt mich der Ehrgeiz. Das. Scheiß. Ding.
gar nicht als Frau, da gelte ich schnell als te herrscht Ruhe. Und ich denke: Warum Muss. Doch. Klein. Zu. Kriegen. Sein.
hysterisch. Ich sehe an den Kindern meiner springe ich nicht auf und laufe raus? Warum ARRGGGGGGHHHH!
Freundinnen, besonders an den Mädchen, ist meine Mitte nicht entspannt? Was, Zertrümmern, das kann ich jetzt schon
wie ihnen immer wieder gesagt wird, dass wenn in meiner Mitte ein cholerischer verraten, macht sehr viel Spaß. Weil es sonst
sie „lieb“ sein sollen. Ich sehe es aber auch Zwerg wohnt? Und der mein authentisches verboten ist, aber auch, weil es sich richtig
an meinem eigenen Sohn. Er ist drei Jahre Ich ist? anfühlt. Vor allem aber ist es wahnsinnig an-

72 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


B E F R E I U N G S S C H L AG

strengend. Nicht in den ersten fünf Minuten,


aber dann.
Tisch. Axt. Leichte Übung.
Regal. Vorschlaghammer. Schon schwe-
rer.
Fernseher. Schwer. Halt nein, sehr
schwer. Quasi unmöglich. Den Fernseher
umgibt ein Metallgehäuse, das so hart ist,
dass jeder Schlag im Körper nachhallt. Zu-
gleich kann man nach so viel Zerstörung
nicht glauben, dass es irgendetwas gibt, das
nicht zerstörbar sein soll. Der Computermo-
nitor ging doch auch ganz leicht kaputt, ist
der Fernseher von der Panzerindustrie ge-
baut worden, oder was?
Keuch.
Pause.
Es wäre vielleicht etwas leichter, wenn
ich gerade tatsächlich wütend auf jemanden
wäre. Bin ich aber nicht. Bevor ich zu dem
Raum fuhr, hat mein Mann mir geraten,
mir vorzustellen, dass er mitten in einem
Streit einschläft, was schon vorgekommen

„Ti sch.
Axt.
Lei chte
Ü bung“
Ich weiß natürlich, dass das Zeug aus
Wohnungsauflösungen stammt und Sperr-
müll ist, dass niemand den Tisch, das Regal,
den Spiegel mehr haben wollte. Es tut mir
trotzdem leid. Es würde mir noch sehr viel
mehr leidtun, wenn das meine Sachen ge-
wesen wären. Oder die von jemand ande-
rem, der sie noch braucht, der sie geliebt
ist und mich sehr böse gemacht hat. Ich Ich kann nicht anders, es ist ein körperlicher hat. Eigentlich bin ich froh, dass ich seit der
schaffe es trotzdem nicht, auf Kommando Reflex, wie Gähnen. Christian sagt, das gehe sechsten Klasse keinen echten Wutanfall
wütend zu sein, schon gar nicht auf eine allen hier so: Sie stehen in den Trümmern mehr hatte.
CHRISTOPH NEUMANN / SPIEGEL WISSEN

Kommode. Also schlage ich ohne Wut zu, und lächeln. Für einen Moment bin ich so Am nächsten Tag beim Yoga bin ich ganz
was ein bisschen ist wie laufen, ohne ver- zufrieden wie selten. entspannt. Beim Savasana schlafe ich zum
folgt zu werden: einfach Sport. Und dann passiert etwas, mit dem ich ersten Mal ein.
Nach 20 Minuten ist alles im Raum ka- nicht gerechnet habe. Es tut mir leid.
putt, bis auf den Fernseher, da war nichts Ich sage das nicht, weil diese Geschichte
zu machen. Es sieht aus wie nach einer eine pädagogische Pointe haben muss, son-
Britta Stuff ist besonders im Einklang
Barschlägerei in einem schlechten Western. dern weil ich dort in den Trümmern wirk- mit sich, wenn sie mindestens zehn
Es gibt keinen Spiegel mehr, ich habe ihn lich denke: all die netten Sachen, einfach so Stunden geschlafen hat. Also quasi nie.
zertrümmert, aber ich weiß, dass ich grinse. zerstört. Britta.Stuff@spiegel.de

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 73


P O R T R ÄT

Eine
glückliche
Frau

74 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


P O R T R ÄT

Lachen ist ihr


EIGENTLICH macht Alma Lukac alles
Lippenstift. eigenen Kinder. Es sind die schönsten Räu-
falsch. Sie lebt nicht achtsam im Hier
und Jetzt, sie meditiert nicht, praktiziert Aber Alma Lukac me der 90-Quadratmeter-Altbauwohnung
in Hamburg-Eimsbüttel. „Ich selbst schlief
kein Yoga. Sie spielt weder Tennis noch als Kind in der Küche, gemeinsam mit mei-
Querflöte und hat außer Stricken keine hat ihren ner Oma.“
Hobbys. Sie macht nichts aus ihrem Typ, Alma musste vor der Schule die Hüh-
und wenn sie shoppen geht, dann nicht, Weg zum inneren ner füttern und die Kuh auf die weit ent-
um sich zu belohnen, sondern weil ihr fernte Weide bringen. Ihr Großvater
einziger Pullover fadenscheinig ist. Alma
Lukac ist die lebende Antithese aller
Einklang band dazu das Vorderbein des Tiers an
den Hörnern fest, damit die Sechsjährige
Glücksratgeber – und wirkt dabei zufrie-
den wie Buddha.
gefunden. es bändigen konnte.
Wie wenig normal ihre Kindheit war,
Dabei schafft die 45-Jährige für zwei: begriff Alma erst viel später. Da hielt sie
Sie ist Geschäftsführerin einer Überset- T E X T ANNETTE BRUHNS staunend ihr erstes Kind in den Armen,
zungsfirma, betreibt ein Café, erzieht zwei F OTO S KATHRIN SPIRK Liam, heute 12 – und erschrak. „So ein
Kinder, kümmert sich um die pflegebe- winziges Wesen hatte meine Mutter fort-
dürftigen Schwiegereltern, putzt, kocht, gegeben!“ Vielleicht war sie mit ihren 18
räumt auf. Zeit für sich hat Alma Lukac Jahren zu jung gewesen, vielleicht sah
nur morgens um sechs, bevor die Familie aufwacht. „Dann höre ich sie keine andere Wahl, ihre Tochter jedenfalls fasste mit Liam im
NDR 2, trinke Kaffee und erledige das im Haushalt, was ich nachher Arm einen Beschluss: „Ich werde alles anders machen.“
nicht mehr schaffen kann.“ Damals habe sie aufgehört, sagt Alma Lukac heute, sich ständig
Sie lacht ihr offenes, herzliches, humorvolles Lachen. Dieses um sich selbst zu drehen, sich immer weiter optimieren zu wollen.
Lachen ist ihr einziger Lippenstift; es macht sie schön. Zart ist die Seitdem ist sie mit sich im Reinen. Seitdem hält sie Probleme nur
gebürtige Serbin, 1,63 Meter groß, die Augen sehr hell, das Haar für Hindernisse – und nicht für Katastrophen. Und seitdem hat sie
lang und haselnussbraun, ruhige Gesten, warme Stimme. Wenn wenig Geduld mit denjenigen, die in ihren Augen nur aus purer Lan-
man genau hinschaut, sieht man durchaus Spuren der vielen Arbeit geweile unzufrieden sind. Eine ihrer Freundinnen etwa habe sich
in ihrem Gesicht und ihren Händen. Aber ihr Blick ist jugendlich: kürzlich fürchterlich darüber aufgeregt, dass ihr Mann dem Sohn
neugierig und sehr vergnügt. eigenmächtig eine neue Frisur verpasst hatte. „Die hat so ein tolles
Das war nicht immer so. „Ich war ganz lange auf der Suche, hatte Leben, und dann erfindet sie ein solches Problem“, sagt Alma Lukac
oft schlimmen Liebeskummer, wollte mal in die USA auswandern, kopfschüttelnd. Sie grinst. Für Probleme hat sie einfach keine Zeit.
mal nach Australien, noch studieren, mich verändern.“ Die Suche
habe erst aufgehört, als sie ihr Ich und seine Bedürfnisse nicht MIT 18 KAM ALMA NACH DEUTSCHLAND, wurde nach eini-
mehr in den Mittelpunkt stellte. Als sie also genau das nicht mehr gen Umwegen Fremdsprachenkorrespondentin. Nachts und am
tat, was Glücksgurus empfehlen: sich und ihren Gefühlen nachzu- Wochenende hat sie lange Zeit gekellnert, damit das Geld reichte,
spüren. „Für mich war das eine Befreiung.“ In ihren Augen verstel- vor allem für die eigenen vier Wände. Unabhängigkeit war ihr wich-
len sich viele Menschen den Weg zum Glück dadurch, dass sie sich tig. Als die Übersetzerfirma, bei der sie angestellt war, pleiteging,
selbst viel zu ernst nehmen. Dass sie unrealistische Erwartungen passierte ein Wunder: Der Insolvenzverwalter gab der Einwanderin
haben, die das Leben nicht erfüllen kann. den Zuschlag. Für nur 7000 Mark wurde sie Firmeninhaberin. „An-
Sie selbst hatte nie große Hoffnungen. „Als ich 14 war, hätte ich dere boten das Doppelte, aber ich konnte ausbilden und die Azubis
mir nicht vorstellen können, dass ich irgendwann ein Leben führen übernehmen. Das gab den Ausschlag.“
würde wie heute.“ Ihr turbulentes Leben, zu dem bis dahin viele Ortswechsel, viele
Jobs und viele Männer gehört hatten, wurde auf einmal ruhiger.
AUFGEWACHSEN ist sie in einem Dorf in Bosnien-Herzegowina. Sie gab das Kellnern auf und konzentrierte sich auf die Firma, an-
Als Alma drei Wochen alt war, gingen ihre Eltern zurück nach fangs zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Ihren Mann
Deutschland. Beide hatten hier Arbeit, die Mutter als Näherin, der lernte sie über einen Arbeitskollegen kennen. Nach nur drei Mo-
Vater als Schlosser. Sie kamen nur im Sommer, fuhren mit der ein- naten beschlossen die beiden, eine Familie zu gründen, nach drei
zigen Tochter an die See oder zu Verwandten. Fast alle Kinder in weiteren Monaten war Alma schwanger. Deutsch spricht sie wie
ihrem Dorf wuchsen damals bei den Großeltern auf, während die ihre Muttersprache. Ihr Mann, ein Türke, nennt sie „Gisela“, weil
Eltern im Ausland Geld verdienten. „Ich hielt das für normal.“ sie so pflichtbewusst und organisiert ist. Für sie ist das ein Kom-
Ihre Großmutter war keine zärtliche Frau, „jede Bitte bellte sie pliment. „Die Abneigung gegen unsere Herkunftsländer eint mei-
wie einen Vorwurf“. Ihr Mann, Almas Opa, war ein Trinker und Schür- nen Mann und mich. Er mag die Türkei nicht und ich nicht Ex-Ju-
zenjäger, für seine Frau war das bäuerliche Dasein mit vielen Kindern goslawien.“ Mit den Kindern reden sie weder serbokroatisch noch
und Tieren harte Fron. Voller Stolz führt Lukac in die Zimmer ihrer türkisch.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 75


P O R T R ÄT

Ihr Zuhause strahlt Ruhe aus. Alma und ihr Mann sind Minima- leinerziehenden-Dasein damals geklagt, beteuert Alex. „Ich hatte
listen, sie besitzen nicht einmal einen Fernseher, „sonntags gucke doch Liam“, hält Lukac fröhlich dagegen, „und einen Hund und die
ich ,Tatort‘ auf dem Handy“. Auch Möbel gibt es kaum, ein Sofa, ein Firma. Es ging uns doch gut.“ Als ihr Mann wieder einzog, bekamen
großer Tisch, eine weiße Bank. Zum Anziehen genügen ihr eine sie ihr zweites Kind. „Jetzt sind wir oft 24 Stunden lang am Tag
Jeans und ein Pulli, sie trägt jeden Tag dieselben blauen Chucks, „ich zusammen.“
kleide mich nur in Blau oder Grau“. T-Shirts hat sie vier oder fünf,
„die gibt mir eine Verwandte weiter“, sagt sie fast entschuldigend. HEIRATEN LEHNT ALMA AB. Sie glaubt, dass Liebe auf Frei-
Sie steht in der Küche und rührt Nudelsoße an, über dem Holz- willigkeit basiert. „Bei uns ist die Trennung nur ein Gespräch weit
tisch leuchtet warm eine Lampe aus geschliffenen Kristallen. Die entfernt. Wir bräuchten keine Anwälte. Deshalb müssen wir uns
Kinder haben Hunger. Ihre beste Freundin ist gekommen, Alex, stets umeinander bemühen.“ Nie würden sie so heftig miteinander
noch im Mantel sprudelt sie schon los, Alma hört ihr lächelnd zu. streiten, dass sie sich verletzten. „Ich schweige erst mal und denke
Im Alltag ist sie diejenige, die zuhört, tröstet, hilft. Ob sie, Alex, mit nach, wenn ich ihm grolle.“
Almas Leben glücklich wäre? „Nein!“, ruft die Friseurin. „Zu wenig Ira stürmt in die Küche, die Locken fliegen um ihr Gesicht, ihre
Freiheit! Zu viel Fremdbestimmtheit!“ Alma sagt mit einem Strah- Arme sind nackt, sie verströmt Hitze. Das Temperament habe die
len: „Im Rückblick werden doch alle schwierigen Phasen zu lustigen Kleine von ihr geerbt, sagt Alma und erzählt eine Begebenheit aus
Anekdoten.“ einem Türkei-Urlaub. „Da schrie auf einmal eine Frau auf, eine
Die schwierigste Phase hielt fünf Jahre lang an. Als Liam vier Mo- Roma, sie wurde niedergeschlagen. Ganz viele Männer standen um
nate alt war, verschwand sein Vater auf Montage, im Ausland. Er sie herum. Und ich bin einfach spontan dazwischengegangen.“ Auch
hatte sich dazu verpflichtet, ohne seiner wenn die Männer wütend waren und
Partnerin vorher ein Wort zu sagen, er Messer hatten.
fand, sie müsse das auch so verstehen. „Ich ertrage einfach keine Ungerech-
Alma verstand. „Er wollte die Familie er- tigkeit“, sagt sie. „Da geht etwas mit mir
nähren, hatte aufgrund seiner Herkunft durch.“ Unter Almas ruhiger Oberfläche
aber nur einen Hauptschulabschluss und „Ich ertrage einfach schlummert ein starkes Ich. Eines, das
damit beruflich schlechte Chancen. Das sich nur so lange unterordnet, wie Ge-
ist demütigend, wenn man intelligent ist.“
keine Ungerechtigkeit. rechtigkeit herrscht. Und das sich be-
Nie habe Alma über ihr unfreiwilliges Al- Da geht etwas haupten kann, wenn es wirklich nottut.

mit mir durch. “

KATHRIN SPIRK / SPIEGEL WISSEN

Annette Bruhns findet ihren inneren


Einklang zuverlässig beim Segeln.
Annette.Bruhns@spiegel.de

76 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


WER ENGLISCH SPRICHT, hat es oft
leichter. Da gibt es zum Beispiel den Aus-
druck „original sin“, den man lieber nicht mit
„originelle Sünde“ übersetzen sollte. Gemeint

DR.
ist nämlich die Erbsünde, von der sich nach
christlicher Lehre niemand frei fühlen darf,

A L LW I S S E N D
seit Adam und Eva aus dem Paradies vertrie-
ben wurden. Witze gibt es darüber etliche.
So schlug der Satiriker Tom Lehrer vor: Geh
doch nach Rom und lass im Vatikan klären,

Wie originell ist


„if your sin’s original“, ob deine Sünde auch
echt, vielleicht etwas Besonderes ist. Na-
türlich wusste Lehrer, dass das lateinische

ein Original? Wort „origo“ für Ursprung oder Anfang –


auch für den Sonnenaufgang; der „Orient“
liegt da ganz nah – kurios fortgewachsen ist.
Original heißt inzwischen alles, was sich
nicht bei genauerem Hinsehen als Kopie,
Nachbau oder gar Fälschung erweist. Solch
authentische Einzigartigkeit gilt meist als
wertvoll: Wer Wahrheit will, sollte sich an
das Echte halten, lehren Kultur- und Kunst-
historiker spätestens seit dem 19. Jahrhun-
dert. Selbst wenn bloß noch Scherben übrig
sind, gehören sie ins Museum; es geht uns
nun mal nichts über die Aura des unver-
wässert Eigentümlichen. Ist das obendrein
unterhaltsam, ungewohnt und merkwürdig,
darf man es „originell“ nennen.
Wer solche Ausdrücke auf Menschen
überträgt, achtet selten darauf, dass er von
Personen spricht, die in der Regel ohnehin
nicht in Serie auftreten. Allein der Verdacht,
jemand sei bloß ein Abziehbild, klingt nach
Beleidigung. Auch deswegen konnten Ver-
fechter des schöpferischen Individualismus
die Latte immer höher legen: Schon um
1775 sollte jeder junge Dichter ein „Original-
genie“ sein wie angeblich Homer.
Dabei wissen Realisten längst, wie selten
das ganz Neue ist. Weit überwiegend beru-
hen die Merkmale jedes Lebewesens, auch
eines Menschen, auf dem Erbgut, also dem,
was schon da war – die Charakterzüge ein-
geschlossen. „Sind nun die Elemente nicht
/ Aus dem Komplex zu trennen, / Was ist
denn an dem ganzen Wicht / Original zu
nennen?“, spottete schon Goethe, ausgerech-
net über sich selbst. Man könnte erwidern:
OLIVER SCHWARZWALD / SPIEGEL WISSEN

Die Mischung macht’s dann eben, die bei


jedem doch erkennbar andere Gesamtheit
des Individuums, von zart bis ruppig, von
träge bis nervös. Das tröstet ein wenig. Wem
allerdings zu Ohren kommt, dass er unter
den Kollegen als Original gilt, sollte sich viel-
leicht doch vorsichtig umhören, wie freund-
schaftlich das gemeint ist.
Johannes Saltzwedel

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 77


SEHNSUCHT

„Die Tragik
des Touristen“
Der Schweizer Soziologe Robert
Schäfer erklärt, warum wir im Urlaub
so gern authentisch sein wollen.
INTERVIEW TOBIAS BECKER F OTO S MARTIN PARR

78 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


SEHNSUCHT

Robert Schäfer lehrt Soziologie sen sollen, dass sie gegenüber den anderen Schäfer: Sie entlarven den Reisenden. Sie
an der Universität Fribourg. Touristen eine kritische Distanz einnimmt. sind ein Hinweis darauf, dass er doch Teil
Sie steht dafür ein wenig abseits, fotografiert einer Inszenierung ist – und selbst ein Tou-
SPIEGEL: Herr Schäfer, es gibt etwas, was die anderen beim Fotografieren und mar- rist. In einem Blog klagt eine Rom-Reisende
Touristen noch weniger mögen als Staus, kiert in der Bildbeschreibung explizit: „Ich darüber, dass sie keine Fotos machen kann
schmutzige Strände und schlechtes Wetter. habe mich abgekoppelt.“ ohne Touristen drauf, außer vielleicht mor-
Schäfer: Andere Touristen. SPIEGEL: Woher kommt dieses Bedürfnis, gens um vier Uhr, weil dann noch keiner da
SPIEGEL: Ist das nicht absurd? sich abzugrenzen? ist. Mit anderen Worten: Das „authentische“
Schäfer: Ich war auch erstaunt, wie verbrei- Schäfer: Touristen sind per Definition keine Foto erfordert frühes Aufstehen, einen rie-
tet die Abneigung ist. In der Sozialwissen- Individuen, sie treten als Masse auf, als Tou- sigen Inszenierungsaufwand. Man kann
schaft gibt es natürlich eine lange Tradition ristenhorde. Der einzelne Reisende aber will daran sehr schön das Paradox erkennen, das
der Tourismuskritik: die touristische Welt als die ausgetretenen Pfade verlassen, auch im einem überall im Tourismus begegnet, so-
künstliche Scheinwelt. Aber der Tourist selbst übertragenen Sinn. Er sucht ein authenti- wohl bei den Reisenden als auch bei den
sieht den Tourismus nicht weniger kritisch, sches Erlebnis. Ein Erlebnis, das außerhalb Reiseveranstaltern. Die betonen in ihren
das hat meine Studie gezeigt. Er verwendet der Logik seines Alltags steht – ähnlich wie Prospekten gern, dass es in der Nähe des
den Begriff manchmal gar als Schimpfwort. die Religion oder die Kunst. Da gibt es in- Hotels einen „echten Basar“ gebe, in dem
Touristen, das sind immer die anderen. teressante Parallelen zum Tourismus. man die „traditionelle Küche“ kennenlernen
SPIEGEL: Wie äußert sich die Abneigung? SPIEGEL: Wieso stören die anderen Tou- könne.
Schäfer: Ich habe Reiseblogs im Internet risten dieses Erlebnis? SPIEGEL: Mit welchen Tricks arbeiten die
untersucht. Dabei bin ich immer wieder auf Reiseveranstalter?
Beiträge wie den einer jungen Weltreisen- Schäfer: Nehmen Sie den kostenlosen Wel-
den gestoßen, die mit einer Reisegruppe un- come-Drink im Hotel: Er soll dem Reisen-
terwegs war. Sie zeigt dort Fotos, die bewei- „Der Reisende sucht ein den das Gefühl geben, dem kapitalistischen
Erlebnis, das außerhalb der Logik
seines Alltags steht.“

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 79


Marktprinzip entflohen zu sein. Also dem nes Klos zu sehen ist. Im Alltag wird ein Klo
Prinzip, das seinen Alltag beherrscht. Tou- betreten, benutzt und wieder verlassen. Es
rismus ist organisierte Außeralltäglichkeit. erfüllt einen Zweck, mehr nicht. Im Urlaub
Inszenierte Authentizität. kann es, wie in diesem Fall, zu einem Objekt
SPIEGEL: Zum Hawaii-Klischee gehört die ästhetischer Anschauung werden. Dafür
Südseeschönheit, die dem Ankommenden muss es nicht mal besonders schön aus-
eine Blumenkette um den Hals legt. sehen oder originell. Im Modus der Muße
Schäfer: Ganz genau, sie nimmt den Reisen- „Viele Urlauber wollen stellt sich eine selbstgenügsame Wahrneh-
den symbolisch in die Gemeinschaft auf. Er mung ein, eine Wahrnehmung um ihrer
soll sich als Gast fühlen, nicht als zahlender
nicht mehr einfach selbst willen. Das Allergewöhnlichste wird
Tourist. Ein ähnlicher Gedanke steckt in den relaxen, so wie früher, außergewöhnlich erfahren.
beliebten All-inclusive-Reisen: Der Reisen- SPIEGEL: Je gewöhnlicher das Objekt der
de zahlt einmal vorab – und kann sich dann sie wollen das alltäg- Anschauung, desto authentischer.
zwei Wochen lang dem guten Gefühl hin-
geben, sich abseits des Marktprinzips zu
liche Leben aus einer Schäfer: Das Foto des Klos ist in gewisser
Weise außeralltäglicher als das Foto des Ko-
erholen. Obwohl er in Wahrheit natürlich außeralltäglichen losseums. Von dem gibt es sehr viele. Man
besonders tief drinsteckt. könnte sagen: Fotos alltäglicher Dinge strei-
SPIEGEL: Begriffe wie „unberührt“, „ur- Perspektive erleben.“ chen die Außeralltäglichkeit des Urlaubs
sprünglich“ und „unverfälscht“ sind Klassiker hervor.
der Tourismuswerbung. Läuten da bei den SPIEGEL: Sind sogenannte Sehenswürdig-
Reisenden nicht längst alle Alarmglocken? keiten nicht immer maximal unauthentisch?
Schäfer: Doch. Der Soziologe Niklas Luh- Schäfer: Einerseits ja, weil die Touristen-
mann hat mal gesagt: Aufrichtigkeit lässt SPIEGEL: Wieso spielt Essen im Urlaub dichte bei ihnen am höchsten ist. Anderer-
sich nicht kommunizieren. Sobald man sagt, eine so große Rolle? seits ist das Kolosseum ein authentisches
dass man etwas wirklich ganz ehrlich meine, Schäfer: Nicht nur das Essen, alle körper- Symbol für Rom und der Eiffelturm ein
wird der andere misstrauisch. Nehmen Sie lichen Vorgänge. In den Blogs, die ich ana- authentisches Symbol für Paris. Was denn
das Restaurant, das sich auf einem Schild lysiert habe, berichten die Reisenden mit sonst? Diese Orte stehen symbolisch für die
als „authentische Trattoria“ bewirbt. Für all- einer Offenheit über Verdauungsprobleme, ganze Stadt. Man hat sie hunderttausend-
zu authentisch wird man es nicht halten. die außerhalb touristischer Kontexte eher fach in Büchern und Zeitschriften gesehen,
Vermutlich zu Recht nicht. Die eigentliche merkwürdig erschiene. technisch reproduziert, nun geht es darum,
Tragik des Tourismus und des Touristen ist SPIEGEL: Abseits des Urlaubs halten sie sie live zu erleben, im Hier und Jetzt, ihre
aber eine andere, wie Hans-Magnus Enzens- die Fassade aufrecht. Einmaligkeit und Aura zu spüren. Natürlich
berger schon in der Sechzigern erkannt hat: Schäfer: Genau, aber als Tourist will man mache ich dann sofort wieder ein Foto: im
Der Tourist zerstört das, was er sucht, in sich als „ganzer Mensch“ erfahren, nicht Hintergrund der Eiffelturm, im Vorder-
dem Moment, in dem er es findet. Die au- nur als Funktionsträger, der eine Rolle spielt. grund ich selbst. Das ist das klassische Tou-
thentische Trattoria ist nicht mehr authen- Und da gehören körperliche Vorgänge dazu. ristenfoto.
tisch, wenn Touristen sie erst einmal ent- Das geht so weit, dass in einem Blog direkt SPIEGEL: Wieso ist es wichtig, selbst mit
deckt haben. neben dem Bild des Kolosseums das Bild ei- auf dem Bild zu sein?
Schäfer: Das ist der Beweis: Ich war da, an
diesem einzigartigen Ort. Ich bin selbst ein-
zigartig. Die Authentizität färbt gewisser-
maßen auf mich ab.
SPIEGEL: Es gibt die These, dass die Be-
deutung der auf Hochglanz polierten „Must-
sees“ nachlässt, weil heutige Reisende nach
individuelleren Erlebnissen suchen.
Schäfer: Das glaube ich nicht. In meiner
Heimatstadt Bern zum Beispiel gibt es sehr
viele asiatische Touristen; die sind nach wie
MARTIN PARR / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS

vor ganz stark an den Must-sees orientiert.


Aber es gibt sehr unterschiedliche Touris-
muskulturen. In einem Blog bin ich darauf
gestoßen, dass eine Südamerika-Reisende
eine Stadt explizit positiv erwähnt, weil die
Straßen dort nicht so sauber und herausge-
putzt sind. Schmutz im richtigen Ausmaß

„Der Tourist zerstört das, was er sucht, in


dem Moment, in dem er es findet.“

80 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


OHNE

„Das Foto ist der Beweis:


Ich war da, an diesem einzigartigen
Ort. Ich bin selbst einzigartig.“
signalisiert ihr, dass sie an einem authenti- tät. Viele Urlauber wollen nicht mehr ein-
schen Ort ist, nicht an einem inszenierten. fach relaxen, so wie die typischen Strand-
Was zudem auffällt, ist der Aufschwung von urlauber früher, sie wollen das alltägliche
Couchsurfing und von Anbietern wie rung als in einem Hotel. Er bekommt einen Leben aus einer außeralltäglichen Perspek-
AirBnB. Einblick in die Privatsphäre eines Einhei- tive erleben.
SPIEGEL: Geht es bei AirBnB nicht nur mischen. Er lebt den Alltag einer fremden SPIEGEL: Wie verreisen Sie selbst?
darum, Geld zu sparen im Vergleich zum Stadt. Schäfer: Ich bin meist ein sehr touristischer
Hotel? SPIEGEL: Mit dem Unterschied, dass er Tourist. Ich wohne in Hotels, fahre mit Hop-
Schäfer: Es geht um viel mehr. Der Touris- nicht arbeiten muss. on-Hop-off-Bussen herum, fotografiere alle
mussoziologe Dean MacCannell hat schon Schäfer: Und das ist ein wesentlicher Must-sees und kaufe klischierte Souvenirs.
in den Siebzigern die berühmte These von Unterschied. Die Muße ermöglicht es ihm, SPIEGEL: Sie widersprechen Ihrer eigenen
der „staged authenticity“ aufgestellt. Dem- das alltägliche Leben aus der Beobachter- These.
nach ist der moderne Tourismus der syste- perspektive nachzuvollziehen. Ich war ein- Schäfer: Das eine ist Theorie, das andere
matisch organisierte Versuch, die Touristen mal in Marseille und saß auf einem Markt- meine private Praxis. Da geht es nur um ein
in irgendeiner Form hinter die Kulissen platz. Ich hätte stundenlang dem Fisch- persönliches Geschmacksurteil.
schauen zu lassen. Dazu passt AirBnB per- händler zuschauen können. Für ihn war es SPIEGEL: Haben Sie gar kein Bedürfnis,
fekt. Wer eine Privatwohnung über die Platt- purer Alltag, völlig unspektakulär, für mich sich abzugrenzen?
form mietet, macht eine ganz andere Erfah- war es eine große Szene. Eben weil ich Schäfer: Nein, ich mag Touristen, auch die
Muße hatte. Das alles passt zu einer sehr Touristen in Bern, wo ich lebe. Mein Lieb-
fundamentalen Wende, die sich seit der lingsort ist der Rosengarten über der Alt-
BUCH zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der stadt, den alle Reisebusse ansteuern. Dort
Kultur westlicher Gesellschaften ereignet. sitze ich oft und beobachte die Welt, die zu
ROBERT SCHÄFER: „Touris- Neben die protestantische Arbeitsethik tritt Besuch ist. Mir gefällt das.
mus und Authentizität. Zur ge- komplementär eine romantische oder artis-
sellschaftlichen Organisation tische Ethik, deren zentrale Werte nicht
Tobias Becker hat in Frankfurt studiert und
von Außeralltäglichkeit“. mehr Leistung, Fleiß und Disziplin sind, trinkt bis heute gern Apfelwein. Damit sein
Transcript Verlag; 290 Seiten; sondern Kreativität, Spontaneität, Selbst- Lieblingslokal authentisch bleibt, verrät er es
34,99 Euro. verwirklichung. Und natürlich Authentizi- hier nicht. tobias.becker@spiegel.de

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 81


A N T WO R T E N

W A S S C H Ä T Z E N S I E A N S I C H ?

Inga Lewandowski, 53, Designerin, Hamburg


Ich mag an mir, dass ich kreativ bin. Als Fotografin und Gra-
fikerin stelle ich Hamburg-Bilder her und designe Internet-
auftritte, das macht mich glücklich. Die Stadt Hamburg ist
meine Muse, ich lebe mich aus, indem ich Ölbilder von ihr
am Computer bearbeite und aus ihnen Digitalkunst mache.
Außerdem mag ich, dass ich offen und zielstrebig bin: Ich
liebe alles Neue und begegne ihm mit Offenheit. Meine
schlechte Eigenschaft ist Ungeduld. Wenn ich warten muss,
werde ich knatterig und beende Sachen kurzfristig. Bei der
Arbeit kann ich es nicht leiden, wenn etwas Neues nicht so
läuft, wie ich das will. Privat bin ich aber ganz anders!

Uschi, 9, Mops, Hamburg


Uschi ist ein Herz- und Tür-Öffner. Es kann einem noch so
schlecht gehen, dieser Hund nimmt einem die schlechte Lau-
ne sofort. Aber sie ist auch eine kleine Diva: Als sie eben in
eine Pfütze getreten ist und ihre Pfoten nass wurden, ging
das gar nicht, da war sie sofort beleidigt und wollte auf den
Arm.

Jacobus-Johannes Dillewaard, 77,


ehemaliger Zimmermann,
Hamburg
Gute Eigenschaften habe ich nicht so
viele. Na ja, ich bin gutmütig: Wenn
ich Menschen sehe, die etwas brau-
chen, helfe ich ihnen ein wenig, spen-
de ihnen zum Beispiel ein paar Euro
oder Kleider. Und bescheiden bin ich
auch. Was ich an mir nicht schätze,
ist mein Rauchen. Aber daran will
ich auch nichts ändern, dafür bin ich Claudia Röhrich, 49, Cale Ward, 23, Meeresbiologe,
viel zu alt, das hat keinen Sinn mehr. Buchhändlerin, Hamburg Perth (Australien)
Und ich bin ein bisschen faul. Oft Ich schätze an mir, dass ich ganz Ich mag an mir meinen Bart. Und
habe ich keine Lust, meine Wohnung freundlich bin. meine Abenteuerlust: Ich reise sehr
aufzuräumen, manchmal kann es ein Weniger mag ich an mir, dass ich viel. Neulich habe ich drei Monate
paar Tage dauern, bis ich das erledige. immer alles so halb mache. Zu Hause lang in den USA gearbeitet, in einem
passiert mir das ganz oft: Ich fange Sommerlager für Kinder. Jetzt reise
einen Satz an, dann kommt jemand ich durch Europa. Meine schlech-
dazu, und ich fange einen neuen Satz teste Eigenschaft ist, dass ich zu
an, bevor ich den alten zu Ende ge- ehrlich bin und allen, die ich treffe,
bracht habe. Das bringt niemanden schonungslos meine Meinung sage.
weiter, auch mich nicht. Deshalb soll Manchmal klingt das unverschämt,
das in diesem Jahr ganz anders fies und verletzend. Ich habe sehr
werden. Ich habe mir vorgenommen, hohe Erwartungen an andere Men-
erst nachzudenken, dann in ganzen schen. Wenn jemand etwa zu lang-
Sätzen zu reden und meine Sätze zu sam ist, werde ich aggressiv. Aber das
ordnen. Wenn das klappt, wäre das hat auch eine gute Seite. Wenn mir
schön. gefällt, was jemand macht, sage ich
ihm das ebenfalls gleich.

82 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


A N T WO R T E N

Peter Vogt, 34, Fenstermonteur, Magdeburg


Zu meinen guten Eigenschaften gehört meine Pünkt-
lichkeit: Ich komme immer fünf Minuten früher, nicht
nur zur Arbeit, sondern zu allen Terminen. Außerdem
mag ich an mir, dass ich ein sehr höflicher Mensch bin.
Was ich mir abgewöhnen würde, ist das lange Schlafen
am Wochenende. Das ist ein Ausgleich – werktags muss
ich um sieben auf der Baustelle sein, montags sogar
schon um drei Uhr früh. Trotzdem würde ich mir mein
Faulenzen am Wochenende gern abgewöhnen, dann
hätte ich mehr Zeit, die alltäglichen Dinge zu erledigen,
die unter der Woche so liegen bleiben.

George Carson, 62, Rentner,


Invergordon (Schottland)
Ich schätze an mir, dass ich zu jedem
Daniela Romero, 20, Studentin, Tampa (USA) freundlich bin. Ich wohne in den
Ich mag an mir meinen Sarkasmus. Ich mache oft gute schottischen Highlands an einem
sarkastische Witze. Was mir an mir nicht so gefällt: Hafen, an dem oft Kreuzfahrtschiffe
Ich werde schnell nervös, zum Beispiel wenn ich mich haltmachen. Dort begrüße ich ehren-
verlaufe. Das passiert mir ziemlich oft, denn ich habe amtlich die ankommenden Gäste aus
einen sehr schlechten Orientierungssinn. Im Moment der ganzen Welt und erkläre ihnen,
noch häufiger, denn ich reise gerade einen Monat lang was sie in der Region unternehmen
durch Europa. Aber wenn ich mich verfranst habe, fra- können. Was ich an mir gern ändern
ge ich einfach jemanden nach dem Weg, und dann ist würde, ist mein Gewicht: Ich möchte
alles wieder gut. Ich bräuchte also gar nicht so nervös etwas abnehmen.
zu werden, es passiert mir aber doch jedes Mal. Ich
wünschte, da könnte ich anders werden.

Melanie Borchers, 40, Beamtin,


Bremen
Ich schätze an mir, dass ich für jeden
da bin, zum Beispiel für meine Freun-
de. Ich bin hilfsbereit und immer zur
Stelle, wenn jemand etwas braucht.
Was ich gern ändern würde: Ich fän-
de mehr Gelassenheit, ich wäre ent-
spannter und nicht so schnell auf 180, Helen Wale, 30, Itzehoe
in jeder Lebenslage. Ich liebe Menschen. Und ich bringe
allen Respekt entgegen. Meine nega-
Alexandra Lauber-Borchers, 36, tiven Eigenschaften: Ich bin manch-
Gesundheits- und Krankenpflege- mal aggressiv. Und ich bin unge-
rin, München duldig. Wenn jemand gemein zu
Ich schätze alles an mir. Ich bin mir ist, dauert es sehr lange, bis ich
Münchnerin und sehr aufgeschlos- wieder freundlich zu ihm sein kann,
sen. Das Einzige, was ich gern schaf- dadurch habe ich schon viele Freun-
fen würde: mit dem Rauchen aufzu- de verloren. Da würde ich mich gern
hören, ohne zickig zu werden. Ich ändern.
habe es schon versucht, aber ich wer-
de dann unerträglich und bin deshalb Texte: Charlotte Klein
selbst mit mir unzufrieden. Fotos: Maria Feck

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 83


84
SPIEGEL WISSEN
1 / 2016
FOTOGRAFIE: RENÉ FIETZEK, COLLAGEN: ANNIKA LISCHKE FÜR SPIEGEL WISSEN
3

E I N FA C H M A L I C H

Unsere Beziehung zu uns selbst dauert ein Leben lang.


Darum sollten wir uns Ermutigung, Trost, Anerkennung
und Wahrhaftigkeit schenken, jeden Tag.
Denn wenn wir ganz bei uns sind, wird das Leben leicht.

„Menschen, die häufiger im „Dass man Trost und Feedback „Die meisten verlieren ihr
Fernsehen zu sehen von Menschen bekommt, die Leben, weil sie es
sind, trainieren regelrecht, wie dem Blog folgen, ist schon etwas abtreten an andere, weil
sie ausdrucksstark ganz Besonderes. Trotzdem gibt sie nicht dem Ruf
auftreten. Und je überzeugen- es eine Grenze: Mit bestimmten ihres Herzens folgen und
der sie dabei sind, Trauergefühlen ist man in sol- sich nicht um ihr inneres
desto attraktiver wirken sie.“ chen Lebenslagen immer allein.“ Wachstum kümmern.“

Claudia Koppetsch, Soziologin Claudia Oltmann, Bloggerin Martin Wehrle, Coach


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SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 85


I C H K A N N

IN VE RA
VERITAS
P O S T U M E R YO U T U B E - S TA R :
DIE WUNDERBARE
M OT I VAT I O N S T R A I N E R I N
VERA BIRKENBIHL

IHR CREDO war „lebenslanges Ler-


nen“. Mit Herzenswärme und Humor
wirkte Vera Birkenbihl jahrzehntelang
als Managementtrainerin, bekannt
wurde sie, als sie eine neue, spielerische
Form des Sprachenlernens propagierte.
Birkenbihl gründete das „Institut für
gehirngerechtes Arbeiten“, verkaufte
mehr als zwei Millionen Bücher und
verfolgte bis zu ihrem Tod 2011 neue
Wege in der Hirnforschung. Die unter-
haltsam-patente Dame macht jetzt auf
YouTube eine erstaunliche Karriere.
Ihre charmant-lehrreichen Vorträge zu
Lebenskunst, Geschlechterfragen oder
Erziehung werden von Hunderttausen-
den angeklickt. Kostprobe: www.you

„Schöne Blitze“
tube.com/watch?v=LgwMeykyYCQ

HAUTNAH: FRAUEN FEIERN IHRE STREIFEN,


FA LT E N , R I S S E U N D D E L L E N .

„LOVE YOUR LINES“ heißt eine Social-Media-Kampagne, bei der Frauen auf ganz be-
sondere Art Haut zeigen: Sie fotografieren ihre Cellulite, ihre Schwangerschaftsstreifen
oder Risslinien, die durch Gewichtsveränderungen oder Sport entstanden. Die Idee der
amerikanischen Kreativ-Unternehmerinnen und Mütter Erika Salazar und Alex Smith,
„echte Frauen, echte Körper und echte Schönheit“ auf den Internetplattformen Instagram
„Selig ist der Mensch, und Tumblr zu zeigen, traf auf ein starkes Bedürfnis. Nach anderthalb Jahren hat die
Kampagne jetzt 152 000 Abonnentinnen, einige davon in Europa. Manche Menschen
der mit sich glaubten, Schwangerschaftsstreifen seien ein Zeichen nachlässiger Pflege, schreibt etwa
eine junge Mutter namens Melanie zum Schwarz-Weiß-Foto ihres Bauchs: „Das ist falsch.
selbst in Frieden lebt. Es ist Haut. Haut dehnt sich und zieht sich auseinander. Das ist ein Wunder und keine
Es gibt auf Erden Abnormalität.“ Ihre Streifen sähe sie als „schöne Blitze“, mit denen sie freudig bis zum
Tod leben wolle. Eine Sportlerin, die nach 20 Jahren Fußball rissige Oberschenkel hat,
kein größeres Glück.“ hörte auf, die Risse mit Vaseline wegzureiben. Neuerdings liebe sie ihre Linien, schreibt
sie, denn sie seien mit „Blut, Liebe und Tränen“ erarbeitet. Gründerin Smith erklärt, die
M AT T H I A S C L A U D I U S
Idee zur Kampagne sei aus Gesprächen über Selbstliebe entstanden. Angesichts der gro-
ßen Nachfrage, so Smith, „sehen wir, dass wir eine riesige Lücke gefüllt haben“.

86 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


ICH KANN

Mehr Humor!
MIT EINEM INTERNETPROGRAMM KANN MAN
KRAFTTRAINING FÜR DIE SEELE BETREIBEN.

EINE KOSTENLOSE ONLINESCHULUNG zur Selbststärkung


bietet das Psychologische Institut Zürich. Sie basiert auf den Grund-
sätzen der Positiven Psychologie, zu deren Zielen es gehört, Stärken
und Ressourcen von Menschen zu fördern. Für das Programm wählt
man eine positive Eigenschaft, etwa Freundlichkeit, Ausdauer oder
Humor, die man für sich selbst stärken will. Nach einer Einführung
absolvieren die Teilnehmer während der Trainingsphase rund 15
Minuten täglich bestimmte Übungen – eine Art Fitnessstudio für
die Psyche. Nach einer Woche erhalten sie eine individuelle Rück-
meldung zu ihrem Trainingserfolg. www.staerkentraining.ch

„Geschminkt ungeschminkt“
D E R B E R L I N E R S OZ I O LO G I N C O R N E L I A KO P P E T S C H E R K L Ä R T,
W I E M A N AT T R A K T I V U N D A U T H E N T I S C H W I R K T.
WERNER SCHUERING / IMAGETRUST, BROPHOTO / PLAINPICTURE, JUSTIN WINZ / PLAINPICTURE THORSTEN JOCHIM / VISUM, #LOVEYOURLINES

SPIEGEL: Frau Koppetsch, viele Menschen optimieren ihr Aus- treten. Und je überzeugender sie dabei sind, desto attraktiver wir-
sehen mit Make-up, Botox, Chirurgie oder anderen Tricks. Macht ken sie. In der Soziologie sprechen wir dabei von Inkorporierung:
das wirklich attraktiver? Die Rolle ist Teil meines körperlichen Ausdrucksschemas ge-
Koppetsch: Sicher, schaut man sich etwa Madonna oder Tina worden.
Turner an, die immer noch gut und jung ausschauen. Allerdings SPIEGEL: Deshalb wollen wir uns attraktiver machen?
verfügen sie auch über Darstellungskompetenz und Charisma, sie Koppetsch: Ja, aber auch, um Blicke auf sich zu ziehen. Attraktivität
spüren genau, wie sie gut beim Publikum ankommen. Und das ist ist Aufmerksamkeitskapital in Interaktionen. Das Angeblicktwerden
entscheidend – eine Person muss eben ihre Attraktivität auch dar- ist für unser Selbstbewusstsein elementar.
stellen können. SPIEGEL: Können wir uns mittels der Darstellungskompetenz als
SPIEGEL: Kann man das üben? etwas darstellen, was wir gar nicht sind?
Koppetsch: Ja, sicherlich. Aber das ist trick- Koppetsch: Auch hier gilt: ja, in begrenzter
reich. Denn es muss ja trotzdem natürlich, Weise. Denn die Forderung nach Authentizität,
das heißt authentisch, rüberkommen. Es darf also die Norm der Natürlichkeit, wirkt wie eine
keineswegs wie aufgesetzt wirken oder so Imitationsbarriere gegenüber unliebsamen
aussehen, als ob man es einstudiert hätte. Nachahmern. Sie ist ein Distinktionsinstrument.
Oder anders formuliert: Man muss auch Dies zeigt sich, wenn es darum geht, Klassen-
geschminkt so aussehen wie ungeschminkt barrieren zu überbrücken. Etwa bei sozialen
– nur eben besser. Aber auch das kann man Aufsteigern, die die Verhaltenscodes des neuen
lernen. Manche nehmen dafür Schauspiel- Milieus nicht vollständig beherrschen und
unterricht oder gehen zum Coaching. Au- leicht als Parvenüs entlarvt werden, als Perso-
thentizität ist ein wichtiger werdender Teil nen, die den Stallgeruch, das gewisse Etwas,
eines effektiven Rollenspiels geworden – vor nicht mitbringen. Dies zeigt sich in Umgangs-
allem in öffentlichkeitswirksamen Berufen, formen und Gesten, auch in der Redegewandt-
man denke nur an Schauspieler, Politiker heit und der Leichtigkeit des Auftretens. Viele
oder Dozenten. Diese können heute nicht Berufsmilieus der gehobenen Kreise verfügen
mehr nur sachlich überzeugen, sondern über solche Verhaltenscodes und lösen bei den
müssen expressiv wirken. Menschen, die Novizen Beschämungen aus. Aber auch Adlige
häufiger im Fernsehen zu sehen sind, trai- etwa können unglaublich distinguiert wirken,
nieren regelrecht, wie sie ausdrucksstark auf- das lässt sich, in seinen Nuancen, nicht kopieren.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 87


WA H R H E I T E N

Ganz
ehrlich

88
WA H R H E I T E N

Was passiert, wenn man sich ungeschützt


und sehr persönlich mit einem
heiklen Thema an die Öffentlichkeit wagt?
Viel Gutes, sagen drei Tabubrecher.
P R OTO KO L L E ANNE OTTO F OTO S JULIANE WERNER

WIE VIELE KREATIVE habe ich eine Liste, auf der ich
Themen festhalte, die ich irgendwann verwirklichen will.
Auf meiner stand, dass ich eine Dokumentation über „Abso-
lute Beginners“ machen wollte, also über Menschen, die
selbst als Erwachsene keinerlei Beziehungserfahrung haben, eher akzeptiert habe. Dadurch ver-
auch noch nie Sex hatten. Dass dieses Thema so weit oben schwand der Druck. Irgendwann hat es
stand, war kein Zufall – denn es war mein Thema, ich war dann sogar mit einer Frau geklappt. Und
selbst betroffen. Allerdings hatte ich zunächst geplant, mir als ich das erste Mal mit meiner Freun-
andere Protagonisten zu suchen und nicht mich selbst in din schlief, war es nicht mehr das über-
den Mittelpunkt zu stellen. Doch je länger ich mich mit der frachtete Wahnsinnsereignis mit Feuer-
Idee beschäftigte, desto passender schien es mir, einen per- werk und einem Himmel voller Geigen,
sönlichen Film zu drehen. Ich dokumentierte das Jahr zwi- sondern passierte einfach.
schen meinem 29. und 30. Geburtstag, in dem ich mehrere Heute gehe ich offen mit dem Thema
Dinge ausprobierte, um meine Schüchternheit und Un- Sex um, aber zu Beginn des Projekts habe
erfahrenheit in Sachen Sex zu verstehen und zu verändern. ich mich sehr vorsichtig an alles heran-
Wichtig war mir, dass ich mir nichts extra für den Film aus- getastet. Zunächst habe ich an der Hoch-
dachte, sondern nur Dinge tat, die ich ohnehin vorhatte. schule einigen wenigen Menschen von
Man sah mich also in Therapiesitzungen, bei Typberaterin- meiner Idee erzählt – sie ermutigten
nen, beim Ausprobieren einer Datingplattform. Am Ende mich. Dann habe ich das Thema auf ei-
des Jahres hatte ich immer noch keine Frau kennengelernt nem Branchentreffen vorgestellt, auf dem
– der Film hat also ein offenes Ende. Podium. Das war eine Überwindung, aber
Seltsamerweise hat sich danach trotzdem viel verändert: es war gut zu spüren, dass mich danach
Ich hatte mich in dem einen Jahr so viel mit dem Thema keiner meiner Mitstudenten komisch an-
„Warum habe ich keinen Sex?“ beschäftigt, dass es mir am schaute. Und von Sendern und Produzen-
Ende so vorkam, als hätte sich mein riesiges Problem zerre- ten bekam ich sowieso nur positive Rück-
det. Ich glaube, dass ich durch den Film meine Situation meldungen. Ich wollte von Anfang an ei-
nen leichten Film erzählen, ohne mich
dabei aber selbst zum Clown zu machen. Damit hatte ich wohl
eine gute Form gefunden, das Thema öffentlich zu machen.
Die Resonanz auf den Film war unerwartet groß. Bei ei-
„DER DRUCK ner kurzen Filmtour durch mehrere Städte warteten an je-
dem Abend ein, zwei Menschen geduldig, bis alle Besucher
VERSCHWAND“ gegangen waren, und sprachen mich dann an, dass sie ein
ähnliches Problem hätten. Mit vielen habe ich lange geredet.
Ich bekam auch viele Mails, etwa eine von einem ranghohen
Wolfram Huke, 34, Filme- Manager, der mir mit Klarnamen und Firmensignatur
macher aus Mühlhausen schrieb und sich bedankte. Er erzählte, er habe noch nie die
(Thüringen), hat 2012 den Dokumen- Hand einer Frau gehalten und sei jetzt fünfzig. Er habe im-
tarfilm „Love Alien“ fertiggestellt. mer gedacht, dass sich das Problem irgendwann von selbst
Er schildert darin seine Erfahrungen löse, aber es werde immer schlimmer. Das hat mich berührt,
als Erwachsener, der noch nie Sex denn ich konnte das nachfühlen.
hatte, auch sonst keinerlei Erfahrun-
gen mit Liebe und Beziehungen –
und das gern ändern würde. Der VIDEO: Die Suche nach
Film war so erfolgreich, dass Huke der ersten Freundin
als Dokumentarfilm
gerade ein Buch zum Thema schreibt.
spiegel.de/sw012016lovealien
www.love-alien.de

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 89


WA H R H E I T E N

ICH WEISS NOCH GENAU, wann mir die Idee kam,


einen Blog über meine Kinderwunschbehandlung zu
schreiben: nachdem der erste Versuch gescheitert war,
mit medizinischer Hilfe schwanger zu werden. Es war
Wochenende, ich war allein, lag mit Bauchkrämpfen
und Weltschmerz auf dem Sofa, hatte aber keine Lust
zu resignieren. Also fing ich an zu schreiben und pos-
„GEFÜHLE tete das Geschriebene dann auch. Schon bald war klar,
dass mein Blog-Projekt mir durch die Zeit der In-vi-
ENTWIRREN“ tro-Fertilisation helfen würde, es gab mir Struktur, dass es so gar nicht war. Es ist kein
eine Aufgabe. Das Schreiben hatte für mich zwei Funk- todtrauriges Schicksal, wenn man
tionen: Zum einen wollte ich meine Gedanken und versucht, mit medizinischer Hilfe ein
Claudia Oltmann, 42, Texterin Gefühle entwirren. Zum anderen war der Blog für Kind zu bekommen, es ist einfach
aus Hamburg, schreibt seit sechs mich ein Protokoll. Ich wollte mir vor Augen führen, eine Phase im Leben, und ich war im-
Jahren den Blog „Eiertanz“, in dem dass nicht alles furchtbar war, sondern dass in der mer froh, dass wir diese Möglichkeit
sie unter dem Pseudonym Flora Zeit der Kinderwunschbehandlung auch viel Schönes überhaupt hatten.
Albarelli über ihre Erfahrungen mit passiert ist. Ich traf Freundinnen, erlebte spannende Die Entscheidung, ob ich mit dem
In-vitro-Fertilisation berichtet. Dinge im Job, habe geheiratet. All diese Momente Thema offen umgehe oder eher dis-
Mittlerweile hat der Blog über zwei habe ich auch in meinen Posts beschrieben, nicht nur kret, wurde mir abgenommen. Bei ei-
Millionen Besucher gehabt. Ein die Hormonbehandlungen, Arztbesuche und Warte- ner Bauchspiegelung, bei der eigent-
gleichnamiges Buch zum Thema hat zeiten auf Testergebnisse. Manchmal treffe ich Leute, lich Myome entfernt werden sollten,
sie gemeinsam mit der Medizinerin die sagen: „Du hast dir vier Jahre lang selbst Spritzen untersuchte die Ärztin auch meine
Simone Widhalm geschrieben (mvg- in den Bauch gejagt und bist zu Ärzten gerannt? Was Eileiter. Sie waren verklebt. Das hieß:
Verlag). http://eiertanz.blogspot.de für ein Horror.“ Dann kann ich ganz gelassen sagen, Auf natürlichem Weg würde ich
wohl nie schwanger werden. Noch
im Krankenhaus redete mein Mann mit meinen Eltern
über diesen Befund, ich selbst berichtete Freundinnen
am Handy davon. Ich kam mir an diesem Tag vor wie
auf einer Pressekonferenz zum Thema „Alles über
verklebte Eileiter“, ich gab einfach Fakten weiter. Na-
türlich war es seltsam, mit meinen Eltern über meine
Eileiter zu reden, aber danach wurde vieles leichter.
In meiner Verwandtschaft etwa hörte ich nie verlet-
zende Sprüche wie „Wisst ihr etwa nicht, wie es geht?“,
sondern bekam viel Unterstützung.
Mit der Zeit fingen viele Menschen an, meinen
Blog zu lesen. Oft bekam ich die Rückmeldung, dass
die Normalität in meinen Posts und auch ein gewisser
Humor anderen Betroffenen geholfen habe, mit der
eigenen Situation umzugehen. Ich habe aber nicht
nur geschrieben, wenn es witzig war, sondern auch
absolute Tiefpunkte geschildert, etwa als ich im drit-
ten Monat schwanger war und drei Tage vor meiner
Hochzeit Blutungen bekam und das Kind verlor. Dass
man in solchen Momenten auch Trost und Feedback
von Menschen bekommt, die dem Blog folgen, ist
schon etwas ganz Besonderes. Trotzdem gibt es eine
Grenze: Mit bestimmten Trauergefühlen und Schmer-
zen ist man in solchen Lebenslagen immer allein.
Mittlerweile hat sich meine Situation verändert:
Ich bin Mutter geworden, habe zwei Kinder im Alter
von ein und zwei Jahren. Den Blog schreibe ich immer
JULIANE WERNER / SPIEGEL WISSEN

noch. Auch wenn meine Probleme heute eher die von


jungen Eltern sind, fühle ich mich dem Thema „Un-
erfüllter Kinderwunsch“ weiter verbunden, ich habe
auch einen Stammtisch gegründet. Ich will allerdings
nicht hauptberuflich unfruchtbar sein. Mehr daraus
zu machen, erscheint mir falsch. Es gibt einfach ein
gewisses Engagement, dass mir aus meiner eigenen
Betroffenheit heraus bleiben wird.
BEREITS IN MEINER JUGEND war ich depressiv
und suizidgefährdet, konnte Schule und Studium pha-
senweise kaum bewältigen, obwohl ich als intelligent
galt. Mindestens so schlimm wie die Krankheit selbst
war für mich, dass kaum jemand in meiner Umgebung
sie verstand. Unsere Nachbarn im wohlhabenden
Hamburger Stadtteil Othmarschen beispielsweise sag-
ten hinter meinem Rücken: „Komisch, dieser Sohn
von Reiners. Es heißt, er sei krank, kann nicht studie-
ren. Dabei läuft er herum, sieht ganz normal aus. Viel-
leicht simuliert er.“ In den Sechzigerjahren stand man
psychischen Krankheiten generell skeptisch gegen-
über, konnte sie nicht greifen. Meine Eltern, die Fa-
brikanten waren, verstanden auch nicht, was los war,
sorgten sich aber sehr. Unser Chauffeur fuhr mich
zum damals bekanntesten Psychiater der Stadt in die
Uni-Klinik. Der hatte aber kein Interesse, mich zu be-
handeln. Eine Odyssee begann. Erst nach vielen Mo-
naten fand sich ein jüngerer Arzt, der mir passende
Medikamente verschrieb und mit mir Gespräche führ-
te. Mit dessen Hilfe besserten sich meine Symptome
zum ersten Mal. Das Gefühl, als Mensch mit Depres-
sion unverstanden zu sein, hatte sich allerdings in den
Jahren davor tief eingeprägt. Sobald es mir besser ging,
war deshalb mein Wunsch groß, Aufklärungsarbeit
zu leisten. Ich sprach in Radiosendungen zum Thema,
schrieb irgendwann mein erstes Buch.
„Das heimatlose Ich“ (2002) erzählt von meiner ei-
genen Erkrankung und Genesung, ich nahm Passagen
aus meinen Tagebüchern und versuchte, sie in allge-
meingültige Beschreibungen zu über-
setzen. Ich wollte ein Buch aus Be- Managern oder Trainern als ehemaliger Betroffener
troffenensicht schreiben, aber nicht sprach. Immer selbstverständlicher wurde ich Sprach-
„STOLZ,
über mich, da ich mich persönlich rohr für die Interessen von Depressiven, habe auch
für uninteressant halte. Das hat viele eine Stiftung gegründet. Mich hat das Engagement
WENN ICH
Menschen angesprochen. Nicht nur, stabilisiert. Ich habe weitere Bücher geschrieben, auch HELFEN
dass sich das Buch 60 000-mal ver- über Architektur, spät noch geheiratet, eine Familie
kaufte. Nach der Veröffentlichung gegründet. Aus der aktiven Arbeit, etwa der „Stiftung KANN“
nahmen mich bei Veranstaltungen Deutsche Depressionshilfe“, habe ich mich heute zu-
und in meiner Nachbarschaft auch rückgezogen. Dennoch bekomme ich täglich mindes-
immer wieder Menschen beiseite tens einen Anruf oder eine Mailanfrage von Betroffe- Holger Reiners, 67, Architektur-
und fragten mich um Rat, da sie de- nen. Es macht mich noch immer stolz, wenn ich helfen dozent und Autor aus Hamburg,
pressive Angehörige hätten. Mir hat kann. hat neben Architekturtiteln
diese Offenheit gutgetan – und ich Natürlich hat sich die öffentliche Wahrnehmung auch sechs Bücher über Depression
hätte sie niemals erfahren, wenn ich von psychischen Erkrankungen mittlerweile verän- geschrieben, einige davon
selbst nicht offen gewesen wäre. Die dert, doch bis heute bleibt für mich der Eindruck, dass sehr autobiografisch („Das heimat-
Ratgeberrolle war mir allerdings da- viele Menschen nicht sehen können, dass eine Depres- lose Ich“ und „Die gezähmte
mals noch fremd, ich hielt mich sehr sion nicht nur irgendeine schlechte Laune oder An- Depression“).
zurück. Dann kam es – auch mit wei- triebslosigkeit ist, sondern dass die Menschen wirklich
teren Büchern – dazu, dass ich häufig das Gefühl haben, dass sie nicht mehr können, und
als Redner eingeladen wurde, vor der Impuls besteht, sich zu töten. Bei mir selbst ist
das heute nicht mehr so extrem. Ich gebe aber zu, dass
es in meinem Leben immer wieder depressive Phasen
gibt. Im Moment etwa nehme ich ein Antidepressi-
vum, weil ich in einer Scheidung stecke. Über meine
Situation offen zu sprechen gehört für mich einfach
immer dazu.

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S E L B S T A K Z E P T A N Z

„Ich darf
leben,
wie ich
will“

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Zu dick, zu wabbelig, zu dunkel-
häutig? In den USA werben
„Body-Aktivisten“ dafür, den
eigenen Körper so zu lieben,
wie er ist. Aber wie geht das?
TEXT ANNETTE BRUHNS

ZWEI DINGE haben Virgie Tovar geheilt:


der Feminismus – und die Männer. Letztere
stellten ihr Weltbild auf den Kopf, als sie 17
war: Unerwartet sah sich die kleine, dicke
und überaus unglückliche Latina von Ver-
ehrern umschwärmt. Den Feminismus lern-
te Tovar, heute 33 Jahre alt und 113 Kilo-
gramm schwer, dann im Studium kennen.
„Die Emanzipation hat mich gerettet“,
schwärmt sie. „Erstmals begriff ich, dass ich
so leben darf, wie ich will.“
Die Kalifornierin mit der schwarzen Bril-
le und der grellen Lache ist in den USA eine
bekannte Body-Aktivistin. Sie vertritt eine
Bewegung, die darum wirbt, alle Körper so
zu feiern, wie sie sind: prall oder dürr, dun-
kelfarbig oder blass, versehrt, behindert. Vie-
le Vorkämpfer sind massige Frauen wie Vir-
gie Tovar, deren Website mit dem Slogan
grüßt: „Lose Hate Not Weight“ – „Verliere
den Hass, nicht das Gewicht“. Aber auch
Männer bekennen sich zur Body-Bewegung.
Denn sie kennen ebenfalls Selbsthass und
Diskriminierung, wie so viele, die nicht der
Ken-und-Barbie-Norm entsprechen.
Sie haben Schicksale wie Virgie Tovar
hinter sich: Tochter einer Mutter, die selbst
GABRIELA HASBUN / REDUX / LAIF

immerzu gegen die Pfunde kämpfte und


sie schon als Kind auf Diät setzte, mit elf.
Bald darauf wieder Gewichtszunahme,
neue Diät, noch mehr Kilo. Ein Teufelskreis
aus Hungern und Essen, aus Hoffnung,
Scham und Versagensgefühlen. „Täglich
wurde ich gehänselt“, berichtet Tovar über

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 93


S E L B S TA K Z E P TA N Z

ihre Kindheit, „ich wollte nur noch eins: Es sind Menschen aller Rassen, die für
verschwinden.“ Körperakzeptanz trommeln. Eine Afroame-
Heute stellt sie ihren Körper sogar im Bi- rikanerin namens „Juicy D. Light“ etwa
kini zur Schau, auf ihrer Website, in ihrem schüttelt mit ihrer Strip-Truppe „Rube-
Blog und in YouTube-Videos. Dicke brau- nesque Burlesque“ Bauch und Brüste nackt
chen Sichtbarkeit, sagen die Body-Aktivis- vor Publikum oder organisiert Flashmobs mit
ten, sie gehören genauso auf Litfaßsäulen „Fatties“ an zentralen Orten von San Francis-
wie die 90-60-90-Idealfrau. Und tatsächlich co. Jessamyn Stanley, eine schwarze, schwere
erobert sich die Bewegung den öffentlichen Yogafrau, ist auf Instagram mit 147 000 An-
Raum, in Form pfundiger Hollywoodstars hängern ein Star. Der Latino-Aktivist Aaron
wie Melissa McCarthy oder Popstars wie Flores in Los Angeles steht zu seiner Wampe
Beth Ditto. Die Südstaatlerin Tess Holliday – als Ernährungsberater. Und sogar eine Frau,
ist das erste Topmodel mit Kleidergröße 52. die fast am eigenen Fett erstickt wäre, zeigt
Dass sie sich vor Aufträgen nicht retten ihr Schicksal auf YouTube: Samantha Geballe
kann, erklärte Holliday jüngst damit, dass will damit vor dem Nichtverhältnis zum ei-
sie „eine große Mehrheit der Frauen in Ame- genen Körper warnen. Die Frage der Fragen
rika und der Welt“ repräsentiere. an sie alle lautet: Wie geht das, den eigenen,
unidealen Körper lieb zu gewinnen?
NICHT JEDER FINDET DAS GUT: Im
Internet musste das Model schon Shitstorms
über sich ergehen lassen, weil es einen „un- Sie schüttelt ihren
gesunden Lebensstil“ propagiere. Pionierin mächtigen Busen.
Holliday tröstet sich damit, dass sie ohne
Facebook und Co. „niemals so weit gekom- ES IST SONNTAG, ELF UHR, Virgie To-
men“ wäre. var steht in einem weißen, anliegenden Kleid
Body-Aktivismus findet heute überwie- und mit orangefarbenem Hut vor einem
gend im Netz statt. Dabei hat er lange Wur- Dutzend Acht- bis Elfjähriger. Die jungen
zeln: 1967 fand die erste Demonstration ge- Zuhörerinnen fläzen sich im verschlissenen
gen die Diskriminierung Fettleibiger im New Mobiliar eines Hippieladens von Oakland,
Yorker Central Park statt. Proportional zur einem Vorort von San Francisco, in dem die
Betroffenheit wächst seitdem die Bewegung; Mieten noch erschwinglich sind. Die Mäd-
rund zwei Drittel aller US-Amerikaner gel- chen haben dunkle Haut und tragen braune
ten inzwischen als übergewichtig. Nicht nur Baskenmützen sowie Westen, auf denen „Ra-
die Aktivisten rufen zum Frieden mit dem dical Monarchs“ gestickt ist. So nennt sich
eigenen Körper auf. Die kalifornische Ernäh- ihr Klub, dessen Gründerin, eine vollschlan-
rungsprofessorin Linda Bacon propagiert ke Latina, entschieden hat, dass ihre Tochter
„Gesundheit bei jedem Gewicht“ („Health sich niemals ihrer Rasse, ihres Geschlechts
At Every Size“, www.haescommunity.org). oder ihres Körpers schämen wird.
Bacons Programm: Bewegung und gesunde „Als ich fünf Jahre alt war“, erzählt Gast-
Ernährung ja, Diäten nein. Gegen das for- dozentin Tovar, „begriff ich, dass Dicksein
cierte Abnehmen macht die schlanke For- etwas Schlechtes war. Ich war dick. Also
scherin gewichtige Gründe geltend: Statis- war ich schlecht.“ Noch ein Jahr zuvor sei
Lebensfülle tisch gesehen wirke es nicht lebensverlän- sie nackt durch das Haus ihrer Großmutter
gernd. Zudem gewinne die Mehrheit der getollt und habe stolz vor der alten Dame
Body-Aktivistin Virgie Tovar Menschen, die Gewicht verlieren, es an- getanzt. Demonstrativ schüttelt sie ihren
bietet Fernkurse in schließend wieder zurück – ein Jo-Jo-Effekt, mächtigen Busen und ihr Hinterteil, die
Selbstliebe an. „Essen ist der Körper und Seele schädigt. Mädchen kreischen, Tovar ruft: „Scham ist
Essen“, sagt sie, „nicht An der Body-Front stehen aber nicht nur nicht angeboren, sie wird anerzogen!“
böse, nicht gut.“ dicke Menschen. Auch Dünne lehnen oft- Schuld seien gesellschaftliche Normen.
mals ihren Körper ab und kasteien sich. Ess- Finger schnippen; Beispiele fliegen durch
störungen wie Anorexie und Bulimie bilden den Raum: „Jungen müssen groß sein“,
SUMA JANE DARK FOR WEAR YOUR VOICE

die Kehrseite der Diätkultur. Die kaliforni- „Mädchen hübsch“, alle nicken, „unsere
sche Initiative „The Body Positive“ begann Haare lang und glatt“. Die meisten kleinen
1997 mit einem Programm für Highschools. Monarchinnen haben krauses Haar. Sie bas-
Seitdem wurden mehr als 5000 „Youth Lea- teln jetzt aus zwei Papierscheiben eine
ders“ ausgebildet, die an Kinder und Jugend- „Selbstwertpizza“. „I am me“ („Ich bin ich“),
liche aller Hautfarben und Gewichtsklassen schreibt ein schwarzes Mädchen in eins der
die Kunst der Selbstliebe weitergeben. Auf Pizzaviertel, dann: „Ich liebe meine Augen“,
ihrer Website, www.thebodypositive.org, und „Ich liebe die Art, wie ich mich kleide“.
gibt es ein kostenloses E-Book zum Thema. Keine schreibt: „Ich liebe meinen Bauch“.

94 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


Fleischeslust
Die „West Coast Phat Fly
Girls“ stellen ihre Pfunde beim
Tanzen aus – und sich zu
Hause höchstens auf die gut
gelaunte „Yay!“-Waage.
GABRIELA HASBUN / REDUX / LAIF

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 95


S E L B S TA K Z E P TA N Z

Fit und fett


„Padded Lilies“, gepolsterte
Lilien, nennen sich die
Wasserballerinen. Sie sind aus
Oakland, Kalifornien, ihre
Shows aber USA-weit beliebt.

96 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


S E L B S TA K Z E P TA N Z

BIS ZUR SELBSTLIEBE der eigenen For- SEI GUT 26, „aber das langte, um mich alle 13 Schul-
men sei es ein weiter Weg, sagt Tovar. In ei- jahre hindurch fertigzumachen“. Fette Kuh,
nem kleinen Szenecafé, bei Rührei mit Speck, ZU DIR riefen die Kinder, lahme Ente. Die Mädchen
holt die Expertin weit aus. Die heutige ame- tuschelten und schlossen sie aus. Mit 15 lag
rikanische Esskultur habe viel mit Tabus zu Wenn’s mal dicke kommt: Jankuhn schluchzend auf ihrem Bett und
tun – beginnend beim Sex. Ernährung sei in Ratschläge der jammerte, dass niemand sie je lieb haben
den USA eine Art Religion, die streng Body-Aktivistin Virgie Tovar würde. „Du wirst dich noch zwischen zwei-
zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Essen en entscheiden müssen“, sagte ihre dünne
unterscheidet. Kohlenhydrate, „carbs“, zum französische Mutter bloß.
Beispiel gelten derzeit gerade als böse, {1} Als ihre Mutter vor drei Jahren starb, rea-
„proteins“ dagegen als gut. Die moralische LOBE DICH SELBST gierte die Studentin mit einer Essstörung,
Bewertung von Essen hätten der Prediger Deine Reaktion auf eine ungerechte dem „Binge Eating“. Im Gegensatz zur Bu-
Sylvester Graham und der Gesundheits- Welt ist sensibel und vernünftig. limie werden die unkontrollierbaren Ess-
reformer John Kellogg im 19. Jahrhundert Glückwunsch! attacken nicht durch Erbrechen, Extrem-
in die Welt gesetzt, erzählt Tovar. „Sie haben sport oder Hungern kompensiert, sondern
etwa Fleisch und Eier für schlecht erklärt, {2} schlagen direkt auf die Figur. Jankuhn such-
weil diese Lebensmittel Menschen angeblich WIEDERHOLE DIESES te Heilung in Selbsthilfegruppen. „Aus einer
sexuell stimulieren würden.“ Und Sex galt MANTRA: floh ich gleich wieder: Da hatten alle nur
den Moralaposteln als krank machend. „Es fühlt sich an, als würde es nie das Ziel abzunehmen“, erzählt sie. „Das war
Zwei Kreationen der beiden christlichen aufhören, aber das ist nicht wahr; nicht mein Weg. Ich war jahrelang bei den
Abstinenzadvokaten stehen heute noch in dies ist jetzt gerade unangenehm, Weight Watchers und weiß, dass Kalorien-
den Regalen aller US-Supermärkte: „Gra- aber es wird nicht ewig anhalten.“ zählen krank macht.“ Jankuhn wollte statt-
ham Crackers“ und „Kellogg’s Cornflakes“. dessen lernen, wieder auf die Signale ihres
Ihre Erfinder hielten die Vollkornkekse und {3} Körpers zu hören: Will ich essen und wenn
Maisflocken deshalb für gut, weil sie angeb- VERFANGE DICH NICHT IN ja, was? Wie viel mag ich, wann bin ich satt?
lich die Libido hemmen würden. „Heutzu- PARADOXEM DENKEN
tage gelten beide eher als schlecht, da reich Paradoxes Denken geht so: DER ERSTE SCHRITT, ein besseres Ver-
an Kohlenhydraten“, sagt Virgie Tovar und 1. „Ich fühle mich heute schlecht in hältnis zu ihrem von den Essanfällen ge-
bricht in ihr ohrenbetäubendes Gelächter meinem Körper.“ zeichneten Körper zu entwickeln, war ein
aus. „Was für ein Quatsch“, sagt sie dann. 2. „Ich bin schlecht, weil ich mich Tattoo, das die Studentin auf einen ihrer un-
„Essen ist Essen, nicht böse, nicht gut, schlecht in meinem Körper fühle. geliebtesten Körperteile gravieren ließ: den
sondern lecker, sättigend, lebenswichtig. Ge- Ich habe versagt.“ Oberschenkel. Es zeigt eine Lady-Godiva-
nau wie Sex.“ Sei nett zu dir, und vergib dir. Figur. Die legendäre Engländerin soll in
Und dann sagt sie etwas zu den Folgen Denke dran: Das sind alles nur einem Protestakt nackt über den Dorfplatz
des Schlankheitswahns. Diät zu halten be- Kopfgeburten. geritten sein. Jankuhns Reiterin zieht sich
deute, das Leben aufzuschieben. Auf Ziele zugleich am Haar aus dem Sumpf, in An-
wie: „Mit zehn Kilo weniger suche ich einen {4} spielung auf den Baron von Münchhausen.
neuen Job“, „Ab 70 Kilo melde ich mich zum MANAGE DEINE ONLINE-ZEIT „So ein Tattoo braucht Pflege“, sagt Doro-
Onlinedaten an“. Hungern habe viel mit der Mache eine Pause vom Internet. thée Jankuhn. „Je öfter ich den tätowierten
gesellschaftlichen Rolle der Frau zu tun, „mit Trenne dich von Facebook- Schenkel eincreme, desto mehr gewinne ich
dem Versuch, sich kleinzumachen, wenig Freunden, die dir nicht guttun, oder ihn lieb.“ Sie will jetzt auch ihren Bauch
Platz einzunehmen, kaum Ressourcen zu lösche die Facebook-App ganz. häufiger streicheln.
verbrauchen“. Die Wahrheit sei, sagt Tovar Finde dein Gleichgewicht in deinem Der zweite Schritt war das Babecamp.
und kneift ihre schwarzen Augen zu Pfeilen ganz normalen Alltag. Bei Jankuhn machte es Klick, als Tovar ihr
zusammen, dass eine Frau, die sich mit ih- die Mechanismen der Diätindustrie erklärte.
rem Aussehen verrückt mache, nie wirklich {5} In Amerika werden jährlich 60 Milliarden
unabhängig sein könne. „Niemals.“ WENN ALLES NICHTS HILFT, Dollar mit Abspeckpillen oder fettreduzier-
Die Göttingerin Dorothée Jankuhn kennt BASTLE ETWAS GLÄNZENDES ten Produkten umgesetzt – Tendenz stei-
Virgie Tovar nur vom Telefon. Jankuhn hat MIT KATZEN DRAUF gend. Jedes Marketing beruhe auf einem
von Deutschland aus Tovars „Babecamp“ ab- Sprüh #supersexy in Gold auf schlichten Mechanismus, erklärte Tovar ih-
solviert. Das ist ein vierwöchiger Kurs, bei ein T-Shirt, leg dir Tarotkarten, iss ren Babes: „Sell to the pain“ – „Verkaufe an
dem in täglichen Mails mit Aufgaben und Erdbeertörtchen, schreib ein Ge- den wunden Punkt“. „Plötzlich war mir klar,
Anstupsern – darunter Schnappschüssen dicht. Tu etwas, was deine gesamte warum überall nur glückliche Dünne ge-
GABRIELA HASBUN / REDUX / LAIF

von drallen Beach-„Babes“ – Selbstliebe ge- Hirnflüssigkeit aufsaugt! zeigt werden“, sagt Jankuhn wütend. „Je
lehrt wird. Samstags telefonieren die Teil- mehr wir an unseren Polstern leiden, desto
nehmer eine Stunde lang mit Tovar. „Die mehr kaufen wir Abnehmkuren, Cellulite-
99 Dollar haben sich total rentiert“, sagt die Das nächste „Babecamp“ findet
Cremes, Steptrainer.“ Im November fährt
angehende Kulturwissenschaftlerin. vom 4. bis 30. April 2016 statt Jankuhn zum Live-Babecamp mit Virgie
Adipös ist die 34-Jährige nicht. In ihrer und ist online buchbar. Tovar auf Jamaika. „Da herrscht Fatkini-
Jugend pendelte ihr BMI zwischen 25 und Infos: www.virgietovar.com Pflicht“, sagt sie und lacht.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 97


S E L B S TA K Z E P TA N Z

Gleichgewicht
Die Künstlerin Samantha
Geballe musste ihr Körper-
gefühl erst wiederfinden.
Jessamyn Stanley ist Yoga-
lehrerin und Body-Aktivistin.

sie auf dem richtigen Weg.“ Ob dabei auch


Psychotherapie helfe? Flores nickt. „Manch-
mal schon. Für einige hat das Fett auch
seelisch eine Bedeutung. Traumatisierte
Kriegsveteranen etwa legen sich oft eine
Speckschicht zu, um sich dahinter vor ihrer
Umwelt zu verschanzen.“

Ihr Körper schrie


nach Liebe.
Ein echter Mann ist hart de ihm zum Erweckungserlebnis: „Intuitive EINE HALBE AUTOSTUNDE entfernt, in
wie seine Muskeln. eating“ von Elyse Resch und Evelyn Tribole. einem kleinen, verwitterten Eckbungalow,
„Ich fühlte mich wie Kinoheld Neo in wohnt Samantha Geballe. Die Künstlerin
UNTER PALMEN findet auch das Ge- ,Matrix‘, nachdem er die Pille der Wahrheit hat hier lange vollkommen zurückgezogen
spräch mit dem Body-Aktivisten Aaron Flo- geschluckt hat“, erzählt Flores. „Diäten kön- gelebt. Sie hat nur dann das Haus verlassen,
res statt, an der Strandpromenade von Santa nen nicht funktionieren, weil sie das natür- wenn sie wusste, dass draußen besonders
Monica, zwischen Joggern und drahtigen, liche Essverhalten zerstören. Du verlernst, wenig Menschen unterwegs sein würden.
blondierten Hundehalterinnen. „Los Ange- auf deinen Körper zu hören, auf das Gefühl Weil alle sie anstarrten. Kinder zeigten mit
les ist die Hauptstadt der Orthorexie, der der Sättigung, auf deine Gelüste.“ den Fingern auf sie, Stühle zerbarsten unter
krankhaften Korrekternährung“, sagt Flores. Entsetzt bemerkte er noch etwas: „Ich ihrem Gewicht. Beim Autofahren schrie mal
„Hier werden manche hysterisch, wenn Lak- hasste meinen Körper!“ Zwar hielt Flores ein Mann aus dem Nebenwagen: „Du bist
tose im Essen ist oder eine Zutat gentech- damals tapfer sein Idealgewicht. „Aber ich so dick, du solltest sterben.“ Fluchend und
nisch modifiziert wurde.“ Das gesundheits- fand mich zu weich. Kein Sixpack, kein gestikulierend verfolgte er sie fast eine halbe
fanatische Klima verschärft das Leiden sei- Bizeps, dafür Lovehandles.“ Viele Männer, Stunde lang.
ner Klienten. glaubt Flores, lehnen ihre Körper genauso Jetzt muss Geballe oft aus dem Haus, um
Wie es ist, hier als Dicker aufzuwachsen, ab wie dicke Frauen – aber aus anderen kleinere T-Shirts und Hosen zu kaufen. Vor
hat Flores am eigenen Leib erfahren. „Mit Gründen. Weil sie nicht dem Männlichkeits- etwas über einem Jahr wurde ihr Magen
15 schickte mich meine Mutter zum ersten ideal entsprechen. „Und das Schlimme ist: operativ kaltgestellt. Seitdem kann sie nur
Mal zur Diätberaterin. Es war schrecklich. Im Gegensatz zu Frauen sind wir zum noch einen Bruchteil ihrer früheren Essens-
Ich habe die Frau ständig über mein Ess- Schweigen über dieses Leid vergattert.“ Ein portionen verdauen. Ihr wird schon
verhalten belogen, um sie nicht zu enttäu- echter Mann spricht über solche Dinge schlecht, wenn sie zu viel Wasser auf einmal
schen.“ Aus Flores wurde ein Jo-Jo-Diäter. nicht, er ist so hart wie seine Muskeln und schluckt. Im Schnitt verliert sie 2,5 Kilo pro
Nach jedem Gewichtsverlust waren die zeigt keine Gefühle. „Man up“, sagen die Woche, ist von über 200 Kilo Körpergewicht
Menschen höflicher zu ihm; jedes Mal, Amerikaner, „sei ein Mann“. auf 80 geschrumpft.
wenn er wieder zunahm, hagelte es Tadel. Aus Aaron Flores wurde kein Diät-Guru. Auf der Straße dreht sich keiner mehr
Mit 28 fasste Aaron Flores einen verzwei- Er begann, wieder Nachtisch zu essen. Sport nach ihr um. Sie ist jetzt eine ganz normale
felten Entschluss: „Ich werde dünn. Für treibt er weiter: weil sein Körper sich gern 27-Jährige, mit einem glatten jungen Ge-
immer. Und dann werde ich der nächste bewegt und weil er inzwischen diesem wei- sicht. Eins, das sie selbst bis vor einem Jahr
Weight-Watcher-Guru.“ Bald war Flores chen, aber geliebten Körper gern Gutes tut. nicht kannte. Nur wer genau hinguckt, sieht,
sehr stolz auf sich: Anderthalb Jahre rührte „Ich bin heute rundlich. Und gesund.“ dass sich unter ihren Oberarmen schlaffe
er keinen Nachtisch an, strampelte sich täg- Den Erfolg seiner Beratungen misst Flo- Haut bläht.
lich im Fitnessstudio ab und erlernte neben- res nicht auf der Waage, sondern vor dem
bei seinen Traumberuf. Kühlschrank. „Wenn meine Klienten sich
SAMANTHA GEBALLE

Dann kamen die ersten Klienten zur Be- nicht mehr anfallartig vollstopfen, wenn sie
VIDEO: Samantha Geballe
ratung, und Flores merkte, wie sie an seinen nur dann naschen, wenn sie dazu Lust ha- über ihre Selbstporträts
Diäten scheiterten. Nächtelang verschlang ben, wenn sie bemerken, dass sie nicht mehr spiegel.de/sw012016selbstportraits
der Kalifornier Fachliteratur. Ein Buch wur- jede Minute an Essen denken – dann sind

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S E L B S TA K Z E P TA N Z

wohnt eine der wortwörtlich stärksten Ver-


treterinnen der Szene: die Afroamerikanerin
Jessamyn Stanley. In ihren Internetprofilen
bezeichnet sich die 28-Jährige als „fat
femme“ – als dicke, feminine Lesbe.
Sie steckte in einer Lebenskrise, als eine
Freundin sie vor fünf Jahren zum Yoga
drängte. „Meine erste Beziehung war gerade
zerbrochen, ich schwänzte mein Studium,
trank, nahm Drogen, ritzte mir die Haut
auf“, erzählt Stanley. Ihr Vater ist Last-
wagenfahrer, die Mutter Hausfrau, „meine
Großmutter kann nicht einmal lesen“. Der
Weg zur gesellschaftlichen Teilhabe ist für
jemanden wie Jessamyn Stanley weit; sie
musste ehrgeizig sein, sich für Stipendien
qualifizieren. Dick wurde Stanley schon als
Kind, „die schwarzen Gemeinden hier im
Süden haben sehr schlechte Essgewohnhei-
ten“. Nicht nur ihre Rundungen waren ihr
bis vor Kurzem peinlich. „Ich war wie wohl
jede schwarze Frau von meinen Haaren wie
besessen: Sie sollten glatt und lang sein.“
In der Body-Szene sind Mageneingriffe nen eines Lakens. Und immer wieder ihre Yoga gefiel ihr auf Anhieb, obwohl sie
verpönt. Erstens sind sie lebensgefährlich. auf den Fotos festgehaltenen Schreie: Man anfangs nicht ihre Füße berühren konnte,
Zweitens greifen viele Operierte anschlie- meint das Brüllen zu hören, aus tiefer Kehle. wenn sie sich zum Boden beugte. Heute glei-
ßend zum Alkohol, ersetzen die eine Sucht Die Rufe einer Verschütteten. tet sie elegant in die schwierigsten Yoga-Asa-
durch die andere, werden unheilbar depres- „Heute weiß ich, was mein Körper sagen nas: in den Kopfstand, in die Kriegerstellung,
siv. „Das Ziel einer Magen-OP darf nicht wollte: Er schrie nach Liebe.“ Unkontrolliert in den Spagat. „Es ist das Atmen beim Yoga,
bloß Abnehmen sein“, warnt auch Geballe. zu essen begann Samantha schon als Klein- das mein Leben verändert hat, die Medita-
„Wer lediglich ein Problem mit seinem Aus- kind, „nur dadurch, mit diesem Verhalten, tion“, sagt Stanley, „diese Praxis hat aus mir
sehen hat, sollte die Finger davon lassen.“ bekam ich ein wenig Aufmerksamkeit von einen glücklichen Menschen gemacht.“
Sie selbst hatte keine Wahl. Ohne radika- meiner ständig abwesenden Mutter“. Um Schönheitsnormen schert sie sich
le Gewichtsabnahme wäre sie womöglich Geballe hat angefangen, Videos aufzu- nicht mehr. Stanleys krauses Haar ist ras-
im Schlaf gestorben. „Ich hatte 100 Atem- nehmen (www.samanthageballe.com). Sie pelkurz, ihre fülligen Schenkel stecken in
stillstände pro Nacht.“ Das Fett lastete auf will andere anspornen, sich auf die Suche bunten Leggings. „Ich war am Anfang stets
ihrer Lunge, ihr Blutdruck war viel zu hoch, danach zu machen, was ihr Körper sagt. „Bis die Dickste beim Yoga“, sagt sie. Auch in der
die Cholesterinwerte schossen in schwin- zu den Selbstporträts hatte ich keine Vor- Yogaszene gebe es eine subtile Ächtung von
delerregende Höhen. Anderthalb Jahre lang stellung von meinen Ausmaßen. Meine Gewicht. „Inzwischen bin ich als Lehrerin
bereiteten die Ärzte sie auf den Eingriff vor. Selbstwahrnehmung war völlig gestört.“ Sie begehrt, und zwar auch bei schlanken wei-
Geballe musste sich auf ein komplett neues zupft an ihrem T-Shirt, zieht nervös an ih- ßen Schülerinnen.“
Leben einstellen. Wie bei einem Alkoholiker ren Fingern. Dann sagt sie mit fester Stimme: Im Internet postet Stanley ständig neue
stand ihr ein Entzug bevor – mit dem Un- „Hätte ich gewusst, wie fett ich wirklich bin, Yogaposen von sich, Bilder, die viel Haut
terschied, dass Esssüchtige im Gegenteil zu dann hätte ich mich umgebracht.“ zeigen, viel Bauch. „Eigentlich bin ich eine
Trinkern ihren Suchtstoff anschließend Ihre größte Angst sei, wieder zuzuneh- schüchterne Frau“, sagt die Südstaatlerin.
nicht vermeiden können. „Am meisten hilft men. „Auch deshalb versuche ich, meinen Es klingt nicht kokett. „Aber ich weiß ein-
mir die Fotografie“, sagt die Kalifornierin, Körper lieb zu gewinnen.“ Geballes Körper fach, dass es gut ist, sich zu zeigen. Es macht
„ohne meine Selbstporträts wüsste ich nicht, hat Narben vom jahrelangen Übergewicht da- frei, und es befreit auch andere.“
wie ich diese Transformation psychisch vongetragen: kaputte Knie, deformierte Wir- Stanleys virtuelle Fangemeinde bestätigt
überleben würde. Mal bin ich euphorisch, bel, überschüssige Haut. „Die schlaffe Haut diese Einschätzung. „Du bist in jeder Hin-
mal ängstlich und niedergeschlagen.“ will ich aber nicht wegoperieren“, sagt sie. sicht eine Inspiration für mich“, schreibt eine
„Sie gehört zu mir und meiner Geschichte.“ DaNy Ramirez aus Mexiko, „Du bist so ein
DIE IDEE, SICH SELBST NACKT zu por- starkes Vorbild“, lobt Katie Jane aus New
trätieren, entwickelte sie während der Vor- Hampshire. Und immer wieder steht in den
bereitungszeit auf die Operation, in einem Anfangs konnte sie Kommentarzeilen: „I love you, Jessamyn.“
Kunstkurs. Herausgekommen ist eine Serie ihre Füße nicht berühren.
JESSAMYN STANLEY

verstörender Schwarz-Weiß-Bilder: die


überlappenden Fettkaskaden von Geballes BODY-PIONIERE GIBT ES nicht nur in Annette Bruhns versucht einmal in der
Rücken vor einer Dschungelkulisse. Ihre Kalifornien. Sechs Flugstunden östlich von Woche, inneren Einklang beim Yoga zu finden.
Hautfalten, ästhetisch kontrastiert mit de- Los Angeles, in Durham, North Carolina, annette.bruhns@spiegel.de

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 99


BÜCHER

Chaos statt
Botox DIE BRÜNETTE
Drei sehr unterschiedliche BLONDINE
neue Sachbücher erzählen von
der Selbstfindung. Die Hamburger Autorin Ildikó von Kürthy
widmet sich ihren Neurosen mit bemerkens-
werter Hingabe: Sie stolpert von einer Sinn-
TEXTE: ANGELA GATTERBURG krise in die nächste, schlägt sich wahlweise
mit Diäten, Alkoholexzessen und Ehepro-
blemen herum und beschließt deshalb an
Silvester einen Neustart: Sie will sich auf
die Suche nach ihrem besseren Ich begeben.
Ein Jahr der Rundumerneuerung soll es
werden, ohne Alkohol, ohne Zucker, ohne
OHNE Zigaretten, mit blonden Haaren, weil Blon-
dinen bekanntlich mehr vom Leben haben.
MICH „Ein Jahr lang alles richtig machen: Träume
verwirklichen, Sehnsüchte aufspüren, ge-
sund leben, Wesentliches erkennen, Aben-
teuer wagen, selber glücklicher werden und
Ständig das eigene Ich polieren in all seinen andere glücklicher machen.“
Facetten, wie anstrengend, wie lästig. Re- Autorin Niazi-Shahabi: Tapfer begibt sich die Autorin aus ihren

ARMIN SMAILOVIC / AGENTUR FOCUS, CHRISTIAN KERBER / LAIF, BILL RAY / THE LIFE PICTURE COLLECTION / GETTY IMAGES, ULLSTEIN BILD
becca Niazi-Shahabi hat die Nase voll von „Selbstverwirklichung wird Komfortzonen in diverse Problemzonen, be-
Selbstoptimierungsaufforderungen aller Art. zu ihrem Gegenteil, wenn sucht ein Schweigekloster, absolviert Darm-
„Die Selbstverwirklichung wird zu ihrem sie gelingen muss“ reinigung und Kautraining, lässt sich das
Gegenteil, wenn sie gelingen muss“, findet Gesicht mit Botox und Hyaluron aufsprit-
die Berliner Autorin. Sie sehnt sich nach ei- zen, übt sich in Achtsamkeit, Meditation
nem erfüllten Leben, das sich „richtig“ an- und Yoga. „Ein Jahr lang habe ich Selbst-
fühlt. Aber wie genau sieht das richtige Le- erfahrungen gesammelt wie andere Leute
ben aus? Pilze“, schreibt Kürthy, ihr Buch ist ein Rei-
Niazi-Shahabi, 45, macht sich auf die Su- sebericht aus der „seltsamen Welt der Selbst-
che bei Philosophen, Revolutionären, Er- verwirklicher“.
folgsbloggern; ihr Bericht ist geistreich und Die Reise mit ihren Selbstversuchen, Pan-
erfrischend ehrlich. Etwa wenn sie den nen und Verzichtsgezeter gerät höchst un-
Zwang beschreibt, sich immerzu mit ande- terhaltsam, ist jedoch auch voller Erkennt-
ren zu vergleichen. „Es fühlt sich komisch nisse und Einsichten, nicht zuletzt, weil die
an, für ein Angestelltengehalt zu arbeiten, Autorin immer, wenn sie nicht weiter weiß,
wenn man weiß, dass sich ein Vermögen kluge Leute um Rat bittet. Überhaupt ste-
scheffeln lässt, indem man seine Katze cken Lebenserfahrung und Selbstironie,
filmt.“ aber auch viel Wärme in Kürthys Buch,
Shahabi will die Suche nach dem Heili- etwa, wenn sie über die Liebe zu ihren El-
gen Gral des perfekten Ich nicht mehr mit- tern schreibt. Nach einem Jahr zieht sie Bi-
machen. Selbstverwirklichung beginnt für lanz und kehrt freudig zurück zu ihrem brü-
sie in dem Moment, wo sie sich sämtlichen netten Selbst und ihrem manchmal chaoti-
Vorschlägen widersetzt. Ihr radikales Fazit: schen Dasein. Fortan, so ihr Bekenntnis,
„Verweigerung ist das stärkste Bekenntnis Autorin Kürthy: „Ein Jahr wird sie einfach ganz unbekümmert so blei-
zu mir selbst.“ lang habe ich Selbsterfah- ben, wie sie ist.
rungen gesammelt wie
REBECCA NIAZI-SHAHABI: „Scheiß auf andere Leute Pilze“ ILDIKÓ VON KÜRTHY: „Neuland. Wie
die anderen. Sich nicht verbiegen lassen ich mich selber suchte und jemand ganz
und mehr vom Leben haben“. Piper Ver- anderen fand“. Wunderlich Verlag; 396
lag; 196 Seiten; 9,99 Euro. Seiten; 19,95 Euro.

100 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


BÜCHER

Autorin Lierhaus: „Ich bin


immer noch ich, auch wenn
mir manches an diesem
neuen Ich fremd ist“

NACH DEM
KOMA

Monica Lierhaus ist beliebt und sehr erfolg-


reich als Journalistin und Moderatorin, als
sie sich im Januar 2009 einer Hirnopera-
tion unterziehen muss. Es kommt zu Kom-
plikationen, Lierhaus wird für Monate in D E R K L ASS I K E R
ein künstliches Koma versetzt und kämpft
sich danach in einer mühsamen Rehabilita-
tion zurück ins Leben.
Über Kindheit, Karriere und vor allem Kluge Worte eines Denkers, der allmählich
über die vergangenen sieben Jahre hat sie wieder Konjunktur hat: Dieser Textauszug
jetzt ein lesenswertes Buch geschrieben. entstammt ursprünglich dem Buch „Wege
Sie schildert anrührend, aufrichtig, mit De- aus einer kranken Gesellschaft“ des Philo-
mut und manchmal grimmigem Humor, sophen Erich Fromm, 1955 veröffentlicht.
wie sie sich ihre Selbstständigkeit und ihre
Persönlichkeit zurückerobert. „Des Menschen Wertgefühl hängt von
Das Buch porträtiert eine starke Frau seinem Erfolg ab, ob er sich gewinnbrin-
mit großer Willenskraft und geht dabei weit gend verkaufen kann, ob er mehr aus sich
über einen Krankenbericht hinaus: Wie zu machen weiß, als er zu Anfang seiner
kann ein gelungener Umgang mit einem
Laufbahn war, kurz, ob er ,ein Erfolg‘ ist.
Schicksalsschlag aussehen? Was macht das
Sein Körper, sein Geist und seine Seele
Selbst eines Menschen aus? Wie wichtig ist
die Unterstützung liebender Menschen für sind sein Kapital, und seine Lebensauf-
den Heilungsprozess? „Ich bin immer noch gabe besteht darin, dieses vorteilhaft zu
ich“, schreibt Lierhaus, 45, „auch wenn mir investieren, einen Profit aus sich zu
manches an diesem neuen Ich fremd ist. ziehen. Menschliche Eigenschaften wie
Vielleicht immer fremd bleiben wird.“ Autor Fromm: „Eigen- Freundlichkeit, Höflichkeit und Güte wer-
Inzwischen moderiert Lierhaus wieder schaften wie Freundlich- den zu Gebrauchswaren, zu Aktivposten
im Fernsehen, engagiert sich für Unicef. keit und Güte werden zu des ,Persönlichkeitspakets‘, die zu einem
Für die Zukunft hat sie eine Liste erstellt Gebrauchswaren“ höheren Preis auf dem Personenmarkt
mit Dingen, die sie noch tun will: etwa Stef- verhelfen. Gelingt es jemandem nicht,
fi Graf interviewen, Robert De Niro treffen,
sich gewinnbringend zu investieren, so
in einem Film mitspielen – für all diese
hat er das Gefühl, dass er ein Versager ist;
Pläne wünscht man ihr von Herzen alles
Gute. ist er erfolgreich, so ist es sein Erfolg.“

MONICA LIERHAUS MIT HEIKE GRO- ERICH FROMM: „Authentisch leben“.


NEMEIER: „Immer noch ich. Mein Weg Herder Verlag; 160 Seiten; 9,99 Euro.
zurück ins Leben“. Ullstein Verlag; 270
Seiten; 19,99 Euro.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 101


B E R AT U N G

Geburtshelfer
fürs Ich

102 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


B E R AT U N G

Wie lerne ich mich selbst kennen und schätzen?


Ein Coach kann Beistand leisten.
TEXT ANGELA GATTERBURG F OTO S I LIKE BIRDS

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 103


B E R AT U N G

C O A C H I N G
COACH IN G ist Hilfe zur Selbsthilfe und damit eine kurzfristige, lösungsorientierte Begleitung von
Menschen, die ein konkretes Problem in ihrem Leben bearbeiten möchten. Darin unterscheidet es
sich von einer längerfristigen Psychotherapie. Im Coaching können aber verschiedene Methoden aus
psychotherapeutischen Schulen eingesetzt werden, wie etwa Gesprächstherapie, kognitive Verfahren
oder Verhaltenstherapie. Wie gut ein Coach ist und ob er zum eigenen Anliegen passt, muss letztlich
jeder selbst erproben, denn das Berufsbild ist an keine formale Qualifikation gebunden – jeder kann
sich Coach nennen. Prinzipiell richtet sich Coaching an „gesunde“ Personen und nicht an Menschen,
die unter psychischen Erkrankungen leiden wie etwa Phobien, Depressionen, Angstzuständen, Sucht-
krankheiten, Traumata. Psychotherapie hingegen kann in Deutschland nur von Fachärzten, Psycholo-
gen, Psychotherapeuten und Heilpraktikern für Psychotherapie angeboten werden.

I LIKE BIRDS / SPIEGEL WISSEN, NIKO GUIDO/GETTY IMAGES, WESTEND61/GETTY IMAGES, SDOMINICK/ GETTY IMAGES

104 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


B E R AT U N G

Paradoxerweise kann gerade der Mangel an Selbstkenntnis


zur ständigen, nagenden Frage nach dem eigenen Ich führen.
Wer sie nicht beantworten kann, fühlt sich unsicher und unzu-
DER MITTVIERZIGER WAR ERFOLGREICH, er besaß reichend.
eine eigene IT-Firma und kam bloß zum Hamburger Busi- Viele von Rossellits Klienten sind außerdem streng mit
nesscoach Jutta Rossellit, weil er besseres Zeitmanagement sich. Sie glauben, dass sie noch mehr leisten sollten, anstatt
lernen wollte. Mehrmals besprachen die beiden das Thema sich einfach einmal etwas zu gönnen. Oft gehe es um mehr
Zeitmangel, dann sagte er plötzlich: „Das mit der Selbststän- Freundlichkeit, mehr Wohlwollen mit sich, doch Selbstakzep-
digkeit wollte ich eigentlich nie. Und jetzt mache ich es schon tanz und Selbstliebe zu lernen sei nicht einfach, sagt Rossellit.
vier Jahre.“ Die Firma, so stellte sich heraus, hatte er gegrün- Denn Leistung stehe nun mal im Vordergrund. „In unserer
det, weil sein Vater das unbedingt wollte. Rossellit sagt: „Mei- Wertbildung“, so Rossellit, „ist es wichtiger, gut rechnen zu
nem Klienten war es wichtig, dass sein Vater stolz auf ihn ist.“ können, als gut zu musizieren. Unser Bildungssystem richtet
Die Firma aufzugeben erschien ihm erst unvorstellbar. Er uns, was das angeht, leider doch sehr einseitig zu.“
hatte Angst, egoistisch zu sein, wenn er seinen eigenen Werten Das sieht Martin Wehrle ähnlich. „Sei einzig, nicht artig“
und Idealen folgte, so Rossellit. Doch in weiteren Sitzungen heißt darum das neue Werk des bekannten Hamburger Kar-
fand der Mann immer klarer zu sich. Der 43-Jährige beschloss, rierecoachs, ein kluges Buch, das Menschen lehren will, ihren
seine Firma zu verkaufen und sich als Wünschen und Träumen zu folgen. „Die
IT-Berater in führender Funktion an- meisten verlieren ihr Leben, weil sie es
stellen zu lassen. „Ich möchte jetzt Chef abtreten an andere, weil sie nicht dem
meines eigenen Lebens werden“ sagte Ruf ihres Herzens folgen und sich nicht
er. „Bislang saß ich im Zwischendeck, „Bislang saß ich im um ihr inneres Wachstum kümmern“,
jetzt werde ich Steuermann.“ sagt Wehrle.
Woher weiß der Coach, dass jemand Zwischendeck Er glaubt auch zu wissen, warum das
auf dem richtigen Weg ist? Rossellit lä- so ist. Laut einer britischen Studie hört
chelt. „Wenn da einer sitzt, aufrecht und
meines Lebens, ein Kind 449 Bemerkungen täglich, nur
mit leuchtenden Augen, dann merke ich, jetzt werde ich 37 davon sind positiv. „Immer heißt es,
der ist in gutem Kontakt mit seinem tu dies, lass das, das darfst du nicht, iss
Selbst.“ Steuermann.“ den Teller leer“, sagt Wehrle. „Also neh-
Viele Menschen wollen in bestimm- men wir die Botschaft mit: Was wir
ten Lebensphasen ihr Dasein hinterfra- selbst wollen, spielt keine Rolle. Es gilt,
gen, sich selbst wieder näherkommen. was die anderen wollen und vorgeben,
Selten geht es dabei um einen radikalen nämlich Eltern, Lehrer, Arbeitgeber.“
Kurswechsel, häufiger um eine Standortbestimmung: Passt
mein Leben noch zu mir? Bin ich derjenige, der ich sein will? ALS KARRIEREBERATER hat Wehrle jeden Tag mit Men-
Finde ich mich stimmig? Ein Coach kann diesen Suchprozess schen zu tun, die sich unwohl fühlen, eingesperrt in ein Leben,
wirksam begleiten – er bringt Distanz ebenso mit wie Erfah- das ihnen nicht entspricht. „Die Veränderungsenergie muss aus
rung als kundiger Gesprächspartner. den Leuten selbst kommen. Ich versuche, sie freizulegen, und
Manchmal brauche es einfach jemanden, sagt Jutta Ros- richte den Blick dabei immer auf ihre inneren Ressourcen.“ Häu-
sellit, der sich interessiert und freundlich zuwende, nicht wer- fig setzt Wehrle Fragen ein, um Denk- und Fühlprozesse in Gang
te, genau zuhöre, neue Perspektiven aufzeige. „Meine Klienten zu setzen. „Blicken Sie auf die letzten Jahre zurück. In welchen
finden durch meine Wertschätzung zur Selbstwertschätzung.“ Momenten waren Sie lebendig, wann ging es Ihnen richtig gut?“
Viele, die zu ihr kommen, sind darauf geeicht, die gesell- Ein Mann erzählte, er sei mit dem Wohnmobil durch die
schaftlichen Normen zu erfüllen, nach dem Motto: Wenn ich USA gefahren, dabei habe er sich unabhängig und frei gefühlt.
das Äußere erfülle, ist alles gut. Das stimme natürlich nicht, sagt Für ihn war diese Freiheit ein hoher Wert, er tat sich schwer,
Rossellit, „denn konventionelle Standards haben häufig mit den in einem Konzern mit strengen Hierarchien zu arbeiten, in
ureigensten inneren Wünschen überhaupt nichts zu tun“. dem er nur Weisungen von oben umsetzen musste. Für ihn
Die eigenen Wünsche und Sehnsüchte aber sind oft un- ging es um die Frage: Kann ich mir ein Arbeitsumfeld schaffen,
bewusst, gerade bei Jüngeren. „Sie finden es wichtig, sich zu das mir mehr Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung er-
kennen, sind aber nicht wirklich gut in sich zu Hause“, so möglicht? Wenn Wehrles Klienten eine Zielvision entwickelt
Rossellit. Sie überrascht das nicht, in Zeiten zunehmender haben, gibt er ihnen sogenannte Herausforderungen mit nach
Ablenkung und Ich-Zerstreutheit. Wann und wie sollten die Hause. Sie sollen etwa überlegen, was sie unternehmen kön-
Leute auch darüber nachdenken, wer sie sind, was sie wollen? nen, um ihrem Ziel ein wenig näher zu kommen. Er versuche,
immer eine „Fantasie des Erfolges“ zu wecken, und setzt dabei
auf die Kraft innerer Bilder: Wie wäre es, wenn Sie Ihr Ziel
BUCH bereits erreicht hätten? Wie werden Sie das feiern?
Eine seiner Lieblingsfragen ist: Was würden Sie tun, wenn
MARTIN WEHRLE: „Sei einzig, nicht Sie nur noch sechs Monate zu leben hätten? Diese Frage,
artig. So sagen Sie nie mehr ja, wenn Sie schwärmt Wehrle, „konzentriert die Gedanken auf das, was
nein sagen wollen“. Mosaik Verlag; 384 einem wirklich am Herzen liegt. Konfrontiert mit der eigenen
Seiten; 14,99 Euro. Endlichkeit unterscheidet jeder zwischen wichtig und un-

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 105


B E R AT U N G

wichtig“. Die meisten Menschen hätten falsche Wertvorstel-


WEGW EIS ER lungen im Kopf. „Wir müssen höllisch aufpassen, dass wir uns
die Maßstäbe für Glück und Erfolg nicht von außen oktroyie-
Fünf Apps für ein ren lassen. Ich habe viele sehr wohlhabende Menschen erlebt,
die sagten: Mit meinem wahren Ich hat mein Beruf nichts zu
ganzheitliches Leben tun.“ Deshalb ist Wehrles wichtigste Empfehlung: bloß nicht
gesellschaftliche Maßstäbe wichtiger nehmen als die eigenen.

Selbstfindung UM EIN SELBSTBILD ZU ENTWICKELN, ist oft viel in-


nere Arbeit notwendig. Gegen jede Form von „mechanischer
DAY ONE Optimierung, dieses Schneller, Fitter, Besser“ wendet sich die
Ob besondere Ereignisse oder tiefe Gedanken: Viele Münchner Karriereberaterin Madeleine Leitner. „Bei mir geht
Menschen „sortieren“ ihr Innenleben, indem sie auf- es immer um Selbstentfaltung, dabei muss ich individuell vor-
schreiben, was ihnen wichtig ist (siehe auch Seite 22). gehen, mit Wertschätzung und Glaubwürdigkeit“, sagt die stu-
Day One von Bloom Built ist eine Tagebuch-App, dierte Diplompsychologin, die in Kliniken und Wirtschafts-
jederzeit verfügbar, einfach in der Handhabung. unternehmen gearbeitet hat.
Sprache: Deutsch; für iPhone, iPad, Apple Watch, Als Psychotherapeutin schaut sich Leitner sehr genau die
4,99 Euro. Familienbiografien ihrer Klienten an. Sie betreute einen jungen
Mann, dessen drei ältere Brüder alle Betriebswirtschaftslehre
CALM studiert hatten. Der Jüngste war dagegen Bootsbauer geworden
Im Angebot sind verschiedene, thematisch sortierte und kam zu Leitner, weil er sich in seinem Beruf nicht wohl
Kurse mit Übungen für „besseren Schlaf“, „mehr fühlte. Was war passiert? Um – vermeintlich – seinen eigenen
Dankbarkeit“ oder „mehr Happiness“, jeweils für Weg zu gehen, hatte der junge Mann einen seltenen, unge-
Trainingszeiträume von 7 bis zu 21 Tagen. Eine sanfte wöhnlichen Beruf gewählt. Nur passte der überhaupt nicht zu
Frauenstimme leitet durch die Einheiten, sie wird ihm. Unbewusst, so Leitner, sei es ihm darum gegangen, sich
ergänzt von Musik und beruhigenden Geräuschen, gegenüber der Familie abzugrenzen, das Ergebnis war eine fal-
etwa Meeresrauschen. sche Berufsentscheidung, die korrigiert werden musste.
Sprache: Englisch; Teile der App sind kostenlos, die Leitner hilft auch beim Klären von Berufswünschen. Dazu
längeren Programme kosten zwischen 9,99 Euro im lässt sie Klienten Geschichten aus ihrem Leben erzählen. Sie
Monat oder 39,99 Euro im Jahr. Für iOS und Android. fragt: Wobei blühen Sie richtig auf? Beschreiben Sie eine Sache
in Ihrem Leben, die Sie gut gemacht und bei der Sie Freude
GET HAPPINESS empfunden haben. Manchen, sagt sie, fallen zu dieser Frage
Die Lebensfreude steigern will diese App, eine 20 Dinge ein, manchen gar nichts. „Manche Menschen haben
Mischung aus Hypnose und Mentalcoaching: Das 30- keinerlei Gespür für ihre wirklichen Talente, für das, was sie
minütige Programm, entwickelt und gesprochen von besonders gut können, sie sind geradezu betriebsblind für sich
der Hypnosetherapeutin Kim Fleckenstein, soll in selbst.“
eine tiefe Entspannung führen; gezielte Affirmationen Sie erzählt von einem Klienten, der in einer Ökofamilie
zum Thema Glück sind dazu gedacht, die Teilnehmer aufgewachsen war, nur mit Frauen, umstellt von Verboten.
mit positiven Botschaften zu versorgen und ihnen zu Fußballspielen fanden seine Erzieherinnen primitiv, Spiel-
einer offeneren Einstellung zu verhelfen. zeugpistolen ebenfalls, Raufereien sowieso. „Dieser Mann hat-
Sprache: Deutsch; für iOS und Android, 1,79 Euro. te sein Selbst verloren, er wusste nicht, wer er ist“, sagt Leitner.
Sie ist überzeugt: In Menschen, die ein Abbild der Wünsche
Lebensplanung anderer werden, kann keine Freude wachsen. In solchen Fäl-
len schickt sie ihre Klienten erst einmal zum Körpertherapeu-
BERUFE-ENTDECKER ten, damit sie ein Gespür für sich und ihren Körper entwi-
Die App der Bundesagentur für Arbeit wurde vom ckeln – heraus aus der inneren Erstarrung, hin zu mehr Le-
Meramo Verlag entwickelt und bietet jungen bendigkeit. „Denn ich kann nichts in Form bringen, was wab-
Menschen mit Informationen, Bildern und Videos belig wie ein Pudding ist.“
umfängliche Orientierung bei der Berufswahl. Der Leitfaden für ein selbstbestimmtes Leben ist für Leitner
Sprache: Deutsch; für iOS, kostenlos. die Freude. Die lasse sich durchaus jenseits des Berufs entdecken.
Ein Manager fand zu seinem Selbstausdruck über neue Hobbys,
ZUKUNFT LÄUFT er nahm Schauspielunterricht, begann, Gedichte zu schreiben
Karriereanfänger können mit dieser App einen und vorzutragen. Andere verwirklichen sich in Ehrenämtern,
Interessenscheck und eine persönliche Berufswahl- wieder andere legen sich einen Garten zu. „Das Wichtigste ist,
und Studiumsliste erstellen. Dazu gibt es Infos von innere Zufriedenheit mit sich selbst zu entwickeln.“
Experten rund um Ausbildung, praktisches Arbeits-
leben, Jobbörsen und Studium.
Sprache: Deutsch; für iOS und Android, kostenlos.
Beim Kochen fühlt sich Angela Gatterburg ganz im Einklang
mit sich selbst, auch wenn ein Gericht mal nicht gelingt.
angela.gatterburg@spiegel.de

106 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


B E R AT U N G

Werde, der du bist!


Wege zu einem stimmigen Selbst
Was bringt
mir das
Authentisch-Sein?
Was heißt eigentlich Das bedingungslose Ja zu sich selbst
„authentisch sein“? erklärt die Ärztin und Psychothera-
Als authentisch gelten Menschen, die peutin Mirriam Prieß in ihrem neuen
in Übereinstimmung mit ihren inners- Buch „Resilienz“ zum Geheimnis inne-
ten Überzeugungen und Werten leben. rer Stärke. „Authentizität erfordert
Das erfordert „Mut zu selbstständi- Mut zu sich selbst“, schreibt Prieß.
gem Fühlen, Denken und Handeln“, so Was heißt das im Alltag? „Wer dem Leben kraftvoll begegnen
die Psychologin Ursula Nuber in ih- Authentische Menschen interessiert und sich Herausforderungen stellen
rem neuen Buch „Eigensinn“. Dazu wenig, was andere von ihnen denken, will, der kann dies nur, wenn er den
gehört auch die Fähigkeit, unbequeme sie haben keine Angst, sich lächerlich Mut aufbringt, zu sich selbst zu ste-
Wahrheiten auszusprechen, selbst zu machen, und gehen wertschätzend hen.“ Zu wahrer Selbstliebe gehört
wenn man sich damit unbeliebt macht. mit sich um. Sie begeben sich nicht in ihrer Meinung nach vor allem Selbst-
Abhängigkeit von Gesundheitspro- erkenntnis.
grammen aller Art und sehen Perfek-
ANDY ROBERTS / OJO / PLAINPICTURE, ANDRÉ SCHUSTER / PLAINPICTURE, EUGENIO MARONGIU / CULTURA / PLAINPICTURE, THORDIS RÜGGEBERG / PLAINPICTURE

tion nicht als ihr Ziel. Stattdessen Was bedeutet Selbsterkenntnis?


machen sie ihre „eigenwilligen“ Ziele Selbsterkenntnis heißt, mit seinen Ge-
zum Maßstab ihres Verhaltens. fühlen vertraut zu sein, aber auch um
die eigenen Fähigkeiten und Talente
Wie kann ich lernen, mich zu wissen. Um dies zu erreichen, kann
authentisch zu verhalten? es nötig sein, negativen Überzeugun-
Um mehr in Einklang mit sich zu gen auf die Spur kommen, die in der
Wie sieht authentisches leben, das zeigen Forschungen, ist es Kindheit entstanden sind. Wer von sei-
Verhalten aus? hilfreich, bestimmte Verhaltensweisen nem Eltern vermittelt bekam: „Du bist
Wer authentisch ist, agiert unverstellt, einzuüben: nichts wert/Du bist nur etwas wert,
souverän und versteckt sich nicht - tatkräftig handeln statt grübeln, wenn du perfekt bist/Du bist nur et-
hinter einer Maske von Freundlich- - negative Erfahrungen loslassen, was wert, wenn du etwas leistest“, der
keit. Er sucht nicht wahllos nach - Schwierigkeiten als Herausforderun- muss oft erst lernen, diese destrukti-
Anerkennung anderer Menschen, so gen betrachten, ven Glaubenssätze zu überwinden.
Nuber weiter, geht autonom mit seiner - sich nicht mit anderen vergleichen, Nur wer sich selbst erkennt und
Zeit um und lässt nicht zu, dass - an die eigenen Talente und Fähig- annimmt, kann auch die Welt um sich
andere über sie verfügen. keiten glauben. herum erkennen und annehmen.

Wie finde ich zur Selbstliebe?


BÜCHER Der Weg zur Selbstliebe führt über
einen Dialog mit dem eigenen Ich:
URSULA NUBER: „Eigensinn. - Wie wurde ich als Kind behandelt?
Die starke Strategie gegen Unfreundlich, vielleicht sogar gering-
Burnout und Depression – für schätzig?
ein selbstbestimmtes Leben“. - Inwieweit führt dies dazu, dass ich
Fischer Verlag; 256 Seiten; Kann ich inneren Einklang üben? auch heute noch in meinem authen-
14,99 Euro. Ja, und zwar im Alltag. Man kann das tischen Ausdruck beeinträchtigt bin?
Bei-sich-Sein trainieren, indem man - Wie finde ich zu mir zurück, was
MIRRIAM PRIESS: „Resilienz. sich immer wieder mit konkreten Fra- brauche ich dafür?
Das Geheimnis innerer Stärke. gen zu seinem Leben auseinandersetzt: Um diesen Klärungsprozess erfolg-
Widerstandskraft entwickeln - Hat mein Tun für mich persönlich reich zu durchlaufen, ist für Prieß der
und authentisch leben“. eine Bedeutung? Glaube an die eigene Intuition ebenso
Südwest Verlag; 192 Seiten; - Welches sind meine Werte, und wie erforderlich wie die Fähigkeit, seiner
19,99 Euro. lebe ich sie? inneren Stimme zu vertrauen und ihr
- Gefällt mir mein Dasein, wie es ist? zu folgen.

SPIEGEL WISSEN 1 / 2016 107


davon, ihn selbst schreiben zu dürfen. An-
gelika Hoffmann macht es möglich. Die sehr
attraktive und unglaublich sympathische
Endvierzigerin operiert in ihrem Salon mit

F R A U B U R M E S T E R H AT
Stichwaffen an den Fingern, mit denen sie
Kleintiere wie Mäuse oder Hamster töten

EINEN TERMIN
könnte. Angelika mit den Scherenhänden,
sozusagen. Seit fünf Jahren bewältigt sie mit
diesen etwa vier Zentimeter langen, kunst-
voll dekorierten Gerätschaften ihren Alltag.
Bad putzen, Unkraut zupfen, Nägel formen.
… im Nagelstudio Was ich ihr auf die Arbeitsplatte lege,
steht in deutlichem Kontrast zu dem, was
ihr hübscher kleiner Salon ausstrahlt. Aber
Frau Hoffmann ist ja da, um die Welt schö-
ner zu machen. Nägel in Mandelform findet
sie für mich passend. Klingt okay. Wobei ich
an das runde Ende der Mandel denke, Frau
Hoffmann an das spitze. Egal. Wenn ich Da-
menhaftigkeit will, ist es wichtig, die Hirn-
region abzuschalten, in der die Einwände
geformt werden. Und das Gegenüber ein-
fach mal machen zu lassen, zwei Stunden
lang, bis da, wo es eben noch grob und rissig
war, höchst wohlgeformte Nägel glänzen.
Ginge es nach mir, verließe ich den Salon
„Pinselstrich“ mit Nägeln, die so lang sind
wie die, mit denen ich hineingekommen bin.
Das kann es ja nicht sein. Insgeheim sehne
auch ich mich nach etwas mehr Glanz und
Gloria für mein Selbst. Gloria läuft bei Frau
Hoffmann unter „Bonanza“, und das hat sie
in großer Auswahl. Strass, Glitzer, Gold- und
Metallfolie und Unmengen von Motiven, die
sich in einer Vielzahl von Techniken auf die
neuen Nägel aufbringen lassen. Meine Man-
deln schreien förmlich nach einem beerigen,
MEINE NACHBARIN, eine sehr gepflegte entfernt, in einem Kaff an der Ostsee. Seit satten Pinkton. Und, ja auch, nach dem Stan-
ältere Dame, sagte zu mir: „Silke, es ist an ich bei einem Hamburger Stadtmagazin vo- nioleffekt französischer Schokoladenoster-
der Zeit, dass du etwas damenhafter wirst!“ lontiert und im Heft den Satz „Waffenschein eier und Silbersternchen.
Das ist jetzt gut 20 Jahre her, und ich übe für Fingernägel“ gelesen habe, träume ich In der Nacht schlafe ich extrem schlecht.
immer noch. Ich glaube, mir fehlt das Da- Ich spüre die Nägel bei jedem Umdrehen,
men-Gen. Jedoch sehe ich ein, dass es ir- bei jedem Anfassen der Bettdecke. Die Fra-
gendwann Zeit ist, so Frauenzeugs zu ma- ge, wer ich bin, ist mit unter die Decke ge-
chen. Für jemanden wie mich, der sich oft krochen und lässt mich wirres Zeug träu- OLIVER SCHWARZWALD / SPIEGEL WISSEN, ILONA HABBEN

fühlt wie ein neunjähriger Wildfang im Fe- men. Am Morgen bin ich gerädert und
rienlager, lautet allerdings die Frage, was das schaue auf Finger, die hübsch sind, aber
sein kann, ohne meine innere Identität auf- nicht meine. Es ist der Urlaubshut-Effekt:
zugeben. Ich will es mal mit Fingernägel- Was in dem Salon an der Ostsee schön aus-
ankleben versuchen. sah, wirkt in meiner Lebensumgebung un-
Nägel, die Frauen zu Wesen machen, die passend. Aber so schnell kommt mein altes
nicht einmal mehr ihre eigenen Hosenknöp- Ich da nicht raus. Um die Damendeko los-
fe schließen können, sind ja sehr beliebt. SILKE BURMESTER zuwerden, müsste ich sie abfeilen lassen. Im
„Wenn du dir die Nägel machen lässt, musst Nagelsalon. Dafür habe ich die nächsten
du zu Angelika Hoffmann fahren!“, kreischt stöbert in den Ecken und Nischen des Tage keine Zeit. Die Nägel kriegen Aufschub.
eine Kollegin ins Telefon. „Vergiss alle an- deutschen Alltags. Hier schreibt sie Und meine unterdrückten Sehnsüchte eine
deren. Die Hoffmann ist eine Göttin!“ Die regelmäßig über ihre interessantesten faire Chance, mein rabiates Alltags-Ich doch
Göttin klebt ihre Nägel anderthalb Stunden Entdeckungen. noch vom Stannioleffekt zu überzeugen.

108 SPIEGEL WISSEN 1 / 2016


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V O R S C H A U

Das neue Heft erscheint


am 26. April 2016

1
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HERAUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002)


CHEFREDAKTEUR Klaus Brinkbäumer (V. i. S. d. P.)
STELLV. CHEFREDAKTEURE
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Alfred Weinzierl
REDAKTIONSLEITUNG
Dietmar Pieper; Dr. Susanne Weingarten
REDAKTION Annette Bruhns, Angela Gatterburg,
Uwe Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, 3
Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Eva-Maria Schnurr
REDAKTEURIN DIESER AUSGABE Angela Gatterburg 2
GESTALTUNG Jens Kuppi, Nils Küppers
BILDREDAKTION Thorsten Gerke
CHEF VOM DIENST Gesine Block, Anke Jensen
SCHLUSSREDAKTION Lutz Diedrichs, Bianca
Hunekuhl, Katharina Lüken, Reimer Nagel,
Tapio Sirkka
DOKUMENTATION Peter Wahle; Jörg-Hinrich Ahrens,
Johanna Bartikowski, Klaus Falkenberg, Silke
Geister, Renate Kemper-Gussek, Anna Kovac, Rainer
Lübbert, Heiko Paulsen, Thomas Riedel, Dr. Regina
Schlüter-Ahrens, Thomas Schmidt, Holger Wilkop,
Malte Zeller
TITELBILD Jens Kuppi
ORGANISATION Heike Kalb, Kathrin Maas,
Elke Mohr
PRODUKTION Maike Ahrens, Christel Basilon, 4
Solveig Binroth, Petra Gronau, Christiane Stauder
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Überforderung

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falsch! – Erfolgreiche Fit bleiben, Spaß haben, Wie Niederlagen zum Erfolg Wie futuristische Technik
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KANN ICH SO
RICHTIG ICH SEIN.“
Marina – Manager Audit Corporate

In jeder freien Minute zieht es mich raus aufs Meer.


Denn ich will mehr als nur arbeiten! Den passenden
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