WAS MACHT EINEN MANN ZUM MANN?

160 SEITEN ÜBER ZWEI DER WICHTIGSTEN

UND WAS EINE FRAU ZUR FRAU? FRAGEN UNSERER ZEIT

EIN HEFT RUND UM

GENDER
Müssen wir Mann und Frau neu denken?

JANUAR 2017 DEUTSCHLAND € 5,80 | ÖSTERREICH € 6,50 | SCHWEIZ CHF 9,90

BENELUX € 6,80 | ITALIEN € 7,80 | SPANIEN € 7,80 | GRIECHENLAND € 8,50
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Präsenz. Denn unser größter und innovativster SUV fällt auf – nicht
zuletzt dank seines unverwechselbar markanten Designs. Wir finden:
Anders sah nie besser aus.
EDITORIAL GENDER

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Im Englischen spricht man

von sex oder gender, im Deutschen gab es diesen Unterschied nicht,
es gab nur „das Geschlecht“. Inzwischen hat auch der Duden den
Begriff Gender aufgenommen und definiert ihn als „Geschlechts-
identität des Menschen als soziale Kategorie“. Das bedeutet, dass das
Geschlecht eines Menschen nicht nur über biologische Merkmale
zugeordnet wird – also über die Geschlechtsorgane (sex). Sondern
dass biologische, soziale und kulturelle Faktoren das Verständnis
eines Menschen über sein Geschlecht prägen (gender). Als was fühlt
er oder sie sich? Als Mann oder als Frau? Oder umgekehrt? (Es gibt
noch weitere Varianten. Wir werden sie in diesem Heft vorstellen.)
Wir haben gelernt, dass
das Geschlecht durch die
Chromosomen XX und XY Kulturelle Schätze,
bestimmt wird. Neue For - verschwenderische Natur
schungen belegen, dass und erstaunliche Tierwelt
es so einfach nicht ist.
Auch das erklären wir auf
den folgenden Seiten. „Erleben Sie mit mir
Somit wird auch die Land und Leute auf
Unterscheidung in Mann Augenhöhe!“
und Frau zu einer ver -
Chinthaka ist einer unserer
wirrenden Angelegenheit.
deutschsprachigen Reiseleiter in Sri Lanka.
mit Schlips und Kragen. Die Frau auf unserem
Cover war bis vor knapp Reisen aus unserem Programm weltweit, z.B.:
drei Jahren ein Mann. Andrej geboren in Bosnien, sorgte für Sri Lanka 22 Tage ab € 2.099,–
Furore in der Modewelt, als er 2011 ein Brautkleid auf dem Laufsteg Peru 22 Tage ab €
präsentierte. hat ein wunderschönes Gesicht, das ihn zu einem Botswana 17 Tage ab € 3.599,–
der begehrtesten Models macht – als Frau, nicht als Mann. Er selbst
Marokko 20 Tage ab € 1.499,–
wollte immer eine Frau sein und hat sich 2014 einer operativen
Preise inkl. Flug, Rundreise, deutschspra-
Geschlechtsanpassung unterzogen. Heute heißt sie Andreja und
chiger Reiseleitung, Eintrittsgeldern und
sagt: „Ich fühle mich so wohl wie noch nie.“ R&F-Fahrkarte
Weil dieses Thema kompliziert ist, Verständnis und Toleranz
einfordert und unser Zusammenleben neu bestimmen wird, widmet
N ATIONAL GEOGRAPHIC ihm diese gesamte Ausgabe.
Entdecken Sie die ganze Welt –
in kleiner Gruppe oder individuell!
Mit herzlichen Grüßen,

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Florian Gless, Chefredakteur world-insight.de
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FOTOS: KRISTY SPAROW/GETTY IMAGES (O.);
THOMAS RUSCH

Kleine Gruppe. Anders. Fair.

I januar 2017

EIN GANZES HEFT RUND UM GENDER

Traditionelle Geschlechterrollen lösen sich
auf, alte Tabus verschwinden, neue Frei-
räume entstehen. Aber es gibt auch neue
Fragen: Was ist männlich? Was ist
weiblich? Und was bedeutet das für Politik,
Arbeitsleben und die Kindererziehung?

„Gender Revolution“ – die große Fernseh -

dokumentation von N ATIONAL G EOGRAPHIC

FOTO

WUNDERT SICH ...

Prof. Harald Welzer möchte, dass wir unser
Leben als „Handlungs-Widerfahrnis-Gemi -
sche“ betrachten und fragt sich, wohin uns
der Wunscherfüllungswahn führt.

GEDACHT (TEIL 37)

Die Protestorganisation Pinkstinks kämpft
gegen Rollenklischees in Werbung und
Spielzeugdesign – mit einem Theaterstück
über einen Jungen und sein rosa Pony.

FRAGE, HERR PROFESSOR

Was ist normal?

Von A(gender) bis Z(ugewiesenes Geschlecht)

Prinzessin oder Actionheld – was Spielzeuge

Kindern vermitteln.
Gerecht und ungerecht – wie es weltweit um
die Gleichberechtigung bestellt ist.
Kompetenz oder Schönheit – wie sich
Komplimente an Frauen verändern.
80

Titelbild 88
früher Andrej und präsentierte sowohl Männer- als auch
Frauenmode. 2011 schaffte sie es auf die Liste der 100
erotischsten Frauen der Welt. Drei Jahre später unterzog Flexibler Job, flexible Väter: In Erzählt von der langen Reise
sie sich einer geschlechtsangleichenden Operation. Skandinavien funktioniert zu sich selbst: die Transfrau
Foto: Ryan Pfluger/NYT/Redux/laif das besser als bei uns. Warum? Nicole Faerber aus Siegen.

4 national geographic • Januar 2017

 titelgeschichte

36 Junge? Mädchen? Weder noch? Das Denken

Caleb (l.) und Emmie über Geschlecht und Geschlechtsidentität
kamen als Zwillings- ist im Wandel. Kann uns die Forschung helfen,
brüder zur Welt. Mit die neue Situation zu verstehen?
17 outete sich Emmie
als trans und ließ sich
operieren. „Ich war vor - REIFEPRÜFUNG
her schon genauso Wie wird ein Junge im 21. Jahrhundert
Frau wie jetzt“, sagt sie. zum Mann? In manchen Kulturen müssen
Teenager noch heute strapaziöse
Rituale überstehen. Aber wie werden Werte
in unserer Gesellschaft vermittelt?

VÄTER IM NORDEN
Während man in Deutschland noch immer
über die fehlende Vereinbarkeit von Beruf und
Familie klagt, genießen skan dinavische
Eltern eine gute Work- Life-Balance. Ein Be -
such bei den Ingwersens in Kopenhagen.

MENSCH!
Nicole Faerber spielte mehr als 40 Jahre
eine Rolle, die sie nicht wollte: Mann
sein. Seit sie als Frau lebt weiß sie, wie schön
das Leben ist.

MÄDCHEN
Junge Frauen müssen sich heute mit Models
messen und werden häufig Opfer von
Mobbing im Netz. Wie sie trotzdem glücklich
werden können? Indem sie sich wehren!

CHANCE?
Millionen Mädchen weltweit leiden unter
Armut und Gewalt. Und doch gibt es junge
Frauen, die von einem besseren Leben
träumen. Drei Geschichten aus Sierra Leone.

LEBEN MIT NEUN

Kinder erzählen, wie ihr Geschlecht ihr Leben
und ihre Zukunft beeinflusst.

58
Auf dem Weg
zum Mann: Sadik
Musa aus Kenia
kurz nach der INSTINCTS
Beschneidung. Liebe im Tierreich: Östlicher Tigerschwalben -
schwanz
I
Arthur Huang zeigt ein Re -
gal aus recyceltem Plastik
und Aluminium. Die Wand
hinter ihm besteht aus
Kunststoff-„Ziegeln“ (Polli-
Bricks), die aus PET-Fla -
schen gefertigt werden.
6 national geographic
DAS ZWEITE
LEBEN DES MÜLLS
Egal ob beim Hausbau oder bei der Kon -
struktion von Flugzeugen – geht es nach
Arthur Huang, kann fast jede Industrie
von wiederverwerteten Materialien profi -
tieren. Der innovative Ingenieur aus
Taiwan wird von der National Geographic
Society als Emerging Explorer gefördert.
Was kann man alles aus Müll her -
stellen?
Die Möglichkeiten sind unglaublich
groß. Das Recycling von manchen Ma -
terialien gehört schon zu unserem All -
tag – denken Sie an Kleidung oder Ver -
packungsmaterial. Aber meine Firma
Miniwiz hat nun aus PET-Flaschen
sogenannte Polli-Bricks konstruiert –
das sind wabenförmige und dadurch
extrem belastbare Hohlformen, aus
denen man sogar Häuser bauen kann.
Das dreistöckige EcoARK-Gebäude in
Taipeh besteht im Grunde aus 1,5 Mil -
lionen Plastikflaschen, die an einer
Stahlkonstruktion befestigt wurden.
Wir haben um die tausend neue Mate -
rialien und Anwendungen entwickelt,
die auf Müll basieren. Eine große He-
rausforderung ist nun, Recylingproduk -
te auch in Transportmitteln einzusetzen.
Warum ist das besonders schwierig?
Wegen der extremen Belastung bei ho -
hen Geschwindigkeiten und der Sicher -
heitsstandards. Bei Flugzeugen wird
zum Beispiel derzeit viel Kohlefaser
verbaut. Dieses Material ist leicht, halt -
bar – und giftig. Die Herstellung von
Kohlefaser ist äußerst umweltschädlich.
Und das Material kann nicht recycelt
werden. Wir arbeiten deshalb mit dem
US-Luft- und Raumfahrtinge nieur Burt
Rutan zusammen, um herauszufinden,
ob man Kohlefaser durch recycelte
PET-Flaschen ersetzt kann. Wenn künf -
tig auch nur ein Prozent eines Flugzeugs
• januar 2017 FOTO: THEODORE KAYE
 Mehr als ein Magazin. Seit 1888 widmet sich die National
Geographic Society der Erkundung und Bewahrung unserer
Welt. Auf diesen Seiten erfahren Sie, was es Neues gibt.

aus wieder verwer tetem Abfall bestände, Woran liegt das?

wäre das ein großer Erfolg.
Recycling gibt es seit Jahrzehnten.
Warum ist es nicht längst elementa -
rer Teil von Design und Produktion?
Das liegt wohl daran, dass es immer
noch zu wenige Produkte auf dem Markt
gibt, die aus recyceltem Material herge -
stellt werden. Uns ist gar nicht bewusst,
was man alles aus Abfall herstellen kann.
Und so werfen wir viele sehr wertvolle
Materialien nach einmaligem Gebrauch
weg. Was für ein Irrsinn, denn Plastik
ist ja sehr lange haltbar. In den vergan -
genen Jahren haben die Konsumenten
ein gewisses Umweltbewusstsein ent -
wickelt, doch dessen Umsetzung im
Alltag hängt noch hinterher.
Das ist ein strukturelles Problem. Wenn
die Wertschöpfung in der Gesellschaft
umweltfreundlicher ablaufen soll, müs -
sen sich viele Konzerne verändern und
unter Umständen Geschäftszweige auf -
geben. Da geht es um viel Geld, entspre -
chend groß ist der Widerstand.
Die National Geogra -
Was planen Sie als Nächstes? phic Society ist eine
Wir wollen eine Wissensplattform auf - Non-Profit-Organisa -
tion zur weltweiten
bauen, auf der wir unser gesamtes Wis-
Förderung der
sen über die Wiederverwertung von Müll Wis senschaften. Ihr
für Wissenschaftler, Architekten und Engagement wurde
in diesem Monat
Designer zugänglich machen. Wir haben unterstützt von Ford,
eine Dependance in Berlin eröffnet, und Hurtigruten, Opel,
auf unserer Web site miniwiz.com stellen RaboDirect, RSD
Reise Service,
wir erste Ideen vor, was man alles aus Studiosus, World
Abfall machen kann. Charlotte Harke Inside Reisen.

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DIE WEITE WELT

DER WILDNIS

Jedes Jahr im Herbst wird das Städtchen

Die deutsche Kletterin
Ines Papert auf der Insel
Senja in Norwegen.
Banff in den kanadischen Rocky Moun -
tains zum Mekka der Outdoor-Enthu -
siasten. Autoren, Fotografen und Fil -
memacher berichten dort von ihren
Berg abenteuern – anschließend geht
eine Aus wahl der besten Filme auf Welt -
tournee. In Deutschland, Österreich und
der Schweiz sind sie von März 2017 an
zu sehen (banff-tour.de). Wir verlosen
unter unseren Abonnenten zehnmal
zwei Eintrittskarten für eine Vorführung
in Hamburg inklusive Treffen mit der
N ATIONAL GEOGRAPHiC -Chefredak tion.
Bei Vorstellungen in anderen Städten
gibt es einen Rabatt. Weitere Infos unter:
nationalgeographic-premium.de.

NATIONAL
GEOGRAPHIC
IM TV

„Gender Revolution“ heißt eine 90-

minütige Fernsehdokumentation von
N ATIONAL GEOGRAPH IC zum Thema
dieses Hefts. Der Film geht der Frage
nach, wie sich die Geschlechterrollen
im Laufe der Zivilisationsgeschichte
verändert haben. Und zeigt, wie Frau -
en, Männer und Menschen mit alter -
nativen Geschlechtsidentitäten heute
auf der Welt leben. Im 21. Jahrhundert
ermöglichen es der medizinische Fort -
schritt und der soziale Wandel immer
mehr Menschen, ihre biologischen Kör-
permerkmale dem empfundenen Ge-
schlecht anzugleichen. Dennoch stehen
Transmenschen immer noch vor großen
Hürden. Was heißt es etwa, wenn sich
ein Mann nach 30 Jahren Ehe zu einer
Geschlechtsangleichung entschließt?
Die Sendung läuft am Donnerstag,
N ATIONAL G EOGRAPHIC ist bei Sky,
9. Februar, um 20.10 Uhr. Mehr Infos Vodafone, Unitymedia, M7 und der
finden Sie unter natgeotv.com/de. Deutschen Telekom zu empfangen.

8 national geographic • januar 2017 FOTOS: THOMAS SENF/VISUALIMPACT.CH (GANZ OBEN); NATIONAL
GEOGRAPHIC CHANNEL/CHRIS WROBLESKI

WANN
SETZEN
SIE
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FLAGGE
in der Antarktis?
——Es gibt Träume,
die reichen bis ans Ende
der Welt. Willkommen
in der Antarktis. Hier, an
der Grenze der Vorstel-
lungskraft, beginnt das
Abenteuer. 1911 setzte
Roald Amundsen die
norwegische Flagge am
Südpol. Wann setzen
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TITELGESCHICHTE, NOVEMBER 2016

DAS RENNEN ZUM MARS

Friedl Neeb, Wien

Die neuen Erkenntnisse der Astronomie und der Raumfahrt begeistern mich
immer wieder. Aber den Mars besiedeln? Nie mehr ins Freie gehen, immer den
– wahrscheinlich verschwitzten – Raumanzug tragen, nicht mehr im Wald wan -
dern, im Meer schwimmen? Wäre es nicht klüger, unser Wissen und Geld dazu zu
verwenden, die Erde weiter bewohnbar zu halten?

OKTOPUSSE, NOVEMBER 2016 exportorientierte Gesellschaft wie in

DIE MACHT DER ACHT
Bettina Burgmayer, Regensburg
Vor einigen Jahren verbrachten wir un
seren Urlaub am Mittelmeer in Frank
reich. Beim Schnorcheln hatte ich eine
Begegnung mit Oktopussen. Zwei dieser
faszinierenden Tiere schwammen wie
ein Pärchen nebeneinander her, über
Felsen, entlang des Riffs. Sie warteten
aufeinander, schauten in Löcher und
ließen sich Zeit bei ihren Erkundungen.
Zuerst beäugten sie mich kritisch, aber
als sie merkten, dass ich sie nur beob
achtete, ließen sie sich durch meine
Anwesenheit nicht weiter stören. Es war
eine Begegnung, die mir für immer im
Gedächtnis bleiben wird. Später sah ich
einen Mann, wie er mit einer Harpune
ins Wasser ging und kurze Zeit später
mit einem aufgespießten Oktopus wie
der an Land kam. In meiner Wut und
Trauer rannte ich zu ihm und be
schimpfte ihn. Er sah mich mit verständ
nislosem Blick an.
FLÜCHTLINGE, OKTOBER 2016
DIE NEUEN EUROPÄER
Ellen Hoffeins, Sindelfingen
Ich fand Ihren Artikel sehr ergreifend.
Er macht Mut, weiterhin die Integration
von Flüchtlingen und ein friedliches
und demokratisches Miteinander anzu
streben. Verständnis für fremde Kultu
ren und ein gesundes Selbstwertgefühl
sind essenziell für eine offene und
Deutschland und der EU. Ich finde, dass
wir schon viel erreicht haben. Deutsch -
land ist ein erfolgreiches und tolerantes
Land geworden, nicht nur „materiell“,
- sondern auch „ideell“. Ich finde es be -
- zeichnend, dass ein amerikanischer
Journalist mit internationalem Hinter -
grund unsere Situation gerade jetzt so
mutig und differenziert beschreibt.
WILDNIS IN DEUTSCHLAND, OKTOBER 2016
WILD IST
NUR DER WANDEL
-
Antje Stavorinus, Nabu Berlin
Mich wundert, wie sehr Sie die Natur -
schützer kritisieren, die auf den Idealen
der ursprünglichen Natur beharren.
Leider bleibt in der heutigen Zeit des
- Baubooms nichts anderes übrig. Seit
mehreren Jahren bearbeite ich Bauvor -
- haben auf der naturschutzfachlichen
- Seite. Es ist eine große Herausforderung,
wenigstens ein paar Freiflächen, Brachen
oder Grünzüge zu erhalten. Wir müssen
anhand von Vorgaben und Richtlinien
der EU begründen, wieso etwas erhalten
IHRE MEINUNG IST
bzw. geschützt werden soll. Es wird ge - UNS WICHTIG
fragt: Was ist die Natur wert? Dafür gibt und so erreichen Sie uns:
es Berechnungsverfahren und Tabellen. E-MAIL
Die emotionalen, für die Seele wichtigen leserbriefe@
Werte spielen keine Rolle. Wer heutzu - nationalgeographic.de
tage für den Erhalt oder gar für mehr BRIEF
Natur kämpft, muss deren finanziellen N ATIONAL G EOGRAPHIC ,
- Nutzen belegen oder zumindest die Am Baumwall 11,
20459 Hamburg.
- vorhandenen Arten benennen, die nach
Die Redaktion behält
EU-Recht streng geschützt sind. Eine sich vor, Einsendungen
andere Möglichkeit haben wir nicht. zu kürzen.

10 national geographic • januar 2017

 DERNEUEMOKKAX
» 30 % hellere Sicht dank intelligenter LED-Scheinwerfer*
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einen Vertrag mit OnStar Europe Ltd. und ist nach einer Testphase kostenpflichtig. opel.de
IHR DIE BESTEN BILDERUNSERER LESER

Dr. Tobias Mache

Berlin
„Bahnfotografie ist Bewegungsfotografie
„Dieses Foto habe ich im Februar mit all ihren Herausforderungen: Wie
2016 in Chicago gemacht und
es ‚Schnellzug in eine ungewisse in einem Filmklassiker leuchtet dieser Zug
Zukunft‘ genannt. Die Bahn
verlässt übrigens gerade die
in der Dämmerung auf – perfekt durch
Station am Trump Building – und
Donald Trump war damals schon
Schärfe und Unschärfe in Szene gesetzt.“
omnipräsent.“ Kathrin Müller, NATIONAL G EOGRAPHIC -Bildredakteurin

Lothar Zühlke
Bestensee
„Ein halbes Jahr habe ich Füchse
in freier Wildbahn beobachtet.
Dieses Bild entstand, als es
eigentlich schon zu dunkel war.
Doch dann lief diese Fähe genau
zwischen meine Kamera und
die letzten Sonnenstrahlen.“

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DAS THEMA i s t I h n e n ü b e r l a s s e n . S i e k ö n n e n d a s B i l d
ü b e r u n s e r e W e b s i t e h o c h l aSCHREIBEN
den. SIE
bitte auch ein paar Sätze zu Aufnahmeort und -situation –
und warum Sie das Foto außergewöhnlich finden.

12 national geographic • Januar 2017

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WELZER WUNDERT
Professor Dr. Harald Welzer
ist Sozialpsychologe und hat
sich in mehreren Bestellern
(„Selbst denken“, „Die smar
te Diktatur“) mit den Folgen
eines nicht nachhaltigen,
rein technologisch getriebe
nen Wachstums
der gesetzt. Als Direktor
der Stiftung „Futur Zwei“
sucht er nach praktischen
Wegen, unsere Gesellschaft
zukunftsfähig zu machen.
www.futurzwei.org
14 national geographic
FOLGE 28: ÜBER GENDER
Kolumbus ohne GPS
Im Leben ist wahrlich nicht immer alles so, wie es sein soll.
Aber genau das macht das Leben aus. Ist eine permanente Wunsch-
erfüllung also unbedingt wünschenswert?
U
nd dann war da noch die
junge Frau in München,
die ihre kleine nackte
Tochter bei Minusgraden
im Fahrradsitz herum -
fuhr. Von der Polizei angehalten und
gefragt, was sie sich dabei denke, ant -
wortete die Mutter: „Sie wollte nichts
anziehen!“
Dass es eine Weile dauert, bis junge
Menschen autonom entscheidungsfähig
sind, und dass man bis dahin eben für
sie entscheiden muss, hatte sich bis zu
dieser Frau offenbar noch nicht herum -
gesprochen. Genauso wenig wie zu den
neuerdings durchgegenderten Eltern,
die sich von einer entwicklungspsycho -
logisch völlig normalen Identitäts- und
Geschlechtsunsicherheit ihres Kindes
so verunsichern lassen, dass sie dem
medizinisch-psychologischen Komplex
den Auftrag geben, das vermeintliche
Wunschgeschlecht herbeizutherapieren.
„Vermeintlich“ schreibe ich deshalb,
weil ein Kind nicht wissen kann, was es
sein will und sein wird. Weder seine
Gehirn- noch seine Persönlichkeitsent -
wicklung sind vor dem jungen Erwach -
senenalter abgeschlossen – wie kann
man da auf die Idee kommen, der Bio-
logie ins Handwerk zu pfuschen?
Nun, man kann auf eine solche Idee
kommen, wenn einem die Vorstellung
abhandengekommen ist, dass Men-
schen Naturwesen sind, biologisch be -
trachtet Tiere wie andere Tiere auch.
Und eine solche Vorstellung kommt
unter zwei Voraussetzungen abhanden:
Wenn man, erstens, in einer Gesellschaft
lebt, die alles, was es gibt, als Ware und
somit für den verfügbar hält, der bezah -
len kann. Und die, zweitens, den Aber -
glauben der Moderne verinnerlicht hat,
dass mit den Mitteln der Technik alles
möglich ist. Und dass, weil etwas
• januar 2017
gemacht werden kann, es auch gemacht
werden sollte. Mit dem Fortschritt der
medizinischen und chirurgischen Mög -
lichkeiten tritt der Wunschkörper, das
Wunschgeschlecht, die Wunschidenti -
tät nun in den Bereich des Möglichen,
und in einer Welt, in der Sinnstiftung
nur durch Kaufhandlungen stattfindet,
scheint es natürlich als Gipfel der
Verwirk lichung, wenn man sich auch
selbst kaufen kann.
Die Übersetzung seiner selbst (oder
noch schlimmer: seines Kindes) in ein
gestaltbares Produkt ist absurd. Denn
eine Persönlichkeit, ein Leben, ent -
wickelt sich ja an den Schwierigkeiten
und Widerständen, die man ständig zu
überwinden oder mit denen man zu
leben lernt.
Und wie verstehen wir uns selbst und
die anderen? Im Medium von Geschich -
ten, die wir erzählen oder die uns erzählt
werden. Aber glatte Geschichten, in
denen alles so läuft, wie man es sich
gewünscht hat, sind total uninteressant
– spannend wird es doch immer nur
dann, wenn etwas Unerwartetes ge -
schieht, eine Komplikation, ein Zufall,
etwas, das dazwischenkommt. Leben
besteht nicht aus durchgeplanten Ab-
läufen, in denen alles wunschgemäß
geliefert wird, sondern Lebensläufe sind,
mit einer Formulierung des Philosophen
Odo Marquard: „Handlungs-Widerfahr -
nis-Gemische“. Und Lebensgeschichten,
die erzählenswert sind, entstehen erst,
wenn in ihnen etwas dazwischenkommt:
„Wir sind stets mehr unsere Zufälle als
unsere Leistungen.“
W
enn Kolumbus Indien ame -
rikalos erreicht hätte, wenn
Rotkäppchen die Großmutter
wolflos besucht hätte, wenn Odysseus
ohne Zwischenfälle schnell nach
FOTO: FABIAN ZAPATKA
 FOLGE 28: ÜBER GENDER
Hause gekommen wäre, wären das kei
ne Geschichten gewesen. Vorher hätte
es – als Voraussage oder als Planung – die
Prognose gegeben, hinterher nur die
Feststellung: „Es hat geklappt.“ Über
tragen Sie das mal in unsere Zeit, in der
alle Probleme durch Konsum gelöst
werden können: Kolumbus hätte sich
mit dem Smartphone-GPS nicht ver
fahren, Rotkäppchen hätte mit der Ge
„Es sollte, so sichtserkennungs-App sofort gemerkt,
schlicht würde dass der Wolf nicht die Großmutter ist,
und Odysseus wäre pünktlich wieder
zu Hause bei Penelope gewesen, zurück
lieren, Dinge von seiner Dienstreise nach Troja: „Hal
geben, die man lo Schatz“, hätte seine Frau gelangweilt
gesagt, „wie war dein Tag?“
für Geld nicht Kurz: ist die permanente Wunsch
kaufen kann.“ erfüllung wünschenswert? Nein, ist sie
16 national geographic • januar 2017
- nicht. Vor allem nicht, wenn sie einen
Preis hat, den andere Menschen bezah -
len müssen.
Und damit zurück zum Genderthema.
- Dazu gehört ja auch, dass jede ge -
schlechtliche Wunschexistenz nicht nur
die Anerkennung einfordert (in Berlin
etwa mit der Forderung nach der dritten
- Klotür für Transgender, für die es na -
- türlich eine niederträchtige Zumutung
ist, wenn sie wahlweise auf die Herren -
toilette oder die Damentoilette gehen
sollen), sondern eben auch andere Men -
schen für die ureigene Wunscherfüllung
- benutzt.
U
nd wie ist es mit dem unerfüllten
- Kinderwunsch? Was ist es denn
anderes als gnadenloser Kon -
sum, wenn ein wie auch immer ge -
schlechtlich gestricktes Paar aus dem
reichen Westen sich eine Leihmutter in
Indien, Bangladesch oder in einem ar -
men afrikanischen Land kauft, die mal
eben neun Monate biologische Dienst -
leistung für jenes vermeintliche Lebens -
glück zu liefern hat, auf die die Reiche -
ren einen Anspruch zu haben glauben?
Nach den psychischen Folgeproble -
men einer solchen Leihmutter fragt
niemand, auch nicht, wo hier eigentlich
die sonst so beliebte Anerkennungs frage
geblieben ist. Oder hat eine Person schon
automatisch keine Würde mehr, wenn
man sie zur Ware gemacht hat?
So betrachtet befördert die Wunsch -
erfüllungskultur zwei erschreckende
Defizite: Sie stellt das Ich über alles und
schafft es paradoxerweise zugleich wie -
der ab – denn ein Ich, dem nie etwas
widerfährt, ist und wird keines, jeden -
falls nicht im Sinn des Menschenbilds,
das wir seit der Aufklärung gepflegt
haben. Zweitens sind die Mittel zur Ego-
wunscherfüllung oft zutiefst asozial und
unethisch.
E
s sollte, so schlicht würde ich es
formulieren, einfach Dinge ge -
ben, die man für Geld nicht kau -
fen kann – schon um die Käuferinnen
und Käufer vor sich selbst zu schützen.
Und ihre Kinder vor ihnen.
ILLUSTRATION: OLIVER WEISS
Bist Du ein ?

RE GEW
IS IN
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LA E
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LESEN · TRÄUMEN · REISEN

ANTARKTISPER SCHIFF

PARIS ZU FUSS

WOHER KOMMEN WIR?

Mit den besten Reportern die

aufregendsten Orte erleben.
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TEMPEL,STRÄNDE, GLÜCK-TATTOOS– WO ASIEN NOCH EXOTISCH IST

Willkommen in unserer Welt.

GENIAL NACHHALTIGE ERFINDUNGEN UND PROJEKTE (37)

Immer dieses Theater

Rosa und blau: Im Spielzeugladen sind die Geschlechterrollen klar verteilt. Die
Organisation Pinkstinks möchte das mit einem Theaterstück ändern. Aber sind die
Kinder nicht eh viel klüger als die Erwachsenen mit ihrem Schubladendenken?

Im Erdgeschoss der Louise Schroeder einen Roboter. „Ist das für Jungs?“, fragt Als Mutter zweier Töchter
Schule in Hamburg-Altona kehrt nur sie. „Ja!“, rufen die jungen Zu schauer weiß Stevie Schmiedel,
wie wichtig es ist, Kindern
langsam Ruhe ein. Die Schüler der 4e laut. Aber der Roboter ist kalt, pikst,
Rollenmuster zu erklären
wählen ihre Plätze im Projektraum. macht Lärm und hält David vom Schla - – und warum es gut ist, sie
Rechts sitzen die Jungs in blauen Pul - fen ab. Bis sein Freund Ben kommt, um aufzubrechen. Mit Pink-
lovern, links die Mädchen mit ihren sich bei ihm zu entschuldigen. Er hat stinks versucht die Deutsch-
pinken Clogs. Die klare Geschlechter - das Pony Fred unter dem Arm – weil britin, diese Botschaft an
die Öffentlichkeit zu tragen.
trennung ist in dem Alter normal. Doch „rosa nur eine Farbe ist“.
Die Kleinsten erreicht sie
alle blicken gespannt auf den Vorhang, Rollenbilder umzukehren sei nicht mit Pony Fred.
hinter dem sich Theaterpädagogin das Ziel von Pinkstinks, sagt Schmiedel:
Blanca Fernandez und Schauspielerin „Wir wollen kein neues Klischee auf -
Lara-Maria Wichels vorbereiten. Heute stülpen, sondern Präventionsarbeit
auf dem Stundenplan: großes Drama. leisten“ – und Ausgrenzung vorbeugen.
„David und sein rosa Pony“ heißt das Das Theaterstück entstand kurz nach -
Stück von der Organisation Pinkstinks, dem sich ein Junge in den USA das Le-
die von der Genderfor - ben nehmen wollte, weil
scherin Stevie Schmiedel,
„Wirwollen kein er wegen eines „My little
44, gegründet wurde. Sie Pony“-Schulranzens ge -
hatte die zartrosa und neues Klischee mobbt worden war, er -
hellblau gefärbten Kli- aufstülpen, son- zählt Fernandez. Weit
schees der Industrie satt. aufgerissene Kinder -
Die Mission: Mädchen
dern Prävention augen starren sie an. Auf
und Jungs zeigen, dass betreiben.“ die Frage, wer die belieb -
sie nicht Prinzessin Lilli - te Fernsehserie schon
fee oder Käpt’n Sharky spielen müssen, einmal gesehen habe, heben auch ei nige
sondern selbst entscheiden können, ob Jungs ihre Hände. Sie sitzen jetzt ge -
sie lieber süße Tierschützerinnen oder meinsam mit den Mädchen im Kreis,
mutige Piraten sein wollen. um das Stück zu besprechen und über
Lara-Maria Wichels, die David spielt, eigene Erlebnisse zu berichten. „Jonas*
hat sich eine blaue Kappe über die blon - hatte gestern ein rosa Handtuch mit“,
den Locken gestülpt. Alle anderen Rol- sagt Felix*, „und es war total egal.“
len verkörpert Fernandez, indem sie ihr Für vier Wochen übernimmt das Bun -
Gesicht durch eine runde Öffnung in desfamilienministerium die Kosten der
verschiedenen Rahmen steckt. Jeder Aufführungen. „Aber nur wenige Schul -
Rahmen stellt eine andere Person dar: vereine können sich derartige Pro -
Da ist Karlotta mit langen Zöpfen und gramme leisten“, sagt Schmiedel. Zwei
einer Puppe in der Hand, und da ist Ben Schulstunden kosten 300 Euro. Und
mit einer Panini-Karte von Mario Götze. nicht alle Schüler sind bereits so gut
Doch als David sein Lieblingsspielzeug, aufgeklärt wie die der Louise Schroeder
das rosa Pony Fred, aus dem Rucksack Schule. Lehrer Danail Yankov macht
holt, erschallt aus einem Lautsprecher noch ein Gruppenfoto von den Schülern,
lautes Gelächter: „Du Mädchen!“ bevor es zur Frühstückspause klingelt.
Im Stück versucht David nun, in einem Im Rampenlicht: Pony Fred. Alle wollen
Geschäft ein „richtiges Jungsspielzeug“ das rosa Stofftier halten – ganz beson -
zu kaufen. Eine Verkäuferin zeigt ihm ders die Jungs. Alexandra

18 national geographic • januar 2017 * NAMEN GEÄNDERT; FOTO: BENNO KRAEHAHN

EINE FRAGE, HERR
WAS IST NORMAL?
„Würde man Passanten aus einer zeit -
genössischen Fußgängerzone in eine
Zeitmaschine stecken und ein halbes
Jahrhundert zurückschicken, würden
sich unsere Vorfahren vermutlich ganz
schön aufregen: Punker, Mädchen mit
riesigen Löchern in den Jeans, Händ -
chen haltende Männer (und alle blicken
wie in Trance auf kleine leuchtende
Glasscheiben). Heute aber ist all das
,ganz normal‘. Nicht weil wir uns daran
gewöhnt haben, sondern auch weil das
Ungewöhnliche seit den 68ern eher be -
wundert als geächtet wird. ,Total ver -
rückt‘ gilt als Kompliment.
Früher diente das Gewöhnliche als
gesellschaftlicher Maßstab. Wer sich
nicht an die Norm hielt, galt als wider -
natürlich oder krank – denken Sie nur
an den Umgang mit Homosexuellen
oder die Expressionisten, die im NS-
Staat als ,entartet‘ galten. Heute ist
20 national geographic • januar
ERKLÄREN RÄTSEL DES ALLTAGS
Homosexualität legal, und der Begriff „Ich bin schwul – und das
der Perversion ist nicht nur aus der Psy - ist auch gut so.“ Mit diesen
Worten outete sich 2001
chopathologie verschwunden, sondern der ehemalige Regierende
auch aus unserem Alltagsdenken. Bürgermeister von Berlin
Wir haben gelernt zu differenzieren. Klaus Wowereit (r., mit sei -
nem Lebensgefährten
Es gibt natürlich Kontexte, in denen es
Jörn Kubicki). Damit sorgte
sinnvoll ist, das Normale zum Sollwert er für einen offeneren Um -
zu erheben, bei einem Laborbefund zum gang mit Homosexualität in
Beispiel. Je nachdem ob die Choleste - der Politik.
rinwerte normal sind oder nicht, gibt Haben Sie auch eine
der Arzt eben Alarm oder Entwarnung. Frage? Schreiben Sie uns
Wenn es aber um Kunst, Kleidung, Mu - unter frage@national
geographic.de
sik, Beziehungen oder geschlechtliche
Orientierungen geht, sollte jeder von der
Norm abweichen können – solange an -
dere nicht geschädigt werden. Weil wir
genauer nachdenken, sind wir freier
geworden. Das nenne ich Fortschritt.“
Als Soziologe lehrt und
forscht Gerhard Schulze
an der Universität Bamberg.
Er schreibt außerdem Bü-
cher über Phänomene un -
serer Zeit wie „Die Erlebnis -
gesellschaft“, „Krisen“ oder
„Die beste aller Welten“.
2017 FOTO: PICTURE ALLIANCE/EVENTPRESS (O.); REGINA SCHULZE (PORTRÄT)
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I

Die Gender-
Mann? Frau? Weder noch? Im 21. Jahrhundert
schen ihre Geschlechtsidentität und genießen
hinterfragen immer mehr Men -
neue Rechte und Freiheiten.

22 national geographic • januar 2017

 Revolution
Ein Prozess mit sozialen, medizinischen und politischen Folgen.
Ein Glossar für die große Debatte.

FOTO: HENRY LEUTWYLER. CASTING: ADAM BROWNE

EIN VERZEICHNIS UNSERER MODELS FINDEN SIE AUF SEITE 25.
EXPLORER | GLOSSAR

4
5
2
1

NEUE WÖRTER FÜR

EINE NEUE WELT
3

In der Diskussion über Geschlechterrollen werden

viele Begriffe verwendet, die wir auf den folgenden
Seiten zu erklären versuchen. Dieses Glossar wur -
de mit Eli R. Green von der Widener University,
Pennsylvania, und Luca Maurer vom Ithaca Col -
lege, New York, erarbeitet. Sie sind Koautoren von
„The Teaching Transgender Toolkit“.

Agender: Person, die
ihre (->) Geschlechtsiden -
tität weder als männlich
noch als weiblich defi -
niert beziehungsweise
keine Geschlechtsidenti -
tät besitzt.
Androgyn: Kombination
aus maskulinen und fe-
mininen Zügen oder eine
nicht-traditionelle (->)
Genderausdrucksform.
Biologisches Ge -
schlecht: Anhand von
Merkmalen wie Genita -
lien, Gonaden, Chromo -
somen und Hormonen
wird das Geschlecht ei-
nes Babys oder Embryos
als männlich oder weib -
lich beschrieben. Dabei
stützt man sich vor allem
auf die visuelle Untersu -
chung der Genitalien
nach Geburt oder durch
Ultraschall. Aber nicht
immer stimmt die Ge- son ihr Geschlecht aus- Nach dem auch in
schlechtsidentität mit drückt (etwa Frisur, Klei - Deutschland geltenden
dem bei der Geburt dung, Schmuck, Make- internationalen Klassifi -
(->) zugewiesenen Ge- up, Tonfall oder Körper - kationssystem der Welt -
schlecht überein. sprache). Die Gender - gesundheitsorganisa-
ausdrucksform kann mit tion WHO (ICD-10) wird
Cisgender/Cis: So be - der Geschlechts identität Transsexualismus eben -
zeichnet man Personen, einer Person überein - falls als Persönlichkeits-
deren Geschlechtsiden - stimmen – oder nicht. und Verhaltensstörung
tität dem bei der Geburt geführt. Es gibt Bestre -
zugewiesenen Ge- Gender-Dysphorie: bungen, dies zu ändern.
schlecht entspricht. Medizinische Diagnose
für (->) Transmenschen Genderfluid: Wenn die
Gender: Begriff für die nach dem DSM-5-Kata - Geschlechtsidentität
Geschlechtseigenschaf - log der American Psychi - oder Ausdrucksform im
ten einer Person, die atric Association („Dia- Spektrum zwischen
durch inneres Empfin - gnostic and Statistical Mann/maskulin und
den oder die Gesellschaft Manual of Mental Disor - Frau/feminin immer
geprägt wurden. Im ders“, 5. Auflage). In der wieder neu verortet wird.
Deutschen auch: soziales Transgemeinde ist die
Geschlecht. Wird vor Einstufung in ein psy- Genderqueer: Begriff
allem in Abgrenzung chiatrisches Klassifika- für eine (->) nicht binäre
zum (->) biologischen Ge- tionssystem umstritten, Geschlechtsidentität, die
schlecht verwendet. da dies impliziert, dass weder männlich noch
es sich dabei um eine weiblich ist, sondern da -
Genderausdrucks - Störung handelt und zwischen oder jenseits
form: Äußere Merkma - nicht um eine anzuer - davon liegt oder eine
le, mit denen eine Per - kennende Identität. Kombination darstellt.

24 national geographic • januar 2017

 8
9 13
6
10
Geschlechterbinarität:
Darunter versteht man
das allgemein vorherr -
schende Verständnis von
Geschlecht als einer
strikten Entweder-
oder-Entscheidung zwi -
schen Mann/maskulin
und Frau/feminin, basie -
rend auf dem bei der
Geburt zugewiesenen
Geschlecht.
Geschlechtsanglei - schlechtskonform.
chung: Medizinische
Maßnahmen wie
Hormontherapien und
Operationen, die den
Körper einer Person
an ihre (->) Geschlechts -
identität anpassen.
Geschlechtsidentität:
Das tief empfundene in -
nere Gefühl eines Men -
schen, das dessen ge -
schlechtliche Verortung
bestimmt.
ILLUSTRATION: FELIX SOCKWELL
11 12
14
Geschlechtskonform:
Wenn das Verhalten und
das Geschlechtsempfin -
den mit den kulturellen
und gesellschaftlichen
Normen übereinstim -
men, die von einer Per -
son erwartet werden.
Aber nicht alle (->)
Cis-Menschen verhalten
sich geschlechtskonform
und nicht alle Trans -
menschen nichtge -
Geschlechtsneutral:
Beschreibt ein Objekt
oder eine Einrichtung,
die nicht nur einem be -
stimmten Geschlecht zu -
geschrieben wird: zum
Beispiel ein (->) androgy -
nes Kleidungsstück oder
eine für alle zugäng liche
Toilette.
Geschlechtsvariant:
Wenn das Verhalten und
15
Eine bunte Gesell - die Genderausdrucks -
schaft: Neben Namen
und Alter der Person
form nicht mit den Nor -
steht der Begriff, mit men übereinstimmen,
dem sie selbst ihre die von einer Person er -
Identität beschreibt. wartet werden. Das gilt
1 Harry Charlesworth,
insbesondere für Jungen
20 Jahre, queer oder Männer, die als
2 Asianna Scott, 20, „nicht männlich genug“
androgynes Model oder feminin gelten, be -
3 Memphis Murphy, 16,
Transfrau ziehungsweise für Mäd -
4 Angelica Hicks, 23, chen oder Frauen, die
heterosexuelle Frau nicht „weiblich genug“
5 Alex Bryson, 11,
Transjunge oder maskulin erschei -
6 Morgan Berro Fran - nen. Nicht alle Trans -
cis, 30, bigender men schen sind
7 Denzel Hutchinson,
geschlechts va riant, und
19, heterosexuell
8 Eli, 12, Transjunge nicht alle geschlechts -
9 Ariel Nicholson Mur- varianten Personen
tagh, 15, Transmädchen identifizieren sich als
10 Lee, 16, Transjunge
11 Pidgeon Pagonis, trans. Auch Cis-Men -
30, intersexuelle nicht schen können ge -
binäre Person schlechtsvariant sein.
12 Shepard M. Verbas,
24, nicht binär, gender -
queer Intersexualität: Tritt
13 Cherno Biko, 25, auf, wenn eine geneti -
schwarz/Transaktivist sche, genitale, reproduk -
14 Jules, 16, Transjunge
15 Alok Vaid-Menon, 25, tive oder hormonelle
nicht binär Prädisposition einen
EXPLORER | GLOSSAR
Körper hervorbringt, der
nicht als eindeutig
männlich oder weiblich
zu kategorisieren ist.
LGBTQ: Englisches
Akronym für Menschen,
die lesbisch, schwul,
bisexuell, trans oder (->)
queer sind und/oder ihr
Geschlecht hinterfragen.
In Deutschland wird die
Gruppe noch etwas wei -
ter gefasst: LSBTTIQ
(lesbisch, schwul, bise -
xuell, trans, transsexuell,
intersexuell, queer).
Nicht binär: Spektrum
von Geschlechtsiden -
titäten und -ausdrucks -
formen jenseits von
Mann/Frau. Dazu gehö -
ren auch Personen, die
sich als agender, bigen -
der, queer, genderqueer
oder genderfluid iden -
tifizieren.
Pubertätsblocker:
Hormonpräparate, die
bei Jugendlichen, die an
ihrer Geschlechts -
identität zweifeln, die
körperliche Entwicklung
hemmen (Bartwuchs,
Stimmbruch, Brust -
wachstum). Den Betroffe -
nen soll so mehr Zeit ge-
geben werden, um über
die Notwendigkeit einer
(->) Geschlechtsanglei -
chung nachzudenken.
Queer: Bezeichnet Men -
schen, die nicht hetero -
sexuell und/oder cis
sind. Früher wurde die
Bezeichnung häufig als
Beleidigung verwendet.
26 national geographic
MEMPHIS MURPHY, 16, TRANSFRAU
Manche Aktivisten be -
nutzen den Begriff mitt -
lerweile als positive
Selbstbeschreibung, an -
dere empfinden ihn hin -
gegen nach wie vor als
abwertend.
Sexuelle Orientierung:
Bezeichnet ein Muster
emotionaler, romanti -
• januar 2017
Soziale Transition:
Beschreibt den Prozess,
durch den ein Trans -
mensch sein Leben ge -
mäß der Geschlechts -
identität ge staltet. Dazu
gehört häufig, dass er
andere bittet, einen Na -
men und ein Pronomen
zu verwenden, welche
seiner Geschlechtsiden -
tität entsprechen.
Transgender/Trans:
Eine Person, deren Ge-
schlechtsidentität nicht
dem bei der Geburt zu -
gewiesenen Geschlecht
entspricht. Im Deut -
schen spricht man auch
von Transfrau/Trans -
mann, oder man ge -
braucht die Adjektive
trans/trans* als Oberbe -
griff für trans gender,
trans sexuell und trans -
geschlechtlich.
Transsexualität: Ein äl-
terer Begriff, der auf
den Sexualforscher Mag -
nus Hirschfeld (1868–
1935) zurückgeht und in
Deutschland noch im -
mer als Diagnose ver -
wendet wird. Das Kon -
zept wird kritisiert, weil
es auf dem binären Ge-
schlechtsbild basiert. Als
scher und/oder sexueller Identitäts bezeichnung
Anziehung zu anderen hat sich (->) Transgen -
Menschen. Die sexuelle der/trans durchgesetzt.
Orientierung beschreibt
Gefühle und Handlun - Zugewiesenes Ge -
gen im Bezug auf andere schlecht: Bestimmung
Personen, während die des Geschlechts eines
Geschlechtsidentität ein Neugeborenen primär
tief empfundenes Gefühl aufgrund der visuellen
des Selbst zum Ausdruck Beurteilung der Genita -
bringt. lien bei der Geburt.
FOTO: HENRY LEUTWYLER
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| EXPLORER | GENDER

GENDER
STUDIES
60 Prozent der Amerikaner halten Video spiele für
Das Geschlecht im
etwas Männliches. Dabei spielen Frauen genauso
Fokus der Forschung oft am Computer wie Männer. Pew Research Center (2015)

DIE MACHT
DER WERBUNG

wandel: Männer
neigen bei der Ein
erwärmung zu techni
schen Lösungen,
während Frauen auf
Verhaltens änderun gen
päische Institut für
Gleichstellungs fragen.
Wählerische
Echsenmütter:
chancen ihrer Jungen
zu optimieren, paaren
sich Bahama Ano
lis
reren Partnern und
zeugenmänn liche
Nachkommen gezielt
mit dem Sperma gro
ßer, weibliche mit dem
kleinerer Väter.
Bessere
Verlierer?
Nach einem
Konflikt zeigen
Männer häufiger
ver söhn licheGesten.
Laut Harvard For
schern sind Frauen
weniger bereit, ihrem
Gegner nach einem
verlorenen Spiel die
Hand zu geben.
Mädchen als „kleine Hausfrau“, Jungs
als „Handwerker“ – so wurde um 1900
in den Spielzeugwerbeanzeigen der
US-Kaufhauskette Sears die Welt der
Kinder dargestellt. Die Soziologin Eli -
zabeth Sweet hat 7300 Spielsachen aus
den Sears-Katalogen des 20. Jahrhun -
derts untersucht – und festgestellt, dass
sich die erkennbaren Rollenbilder im
Laufe der Zeit durchaus ändern.
In den Siebzigerjahren etwa ging die
Zahl der Spielzeuge zurück, die den
Geschlechter klischees gehorchten (im
Sears-Prospekt von 1975 sind nur zwei
Prozent der Spielsachen entsprechend
markiert). In den Achtzigern nahm die
Geschlechtertrennung wieder zu. Eli -
zabeth Sweet vermutet, die Verfügbar -
keit der Ultraschall-Geschlechtsbestim -
mung habe die Entwicklung befördert.
Zur Jahrtausendwende sind die tradi -
tionellen Rollenbilder sehr präsent,
allerings märchenhaft ausgeschmückt:
Die Hausfrau wurde zur Prinzessin, der
Tischler zum Actionhelden.
Mit Folgen? Die Entwicklungspsy -
chologin Jamie Jirout kam 2015 in einer
Studie zu dem Ergebnis, dass Jungen
eher mit Dingen wie Puzzles und Lego
spielen, die räumliches Vorstellungs -
vermögen trainieren. Die Vorliebe könn -
te unter anderem eine Folge des Mar -
ketings sein. Die Produktlinie Lego
Friends richtet sich zwar an Mädchen
– doch es geht um Rollenspiele und nicht
ums Bauen. Da Spielsachen auch Lern -
werkzeuge sind, können solche Un -
terschiede prägend sein: „Wenn man
erklären will, warum Frauen in Wissen -
schaft und Technik unterrepräsentiert
sind, kommt die räumliche Vorstellungs -
kraft ins Spiel“, so Jirout.

28 national geographic • januar 2017 FOTO: BRENDAN FITZPATRICK

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Ukraine Das zerrissene Land
| EXPLORER | GENDER

Global Gender
Gap Index des G L E I C H B E R E C H T I G U N G: F O R T G E S C H R I T T E N E R
Weltwirtschafts-
forums

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IS

1,0
VÖLLIGE Rang 1 10 20 30 40 50
GLEICH-
STELLUNG
Gender-Gap-
0,9 Wert
2015 AKT UE L L E R

0,8 ...und
2006

0,7

0,6
Grüne Pfeile zeigen, dass die Un
gleichheit zwischen den Geschlech
tern abgenommen hat. In grün mar -
kierten Ländern ist der Gender
0,5 Gap sogar um mehr als 0,1 Punkte
kleiner geworden.
WENIG
GLEICHSTELLUNG
In Nordeuropa ist Gleichstellung
ein politisches Kernziel. Isländische
Frauen und Männer haben seit
2009 gleiche Bildungschancen.
Und auch bei der politischen
ligung landet Island auf Platz eins.
In den USA ist die Lohn lücke zwischen
Frauen und Männern erheblich, obwohl
es mehr Facharbeiterinnen gibt. Das
Land steht schlechter da als 2006 – auch
weil weniger Amerikanerinnen
scheidende Rollen in der Politik spielen.

DIE GNADE DES GEBURTSORTS:

GLEICHBERECHTIGUNGSRANGLISTE

Die Gleichstellung von Männern und Frauen kommt voran – wenn auch nur lang -
sam. Zu diesem Ergebnis kommt der „Global Gender Gap Report“, in dem das
Schweizer Weltwirtschaftsforum seit 2006 jährlich die Situation auf der ganzen
Welt untersucht. Die Daten der vergangenen zehn Jahre zeigen, dass sich Fortschrit -
te am schnellsten in den Bereichen Bildung und Gesundheit erzielen lassen. Zehn
Länder haben hier die Gleichstellung bereits erreicht. Wenn es um wirtschaftliche
Chancen und politische Beteiligung geht, liegen Frauen immer noch weit zurück.
Eine Verbesserung der ökonomischen Situation von Frauen kann in den Ländern
ganz unterschiedlich aussehen: In Industriestaaten wie Deutschland – das bei
den wirtschaftlichen Chancen auf Platz 57 liegt – geht es um Gehaltsgerechtigkeit
und mehr Frauen in Führungspositionen. Im Nahen Osten und in Nordafrika ist
den Frauen schon geholfen, wenn sie einer Arbeit außerhalb ihres Hauses nach -
gehen können. Und nur weil sich ein Land im hinteren Teil des Rankings befindet,
heißt das nicht, dass dort keine Verbesserungen möglich sind: In Saudi-Arabien
zum Beispiel sind die Arbeitsmöglichkeiten von Frauen heute deutlich besser. In
den vergangenen 20 Jahren hat die Zahl der Hochschulabsolventinnen dort
deutlich zugenommen, und der Staat fördert die Beschäftigung von Frauen.
Ein hohes Durchschnittseinkommen einer Gesellschaft führt übrigens keines -
wegs immer zu einem besonderen Maß an Gleichberechtigung. Wohlhabende
Länder wie Japan, Südkorea und Kuwait liegen im unteren Drittel des Rankings,
die Philippinen und Nicaragua befinden sich unter den Top 15.

30 national geographic • januar 2017

WENIGER FORTGESCHRITTEN

AN P.

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A

A
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EL

1,0
60 70 80 90 100 109

0,9
G E N D E R - G AP

0,8

0,7

Zwischen 2006 und 2015
hat sich die Kluft zwischen
den Geschlechtern in
we nigen, rot markierten
Ländern vergrößert –
zum Beispiel in Sri Lanka.
0,6
Die Situation in Schwellenländern
ist sehr unterschiedlich: In China
arbeiten mehr Frauen als in
Indien, dafür ist die Ge schlech
Die geringsten Fortschritte Rich
ungleichheit bei der politischen 0,5
tung Gleichberechtigung zeigen
Betei ligung in Indien geringer.
sich im Nahen Osten und in
afrika , besonders bei den wirt
schaftlichen Chancen. Die meisten
der zehn untersten Plätze belegen
Länder aus diesen Regionen.

VÖLLIGE
GLEICH- Der Grad der Gleichstellung wird in in vier Bereichen gemessen: Gesundheit und
STELLUNG Lebenserwartung, Bildung, wirtschaftliche Chancen und politische Beteiligung.
1,0

0,9 Gesundheit Bildung Wirtschaftliche

In Ländern wie 20 Prozent aller Chancen
0,8 dien und China Länder ermöglichen In diesem Bereich
sind Frauen in die gleiche Bildungs schließt sich die
ser Hinsicht stärker chancen, 14 Prozent Lücke langsam. Vor
0,7 benachteiligt als vor mehr als 2006. Süd allem in
zehn Jahren – selek lich der Sahara ist rika, der Karibik und
0,6 Global tive Abtreibungen die Ungleichheit am in Südamerika gibt
Gender Gap sind ein Hauptgrund. größten. es Verbesserungen.
Index
0,5

0,4

DIE GROSSE STUDIE Politische Beteiligung

0,3 Der Index spiegelt die Die Benachteiligung
ungleichheit auf mehreren Ebenen. Ob von Frauen in der Poli
0,2 Männer und Frauen unterschiedliche tik verringert sich am
Chancen haben, etwa bei der Bildung, wird schnellsten – und ist
unabhängig vom Wohlstand eines Landes immer noch drama
0,1 bewertet. Entwicklungen wie etwa der tisch hoch. In den Län
sich verändernde Anteil von Frauen in dern, die am besten
qualifizierten Jobs fließen ebenfalls ein. abschneiden, sind
0,0 Frauenquoten üblich.

109 Länder wurden im „Global Gender Gap Report“ zwischen

2006 und 2015 regelmäßig bewertet. Für Länder, die nicht in der INFOGRAFIK: ÁLVARO VALIÑO, KELSEY NOWAKOWSKI
Liste geführt werden, gibt es keine ausreichende Datenbasis. QUELLE: WELTWIRTSCHAFTSFORUM
 | EXPLORER | GENDER

48 %
DER FRAUEN
72%
DER MÄNNER
58 %
DER FRAUEN
70 %
DER MÄNNER

Anteil der Vollzeit be beantworten diese Frage mit

Das Meinungsforschungs institut Gallup hat 148000
tigten im globalen „Ja“: Fühlen Sie sich nachts
Menschen aus 140 Ländern zu ihrer Lebensqualität befragt: Durch schnitt (2015) an Ihrem Wohnort sicher?

WER IST festgestellt, dass sich 60 Prozent der Komplimente

DIE SCHÖNSTE?
Siebenmal häufiger werden weibliche Figuren in klas -
sischen Disney-Zeichentrickfilmen für ihr Aussehen
gelobt als für das, was sie tun. Die Sprachwissenschaft -
lerinnen Carmen Fought und Karen Eisenhauer haben
die Dialoge von zwölf Märchenfilmen untersucht und
aus den älteren Streifen auf das Äußere beziehen und
nur neun Prozent auf Fähigkeiten. Solche Muster
enthalten „eine Botschaft darüber, was es heißt, ein
Mädchen oder ein Junge zu sein“, sagt Fought. Mäd -
chen werde suggeriert, „dass ihr Wert von ihrem Aus -
sehen abhängt“. Die Drehbücher neuer Disney-Filme
wie „Merida“ funktio nieren umgekehrt: Mädchen
bekommen darin mehr Anerkennung für ihren Mut
als für ihre Schönheit.

Lob bezogen auf Fähigkeiten

Anteil an sämtlichen Komplimenten* für Rapunzel Merida
weibliche Figuren pro Film Küss – neu
den verföhnt
Mulan Frosch Die
Pocahontas Eiskönigin
Die Schöne 56
Arielle, die und das
Cinderella Meerjungfrau Biest 45
Dorn- 42 41
röschern 36
Schnee- 35
wittchen 28 Aladdin

18% 17
8

Lob bezogen auf Aussehen Der Trend ist klar:

weibliche Disney
83% Figuren werden heute
weniger für ihre
Schönheit denn für
67 ihre Kompetenz gelobt.

58

44 46

36
31
27
25
18 18
11

1937 1950 1959 1989 1991 1992 1995 1998 2009 2010 2012 2013

Klassik Renaissance Moderne

Diese extrem erfolgreichen Mär - Nach einer langen Pause kehrt Disney konzentriert sich auf computer -
chenfilme begründen Walt Disneys der Konzern mit „Arielle“ zum animierte Filme, die Kostenvorteile bieten
Kinoruhm. Musical-Filmformat zurück. und beim Publikum beliebt sind.

* Die restlichen Komplimente beziehen sich auf Besitz, INFOGRAFIK: ÁLVARO VALIÑO, KELSEY NOWAKOWSKI. QUELLEN: CARMEN FOUGHT,
die Persönlichkeit und andere Eigenschaften. PITZER COLLEGE; KAREN EISENHAUER, NORTH CAROLINA STATE UNIVERSITY
 Männer Frauen
Schlechteste Beste
Frauen fühlen sich weniger sicher und haben seltener Lebensqualität 5,2 5,4 Lebensqualität
einen Vollzeitarbeitsplatz. Trotzdem bewerten sie ihre 0 10
Lebensqualität auf einer Skala von 0 bis 10 höher. Globaler Durchschnitt, 2015

GENDER
STUDIES
Das Geschlecht im
Fokus der Forschung

Wie Zahlen das

Geschlecht bestimmen.
Weltweit empfinden
Menschen gerade Zah
len als weiblich, un
rade als männlich. Einer
Studie zufolge schrei
ben wir einem Objekt
abhängig davon ein Ge
schlecht zu, welche
Zahl danebensteht – ei
ne Assoziation, die auch
auf Pythagoras’ Mathe
matik zurückgeht.

Wie Geld
Mutter milch verändert.
Das „American Journal
of Physical
logy“ berichtet, dass
wohlhabende Frauen
eine nährstoffreichere
Milch für männliche
„Ist es eine unbedenkliche Mädchenfantasie, sich als Prin - Nachkommen produ
zierten und öfter still
zessin zu verkleiden? Oder definieren sich Mädchen ten. Bei ärmeren Frauen
auf diese Weise als passive Wesen, nur durch ihr Äußeres? sei es umgekehrt: Sie
Diese Frage stellt die Fotografin Blake Fitch mit ihrer Arbeit, für die sie Mädchen im versorgten ihre Töchter
Prinzessinnen-Look abgebildet hat. besser mit Milch.

FOTO: BLAKE FITCH. ILLUSTRATIONEN: FELIX SOCKWELL 33

UMFRAGEGRAFIK: LAWSON PARKER. QUELLE: GALLUP ORGANIZATION
NATIONAL GEOGRAPHIC präsentiert:

Dirk Rohrbach LIVE:

Yukon
NEUE ABENTEUER AM GROSSEN FLUSS

16.01.2017 HAMBURG
17.01.2017 BERLIN
18.01.2017 DRESDEN
22.01.2017 MÜNCHEN
23.01.2017 STUTTGART
24.01.2017 FRANKFURT/M.
25.01.2017 KÖLN
Weitere Termine in Vorbereitung

3.000 Kilometer im Kanu: Dirk Rohrbach paddelt in einem selbst gebau-

ten Kanu aus Birkenrinde von den Quellseen des Yukon bis zu seiner
Mündung – vorbei an den berüchtigten Five Finger Rapids und der Gold-
gräberstadt Dawson. Zum Vortrag erscheint ein Bildband bei NATIONAL
GEOGRAPHIC.
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für NATIONAL
York Hovest LIVE: GEOGRAPHIC
Abonnenten

HUNDERT TAGE AMAZONIEN

MEINE REISE ZU DEN HÜTERN DES WALDES

05.02.2017 HAMBURG
07.02.2017 BERLIN
08.02.2017 KÖLN
09.02.2017 DRESDEN
13.02.2017 STUTTGART
14.02.2017 MÜNCHEN
16.02.2017 FRANKFURT/M.
Weitere Termine in Vorbereitung

Nach „Hundert Tage Tibet“ der neue Bildband und Vortrag des charis-
matischen Münchner Fotografen York Hovest. Eine faszinierende Ent-
deckungsreise in das größte Regenwaldgebiet der Erde, zu Schamanen
und indigenen Völkern.

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36
Junge?
Mädchen?
Spielt das eine Rolle?
In der Gegenwart
können Menschen ihr
Geschlecht frei
be stimmen. Kann die
Wissenschaft dazu
beitragen, die neue
Situ ation zu verstehen
und den Menschen
zu helfen?

Nach der Geburt 1998 konnte man die Zwillin-

ge Caleb (l.) und Emmie aus Massachusetts
kaum auseinanderhalten. Heute sagt Emmie:
„Mit zwölf habe ich mich nicht wie ein Junge
gefühlt. Aber mir war auch nicht klar, dass ich
ein Mädchen sein könnte.“ Mit 17 outete Em -
mie sich als Transgender, vor Kurzem unter -
zog sie sich einer geschlechtsangleichenden
Operation. „Ich war vorher schon genauso
Frau wie jetzt“, sagt sie.
 Text: Robin Marantz Henig
Fotos: Lynn Johnson

Schon als kleines Kind hatte „E“, wie sie in dieser

Geschichte heißen soll, keine Lust auf Puppen
oder Kleidchen. E interessierte sich für Baseball,
Skateboards und Videospiele. Viele Jahre später
nahm sie an einer Veranstaltung des Rheto -
rik-Wahlkurses ihrer New Yorker Highschool teil.
E trug einen maßgeschneiderten Anzug des Her -
renausstatters Brooks Brothers und eine Fliege
aus ihrer umfangreichen Sammlung. Das Haar
der 14-Jährigen war superkurz, und ihr blasser
Teint betonte die feinen Gesichtszüge.
Später an jenem Abend suchte E nach den
richtigen Worten für ihre Geschlechtsidentität.
„Transgender“ passe nicht so recht, meinte sie,
denn noch verwendete sie ihren weiblichen Ge -
burtsnamen und zog es vor, dass man mit dem
Pronomen „sie“ über sie sprach. Während an-
dere Transkinder oft erzählen, sie hätten immer
schon gewusst, im „falschen Körper“ geboren zu
sein, sagt E: „Ich glaube einfach, dass ich einiges
an meinem Körper verändern muss, damit ich
das Gefühl habe, dass es meiner ist.“ Wie würde
dieser Körper aussehen? Keine Brüste, keine
Menstruation, markante Gesichtszüge, „ein hell -
roter Bart“.
Aber was bedeutet das genau? Ist E ein Trans -
junge? Oder eher ein Mädchen, das, wie sie es
selbst ausdrückt, „mega-androgyn“ ist? Oder
schlicht ein Mensch, der die äußeren Merkmale
traditioneller Geschlechterrollen ablehnt? E
sieht ihre Hobbys und ihre Kleiderwahl auf je-
den Fall nicht als Ausdruck einer zwar burschi -
kosen, aber weiblichen Persönlichkeit, sondern
hinterfragt ihre Geschlechtsidentität grundsätz -
lich. Das liegt sicher auch daran, dass im Jahr
2016 mehr über Transgender-Fragen diskutiert
wird als je zuvor. In den USA sorgte der frühere

Sie sucht nach den Zehnkamp-Olympiasieger Bruce Jenner 2015 für

Aufsehen, als er sich in Caitlyn umtaufte und

richtigen Worten nach vielen kosmetischen OPs auf dem Cover

der Vanity Fair posierte. Und die TV-Serie
„Transparent“, in der die Geschichte eines pen -
für ihre Identität. sionierten Politikprofessors erzählt wird, der als
Frau leben will, hat acht Emmys gewonnen. Die
Debatten haben auch dazu geführt, dass in den
Vereinigten Staaten genauere Erhebungen über
Transmenschen durchgeführt wurden. Landes
weite Umfragen ergaben, dass sich die Zahl der
Erwachsenen, die sich einem anderen Ge
schlecht zugehörig fühlen, als ihnen bei der Ge
burt zugewiesen wurde, in nur einem Jahrzehnt
verdoppelt hat – und das sind nur die, die offen
zu diesem Schritt stehen. Die Anzahl von Men
legen lassen wollen und sich Enbys nennen (von
n. b. = non binary/„nicht binär“), ist ebenso ge
alter, die versuchen herauszufinden, welchem
Geschlecht sie angehören. Auch das Bewusst
sein für die Pro bleme dieser Menschen hat sich
vergrößert: Sie leben mit einem extrem hohen
Risiko, gemobbt, sexuell missbraucht oder in
den Suizid getrieben zu werden.
Facebook User können heute unter mehr als
50 Kategorien wählen, wenn sie in ihrem Profil
ihr Geschlecht eintragen wollen. Transgender,
Cisgender, Genderqueer, Agender – in einer
neuen Welt, in der die Grenze zwischen den Ge
schlechtern verschwindet, braucht man auch
neue Wörter (siehe Glossar auf Seite 22). Nur so
kann man die wichtigsten Fragen beantworten:
Wie leben Menschen, die sich abseits der ge
schlechtlichen Normen bewegen, heute? Was
muss getan werden, damit sie ein freies, selbst
bestimmtes Leben führen können? Und was
bedeuten die neuen Erkenntnisse der Wissen
schaft über die Biologie des Geschlechts für
unsere Gesellschaft?
im biologieunterricht haben wir gelernt,
dass Chromosomen das Geschlecht eines Kindes
bestimmen. XX – es ist ein Mädchen, XY – es ist
ein Junge. Aber manchmal erzählen XX und XY
eben nicht die ganze Geschichte. Heute wissen
wir, dass die verschiedenen Eigenschaften und
Merkmale, die wir als männlich und als weiblich
bezeichnen, nicht immer klar zu trennen sind:
liche Geschlechtsidentität und weibliches Ver
halten; XY = Hoden, Penis, Testosteron, eine
männliche Geschlechtsidentität und männliches
Verhalten. So einfach ist die Gleichung nicht. Es
ist durchaus möglich, XX Chromosomen zu be
sitzen und eine überwiegend männliche Anato
mie, Physiologie und Psychologie aufzuweisen,
und genauso gut kann ein XY Mensch vorwie
gend weiblich sein.
Jeder Embryo hat ein Gonaden Paar, die
Keimdrüsen, die sich in der sechsten bis achten
Woche zu männlichen oder weiblichen Gonaden
entwickeln – Hoden oder Eierstöcke. Diese Ge
schlechterdifferenzierung wird unter anderem
durch das SRY Gen in Gang gesetzt, das sich auf
dem Y Chromosom befindet und für die Heraus
bildung der Hoden sorgt. Die Hoden produzieren
Testosteron und andere männliche Hormone
(Androgene), und der Fötus entwickelt Prostata,
Skrotum und Penis. Fehlt das SRY Gen, werden
die Gonaden zu Eierstöcken, welche Östrogen
freisetzen. In der Folge bilden sich beim Fötus
Uterus, Vagina und Klitoris heraus.
Fehlt das SRY Gen oder ist es defekt, entwi
ckelt ein XY Embryo keine männliche Anatomie,
weshalb das Baby nach der Geburt als Mädchen
identifiziert wird. Befindet sich das Gen aber auf
einem X Chromosom, was auch vorkommen
kann, entwickelt ein XX Embryo eine männliche
Anatomie, und dem Kind wird das männliche
Geschlecht zugewiesen. Es gibt auch eine gene
resistenz (CAIS), bei der die Zellen eines XY Em
bryos nicht oder nur minimal auf die Signale
männlicher Hormone reagieren. Obwohl die
Gonaden sich zu Hoden ausbilden und der Fötus
Androgene produziert, entwickeln sich in die
sem Fall keine männlichen Genitalien. Das Kind
sieht weiblich aus, hat Klitoris und Vagina. Es
wächst in den meisten Fällen als Mädchen auf –
und fühlt sich auch so. (Weiter auf Seite 44)
geschlechterfragen 39
Kleider machen glückliche Menschen: Ray
Craig aus dem US-Bundesstaat New York, der
als Mädchen geboren wurde, lässt sich einen
Anzug anpassen. Bei einem Schulfest hatte er
das erste Mal ein solches Kleidungsstück
getragen und später erklärt, sich als Junge zu
fühlen. Sein Vater war nicht überrascht: „Ich
war nur nicht sicher, ob er eine Phase durch -
lebte oder ob das eine endgültige Sache ist.“
Aktuell denkt Ray darüber nach, Hormonblocker
zu nehmen, um die Pubertät zu unterdrücken.

41
Oti, 9, wurde als Junge erzogen, aber das fühlte
sich für sie nie richtig an. Als sie gerade spre -
chen lernte, sagte sie: „Ich bin ein Mädchen.“ In
der Folge brachte Oti ihre Eltern und ihre Ge -
schwister dazu, sich einer Gruppe von Trans -
gender-Aktivisten anzuschließen. „Wir haben
tolle Leute kennengelernt, die unglaublich viel
durchgemacht haben“, sagt ihr Vater David.
„Ich bin vielleicht Otis Dad, aber für mich ist sie
diejenige, die vorangeht.“

Boy Girl Both Neither 43

Carlos, 12, war mal ein Mädchen. Er gehört zu einer Gruppe von Kindern in der
Dominikanischen Republik, die an einem Enzymmangel leiden und mit weiblich
aussehenden Genitalien zur Welt kommen. Durch einen Testosteronschub
in der Pubertät entwickeln sie männliche Genitalien und werden zu Männern.
Hier sieht man, dass auch die Biologie keine
einfachen Antworten parat hat: Ist dieses Kind
nun ein Mädchen, weil es sich so fühlt und von
seinem Umfeld so behandelt wird? Oder ist es
aufgrund der XY-Chromosomen und der im Kör
perinneren liegenden Hoden doch männlich?
Georgiann Davis, 35, wurde mit dem Rezeptor
defekt CAIS geboren, wusste aber nichts von die
ser Tatsache, bis sie im Alter von fast 20 Jahren
in ihren medizinischen Unterlagen darauf stieß.
Niemand hatte ihr je erzählt, dass sie XY-Chro
mosomen besitzt. Auch die Ärzte nicht, die sie
mit 13 untersuchten und mit 17 operierten, um
die Hoden zu entfernen. Mit dem Einverständnis
ihrer Eltern erzählten ihr die Mediziner, dass ihre
Eierstöcke entfernt werden müssten, um das Ri
siko einer späteren Krebserkrankung zu mini
mieren. Ein Schock: Mutter und Vater tischten
ihrer Tochter lieber eine Lüge über eine poten
ziell tödliche Krankheit auf, als ihr zu sagen, dass
sie intersexuell ist. „Ist es denn so schrecklich,
intersexuell zu sein?“, fragt Davis, die heute als
Soziologin an der University of Nevada in Las
Vegas arbeitet, in ihrem Buch „Contesting In
tersex: The Dubious Diagnosis“. „Ich erinnere
mich, wie ich dachte: ‚Ich muss ja ein Freak sein,
wenn mir nicht einmal meine Eltern die Wahr
heit sagen konnten.‘“
Eine andere Ausprägung der Intersexualität
existiert in einer entlegenen Region der Domini
kanischen Republik: der sogenannte 5 -Reduk
tase-2-Mangel, der von der Bevölkerung auch ab
fällig guevedoce genannt wird – „Eier mit zwölf“,
weil Betroffene zunächst weiblich aus sehen und
erst später männliche Merkmale entwickeln. Erst
mals wissenschaftlich untersucht wurde diese
Variante in den Siebzigerjahren von Julianne Im
perato-McGinley, Endokrinologin am New Yorker
Weill Cornell Medical College. Impe rato-McGinley
wusste, dass bei männ lichen Embryos normaler
weise um die achte Schwangerschaftswoche das
Sexualhormon Testosteron durch ein Enzym in
das besonders wirksame Androgen DHT umge
44 national geographic • januar 2017
wandelt wird. DHT sorgt dafür, dass sich eine em -
bryonale Anlage, der sogenannte Genitalhöcker,
zu einem Penis entwickelt. Ohne DHT wird der
Höcker zu einer Klitoris.
- Imperato-McGinley stellte fest, dass gue -
vedoce- Embryonen ebendieses wichtige Enzym
- fehlt. Die Kinder werden mit vermeintlich
- weiblichen Genitalien geboren und entspre -
chend erzogen. Manche fühlen sich auch wie
Mädchen; andere spüren, dass etwas nicht
- stimmt.
Die zweite Phase der biologischen Maskulini -
sierung, die sich in der Pubertät vollzieht, basiert
nicht auf DHT, sondern auf einem hohen Testo -
steronspiegel. Und weil die guevedoce ganz nor -
- male Testo steronmengen produzieren und ihr
- Spiegel – wie bei den meisten Altersgenossen –
ab einem Alter von zwölf Jahren stark steigt, wird
- ihre Stimme plötzlich tiefer, es wachsen Muskeln
sowie Gesichts- und Körperhaare. Und die ver -
meintliche Klitoris wird zu einem Penis (aller -
dings sind die Betroffenen für gewöhnlich
unfruchtbar).
- Bei dem ersten Besuch von Imperato-McGin -
ley in der Dominikanischen Republik wurden
guevedoce, die sich gerade erst zu Jungen ent -
- wickelt hatten, von ihrem Umfeld mit Argwohn
behandelt. Und sie mussten sich nachdrück -
licher beweisen, um als richtige Männer akzep -
- tiert zu werden. Heute werden die Kinder meist
- bei der Geburt identifiziert, da Eltern sich in -
- zwischen die Genitalien ihrer Neugeborenen ge -
nauer anschauen. Trotzdem werden sie oft als
Mädchen erzogen.
-
das geschlecht ist ein komplexes Phäno -
- men, bei dem mehrere Faktoren eine Rolle spie -
len: Chromosomen (X und Y), Anatomie (innere
und äußere Geschlechtsorgane), Hormone (rela -
- tiver Testosteron- und Östrogenspiegel), Psycho -
logie (Geschlechtsidentität) und Kultur (gesell -
schaftlich definierte Geschlechterrollen). Und
- manchmal erkennen Menschen, die mit den
geschlechterfragen 45
Wer bin ich? (Und wer bestimmt das eigentlich?)
Menschen werden bei ihrer Geburt fast immer anhand ihrer Genitalien als männlich oder weiblich
identifiziert. Das soziale Geschlecht (Gender) enthält auch Elemente wie Geschlechtsidentität und
Ausdrucksformen – allerdings nicht die sexuelle Orientierung.

GESCHLECHTSIDENTITÄT
Im Alter von drei Jahren etabliert sich bei einem Kind für gewöhn-
lich das Gefühl, ein Junge oder ein Mädchen zu sein. Es gibt aber
auch Menschen, die sich mit keinem der beiden Geschlechter
Frau, Mann, oder mit beiden oder ihr Geschlecht abhängig von
nicht binär,
Agender Zeitpunkt oder Situation empfinden.
(geschlechtslos)

FRAU NICHT BINÄR MANN

Adamsapfel Identifikation Identifikation sowohl Identifikation
(männlich)
mit Mädchen mit Männern als auch mit Jungen
oder Frauen Frauen – oder mit oder Männern
keinem der beiden „Pole“

Brüste (weiblich), BIOLOGISCHES GESCHLECHT

Brustbehaarung
Menschen werden anhand von Merkmalen wie Genitalien, Chro -
(männlich)
mosomen, Gonaden und dem Hormonspiegel als männlich oder weib -
lich beschrieben. Ein Prozent der Menschen ist Schätzungen
zufolge nicht eindeutig zuzuordnen und gilt deshalb als intersexuell.
Geschlechts-
entwicklungs-
gene WEIBLICH INTERSEXUELL MÄNNLICH

XX-Chromosomen, Kombination von XY-Chromosomen,

Eierstöcke, weib - männlichen und Hoden, männliche
liche Genitalien, weiblichen Chromoso - Genitalien, sekun-
sekundäre weib - men, Hoden- und däre männliche
liche Geschlechts - Eierstockgewebe so - Geschlechtsmerk -
merkmale wie Genitalien male

Innere und
äußere GENDERSAUSDRUCKSFORMEN
Geschlechts- Menschen drücken sich durch Kleidung, Verhaltensweisen,
organe Sprache und andere äußere Merkmale aus. Ob diese Attribute als mas -
kulin oder feminin gelten, unterscheidet sich je nach Kulturkreis.

FEMININ ANDROGYN MASKULIN

Ausdrucksfor - Kombination von Ausdrucksformen,

men, die in einer maskulinen und femi - die in einer Kultur
Kultur mit Weib - ninen Zügen – oder mit Männlichkeit
lichkeit asso - eine nicht traditionelle assoziiert werden
ziiert werden Ausdrucksform

RYAN WILLIAMS UND JOHN TOMANIO, NGM. ILLUSTRATION: MATTHEW TWOMBLY

QUELLEN: ROBERT GAROFALO, LURIE CHILDREN’S HOSPITAL; ERIC VILAIN,UCLA

46 national geographic • januar 2017

Chromosomen und den Genitalien einer Frau
oder eines Mannes geboren wurden, dass ihr bio
logisches Geschlecht nicht mit ihrem Selbstbild
übereinstimmt: Diese Menschen nennt man
Transgender. Während Transgender-Fragen im
Alltag immer präsenter werden – Zahlt die Kran
kenkasse für die Geschlechtsangleichung? Wer
darf oder muss welche Toilette benutzen? – ver
suchen Wissenschaftler unterschiedlicher Fach
richtungen herauszufinden, was das eigentlich
bedeutet: transgender.
Einige Forscher gehen davon aus, dass ein
Konflikt zwischen biologischem Geschlecht und
Geschlechtsidentität auf eine zeitlich versetzte
embryonale Entwicklung des Geschlechts zu
rückführen ist. „Die sexuelle Differenzierung der
Genitalien findet in den ersten beiden Monaten
der Schwangerschaft statt“, schreibt Dick Swaab,
Forscher am Netherlands Institute for Neuro
science in Amsterdam. „Und die sexuelle Diffe
renzierung des Gehirns beginnt in der zweiten
Hälfte der Schwangerschaft.“ Genitalien und
Gehirn sind in einem Abstand von mehreren Wo
chen also unterschiedlichen Mischungen aus
Hormonen, Nährstoffen und anderen chemi
schen Substanzen ausgesetzt, die den Prozess
beeinflussen. Das bedeutet nicht, dass es ein
rein „männliches“ oder „weibliches“ Gehirn gibt,
doch zumindest bei einigen Gehirnmerkmalen
wie etwa der Dichte der grauen Substanz oder der
Größe des Hypothalamus gibt es tendenziell Un
terschiede zwischen den Geschlechtern. Studien
zeigen auch, dass das Gehirn von Transmen
schen tatsächlich eher dem idealtypischen Ge
hirn des Geschlechts ähnelt, mit dem sie sich
identifizieren, als dem ihres biologischen Ge
schlechts. Problematisch an diesen Studien ist,
dass oft nur ein halbes Dutzend Transgen
der-Personen daran teilnehmen. Und manchmal
sind auch Probanden dabei, die Hormone zur
Geschlechtsangleichung einnehmen, die sich
möglicherweise bereits auf das Gehirn ausge
wirkt haben.
Ein Befund der Transgender-Forschung aber
- ist stabil: Es gibt offenbar einen Zusammenhang
zwischen einer Geschlechtsidentitätsstörung
und sogenannten Autismusspektrum-Störungen
(ASS). Bei Kindern und Jugendlichen mit autis -
- tischem Verhalten ist die Wahrscheinlichkeit
einer Transidentität siebenmal höher als bei an -
- deren jungen Menschen, berichtet der Neuropsy -
- chologe John Strang vom Children’s National
Health System in Washington, D.C. Umgekehrt
tritt ASS bei jungen Patienten in Gender-Klini -
ken sechs- bis 15-mal häufiger auf als bei anderen
jungen Menschen.
- in einer bar in manhattan bestellt Emily
Brooks einen Softdrink und erzählt ihre Ge -
schichte. Brooks ist 27, Autistin und bezeichnet
sich selbst als „nicht binär“, obwohl sie ihren
- weiblichen Geburtsnamen behalten hat. Kürz -
- lich hat sie an der City University of New York
ihren Master in Disability Studies gemacht, ei -
nem interdisziplinären Studiengang, der Behin -
- derung als soziale, historische und kulturelle
Konstruktion versteht. Ihr Ziel ist es, sichere Räu -
- me für Menschen zu schaffen, die sowohl Trans -
gender als auch Autisten sind. Solche Menschen
leiden doppelt – unter Behindertenfeindlichkeit
und Transphobie. „Und man kann nicht selbst -
verständlich davon ausgehen, dass an Orten, an
denen die eine Identität respektiert wird, auch
- die andere respektiert wird“, sagt Brooks. Dann
kommt der Barkeeper und fragt, was er „der
- Lady“ noch bringen darf. Brooks reagiert verär -
- gert darauf, so eindeutig als Frau identifiziert zu
werden, und demonstriert so, dass ihre Situation
- nicht nur durch ihren Autismus verkompliziert
wird, sondern auch dadurch, dass sie das binäre
- Geschlechtermodell – es gibt Mann und Frau
und nichts dazwischen – grundsätzlich ablehnt.
Die große Mehrheit der Menschen – mehr als
99 Prozent – versteht sich entweder als Frau oder
- als Mann. Und die Gesellschaft forciert diese
Einteilung auch, indem man an vielen Orten – auf
geschlechterfragen 47
dem Passamt, beim Friseur, im Fitnessstudio –
ein eindeutiges Geschlecht angeben muss. Heut
zutage hinterfragen jedoch immer mehr und vor
allem junge Leute nicht nur das Geschlecht, das
ihnen bei der Geburt zugeordnet wurde, sondern
auch das binäre Konzept der zwei Geschlechter.
Eine aktuelle Umfrage unter 18- bis 34-Jährigen
ergab, dass die Hälfte von tausend Befragten dem
Satz zustimmt: „Geschlecht ist ein Spektrum, und
manche Menschen liegen außerhalb der kon
ventionellen Kategorien.“ Viele der Befragten, die
diese Ansicht vertreten, würden sich laut der
Menschenrechtsorganisation Human Rights
Campaign auch selbst als „nicht binär“ einstufen.
Im Jahr 2012 befragte die Human Rights Cam
paign 10000 lesbische, schwule, bisexuelle und
Transgender-Teenager zwischen 13 und 17 Jahren.
Er geb nis: Sechs Prozent bezeichneten sich als
„androgyn“, „gender fluid“ (was bedeutet, dass die
Geschlechtsidentität sich mit der Zeit oder situa
tionsbezogen ändern kann) oder mit einem ande
ren Begriff außerhalb der üblichen Schublade.
auf der suche nach ihrem eigenen Platz im
Spektrum wünschen sich junge Leute oft, dass ihr
Umfeld ein bestimmtes Pronomen verwendet,
wenn über sie gesprochen wird. Selbst wenn sich
die Betroffenen nicht eindeutig als Mädchen oder
Junge fühlen, bevorzugen manche von ihnen das
männliche oder weibliche Personalpronomen.
Aber viele entscheiden sich auch für ein neutrales
Pronomen; im Englischen etwa wird „they“ in der
Singularform verwendet, was auch im Deutschen
gebräuchlich ist. Auch mit Neologismen wie
„sier“ oder „xier“ wird experimentiert.
Der gesellschaftliche Wandel ist zum Teil auch
damit zu begründen, dass es erst seit Kurzem
eine Sprache gibt, in der Menschen aus dem
nicht binären Spektrum ihre Erfahrungen und
ihr Geschlechtserleben überhaupt zum Aus
druck bringen können, sagt der Therapeut Jean
Malpas vom Ackerman Institute for the Familiy
in Manhattan. Das heißt aber auch, dass Eltern
48 national geographic • januar 2017
vor neuen Herausforderungen stehen, wenn sich
- ihre Kinder, wie Malpas es nennt, „genderexpan -
siv“ verhalten.
Junge Menschen wie E, die auch Monate nach
dem eingangs beschriebenen Highschool-Event
noch weibliche Pronomen verwendet, aber in -
tensiv nach ihrem Platz sucht. Ihre Mutter Jane
kämpft für einen sicheren Raum für ihre Tochter,
der es dieser ermöglicht, sich weder typisch
- weiblich noch männlich verhalten zu müssen.
Jane schrieb etwa eine E-Mail an einen Lehrer
von E, mit der sie diesen auf eventuelle Schwie -
rigkeiten während eines bevorstehenden Schul -
ausflugs nach Kalifornien vorbereiten wollte. E
- könnte von anderen als männlich angesehen
werden, schrieb Jane, da ihr Haar jetzt so kurz sei
und ihre Kleidung sehr androgyn. Und ihre Toch -
ter würde wahrscheinlich sowohl Damen- als
auch Herrentoiletten benutzen, je nachdem, wo
- sie sich gerade am wohlsten fühle. Wenn man
- Jane fragt, wo sie ihre Tochter auf dem Gender -
spektrum verorten würde, sagt sie: „Ich glaube,
sie möchte an einem neutralen Ort sein.“
Für einen Teenager ist es nicht leicht, einen
„neutralen Ort“ zu schaffen und zu erhalten –
denn ab einem gewissen Alter kommt es fast
immer zu körperlichen Veränderungen. Die bio -
logische Entwicklung kann jedoch mit soge -
nannten Pubertätsblockern für eine Weile aufge -
halten werden. Diese Medikamente unterdrücken
Stimmbruch, Bart- oder Brustwachstum und
können für Kinder, die ihr Geschlecht hinter -
fragen, einen Zeitgewinn von mehreren Jahren
bedeuten. Wenn ein Patient mit 16 erkennt, dass
er doch kein Transgender ist, wird der Pubertäts -
blocker abgesetzt und er/sie entwickelt sich ent -
sprechend dem biologischen Geschlecht. Aber
auch für Menschen, die sich später für ge -
schlechtsangleichende Maßnahmen entschei -
- den, sind Pubertätsblocker von Vorteil: Dank der
Hormongaben durchlaufen sie die Pubertät mit
dem gewählten Gender und entwickeln erst gar
keine sekundären Geschlechtsmerkmale, die nur
Globale Gerechtigkeit?
Nur in gut einem Drittel aller Länder ist es erlaubt, das Geschlecht in offiziellen Dokumenten
zu ändern. Die Forschung zu dieser rechtlichen Thematik steht noch ganz am Anfang.

ASIEN

NORD- EUROPA
AMER I K A

AF R IKA

SÜD-
AMERIKA

AUSTRALIEN

JA: Wechsel ist legal VIELLEICHT NEIN!

Ohne Einschränkungen
(5 Länder)
Eine Person muss lediglich einen
Antrag stellen, um das Geschlecht
zu wechseln.
Mit Bedingungen (41)
Fast alle Länder, die einen Wech
sel erlauben, setzen die Diagnose
einer psychischen Störung voraus.
Oft sind Kinder und Ehe Aus -
schlusskriterien. Manchmal ist
eine Hormontherapie, OP und/
oder Sterilisierung Pflicht. Solche
Regelungen gelten aber als
Verletzung der Menschenrechte.
Legalität des Vorgangs und
entsprechende Bedingungen
unterscheiden sich regional (4)
In einigen Ländern wie etwa den
USA haben lokale Regelungen zu
geltendem Recht und daran
geknüpfte Bedingungen Vorrang.
- Legal, aber nicht
durchgängig erlaubt (27)
Selbst wenn die Gesetze eines
Landes eine Änderung des
Personenstands erlauben, können
urteile und bürokratische Barrie
ren den Schritt verhindern.
Wechsel nicht legal (67)
In diesen Ländern gibt es keine
gesetzlichen Vorschriften, die einen
Geschlechtswechsel erlauben.
Zuweilen wird sogar das Tragen von
Kleidung, welche nicht mit dem bei
Geburt zugewiesenen Geschlecht
übereinstimmt, kriminalisiert.
Keine Informationen
In einem großen Teil der Welt müssen
wechsels erst erhoben werden. Dis -
- kussionen zu diesem Thema sind dort
Neuland oder gelten als tabu.

DATEN VON OKTOBER 2016. RILEY D. CHAMPINE, RYAN WILLIAMS UND IRENE BERMAN-VAPORIS, NGM; JUSTUS EISFELD. QUELLEN: CARLA LAGATA/CARSTEN BALZER, TVT PROJECT,
TRANSGENDER EUROPE; TAMARA ADRIÁN, UNIVERSIDAD CENTRAL DE VENEZUELA; ANDREW PARK, UCLA; KRISTOPHER WELLS, UNIVERSITY OF ALBERTA; SOUTHERN AFRICAN
LITIGATION CENTRE; FTM PHOENIX GROUP; MICHAEL VAN GELDEREN, UN OHCHR; OUTRIGHT ACTION INTL. WEITERE INFORMATIONEN FINDEN SIE UNTER: NGM.COM/JAN2017 .

49
Transgender leben
mit einem hohen
Risiko, gemobbt,
sexuell missbraucht
oder in den Suizid
getrieben zu werden.

Die Transfrau Trina (r.) aus Kingston, Jamaika,

arbeitet als Prostituierte ausschließlich nachts
– nur dann fühlt sie sich in Kleidern sicher.
Sie wurde schon mit Säure, Messern und einer
Schusswaffe attackiert. Auch English (l., rotes
Haar) und Sasha sind Prostituierte und leben
mit Trina, anderen Transfrauen und Homosexu -
ellen in einem Abwasserkanal. Einige Tage
nachdem die Fotos entstanden, wurden English
und Sasha bei einem Brandanschlag verletzt.
51
 schwer wieder rückgängig zu machen sind.
Erfahrungen von Ärzten und Psychologen
zeigen, dass die meisten Patienten, die
bertäts blocker einnehmen, später auch weitere
geschlechtsangleichende Maßnahmen durch
führen lassen.
Wegen möglicher Langzeitwirkungen auf die
psychologische Entwicklung, auf Gehirnwachs
tum und Knochendichte sind die Medikamente
aber umstritten. Und auch über die Frage, ob
inzwischen zu viele Kinder zu früh zu einer
Wandlung ermutigt werden, ist eine Diskussion
entbrannt. Kinder äußern viele Wünsche und
Fantasien, sagt Eric Vilain, Leiter des Center for
Gender Based Biology an der University of Cali
fornia in Los Angeles. Was, wenn das Gefühl „Ich
wünschte, ich wäre ein Mädchen“ ebenso ver
fliegt wie der Traum, Astronaut zu werden oder
ein Vogel zu sein? Laut Vilain gehen viele
dien, die kindliche Geschlechtsidentitätsstörun
gen untersuchen, davon aus, dass diese Kinder
meist nicht Transgender seien, sondern Cisgen
der (Übereinstimmung mit dem bei der Geburt
zugewiesenen Geschlecht). Viele dieser Kinder
würden sich später als homo oder bisexuell
identifizieren.
„Wenn sich ein Junge lange Haare wünscht,
gern die Schuhe seiner Mutter oder ein Kleid an
„Jungen oder probieren möchte, sagt er sich: ‚Ich mache Mäd
Männer können chen Sachen, also muss ich ein Mädchen sein‘“,
sagt Vilain. Aber diese Vorlieben müssen nicht
lange Haare haben, bedeuten, dass er um seine Identität ringt. Von
den Eltern eines solchen Jungen wünscht sich
Tanz oder Oper Vilain, dass sie diesem vermitteln, dass er alle
mögen, Kleider tra - möglichen Dinge tun kann, die Mädchen tun,
dass das aber nicht zwangsläufig heißt, dass er
gen und Männer ein Mädchen ist.
lieben – aber das Entscheidend für Psychologen und Ärzte sei
letztlich, ob der der Wunsch eines Kindes, ein
heißt nicht, dass sie anderes Geschlecht zu haben, dauerhaft, gleich
Frauen sind.“ bleibend und nachdrücklich sei, sagt Jean Mal
pas vom Ackerman Institute. Bei vielen Kindern,
Eric Vilain, Gender-Forscher die in seine Klinik kommen, sei dies gegeben:

52 national geographic • january 2017

 Henry (l.), sechs Jahre alt, wurde bei der Geburt als männlich identifiziert, doch
er empfindet sich als „genderkreativ“ und drückt sich durch einen einzigartigen
meldet, um ihm zu helfen, die Worte zu finden, die seine Gefühle beschreiben.
„Sie fühlen sich seit Langem so und ändern ihre
Meinung nicht.“
Auch die amerikanische Autorin Marlo Mack,
die ihre Podcasts und Blogeinträge unter einem
Pseudonym publiziert, um die Identität ihres
Kindes zu schützen, hat eine solche Geschichte
erlebt. Im Alter von drei Jahren bestand ihr
Sohn plötzlich darauf, ein Mädchen zu sein.
Irgend etwas sei in ihrem Bauch schiefgegangen,
rum, es wieder in den Bauch aufzunehmen und
zu „überarbeiten“.„Ich habe ihm immer wieder
gesagt, er könne weiter ein Junge sein und mit
so vielen Puppen spielen, wie er wolle, und an
ziehen, was er wolle: Kleider, Röcke und allen
Glitzerkram, den er kriegen kann“, sagt Mack in
ihrem Podcast How to Be a Girl. „Aber mein
Kind sagte: ‚Nein, auf keinen Fall. Ich bin ein
Mädchen.‘“
Nach einem Jahr, in dem es beiden „mise
bel“ ging, ließ Mack ihr damals vierjähriges Kind
einen Mädchennamen wählen, unter dem es
dann auch die Vorschule besuchte. Die düstere
Stimmung, die schon länger auf der Familie las
tete, war wie weggeblasen. In einem Podcast, den
sie zwei Jahre später veröffentlichte, berichtete
Mack, ihre Transgender Tochter liebe es, ein
Mädchen zu sein: „mehr als jedes andere Mäd
chen auf der Welt“.
Vilain bringt manche Transgender Aktivisten
gegen sich auf, weil er nicht jedes Kind, das lieber
ein Mädchen oder ein Junge sein will, darin er
mutigt. Dabei wolle er sich nur für ein breites
Spektrum an Ausdrucksformen des Geschlechts
einsetzen, betont er. „Das können Jungen oder
Männer sein, die lange Haare haben, Tanz und
Oper mögen, Kleider tragen und Männer lieben
– aber das heißt nicht, dass sie deshalb Frauen
sind. Oder Frauen, die sich den Kopf rasieren,
Hosen tragen und sich für Physik interessieren
– aber das heißt nicht, dass sie Männer sind.“
An diesem Punkt wird die Sache dann noch
ein wenig komplizierter. Junge Menschen wie
Macks Tochter oder E aus New York müssen ir
gendwann Entscheidungen treffen, die ihre Ge
sundheit und ihr Glück für die nächsten 50 Jahre
beeinflussen werden. Und diese Entscheidungen
führen sie geradewegs hinein in den Strudel der
sich ver ändernden Gendernormen.
es ist deshalb wahrscheinlich gut, nichts
zu überstürzen. E sieht sich inzwischen auf dem
Weg zum Transmann, hat Menschen in ihrem
Umfeld gebeten, das Pronomen „they“ zu ver
wenden, und denkt darüber nach, Hormone zu
nehmen und auch physisch zum Mann zu wer
den. Eine große Entscheidung für einen knapp
15 jährigen Teenager. E will sich deshalb ein wei
teres Jahr Zeit geben, um sich über alles klar zu
werden.
Als Kind des 21. Jahrhunderts hat E die Frei
heit, seinen/ihren Platz im Genderspektrum zu
finden. Gleichzeitig ist in den westlichen Gesell
schaften die Frage des Geschlechts für die große
Mehrheit der Menschen immer noch eine Entwe
der oder Frage, was dazu führt, dass sich viele
Transmenschen trotz der neuen Freiheiten und
Möglichkeiten ausgegrenzt fühlen. Wie würde
E sich wohl in einer Kultur fühlen, in der ein wei
teres Geschlecht neben Mann und Frau fest eta
bliert wäre?
Solche Orte gibt es überall auf der Welt: In
Südasien wird ein drittes Geschlecht hijra ge
nannt, aber auch in Nigeria (yan daudu), Mexiko
(muxe), Samoa (fa’afafine), Thailand (kathoey),
Tonga (fakaleiti), Hawaii (mahu) und bei einigen
indigenen Gruppen Nordamerikas (two-spirit)
existiert dieses Phänomen. Diesem dritten Ge
schlecht gehören gewöhnlich anatomisch männ
liche Personen an, die sich feminin verhalten
und sexuell meist zu Männern hingezogen füh
len. Der umgekehrte Fall ist seltener, kommt aber
zum Beispiel in Albanien (burrnesha) und in Sa
moa (fa’afatama) vor.
Der Psychologieprofessor Paul Vasey von der
University of Lethbridge in Kanada reist so oft
geschlechterfragen 53
Als Trinity Xavier Skeye vier Jahre alt war, hörte
sie auf zu sprechen, zerkaute die Jungskleidung
und sagte, sie wolle sich den Penis abschnei
den. Ihre Eltern brachten sie zu einem
ten, der fragte: „Wollen Sie ein glückliches
Mädchen oder einen toten Jungen?“ Trinity
ist inzwischen zwölf und nimmt
blocker. Sie ist die erste Minderjährige im
US Bundesstaat Delaware, deren Behandlung
von der Gesundheitsfürsorge bezahlt wird.

54 national geographic • january 2017

Hunter Keith, 17, aus dem US-Bundesstaat Michigan wurde als Mädchen geboren.
Seit der fünften Klasse fühlt er sich als Junge, in der achten erzählte er es
seinen Eltern. Zwei Wochen bevor dieses Foto entstand, wurden ihm die Brüste
entfernt. Jetzt genießt er es, mit nacktem Oberkörper Skateboard zu fahren.
nach Samoa, dass er dort einen Wohnsitz und
einen Freundeskreis hat. Vasey ist selbst homo
sexuell und interessiert sich für die fa’afafine von
Samoa, weil es seiner Ansicht nach keine Gesell
schaft auf der Welt gibt, an dem ein drittes Ge
schlecht so umfassend anerkannt wird. Seit 13
Jahren führt Vasey auch eine Beziehung zu ei
nem fa’afafine namens Alatina Ioelu.
Was den Psychologen an dem Thema des drit
ten Geschlechts so fasziniert, ist die Möglichkeit,
ein wenig Licht auf das „evolutionäre Paradox“
der männlichen Homosexualität zu werfen. Wa
rum sind fa’afafine, die so gut wie nie eigene Kin
der haben, trotzdem offenbar in der Lage, die
Gene weiterzugeben?
Vasey besucht die 29-jährige Lehrerin Jossie,
die in einem Dorf etwa eine Stunde von der
Hauptstadt Apia entfernt lebt. In ihrer Familie
gibt es seit je viele fa’afafine. Ihr Onkel Andrew
zum Beispiel, ein pensionierter Krankenpfleger,
nennt sich Angie.
Vasey verfolgt zwei Hypothesen, um das evo
lutionäre Paradox zu erklären.
Die erste Hypothese der sexuell antagonisti
schen Gene geht davon aus, dass Gene, die für die
sexuelle Anziehung zu Männern verantwortlich
sind, verschiedene Auswirkungen haben – je nach
Geschlecht des Trägers. Während Männer, die
die Gene tragen, einen reproduktiven Nachteil
haben (sie paaren sich ja nur selten mit Frauen),
könnte das Gen bei Frauen für eine erhöhte
Fruchtbarkeit sorgen. Vasey und seine Kollegen
haben herausgefunden, dass die Mütter und
Großmütter mütterlicherseits von fa’afafine
mehr Kinder haben als die Mütter und Groß
mütter von heterosexuellen Männern in Samoa.
Die Forscher entdeckten keine vergleichbaren
Hinweise bei Großmüttern väterlicherseits –
oder bei den Tanten von fa’afafine.
Die zweite Hypothese der Verwandtenselek
tion ist eine umstrittene Erweiterung der Theorie
der natürlichen Auslese und besagt, dass der
Fort bestand einer familiären Linie gefördert
56 national geographic • januar 2017
wird, wenn Menschen ihren Verwandten beim
- Auf ziehen ihrer Nachkommen helfen. Im Fall der
fa’afafine bedeutet das, dass Männer mit homo -
- sexuellen Neigungen Zeit und Geld in die Erzie -
- hung ihrer Nichten und Neffen investieren und
es damit laut Vasey wahrscheinlicher machen,
- dass diese Verwandten dritten Grades sich ver -
mehren und so einen Teil der Erbinformation der
- fa’afafine weitergeben.
Vaseys Forschungsassistentin, die 42-jäh-
rige fa’afafine Trisha Tuiloma, sorgt mit ihrem
- Gehalt zum Beispiel für Lebensmittel, Aus -
- bildung, kleine Geschenke und sogar den
Strom für acht Nichten und Neffen. In sei-
nen Untersuchungen fand Vasey heraus, dass
fa’afafine den Kindern ihrer Geschwister – ganz
besonders den jüngsten Töchtern ihrer Schwes -
tern – mehr Zeit, Geld und emotionale Unter -
stützung widmen als heterosexuelle Männer
oder Frauen in Samoa.
Vaseys 38-jähriger Partner Alatina Ioelu ist
- wesentlich männlicher als die meisten fa’afafine:
groß, breitschultrig, mit einem offenen Gesicht.
- Wie Vasey trägt er Cargoshorts und T-Shirt.
Vasey und Ioelu wollen heiraten und sich eines
Tages in Kanada niederlassen, und an die-
sem Punkt wird deutlich, wie tief die Vorstel -
lungen von Geschlecht doch in einer Kultur
verwurzelt sind. „In Kanada würden wir als nor -
males gleichgeschlechtliches Paar wahrge -
nommen werden“, sagte Vasey. Bei einem Um -
zug aus der Südsee nach Nordamerika würde
sich Ioelus Geschlechtsklassifikation ändern –
vom fa’afafine zum schwulen Mann. Und alles,
- was er dafür tun muss, ist, eine Grenze zu über -
schreiten. j
Aus dem Englischen von Karin Rausch
Robin Marantz Henig schreibt unter anderem für das
-
The New York Times Magazine und hat für N ATIONAL
G EOGRAPHIC zuletzt die Titelgeschichte der Juni-Aus -
gabe 2016 geschrieben, in der sie neue wissenschaft -
liche Erkenntnisse über das Sterben zusammenfasste.
geschlechterfragen 57
Der Mann im Kinde: Drew
Moore sammelt Luftgewehre
und Pistolen. In seiner Ge -
meinde im US-Bundesstaat
Arkansas ist das kein außer -
gewöhnliches Hobby für einen
Elfjährigen. „Es ist nicht so,
dass wir Männer, die nicht auf
die Jagd gehen, nicht mögen
würden“, sagt Drews Stief -
mutter Callie, „aber wir mögen
ganz sicher die, die es tun.“

58
 Die
Reifeprüfung
Wie wird ein Junge im 21. Jahrhundert
zum Mann? In manchen
Kulturen müssen Teenager noch heute
strapaziöse Rituale überstehen.
Aber wie werden Werte
in unserer Gesellschaft vermittelt?
Fliegende Fäuste: Bei den
Venda im Nordosten Südafri
kas messen sich Jugendliche
in musangwe, dem
nellen Boxen. Schon neunjäh
rige Jungen lassen dabei
ihre Aggressionen raus. Er
wachsene beaufsichtigen die
Kämpfe und achten darauf,
dass die Gewalt nicht ausufert.

60
62
 Blutiger Alltag: Lorenz Rehse,
12, hilft seinem Vater Gösta
beim Ausnehmen eines Rehs.
Die Familie betreibt eine Jagd -
schule auf dem Gut Gischow
in Mecklenburg-Vorpommern.
Lorenz ist immer bei der
Jagd dabei, kennt sich mit
Waffen aus und angelt gern.

FOTO: JOZEF KUBICA

Text: Chip Brown
Fotos: Pete Muller

Shadrack Nyongesa
ist 14 und weiß, dass
im Morgengrauen ein
Messer auf ihn wartet.
Den ganzen Tag schon tanzt der Junge vom
kenianischen Bukusu-Volk unter einem Mango -
baum, der vor dem Haus seines Vaters steht.
Immer wieder schlägt er zwei mit Federn ge -
schmückte Kuhglocken gegen Metallbänder, die
seine Handgelenke umschlingen. Freunde und
Angehörige umringen ihn, schwingen Stöcke
und singen Lieder über Frauen, Mut und Alko -
hol. Shadrack hatte darum gebeten, sich der
sikhebo unterziehen zu dürfen, der traditionellen
Beschneidungszeremonie, die bei den Bukusu
den Übergang vom Kind zum Mann darstellt.
Bei Sonnenuntergang ist die Festgesellschaft
auf gut 50 Gäste angewachsen. Männer sitzen bei
Laternenlicht in den Hütten und trinken Mais -
bier. Um halb neun stellen sie sich im Kreis um
die Innereien einer frisch geschlachteten Kuh
auf. Shadracks Onkel schneidet den aufgedunse -
nen Magen auf und holt mit der bloßen Hand
grünliche, halb verdaute Futterreste heraus. zu sein – und warum man die Stammes ältesten
Dann geht er zu seinem Neffen. und die Frauen unbedingt respektieren müsse.
„In unserer Familie hat noch nie jemand Angst Er bekommt Mehl, Hühner und etwas Geld ge -
gehabt!“, ruft der Mann. „Nimm Haltung an!“ schenkt, muss Hohn und Spott ertragen. Gegen
Der Lichtschein einer Taschenlampe fällt auf Mitternacht darf er sich kurz hinlegen. Aber
Shadracks Gesicht, seine Augen starren ins schon zwei Stunden später steht er wieder auf,
Leere. Der Onkel wirft ihm die stinkende Masse lässt die Glocken klingen und bewegt sich wie in
an die Brust und verteilt sie auf Gesicht und Trance. Die Gäste – manche sturzbetrunken vom
Kopf. Dann legt er ein Stück Kuhdarm wie einen selbstgebrauten Bier – singen: „Gleich geht die
Schal um Shadracks Hals und schlägt ihm hart Sonne auf! Riechst du schon das Messer?“
auf beide Wangen. „Wenn du zappelst oder
weinst, brauchst du nicht wiederzukommen“, auch ich warte darauf , dass über dem Gro -
sagt der Onkel. „Überquere den Fluss und schrei - ßen Afrikanischen Grabenbruch die Sonne auf -
te weiter voran! Du bist jetzt ein Soldat.“ geht und Shadracks aufregende Reise in die Welt
Für den omusinde – den Unbeschnittenen – der Männer ein glückliches Ende findet. Auch für
gibt es nun kein Zurück mehr. seinen Vater William ist das Ritual von elemen -
In der Nacht tanzt Shadrack weiter. Die Älte - tarer Bedeutung, weil dessen Ansehen in der Ge -
ren erklären ihm, was es bedeute, ein echter Mann meinschaft auf dem Spiel steht. Ich muss an mei -

64 national geographic • Januar 2017

Ein Sommerlager vor den Toren Kiews: Die Kampfausbildung im Camp soll ukrainische Jungen auf
den Militärdienst vorbereiten und den Mädchen ein tiefes Gefühl von Patriotismus einimpfen. „Lass nicht zu,
dass jemand die Ehre deines Landes beschmutzt“, steht auf dem gelben Banner.

nen Vater denken, der kürzlich im Alter von 91
Jahren verstarb, und an meinen 17-jährigen Sohn
Oliver, der in diesem Augenblick 12000 Kilo -
meter entfernt in New York in seinem Bett liegt
(aber vermutlich nicht schläft, sondern Sport -
über tragungen oder Filme guckt). Ich frage mich,
was ich von meinem Vater über das Leben als
Mann gelernt habe und welche Informationen
und Ideale ich an meinen Sohn weitergeben sollte.
Bereits im Mutterleib sind Menschen unter -
schiedlichen Mengen an Geschlechtshormonen
ausgesetzt. Vor allem Testosteron ist dafür ver -
antwortlich, dass sich ein „geschlechtsneutraler“
Embryo zu einem männlichen oder weiblichen
Baby entwickelt. Während der Pubertät steigt der
Testosteronspiegel bei jungen Männern stark an
und geht mit körperlichen Veränderungen ein -
her: Sie bekommen Körperhaare, breite Schul -
tern, Muskeln, ihr Sexualtrieb wird ebenso ver -
stärkt wie die Bereitschaft, Risiken einzugehen.
Shadrack und Oliver sind beide dabei, zu Män -
nern zu werden. Aber sie machen diesen Ent -
wicklungsschritt unter sehr unterschiedlichen
Bedingungen. Shadrack lebt in einer Kultur, in
der die Rollen von Männern und Frauen seit je
klar definiert sind. Oliver hingegen lebt in einer
westlichen Metropole, in der Gleichberechti -
gungsbeauftragte dafür sorgen, dass jeder Person

Männlichkeit 65
Ach, Mann!
Kämpfen, Leiden, Dienen: Im Laufe der Geschichte haben verschiedene
Kulturen viele Rituale entwickelt, die Jungs zu Männern machen sollten.
Die Prüfungen und Praktiken sind ein Zeichen dafür, welche Werte eine
Gesellschaft vertritt und welche Rolle die Männer zu spielen haben.

Sparta Rom England

800 v. Chr. 27 v. Chr. 1600
In Sparta wurden Jungs mit sieben Jahren in Weil es im römischen Imperium irgend - Um zum Ritter zu werden, mussten adlige
Internate geschickt und zu harten, ent - wann mehr Sklaven gab als Bürger, wur - Jugendliche im Mittelalter bei einem
schlossenen Kriegern gemacht. Zur Ausbil - den Jungen schon mit 15 Jahren dazu erfahrenen Kämpfer in die Lehre gehen.
dung gehörten körperliche Züchtigung und gedrängt, zu heiraten und Kinder zu zeu - Erst nachdem sie sich bewiesen hatten,
erotische Beziehungen zu älteren Männern gen. Denn nach der Hochzeit galten sie durften sie dem König die Treue schwören
– so sollte die Kampfmoral gestärkt werden. als Bürger mit entsprechenden Rechten. und in den Krieg ziehen.

Bei den Sambia in Papua- Neuguinea ist
das Initiationsritual ebenfalls sexuell aufge
laden. Die Jungen stecken sich Stäbe
durch die Nase, und müssen andere Männer
oral befriedigen und deren Sperma
schlucken.
In vielen Gesellschaften ist die Ehe - Auf den Trobriand-Inseln im Pazifik ver -
- schließung immer noch ein überwiegend lassen Teenager das Elternhaus und
reli giöses Ritual, das für junge Männer werden von einem Onkel unterrichtet.
den Eintritt ins Erwachsenenalter und die Indem sie sich dieser Tradition unterord -
Übernahme einer anderen sozialen Rolle nen, zeigen sie, dass sie die Ahnen und
darstellt. die Gemeinschaft respektieren.

ungeachtet ihres Geschlechts alle Möglichkeiten
offenstehen, und in der man seine Identität frei
wählen kann – unabhängig davon, was in der Ge
burtsurkunde vermerkt wurde.
Im Gegensatz zu Shadrack kann sich Oliver
nicht an uralten Ritualen orientieren, die ihm
vermitteln, was es bedeutet, ein Mann zu sein.
bilder und
geren, unübersichtlicheren Prozess vermittelt:
TV Serien, Werbung, Social Media Memes, im
ganz normalen chaotischen Alltag. Für Oliver
sind Polizis tinnen ebenso wenig etwas Unge
wöhnliches wie eine Mutter, die ins Büro geht,
während der Vater zu Hause in der Mikrowelle
bilität ermöglicht es uns einerseits, das Leben so
zu leben, wie wir es für richtig halten. Anderer
seits muss mein Sohn selbst herausfinden, was
das ist: ein echter Mann. Manchmal spüre ich,
wie er nach Antworten auf diese Frage sucht,
zum Beispiel wenn er missbilligend zu mir sagt:
„Du schlägst die Beine übereinander wie ein
Mädchen.“ Wenn er unter Leistungsdruck steht
– bei Prüfungen oder auf dem Basketballplatz –,
zeigt er eine stoische Ruhe, die jenem Verhalten
ähnelt, das Shadrack in Kenia eingeimpft wird.
Oliver ist schüchtern und vermeidet, seine Ge
fühle zu zeigen, damit man ihn ja nicht für „un
gegeben, weil er der einzige Junge unter den
Holzbläsern im Orchester war. Wenn er die Bei

66 national geographic • Januar 2017

Hawaii
1700
kommen der Adelsfamilien dem König. Auch
Jungen aus niederen Schichten konnten
eine Position als Krieger oder Priester erlan
gen, wenn sie sich im Kampf hervortaten
oder über Heilkräfte zu verfügen schienen.
Great Plains, USA
1900
Bei den Lakota mussten junge Männer
schmerzhafte religiöse Rituale wie
den Sonnentanz überstehen. Dabei wur
den sie mit Seilen und Haken, die durch
die Haut gestochenen wurden, fixiert und
mussten lange Zeit in die Sonne starren.
Italien und USA
1930
In Sizilien und Chicago etablierten Mafia
banden eine Kultur von Gewalt und Terror.
Der Status eines Mannes hing von seiner
Zugehörigkeit zu einer Gruppe ab. Sie zu
verlassen konnte den Verlust der Männ
lichkeit oder sogar den Tod bedeuten.

In Indien bemühen sich Hindus aus niederen
Kasten, in Ritualen ihre Frömmigkeit und
ihren Mut zu beweisen und so ihren Status zu
verbessern. Bei religiösen Festen gehen sie
barfuß über glühende Kohlen oder kämpfen
mit Stieren.
In Liberia ziehen sich Jungen vom Volk der
Kpelle vier Jahre zurück, um sich in den
Bräuchen unterweisen und beschneiden
zu lassen. Es heißt, dass die Götter die
Rituale erschufen, um den Männern über
natürliche Kräfte zu geben.
Terrororganisationen wie der sogenannte
„Islamische Staat“ verlangen von neuen
Mitgliedern, dass sie extreme Gewalttaten
begehen und traditionellen Werten
wie der Verantwortung für Familie und
Gemeinschaft abschwören.

ne übereinanderschlägt, legt er das Fußgelenk Sozial wissenschaftler an der Stony Brook Uni -
aufs Knie. Seine Idole heißen Michael Jordan versity in New York. Männlichkeit sei „kein Aus -
und George Clooney. Zu seinem 15. Geburtstag druck eines inneren Wesens“, das aus unserer
wünschte er sich einen Anzug. biologischen Konstitution ins Bewusstsein spru -
dele, „sondern werde in unserer Kultur erst er -
wann ist ein Mann ein Mann? Und: Haben sich schaffen“. Auch feministische Wissenschaftlerin -
sogenannte typisch männliche Verhaltenswei - nen vertreten diese Ansicht. Und wenn man über
sen im Laufe der Evolution herausgebildet? Oder Klischeevorstellungen der Geschlechterunter -
ist alles irgendwie Erziehungssache? Was ist schiede nachdenkt – Männer essen am liebsten
mächtiger: Kultur oder Biologie? Die Natur- und blutiges Fleisch, Frauen verstehen die Abseits -
Geisteswissenschaften kennen keine klaren, ein - regel nicht – dann klingt das nachvollziehbar.
fachen Antworten auf diese Fragen. Die Debatte Aber viele Eltern werden sich fragen, ob hinter
wird seit je von persönlichen und politischen manchen Verhaltensweisen ihrer Kinder, die ih -
Überzeugungen geprägt. nen niemand vorgemacht hat, nicht mehr steckt
Männer werden nicht geboren, sondern ge - als nur die Sozialisierung. Mein Sohn Oliver zum
macht, meint zum Beispiel Michael Kimmel, Beispiel spielte schon (weiter auf Seite 72)

DANIELA SANTAMARINA, NGM. ILLUSTRATIONEN: VIKTOR MILLER GAUSA. Männlichkeit 67

QUELLE: GILBERT HERDT, SAN FRANCISCO STATE UNIVERSITY.
Mehr Kraft: Lucas Winter, 15,
aus Pinneberg trainiert seit ei -
nem knappen Jahr in einem
Crossfit-Center. „Es ist schön
zu merken, dass man stärker
wird“, sagt er, „früher war ich
immer der Kleinste.“ Lucas fin -
det nicht, dass Männer Mus -
keln brauchen: „Jeder muss
wissen, was ihm Spaß macht.“

68
FOTO: JOZEF KUBICA; MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG VON CROSSFIT MYBUDDY
(WWW.CROSSFITMYBUDDY.COM)
Zum Anbeißen: Schüler aus
Marblehead im US-Bundes -
staat Massachusetts verbrin -
gen einen lustigen Abend in
der Pizzeria. In westlichen Ge -
sellschaften gibt es immer
weniger feste Rituale. Manche
Jungen sind deshalb unsicher.
Die zentrale Frage: „Was den -
ken die Mädchen über mich?“

70

bällen, Tennisbällen, sogar mit Knäueln aus
Malerkrepp. Seine Schwester India hingegen in
szenierte bereits im Kindergartenalter lange,
komplizierte Dialoge mit ihren Puppen.
„Die geistigen Eigenschaften von Männern
und Frauen sind nicht identisch“, schreibt der
Harvard Psychologieprofessor Steven Pinker in
seinem Buch „Das unbeschriebene Blatt“. Zum
Beispiel schneiden Männer beim sogenannten
Mentalen Rotationstest, bei dem man zwei oder
dreidimensionale Objekte im Geist drehen muss,
besser ab als Frauen. Diese Fähigkeit zählt zu den
wenigen, bei denen ein grundsätzlicher, nicht
anerzogener, geistiger Unterschied zwischen den
Geschlechtern nachweisbar ist. Aber ist das wirk
tionsdrucks, der aus der Konkurrenz um Res
sourcen und Paarungspartner entsteht? Jungs,
das zeigen Studien, sind zumindest körperlich
aktiver als Mädchen und häufiger mit Rauf und
Kampfspielen beschäftigt. Zwar spielen auch
sie mit Puppen, dabei ist aber die Wahrschein
lichkeit groß, dass so Kämpfe simuliert werden,
wie Joe Herbert, ein emeritierter Professor für
Neurowissenschaften der Universität Cambridge,
beobachtet hat.
Manche aggressiven Verhaltensweisen hän
gen womöglich mit dem Testosteronspiegel zu
sammen, der ab dem zehnten Lebensjahr an
steigt und seinen Höhepunkt kurz vor dem 20.
Geburtstag erreicht; bei Jungen liegt er in der
Regel mehr als zehnmal höher als bei Mädchen.
Eine Studie, die 2013 im Journal of Cognitive
Neuro science veröffentlicht wurde, untersuchte
die Verbindung zwischen der Höhe des Testoste
ronspiegels und der Risikofreude von Teenagern.
In einem Videospiel mussten die Probanden da
bei Pixel Ballons mit einem Pumpmechanismus
aufblasen. Hatten sie Erfolg, wurden sie mit ei
nem Geldbetrag belohnt. Platzte ein Ballon, was
nach dem Zufallsprinzip geschah, verloren sie
den Gewinn. Wie sich herausstellte, korrelierte
ein erhöhter Testosteronspiegel sowohl bei Jun
freude. Obwohl es sie Geld kostete, suchten die
Jungs den Nervenkitzel durch die platzenden
72 national geographic • Januar 2017
Ballons, während die risikobereiten Mädchen
versuchten, ihre Gewinne zu sichern.
In seinem Buch Testosterone beschreibt der
Neurowissenschaftler Joe Herbert das Hormon
als „die Wurzel dessen, was wir als ‚Männlichkeit‘
rüber, was „typisch männlich“ ist, auseinander
gehen, ist der Einfluss von Testosteron auf
die körperliche Entwicklung eindrucksvoll. Das
sieht man an Menschen besonders deutlich, die
eine genetisch bedingte Androgenresistenz auf
weisen: Die Betroffenen werden zwar mit einem
Y Chromosom geboren, weil ihr Organismus je
doch kein Testosteron verarbeiten kann, entwi
ckeln sie weibliche Körpermerkmale wie glatte,
unbehaarte Haut, schwachen Körpergeruch und
den Ansatz einer Vagina. Und sie fühlen sich
inneren und weder Eierstöcke noch Gebärmutter
haben, können sie keine Kinder bekommen.
im westen kenias macht sich Shadrack bei Ta
gesanbruch auf den Weg zum nahe gelegenen
Fluss Chwele. Dabei wird er nicht nur von den
kulturellen Normen der Bukusu angetrieben,
sondern auch von den Hormonen, die durch sei
ne Blutbahn jagen. Etwa 30 Männer und Jungen
begleiten ihn, und auch ein paar vorlaute Mäd
chen haben sich nicht vertreiben lassen. Um 6.45
Uhr nehmen sie Shadrack die Glocken und die
Metallarmbänder ab. Der Junge legt seine hell
braunen Shorts ab und watet in ein sumpfiges
Gewässer hinein. Sein Onkel folgt ihm. Versteckt
im Schilf wäscht Shadrack sich den Kuhdung ab
und bereitet sich auf den Höhepunkt der Zere
monie vor. Als er aus dem Wasser herauskommt,
ist er von dunkelbraunem Schlamm bedeckt. Auf
dem Kopf trägt er ein Grasbüschel – wie ein Kie
bitz seine Haube.
Die Männergruppe eilt jetzt zurück zum Dorf.
Dabei singen sie die Bukusu Hymne sioyayo, in
der die Beschneidung gefeiert und das Volk der
Luo beleidigt wird (bei den Luo werden einem
Jungen beim Eintritt ins Mannesalter statt der
Vorhaut ein paar Zähne entfernt). Die Männer
singen: „Wer sich vor der Beschneidung fürchtet,
soll ins Luo Land gehen.“ Vor dem Haus von
Shadracks Vater wartet eine große Menschen
menge. Shadrack geht strammen Schrittes in den
Hof und stellt sich auf ein Stück Pappe. Er blickt
nach Westen und stemmt theatralisch die linke
Hand in die Hüfte. Der Mann mit dem Messer
kauert sich vor ihn. Nach wenigen Sekunden ist
es vorbei. Shadrack hat nicht mit der Wimper
gezuckt. Als der Operateur mit einem Pfiff das
Ende der Prozedur besiegelt, jauchzen Shadracks
Tante und seine Mutter vor Freude auf. Vater,
Onkel und andere Männer kommen neugierig
näher, um das Ergebnis aus nächster Nähe zu
begutachten. Zitternd – vielleicht noch unter
Schock – setzt Shadrack sich hin, und wird von
Frauen in bunte Tücher gehüllt.
Nach der Initiationszeremonie steht den jun
gen Männern bei den Bukusu vier Monate lang
ein Betreuer zur Seite, der ihnen beibringt, wie
man jagt, eine Hütte baut und zu einem Krieger
wird. Es gibt auch heute junge Männer, die sich
diesem traditionellen Männerunterricht unter
ziehen, aber Shadrack wird bald wieder zurück
in die Schule gehen. „Man kann sich auch in
der Schule kämpferisch geben“, sagt Simiyu
Wandibba, Professor für Anthropologie an der
Universität Nairobi und selbst ein Bukusu. „Man
kann die traditionellen Tugenden so gestalten,
dass sie sich für das moderne Leben eignen.“
Shadrack genießt nun gewisse Privilegien und
wird mit neuem Respekt behandelt. Er wird nicht
mehr zum Wasserholen oder Brennholzsammeln
geschickt. Er schläft nicht mehr im Haus seiner
Mutter, sondern hat eine eigene Hütte auf dem
Familienanwesen. Und die Frauen nehmen beim
Kochen Rücksicht auf seine Vorlieben. In weni
gen Monaten wird er eine weitere Zeremonie ab
solvieren und dann den Übergang vom omusinde
zum omusani abschließen; erst dann gilt der
14 Jährige offiziell als erwachsener Mann.
in einer woche habe ich fünf Beschneidungen
bei den Bukusu beobachtet und war zwischen
Entsetzen und Bewunderung hin und hergeris
sen. Ich war entsetzt, weil die Kinder … eben Kin
der sind. Manche omusinde wirkten wirklich sehr
jung und schienen für die Tortur auch weniger
bereit zu sein als der tapfere Shadrack. Kann ein
Jungen werden abgehärtet,
damit sie die klassischen
Männeraufgaben erfüllen
können: Kinder zeugen,
Nahrung beschaffen, die
Gruppe beschützen.
legien gelockt wird und unter großem sozialem
Druck steht, frei darüber entscheiden, ob er sich
der schmerzhaften und potenziell gefährlichen
Operation unterziehen will? Die Bukusu sind
aber natürlich nicht die einzige Kultur, in der
jungen Männern viel abverlangt wird. In Papua
Neuguinea stechen sich die Jungen vom Volk der
Sambia spitze Stöcke in die Nasenlöcher, bis sie
bluten, müssen andere Männer oral befriedigen
und deren Sperma schlucken. Junge Sateré
Mawé im brasilianischen Amazonasgebiet müs
sen ihre Hände in Handschuhe voller tropischer
Riesenameisen stecken, deren Stiche zu den
schmerzhaftesten in der Natur gehören.
Warum nur? In der Geschlechterideologie ei
ner Gesellschaft, sagt der Anthropologe David
Gilmore, „spiegeln sich ihre materiellen Lebens
bedingungen wider“. Wenn die Ressourcen
knapp sind und der Fortbestand der Gruppe ge
fährdet ist, werden Männer abgehärtet, damit sie
die Pflichten erfüllen können, denen Männer seit
Jahrtausenden nachkommen: Kinder zeugen,
Nahrung beschaffen, den Stamm beschützen
und neue Ressourcen und Räume erobern. Ge
walt ist in vielen Kulturkreisen ein Leitmotiv der
Männlichkeit. Und betrachtet man die Krimina
litätsstatistik und die Popularität von Ballerspie
len, Actionfilmen und Kampfsport bei uns, muss
man feststellen, dass sich Männer auch für
Gewalt begeistern, wenn sie im Überfluss leben.
Was muss sich ändern, damit Männlichkeit nicht
länger mit Härte und Gewalt assoziiert wird?
Andererseits sehe ich auch die Vorteile des
Bukusu Rituals: Die Gesellschaft gibt ihren
Mitgliedern einen eindeutigen, markierten Weg
Männlichkeit 73
74
Volle Konzentration: Vor dem
Haus von Sadik Musas Familie
in Kenia haben sich die Dorf -
bewohner versammelt, um bei
der Beschneidung des Jungen
zuzusehen. Mit entschlosse -
nem Blick und ohne eine Re -
gung zu zeigen, erträgt Sadik
das Ritual, das ihn zum Mann
machen und ihm Respekt ver -
schaffen soll.
vor. Nachdem Shadrack alle Schritte des Rituals
überstanden hat – und den Schnitt – hat er zwar
das Recht auf sein Lieblingsabendessen, seine
neue Stellung ist jedoch auch mit neuer Verant -
wortung verbunden. Manche Bukusu sind der
Meinung, dass man durch das Ritual unter ande -
rem Demut lerne: „Wenn sie buchstäblich mit
Scheiße nach dir werfen, weißt du, dass du alles
ertragen kannst, was das Leben für dich bereit -
hält“, sagt der Journalist Daniel Wesangula. Und
da ist das Gemeinschaftsgefühl unter den bako -
ki, der Gruppe von Jungen, die zur gleichen Zeit
beschnitten wurden. „Bakoki sind Freunde fürs
Leben“, sagt Wesangula. „Sie werden irgendwann
deinen Sarg tragen und dein Grab ausheben. Und
wenn du dich nicht benimmst, schicken deine
Eltern einen bakoki, damit er dich zur Räson
bringt.“
76 national geographic • Januar 2017
mein vater hat mir nicht beigebracht, was
einen Mann zum Mann macht. Er hat mir kein
peinliches Gespräch über Blumen und Bienen
aufgezwungen und hat mir auch nicht gezeigt,
wie man ein Wildschwein absticht. Eigentlich
habe ich keine Ahnung, welche Erlebnisse und
Ideen mich zu dem Mann gemacht haben, der
ich heute bin; und warum ich manche Dinge
noch immer nicht beherrsche – wie zum Beispiel
eine Lampe anschließen oder eine Auster aus der
Schale lösen. Ich frage mich, ob es nicht auch an
mir liegt, dass mein Sohn nicht genau weiß, was
es bedeutet, ein Mann zu sein – weil ich diese
Tradition der unstrukturierten Selbstfindung an
die nächste Generation weitergebe. Brauchen
auch Atheisten in westlichen Gesellschaften ein
Ritual, das den Übergang vom Kind zum Erwach -
senen markiert?

Der neue Mann: Für
Jungen wie Sadik Musa
ändert sich mit der
Beschneidung alles.
War er zuvor das Kind
seiner Mutter, so ist er
nun der Sohn seines Va
ters. Er wird von
lichen Pflichten entbun
den, wohnt in einer
eigenen Hütte und muss
nicht mehr auf die Groß
mutter hören, sondern
auf den Rat des Vaters.
Während der letzten Lebensmonate meines
Vaters Allan Sandford Brown fragte ich ihn, ob er
bewusst versucht habe, mich auf das Leben als
Mann vorzubereiten. Er sah mich verblüfft an. Ich
fragte ihn, ob er von seinem Vater besondere Lek -
tionen mit auf den Weg bekommen habe. Noch
mehr Verblüffung. Eine klare Antwort habe ich
nicht bekommen, aber ich stelle mir vor, dass
mein Vater vor allem von seiner Zeit in der US-
Marine geprägt wurde. Im Alter von 91 konnte er
sich nicht mehr daran erinnern, welcher medizi -
nischen Behandlung er sich eine Viertelstunde
zuvor unterzogen hatte, aber er wusste noch die
Namen aller Matro sen, mit denen er im Zweiten
Weltkrieg gedient hatte. Mit 19 Jahren überquer -
te er den Pazifik, er navigierte mit einem Sextan -
ten, boxte gegen seine Kameraden und feuerte
vor Okinawa mit einer Pistole auf ein Kamikaze -
flugzeug. Zwei Monate nach dem Atombomben -
abwurf besuchte er Hiroshima und erlebte die
extremsten Folgen der modernen Kriegsführung
– diese Erfahrung verarbeitete er in einem Ge -
dicht, das 1945 gedruckt wurde, die erste Ver-
öffentlichung einer Schriftstellerkarriere.
Nachdem es in meiner Familie keine Rituale
gibt, werden das Männlichkeitsideal und die da -
mit verbundenen Werte wohl vor allem durch Vor-
bilder vermittelt. Einmal erklärte mein Vater ei-
nem meiner Kommilitonen, dessen Eltern eine
Farm in Wyoming hatten, warum er kein Gewehr
brauche, um seine Familie zu beschützen. Er sag -
te: „An dem Tag, an dem ich zu einem Gewehr
statt zu einem Anwalt greife, ist schon alles verlo -
ren.“ In einer Zeit, in der sich Menschen vor Ter -
rorangriffen im Einkaufszentrum fürchten und es
in vielen Regionen der USA erlaubt ist, eine Waffe
in Kirchen und im Hörsaal zu tragen, klingt diese
Einstellung fast naiv, aber sie ge hörte zu ihm. Ich
frage mich, wie ein Ritual aussehen würde, dass
seine Werte und sein Männlichkeits ideal vermit -
telt; mein Vater bewunderte zwei Künstler, den
Humoristen Robert Benchley und den großen
Trompeter Louis Armstrong, wegen „ihres Hu -
mors, ihres Anstandes und ihrer Lebensfreude“.
Ich weiß nicht, wie nützlich für Oliver die Er -
kenntnis ist, dass es Millionen verschiedene De -
finitionen von Männlichkeit gibt und dass es ihm
freisteht, sich eine herauszusuchen. Ich hoffe, er
lernt, welche Verantwortung Männer tragen und
welche Schwächen sie haben, dass er begreift,
was die Biologie vorgibt und welche Regeln und
Routinen kulturell begründet und formbar sind.
Was geschützt und bewahrt werden muss – und
was sich verändern sollte. Ich werde versuchen,
Oliver auf diesem Weg zu helfen. Auch er hat
einen Stammbaum, irgendwo im Nebel der
Vergangenheit. Er könnte Schlimmeres tun, als
sich an den Werten meines Vaters zu orientieren:
Humor, Anstand, Lebensfreude. j
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Unser Autor Chip Brown schrieb für N ATIONAL G EO -
GRAPHIC im Januar 2015 über Sherpas in Nepal. Fotos
von Pete Muller zum Ebola-Ausbruch in Sierra Leone
waren in der Ausgabe vom Oktober 2015 zu sehen.
männlichkeit 77
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scher Pressevertrieb GmbH, Nils Oberschelp (Vorsitz), Christina Dohmann, Dr. Michael Rathje, Am Sandtorkai 74, 20457 Hamburg, als leistender Unternehmer. HRB 95 752.
NEUE VÄTER
IM NORDEN
Text: Clemens Bomsdorf
Fotos: Johan Bävman
Währendman in Deutschlandüber
die fehlende Vereinbarkeitvon
Berufund Familieklagt,genieß en
skandinavischeElterneine gute
Work-Life-Balanceund definieren
die Geschlechterrollenneu.
eine Szene wie au S einem w erbe Spot des
Familienministeriums: Kit Ingwersen betritt ihr
Einfamilienhaus im Kopenhagener Vorort Gen -
tofte. Die 34-Jährige trägt ein Business-Outfit –
hohe Schuhe, schwarzes Oberteil, schwarzer
Rock – und hat tagsüber bei dem Biotech-Kon -
zern Novozymes gearbeitet. „Willkommen zu -
rück! Wie war es im Büro?“, begrüßt sie ihr Mann
Thomas, der Jeans trägt und das Haus gehütet
hat. „Gut. Ich habe Kuchen mitgebracht“, sagt Kit
und lächelt.
Harmonie pur. Aber die Ingwersens gibt es
wirklich. Bei der dänischen Familie hat sich das
klassische Geschlechterverhältnis auch nicht
80
einfach umgedreht (hinter jeder Powerfrau steht
ein Hausmann?), Thomas ist ebenfalls voll be -
rufstätig und teilt sich die Haushaltsarbeit und
Kindererziehung mit seiner Frau. An diesem
Herbsttag hat der Business Performance Analyst
einfach von zu Hause aus ge arbeitet. „Das mache
ich, wenn ein Kind krank ist oder auch einfach
mal so“, sagt er, „das macht vieles leichter für
uns.“ Thomas schätzt es, dass sein Arbeitgeber
ihm vertraut und weiß, dass er seinen Job auch
ohne Kontrolle erledigen wird. „Das ist in Däne -
mark ganz normal“, sagt er. So hat Thomas an
diesem Tag nicht nur eine Auf gabe für seinen
Chef besonders schnell abgeschlossen, weil er
konzentriert und von Kollegen un gestört arbei -
ten konnte, sondern stand den Hand werkern bei
Fragen zur Seite, die gerade das Haus umbauen.
Bald soll jedes ihrer drei Kinder ein eigenes Zim -
mer haben.
auf der ganzen w elt kämpfen Menschen
darum, Privatleben und Beruf zu vereinen und
sich nicht zwischen einer intaktem Familie und
einer dynamischen Karriere entscheiden zu
Der Student Juan Cardenal verbrachte jeweils neun Monate mit Ivo (r.) und Alma:
„Für diese Zeit mit ihnen werde ich immer dankbar sein.“ Alle hier gezeigten Fotos
entstanden im Rahmen eines schwedischen Fotoprojekts (siehe Seite 87).
 -
blad liest vor, Martin Gagner lackiert Fingernägel, und Ola Larsson putzt.

82 national geographic • Januar 2017

Samad Kohigoltapeh fütterte die Frühchen mithilfe einer Spritze, nun wärmt er sie
auf seiner Haut. Seine Frau bleibt auch zu Hause, kann aber nicht stillen.

Väter in Skandina Vi e n 83
 100
Elternzeit in
Skandinavien
und 80
Deutschland
Von Männern 60
genommener
Prozentanteil
40
20 25,8
22,5
8,6
0
Schweden Nor- Däne-
wegen mark
Neben Deutschland hinkt auch Dänemark hinterher,
was Männer betrifft, die bezahlte Vaterzeit in An -
spruch nehmen. Die Arbeitsbedingungen in Skandi
navien erlauben Vätern jedoch, sich später neben
der Arbeitszeit viel um ihre Kinder zu kümmern.
müssen. Nirgendwo ist das einfacher als in
europa, wo es Eltern tatsächlich möglich ge
macht wird, Familie und zwei Vollzeitjobs unter
einen Hut zu bringen – sofern sie die Haushalts
aufgaben gerecht aufteilen und ihr Arbeitsleben
klug organisieren. Klischeehafte Geschlechter
rollen, finden die Ingwersens, sind dabei nur hin
derlich. „Wir wenden beide etwa gleich viel Zeit
zu Hause auf“, sagt Kit. „Thomas kocht, ich erle
dige die Wäsche. Ich sorge für eine gute Planung,
Thomas mäht dafür den Rasen und macht viele
andere praktische Dinge. Das klappt alles ziem
lich gut.“
Es gibt zw Ei g ründ E, warum es im Staate
Dänemark und im übrigen Skandinavien mög
lich ist, die Arbeitsteilung zwischen den Ge
schlechtern derart harmonisch zu regeln. „Das
Angebot an staatlicher Kinder betreuung ist
schon für die Kleinsten gut“, sagt Thomas, der für
die dänische Tochter des Logistikkonzerns DHL
arbeitet, „und die meisten Firmen sowie die Kol
legen sind entgegenkommend, wenn es darum
geht, Job und Familie gerecht zu werden.“ Das
führt zu einer Situation, in der Geschlechterrol
len neu definiert und gelebt werden – auch in
Kultur und Medien. In dem populären schwedi
schen TV Krimi „Wallander“ jagt die
sarin Linda Wallander zum Beispiel Mörder,
während ihr Partner kocht und die Kinder
84 national g Eographic • januar
versorgt. Und die ehemalige dänische Premier
ministerin Helle Thorning Schmidt war laut ih
rem Ehemann, dem britischen Abgeordneten
Stephen Kinnock, „wohl die einzige Staatschefin,
die ihre Wäsche selbst macht“.
Es ist 15 Uhr, als Kit Ingwersen noch einmal ins
Auto steigt, um Celine, 5, und Cornelius, 2, die
jüngeren ihrer drei Kinder, abzuholen. Der sie
8,6 benjährige Sebastian ist gleich nach der Schule
Deutsch- zu Freunden gegangen. Als Kit vor dem Kinder
land
garten „Grønnebakken“ parkt, beginnt es schon
zu dämmern. Das Dach und der Eingangsbereich
des lang gestreckten Hauses sind von Glasfens
- tern und türen durchbrochen, sodass das Ge
bäude strahlt wie ein beleuchtetes Gewächshaus.
In den Fluren liegen Bilderbücher und Stofftiere
verstreut. Jede Kindergruppe hat ihren eigenen
Raum, aber offenbar werden auch die Gänge gern
zum Spielen genutzt. Während Kit zu ihrer Toch
ter Celine geht, stürmen vier Zweijährige so
thusiastisch an ihr vorbei, als hätte ihnen jemand
ein großes Eis versprochen.
Kit hält kurz inne, um in einem Formular zu
bestätigen, dass sie ihre Tochter abgeholt hat:
„Na, Celine, habt ihr schön gespielt heute?“ Das
blonde Mädchen nickt und umarmt seine Mut
ter. Kit bedankt sich noch bei dem Kindergärtner,
der die Gruppe leitet – ein Mann um die 50 –,
geht ans andere Ende des Korridors, wo ihr Sohn
Cornelius wartet, und packt seine Schnuller
sammlung ein: „Der nimmt jeden Tag einen neu
en Schnuller mit. Irgendwann liegt ein ganzer
Haufen im Kindergarten.“
Daheim steht der Rhabarberkuchen schon auf
dem Tisch der Wohnküche. Celine und Cornelius
nehmen sich ein Stück und ziehen sich mit dem
iPad aufs Sofa zurück, um auf YouTube „Spider
man“ Filme zu gucken.
Es ist kurz nach vi Er uhr nachmittags und
fast dunkel; ein langer Winter kündigt sich an.
Für Kit ist es normal, dass sie um diese Zeit schon
zu Hause bei ihrer Familie ist. Sie hat an der Ko
penhagener Wirtschaftsuniversität studiert und
arbeitet als Betriebswirtin bei Novo zymes. Die
Firma stellt Enzyme für die Waschmittel und
Bierproduktion her. „Eigentlich hätte ich bis fünf
2017

Uhr Zeit, um die Kinder abzuholen, aber ich
komme lieber früher nach Hause“, sagt sie. Oft
verbringt sie nur sieben Stunden im Büro. An
manchen Abenden muss sie deshalb Arbeit
nachholen. „Das mache ich aber gern, denn so ist
es für uns alle viel entspannter.“
Ihr Arbeitgeber hat damit kein Problem. „Wir
glauben daran, dass eine eigenverantwort
Arbeitsorganisation den Mitarbeitern wie auch
dem Unternehmen zugutekommt“, sagt Bo Ek
kert Knudsen, Manager im Personalbereich von
Novozymes. Er ist der Meinung, dass Menschen,
die ihr Leben selbst bestimmen können, mit
mehr Freude arbeiten – und das die Qualität
steigert.
Viele dänische Unternehmen werben offensiv
mit der Work-Life-Balance ihrer Mitarbeiter und
mit Programmen, die es Eltern erleichtern sollen,
sich besser um Haushalt und Kinder zu küm
mern. „Für internationale Konzerne ist das ein
immer wichtigerer Faktor, um den Konkurrenz
kampf um die besten Mitarbeiter zu gewinnen“,
sagt Edith Jakobsen, die Arbeitsmarktchefin der
Gewerkschaft Djøf. In einer Studie aus dem April
2016 gaben zwei Drittel der mittelgroßen und
großen dänischen Unternehmen an, dass neue
Mitarbeiter sich viel stärker als noch vor zehn
Jahren dafür interessieren, wie ihr Arbeitgeber
ihnen hilft, Arbeits- und Privatleben zu verein
baren – und auf dieser Grundlage auch die Ent
scheidung treffen, wo sie arbeiten wollen.
Jakobsen weist allerdings auch darauf hin, dass
es jedes vierte Mitglied ihrer Organisation immer
noch stressig findet, dem Job wie der Familie ge
recht zu werden.
Auch Thomas Ingwersen genießt die Vorteile
der neuen Arbeitswelt. Er hat einen klassischen
Nine-to-five-Job: „Ich untersuche, wie sich ein
zelne Teile unseres Geschäfts entwickeln. Dafür
brauche ich nur einen Com puter mit Zugang
zum Firmennetz.“ Weil er nur selten an Meetings
teilnehmen muss, ist er flexibel, was Heimarbeit
angeht. „Mein Chef weiß, dass ich zu Hause min
destens so gut vorankomme wie im Büro“, sagt er.
Wenn ein Kind krank wird, übernimmt der El
ternteil die Betreuung, auf dessen Plan keine
dringenden Konferenzen oder Termine stehen.
„Für internationale
Konzerne ist die Work-
Life-Balance ein immer
wichtigerer Faktor im
Konkurrenzkampf um
die besten Mitarbeiter“,
sagt die Frau von der
Gewerkschaft.
liche
In der Regel ist das Thomas. Der Arbeitgeber
- zahlt laut Tarifvertrag am ersten Krankheitstag
des Kindes den Lohn weiter.
Diese Arbeitskultur und die dänische Famili -
enpolitik spielen gewiss eine Rolle dabei, dass in
Dänemark mehr Kinder zur Welt kommen als in
vielen anderen Ländern. Mit ihren drei Kindern
sind die Ingwersens zwar eine Ausnahme, aber
die Geburtenrate liegt in ihrem Land laut Stif -
tung Weltbevölkerung mit 1,7 Kindern pro Fami -
- lie ebenso hoch wie in Norwegen. In Schweden
hat jede Familie im Durchschnitt 1,8 Kinder, in
- der Europäischen Union liegt der Wert bei 1,6
und in Deutschland bei 1,5 Kindern.
wird ein Kind in dänemar K geboren, gibt es
insgesamt ein Jahr gesetzlichen Anspruch auf
Elterngeld und Mutterschutz. Während dieser
Zeit zahlt der Staat das Äquivalent zur Arbeitslo -
senhilfe (maximal rund 2240 Euro pro Monat,
- die versteuert werden müssen). Oft ist zudem
- tarifvertraglich vereinbart, dass der Arbeitgeber
mindestens ein halbes Jahr lang die Differenz
zum vollen Lohn zuschießt. So wird sicherge -
stellt, dass die finanzielle Belastung der Eltern so
- gering wie möglich ist, bis die Kinder in einem
der staatlichen Kindergärten betreut werden.
„Natürlich sind unsere Ausgaben durch die
Kinder gestiegen“, sagt Kit. „Aber wir haben keine
- großen Einbußen beim Einkommen.“ Kit hat bei
allen drei Kindern eine Auszeit genommen. Ihr
Arbeitgeber bietet seinen Mitarbeitern an, das
Elterngeld fast ein ganzes Jahr lang auf das volle
Gehalt aufzustocken.
- Die Betreuung im Kindergarten ist zudem
recht preiswert. In Kopenhagen kostet eine zehn -
- stündige Kinderbetreuung rund 340 Euro im Mo -
nat (inklusive Mittagessen), Geringverdiener
zahlen weniger. „Beim zweiten und dritten Kind
Väter in S Ka n d i n a Vi e n 85
Johan Ekengård kümmert sich immer morgens um seine Kinder Tyra, Stina und

86 national geographic • januar 2017


wird es günstiger“, erzählt Kit. Laut dänischer
Statistikbehörde werden 95 Prozent der Kinder
im Alter von eins bis fünf tagsüber außer Haus
betreut. Auch deshalb wird hier niemand als Ra
benmutter oder -vater beschimpft, wenn er seine
Kinder in die Kita bringt.
In den nord Ischen Nachbarländern sieht die
Situation ähnlich aus. In Norwegen übernimmt
der Staat bis zu einem jährlichen Gehalt von etwa
61000 Euro die volle Lohnfortzahlung während
der knapp ein Jahr währenden bezahlten Eltern
zeit. In Schweden sind es 77 Prozent bei einem
Einkommen bis rund 45000 Euro, wobei auch
dort viele Arbeit geber auf das Elterngeld noch
ein bisschen drauflegen.
Größer sind die Unterschiede , wenn es darum
geht, den Vater zu einem Teil der Elternzeit zu
verpflichten. In Dänemark musste Thomas zum
Beispiel nur zwei Wochen direkt nach der Geburt
freinehmen, den Rest der Elternzeit konnte Kit
für sich beanspruchen. In Norwegen hingegen
muss jedes Elternteil mindestens zehn Wochen
der bezahlten Elternzeit nehmen, damit die volle
Leistung nicht verfällt. Und in Schweden sind es
sogar jeweils drei Monate der insgesamt 480
Tage Elternzeit, die nicht zwischen Vater und
Mutter hin- und hergeschoben werden können.
In Nordeuropa stehen daher vor allem junge
Eltern mit etwas höherem Einkommen besser da
als in Deutschland, weil Arbeitgeber die staatli
chen Leistungen aufstocken und die maximal
ausgezahlten Beträge höher sind. Zwar wird mitt
lerweile auch in Deutschland recht lange Eltern
geld bezahlt – 14 Monate, wenn beide Elternteile
mindestens zwei Monate in Anspruch nehmen.
Allerdings werden in der Regel nur rund zwei
Drittel des regulären Lohns ausgezahlt – und ma
ximal 1800 Euro netto pro Monat.
Ganz zu schweigen davon, dass es in Deutsch
land in vielen Branchen immer noch kritisch be
urteilt wird, wenn sich Männer intensiv um ihre
Kinder kümmern wollen und dafür eine längere
Auszeit nehmen. Viele Männer haben zudem
Angst, mit diesem Schritt ihrer Karriere zu scha
den. In Skandinavien wird es als positiv betrach
tet, wenn sie ihre kranken Kinder pflegen oder
In Dänemark geben
arbeitern einen großen
Freiraum – auch zum
eigenen Nutzen. „Das hilft
uns dabei, die tüchtigsten
-
Leute und die jungen
Talente zu finden und an
uns zu binden“, sagt ein
Personalverantwortlicher.
- sich anders für die Familie engagieren – und das
gilt für Akademiker wie Arbeiter. „Die Mütter in -
vestieren immer noch mehr Zeit für ihre Kinder,
aber die Väter holen auf“, sagt Edith Jakobsen
von der Gewerkschaft Djøf. „Vätern eine wichti -
gere Rolle zukommen zu lassen wird in der Zu -
kunft noch wichtiger.“
n ach der Geburt von Sebastian nahm Tho -
mas sich insgesamt drei Monate bezahlte Eltern -
zeit bei vollem Gehalt, Kit den Rest. Bei den
anderen beiden Kindern setzte er nur zwei Wo -
chen direkt nach der Geburt und während der
langen Sommerferien aus, Kit hingegen jeweils
ein Jahr lang. Und weshalb blieb der Mann nicht
länger zu Hause? „Weil die Mutter ein ausgepräg -
tes Bedürfnis hatte, bei den Kindern zu sein“,
antwortet Kit und schmunzelt.
Für Thomas war das kein Problem – schließ -
- lich hat er jetzt als Vater viel von Sebas tian, Ce -
line und Cornelius. Die gesetzliche Elternzeit ist
- also nur ein Argument dafür, die Familienarbeit
- zu teilen; die Zeit, die Eltern dank flexibler Ar -
beitgeber darüber hinaus mit ihren Kindern ver -
bringen können, ist mindestens so wichtig. j
-
Die Geburt seines Sohns Viggo war für den Fotografen
Johan Bävman der Startschuss für ein besonderes
- Projekt: Er begleitete Väter in Schweden, die sich ent -
- schieden haben, eine längere Elternzeit einzulegen.
So entstanden die hier gezeigten Bilder. Für Bävman
war die Phase mit Viggo eine große Freude: „Ich konnte
intensiv mit ihm zusammen sein und selber erleben,
welche Bedürfnisse ein Kleinkind hat.“ Kein Verständ -
- nis hat er dafür, dass Männer wie er manchmal als
- „Latte-Väter“ bezeichnet werden: „Zum gemütlichen
Kaffeetrinken fehlte mir meist die Zeit.“
Väter I n s k a n d I n a V Ie n 87
 Endlich
Mensch!
Nicole Faerber wurde als Mann erzogen.
Mit 43 Jahren entschied sie sich, als
Frau zu leben. Seit einer Operation weiß sie,
wie sich das richtige Leben anfühlt.

Vor dem Coming-out, sagt Nicole

Faerber, habe sie sich gefühlt,
als müsste sie „Marathon mit einem
Stein im Schuh“ laufen. „Erst als
der Stein raus war, merkte ich, wie
leicht es sich läuft.“

88
Text: Ines Bellinger Fotos: Benno Kraehahn
D ie feinen Lachfältchen an Ni
cole Faerbers Augenwinkeln können sich erst in
den vergangenen drei Jahren gebildet haben, nach
dem Coming out. Vorher, das bestätigen alle, die
sie länger kennen, gab es das nicht, dieses perma
nent glückliche Strahlen. Stattdessen war da eine
unbeschreibliche Last, die Faerbers Innerstes lang
sam, aber unaufhaltsam zu zerdrücken drohte, weil
sie spürte, dass sie nicht länger sein konnte, was
von ihr erwartet wurde: Nils Faerber, ein Mann.
Es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie
viele Menschen in Deutschland sich nicht mit
dem Geschlecht identifizieren können, das in
ihrer Geburtsurkunde steht. Schätzungen gehen
von 200000 Menschen aus, die sich mit dem je
weils anderen Geschlecht identifizieren – wie
Nicole Faerber. Die 46 Jährige lebt in Siegen, lei
tet eine Firma in der Softwarebranche und hat
seit 16 Jahren eine feste Partnerin.
Nicole Faerber ist sehr reflektiert. Jeden Schritt,
den sie auf der langen Reise zu sich selbst gegan
gen ist, hat sie mehrfach hinterfragt. Und auch
jetzt wägt sie ihre Worte genau ab, bevor sie mit
ruhiger Stimme erzählt: von der inneren Zerris
senheit, mit der sie mehr als 40 Jahre lang ge
kämpft hat, von den Zweifeln und der Angst, die
sie vor ihrem Outing als Transfrau gequält haben,
und von der „fast naturgewaltigen Notwendig
keit“, nun auch den letzten Schritt zu wagen: die
geschlechtsangleichende Operation.
90 national geographic • Januar 2017
Nicole Faerber weiß, dass sie ein privilegiertes
Leben führt im Vergleich zu anderen Transmen
schen, deren Familie nach dem Outing zerbricht,
die ihre Freunde verlieren und oft auch den Job
stelle des Bundes ist das bei 15 bis 30 Prozent der
Betroffenen der Fall. Aber auch sie erlebte eine
Phase, von der sie heute sagt, dass ihr Leben in
Gefahr war.
ende der siebziger , Anfang der Achtzigerjahre.
Die Familie Faerber lebte damals in Leverkusen,
mit zwei Söhnen – so dachten die Eltern jeden
falls. Der Jüngere war still und angepasst. Nie
mand kam auf die Idee, dass dieses Kind sich
unwohl fühlte in seiner Haut. Mit acht oder neun
Jahren hatte Nils entdeckt, dass etwas nicht
stimmte und dass es mit Fragen zu tun hatte wie:
Junge oder Mädchen? Autos oder Puppen?
Kampf oder Dialog? Die Gewissheit, dass sich die
weibliche Seite der Welt richtig anfühlte, wuchs,
und zugleich die Überzeugung, dass dies ein Ge
heimnis bleiben musste. Nils war auf fundamen
tale Art und Weise verunsichert. Einige Jungs in
der Schule spürten das wohl, grenzten ihn aus
und attackierten ihn auch körperlich. „Ich ver
einsamte und fühlte mich gemobbt“, erinnert
sich Nicole Faerber an die erste große Krise.
30 Jahre später, nach dem Coming out, wurde
Nicole Faerber von ihrer Mutter gefragt, warum
sie nicht viel früher erzählt habe von ihren Sorgen Petra Kirchner war neugierig statt geschockt. Es
und davon, dass sie als Kind heimlich an den müt reichte ihr nicht, dass dieser eigenartige Mann
terlichen Kleiderschrank gegangen war. „Meine von seiner Vorliebe für Seidenstrümpfe und
Pumps erzählte, sie wollte es sehen. Und sie blieb.
tional“, sagt sie. „Und ich konnte nicht benennen, Heute lachen die beiden darüber, dass Kirchner
was mich innerlich so verwirrte. Das Einzige, was damals ein paar Stücke aus Nils’ Kleiderbestand
Transmenschen bieten können, ist ein Gefühl.“ als „Gardinenensembles“ einstufte. Sie nahm
Die vorläufige Rettung kam Ende der sieb Stilkorrekturen vor, drehte seine langen Haare zu
ten Klasse. Familie Faerber zog in die Pfalz. Das Locken auf und überredete ihn einmal, sich in
Frauenkleidern auf die Straße zu trauen. Danach
rungen in der Pubertät fühlten sich gar nicht so lebten sie in dem stillen Einvernehmen, dass
dramatisch an: Bartwuchs und Stimmbruch Nicole nur im Verborgenen existieren durfte.
setzten erst spät ein. Nils fand endlich ein Milieu, Diesen Schutzraum verließ Nicole Faerber im
in dem er sich wohlfühlte: Computernerds und Oktober 2013. Mit einer befreundeten Transfrau
Querdenker, die die Dinge nicht einfach auf reiste sie nach Dresden, legte die Nils Rolle ab und
das Geschlecht reduzierten. lebte sich in der Anonymität der fremden Stadt
1991 begann er ein Studium aus. Fünf Tage lang trug sie
der Technischen Informatik, Frauenkleider, flanierte durch
zog nach Siegen und hoffte auf
„Das war doch ein Einkaufsstraßen, benutzte Da
einen größeren Freiraum. Er Typ und keine mentoiletten. Wie großartig
nahm sein Leben als Mann zu sich das anfühlte! Ein Erlebnis
Frau“, sagte ein
diesem Zeitpunkt nur noch als auf der Rückfahrt prägte sich
Rolle wahr, die es zu spielen Passant zu seiner besonders ein. Sie hatte an ei
galt, ließ sich die Haare wach Begleiterin.
sen und Ohrlöcher stechen, gemacht und in einem Restau
kaufte Frauenkleider und trug Die meinte nur: rant Kaffee getrunken. Auf dem
sie heimlich in der Wohnung. „Na und?“ Weg nach draußen begegnete
Zum ersten Mal war er bereit, sie einem Paar. Im Vorbei gehen
sich zu offenbaren, in einer E Mail an eine Bera hörte sie, wie der Mann seiner Partnerin zuflüster
tungsstelle für Transmenschen. Als Antwort kam te: „Das war doch ein Typ und keine Frau.“ Und
ein Angebot für ein Treffen in Köln. Aber einem die unbekannte Frau sagte: „Na und?“
anderen Menschen gegenübertreten? Den inne
ren Konflikt sichtbar machen? „Das war für mich pe Tra kirchner komm T aus der küche . Sie hat
zu dem Zeitpunkt ausgeschlossen.“ gekocht – Bandnudeln mit Hühnchen –, und ge
Es dauerte lange, bis Nils für den nächsten lauscht. Nun stellt sie sich hinter ihre Partnerin,
Schritt bereit war. 1999 gründete er seine Firma, legt die Hände auf deren Schultern und drückt das
das Geschäft lief gut, einige ehemalige Studien Gesicht in ihr Haar. Sie war damals mit der Dres
kollegen arbeiteten mit, darunter auch die ein denreise einverstanden; sie hat überhaupt immer
Jahr ältere Petra Kirchner. Diese entdeckte 2001, in alles ein gewilligt, was Nicole Faerber wichtig
dass der in sich gekehrte Nils dieselben Serien war, auch in die Operation, die nun ansteht. „Mein
mochte wie sie: „Star Trek“ und „Akte X“. Die bei einziger Wunsch ist, dass sie glücklich ist“, sagt
den trafen sich zu gemeinsamen Fernsehabenden Petra Kirchner. Aber ist das nicht schwierig, sich
und begannen zu reden. Aus Freundschaft wurde in einen Mann zu verlieben, der eine Frau ist? „Ich
innige Zuneigung. Beide waren bereit, sich auf fand ,Nica‘ auch als Frau schön“, sagt Kirchner.
den anderen einzulassen, mit allen Konsequen „Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Ich bin bi.“
zen. „Petra war die Erste, der ich erzählt habe, was Im November 2013 meldete sich Nicole Faer
mit mir los ist“, sagt Nicole Faerber heute. Und ber in einer Selbsthilfegruppe an und begann,

Transfrau 91
Androgenblocker zu nehmen, Medikamente, die
die Wirkung männlicher Sexualhormone hem
men. „Ich konnte meine innere Gewissheit nicht
mehr vom gelebten Leben trennen“, sagt sie. Diese
Klarheit hatte etwas Elementares, aber sie löste
auch Panik aus: Würde Petra in letzter Konsequenz
zu ihr stehen? Was würden die Eltern sagen? Wür
de sie die Firma in Gefahr bringen? Aber es gab
kein Zurück mehr: „Ich wollte lieber alles riskie
ren, als so wie bisher weitermachen zu müssen.“
An einem Tag im Mai 2014 trommelte Nicole
Faerber die Kollegen zusammen, sagte, was zu
sagen war, schrieb Mails an die Kunden und trat
fortan nur noch als Frau auf: im Businesskostüm,
die Haare auf Schulterlänge gekürzt und kastani
enbraun gefärbt. Statt Ohrsteckern trug sie jetzt
große silberne Kreolen. Die Wimpern tuschte sie
dezent, die Augenbrauen zupfte sie schon lange.
Die Kollegen hatten nichts geahnt. „Ich kannte
Nils schon 25 Jahre, für mich war es ein Schock“,
erzählt Arne Zellentin, ein Teilhaber der Firma.
- Ein Pro blem hatte er vor allem damit, dass Nils
sich nun Nicole nannte. Es ist der Vorname seiner
Partnerin. Aber gute Freunde, und zu denen ge -
hört Zellentin, nennen sie ohnehin „Nica“. Auch
Simon Budig, ein weiterer Kollege, kennt Faerber
- seit dem Studium und wurde durch ihr Coming-
out zum Nachdenken angeregt. „Ich sehe mich als
- emanzipiert, aber gewisse Erwartungen an das
Verhalten von Frauen und Männern stecken in
mir“, sagt er. Seine Chefin tritt zum Beispiel zu -
weilen mit einer Bestimmtheit auf, die Budig als
laut empfindet. „Dann ertappe ich mich, dass ich
mich frage: Würde eine Frau das so machen? Und
- gleichzeitig sage ich mir: So ein Bullshit!“
Von den langjährigen Kunden ist keiner abge -
sprungen. „Aber die Computerbranche ist eine
Männerdomäne, und da habe ich natürlich Verän -
derungen gespürt“, sagt Faerber. Einmal saß sie
mit Zellentin in einem Meeting bei einem großen

So ist die (Gesetzes-)Lage

natio nalen Vergleich als progressiv. Mehr als 30 Jahre später ist der Reformbedarf groß.

Die Voraussetzungen für
lichen Vornamens und/
oder Personenstandes
(männlich/weiblich) in
Deutschland regelt das
Transsexuellengesetz
(TSG). Das Bundesverfas
sungsgericht (BVerfG)
erklärte das TSG mittler
weile in sechs Urteilen
für verfassungswidrig;
unter anderem wurden
der Scheidungs und
Sterilisationszwangfür
Betroffene abgeschafft.
Eine interministerielle Ar
beitsgruppe arbeitet an
Empfehlungen für eine
TSG Reform.ImFe bru ar
soll ein Rechtsgutachten
vorgestellt werden. Ob es
ein neues Gesetz noch in
dieser Legislaturperiode
geben wird, ist ungewiss.
Hauptkritikpunkt ist die
Begutachtungspflicht. Wer
Personenstand oder Vor
name ändern will, muss
einen Antrag beim Amts
gericht stellen. Dieses gibt
zwei unabhängige Gut
achten in Auftrag, die klä
ren sollen, ob die Person
sexuellen Prägung (…) seit
mindestens drei Jahren
unter dem Zwang steht,
ihren Vorstellungen ent
sprechend zu leben“ und
sich dies „mit hoher Wahr
scheinlichkeit nicht mehr
ändern wird“.
Rechtsexperten bewer
ten dies als men
rechtlich nicht haltbar. In
Europa ändern fünf Län
der Personenstand oder
Vornamen bereits auf ein
fachen Antrag: Nor wegen,
Schweden, Dänemark, Ir
land und Malta.
Wer verheiratet ist und
seinen Personenstand än
dert, bleibt verheiratet.
Dies führt dazu, dass in
Deutschland etwas exis
tiert, das es laut Gesetz
eigentlich nicht gibt: gleich
geschlechtliche Ehen.
Das BVerfG hat das juris
tische Geschlecht von
der Körperlichkeit ge
trennt. Es ist möglich, Per
sonenstand oder Vorna
men zu ändern, ohne
geschlechtsangleichende
Maßnahmen zu ergreifen
– und andersherum.
Möglich ist damit auch,
dass ein rechtlicher Mann
ein Kind zur Welt bringt. Ob
er als Vater oder Mutter in
getragen wird, ist strittig.

92 national geographic • Januar 2017 ILLUSTRATIONEN: ANDREAS PUFAL, NGD

Kunden. Als es um die technischen Details ging, genen Jahren ergab, dass dem Gericht in weni
wurde Zellentin angeschaut, bei Verwaltung und ger als einem Prozent der Fälle die Ablehnung
organisatorischen Dingen kam sie ins Spiel. „Das des Antrags empfohlen wurde. Doch Nicole
war eine interessante Erfahrung, denn vor mei Faerber empfindet diese Praxis als Eingriff in die
nem Outing wäre das nicht passiert“, sagt sie. Menschen rechte und wehrt sich. Mithilfe eines
„Heute muss ich mich erst beweisen, um in tech Anwalts hat sie beim Amtsgericht Dortmund
nischen Dingen ernst genommen zu werden.“
Sie hat sich das oft gefragt: Was ist überhaupt gelehnt. Wenn nötig, will sie bis vor das Bundes
männlich, und was ist weiblich? Wie wirke ich
auf andere? Wie sie die Beine übereinander takte, denn sie ist als Aktivistin in der Transszene
schlägt, wenn sie sitzt, wie sie ihr Kinn beim bekannt. Sie leitet eine Selbsthilfegruppe in Sie
Nachdenken nicht auf die Innenfläche der Hand gen, engagiert sich in der Deutschen Gesell
stützt, sondern auf den Handrücken – das sei schaft für Transidentität und Intersexualität
nicht antrainiert, sagt sie. „Das bin hundertpro und im Bundesverband Trans*.
zentig ich. Ich habe Präferenzen, wie ich mich Auf ihrem Firmenschild kann man ablesen,
ausdrücke. Und das wird von den meisten wahr welcher Eintrag noch immer im Handelsregister
scheinlich als weiblich wahrge und in anderen amtlichen Do
nommen.“ kumenten steht: Nils Faerber.
Nicole Faerber spürt , dass
„Das Finanzamt Weil sie manchmal Artikel
manche Menschen beim ersten fordert eine satte schreibt, hat sie es aber immer
Kontakt mit ihr irritiert reagie hin geschafft, auf der Rückseite
Steuernachzahlung
ren. Am Telefon fällt ihre etwas ihres Personalausweises Nicole
dunklere Stimme auf, und sie von Nils Faerber. Faerber als Künstlernamen ein
ist 1,87 Meter groß. Ihr Vater, „Zahlt ja mein tragen zu lassen.
der länger gebraucht hat, bis er Eine Notlösung, die sich
sie mit „Nica“ ansprechen Mann“, sagt Nicole schon oft als hilfreich erwiesen
konnte, hat sie neulich gefragt, und grinst. hat. Nicht jedoch beim Finanz
ob sie gewachsen sei. Sie trug amt, das in jedem Schreiben an
ganz flache Schuhe, als sie neben ihm stand, aber Herrn Nils Faerber in einer Fußnote darauf hin
sie wusste, was er meinte: „Früher war ich mit weist, dass der Vorname erst geändert werden
hängenden Schultern und krummem Rücken könne, wenn dies auch amtlich geschehen sei. So
unterwegs, jetzt stehe ich kerzengerade.“ haarspalterisch sie bei wichtigen Dingen sein
kann, im Umgang mit Alltags problemen pflegt
wer in deu Tschland geschlechtsangleichende Nicole Faerber eine lässige Ironie. „Zahlt ja mein
Mann“, sagt sie mit einer abfäl ligen Handbewe
zahlen soll, muss eine Diagnose über eine gung, nachdem sie einen an Nils Faerber adres
Geschlechts identitätsstörung nach ICD 10, der sierten Brief von der Finanzbehörde geöffnet hat,
internationalen Klassifikation von Krankheiten, die eine satte Steuernach zahlung fordert.
vorweisen. „Psychopathologisierung“, nennt Im Herbst 2016 konzentriert sie sich ohnehin
Faerber das. Lieber heute als morgen würde sie nur auf ein Thema: die anstehende Opera tion, die
auch das Transsexuellengesetz reformiert sehen. vorerst letzte große Veränderung, der letzte
Denn wer seinen Geschlechtseintrag und seinen Schritt. Schon im Juni 2014 hatte sie sich die Ho
Namen in amtlichen Dokumenten ändern will, den entfernen lassen, um die Testosteronproduk
muss bis heute in eine zweifache Begutachtung tion auszuschalten. Der Penis blieb, sie würde
einwilligen (siehe Info Kasten links). damit leben können – dachte sie. Wenig später
Sie könnte das alles über sich ergehen lassen. begann sie mit der Einnahme weiblicher Hormo
Eine Studie zu 3750 Gutachten aus den vergan ne, die ihren Körper langsam veränderten. Diesen

Transfrau 93
Nicole Faerber (r.) und Petra Kirchner vor ihrem Haus in Siegen. „Ich mache Chaos, sie räumt auf“,
sagt Faerber über ihre Partnerin. „Dann finde ich allerdings meine Sachen nicht wieder.“
Körper, zu dem sie ihr Leben lang nicht hatte ste
hen können, der ihr beim Blick in den Spiegel nun
aber zunehmend gefiel. Nur eine Kleinigkeit
musste sich noch ändern. „Irgendwann wurde mir
klar: Das Ding da müssen wir auch mal in Angriff
nehmen.“
Auf den Gang in die Klinik musste sie ein Jahr
warten, aber keine größeren bürokratischen Hin
dernisse überwinden. Sie ist privat versichert, ihre
Krankenkasse forderte weder eine Bescheinigung,
dass sie schon länger unter dem Zwang lebt, zum
anderen Geschlecht zu gehören, noch einen
Nachweis über eine psychotherapeutische Beglei
tung. Lediglich die Kostenzusage und die entspre
chende Indikation musste sie Susanne Krege vor
legen, einer Chirurgin aus Essen, die seit mehr als
20 Jahren derartige Operationen durchführt.
„Anfangs dachte ich, dass da im Jahr vielleicht
zwei, drei Patienten kommen“, sagt Krege. Heute
macht sie die Operation einmal pro Woche. Die
Ärztin weiß, dass der Eingriff für manche Men
schen einer lebensrettenden Maßnahme gleich
kommt. Bei Nicole Faerber war dies nicht der
Fall, aber auch sie konnte es kaum erwarten: Bei
der OP werden die Schwellkörper entfernt, und
aus dem Penisschaft wird eine Vagina gestülpt.
94 national geographic • januar 2017
- Die Eichel wird zu einer Klitoris, das Hodensack -
gewebe zu Schamlippen.
es ist ein trüber donnerstag Anfang Novem -
ber. Nicole Faerbers Operation im Klinikum
Essen-Mitte hat mehr als vier Stunden gedauert,
und Susanne Krege ist zufrieden mit ihrer Pa -
- tientin: „Frau Faerber ist ja eine strukturierte
Persönlichkeit und nicht emotional überladen“,
sagt die Ärztin. „Aber nach der erfolgreichen OP
hat man schon gemerkt, dass sie mit ihren Emo -
tionen kämpfte.“
- Auf der Station liegt Nicole Faerber in ihrem
- Bett. Sie ist noch schwach, es war ein schwerer
- Eingriff. Aber sie freut sich darauf, dass Petra
Kirchner sie bald nach Hause holen wird – und vor
allem ist sie unendlich glücklich. Ihre Stimme
stockt, als sie vom ersten Verbandswechsel er -
zählt. „Als ich das Ergebnis sah, dachte ich, die
Zeit steht still“, sagt sie. „Mit einem Schlag wurde
- mir bewusst, dass es so schon immer hätte sein
- sollen.“ Vollständig fühle sie sich nun, Geist, Ge -
fühle und Körper seien eins. Nicole Faerber, die
sonst immer so ruhig und sachlich ist, wählt große
Worte. Aber das muss so sein, denn es ist ein gro -
ßer Moment: „Jetzt bin ich endlich Mensch!“ j
 Großer Auftritt kostet Geld.

Wissen ist Geld.

Moderne Mädchen
Junge Frauen müssen sich heute mit unwirklich schönen Models
messen und das weitverbreitete Mobbing im Netz überstehen.
Wie sie trotzdem
96 n a t i o n a l
glücklich werden können? Indem sie sich wehren!
•
geographic month 2016
Emma Langley, 13, Camille McCay, 10,
und „Emerald“ Shean, 10, machen auf
einer Farm in Kentucky eine Pause.
Bei einem Mutter-Tochter- Workshop
sollen sie ihren Körper besser kennen
lernen, der sich bald in der Pubertät
stark verändern wird.
story name here 97
97
Die Boxerin Amaiya Zafar, 16, trainiert
jeden Abend in St. Paul, Minnesota,
in einer Turnhalle. Ihr Ziel sind die
Olympischen Spiele 2020. Die gläubi -
ge Mus limin wollte schon mit sechs
Jahren den Hidschab tragen. Beim
Wettkampf ist er nicht gestattet.
98 national geographic • month 2016

98
story name here 99
100
Stephanie Rosales, 18, und
phanie Bastidas, 17, kümmern
sich an einem Samstagnachmittag
in Miami um ihre Babys. Rosales
und Bastidas haben gerade den
Highschool Abschluss gemacht –
an einer speziellen Schule für Teen
agermütter.
102 national geographic • month 2016
Mit ihren sieben Jahren hat Mehayle
Lynnea Elliott schon an etwa
120 Schönheitswettbewerben
genommen. Bei ihr zu Hause in
Humble, Texas, hat sie ein Zimmer
nur für ihre Preise und Porträts.
Sie ist auch in der TV Doku „Toddlers
& Tiaras“ („Kleinkinder und Krön
chen“) aufgetreten.

story name here 103

103
Mina Mahmood, ein 19-jähriges
Plus-Size-Model, postet auf
Selfies und schreibt
über ihr Leben, Feminismus
und ihr Ziel, ein positives Körper-
bild zu verbreiten. Jeden Tag
sie viele Nachrichten:
Menschen finden sie
inspirierend, andere machen sich
über Mina lustig.

104
Text: Tina Rosenberg
Fotos: Kitra Cahana

Alexandra, 22, wohnt in einem grü -

nen Vorort von Dallas zusammen mit
ihren Eltern, Geschwistern und fünf
Hunden. Die Familie rettet Tiere vor
dem Einschläfern aus dem Tierheim.
Alexandra rettet Menschen.
In der Highschool startete Alexandra, die wie einige
andere Personen in dieser Geschichte nur mit Vor
namen genannt werden möchte, gemeinsam mit
Freundinnen einen Blog für selbstmordgefährdete
Jugendliche – und stellte ihre Telefonnummer
ins Netz. Wenn nun ihr Handy klingelte, waren oft
schläge oder machte die Freunde der Anrufer auf
Facebook ausfindig. Manchmal rief sie die Polizei.
Irgendwann erfuhren Erwachsene von dem Pro
jekt und baten sie, damit aufzuhören. Schließlich
könne sie großen Schaden anrichten. „Das war
leichtsinnig von mir“, räumt Alexandra ein. „Ich
hatte ja keine Ausbildung.“ Damals aber fühlte sie
sich als Heldin: „Wahrscheinlich wollte ich ande
ren helfen, weil ich mir selbst nicht helfen konnte.“
Schon in der ersten Klasse hatte Alexandra
angefangen, sich mit ihren Mitschülerinnen zu
vergleichen. Die anderen Mädchen schienen alle
beliebter, hübscher, schlanker oder klüger zu sein
als sie. „Ich wollte jemand anderes sein“, erzählt
Alexandra. „Am Anfang dauerte das Gefühl nur
einen Tag an. Irgendwann konnte ich an nichts
anderes mehr denken.“
Alexandra fühlte sich depressiv und hatte sogar
Suizidgedanken. Alles an ihrem Äußeren missfiel
ihr. In der Theorie wusste sie zwar, dass sie eine
Familie und Freunde hatte, die sie liebten. Sie
hatte“. Aber das war nur die Theorie: „Ich ekelte
mich vor mir selbst.“
Alexandra begann, sich selbst zu verletzen – eine
Strategie, mit der vor allem Jugendliche versuchen,
eisen verbrannte sie sich die Arme, die Wunden
Bei einem Selbsthilfe-Workshop an einer katho -
lischen Mädchenschule in New Orleans sollten
Schülerinnen ein größeres Selbstwertgefühl auf -
bauen. Dabei fertigten sie Collagen an, mit
denen sie zeigen, wie sie das Frauenbild in der
Werbung wahrnehmen. Auf den folgenden
Seiten erklären sie ihre Werke.
JORDAN KLEEHAMMER, 14
„Als Teenager hat man es heute auf jeden Fall
schwerer, weil alle meinen, sie müssten aussehen
wie Magazin-Models. Dabei sind die Bilder
mit Photoshop bearbeitet. Niemand sieht so aus.“

106 national geographic • januar 2017

versteckte sie unter Armreifen. Von der neunten bis
zur zwölften Klasse ließ Alexandra heimlich ganze
Mahlzeiten ausfallen. Sie wollte, sie musste einfach
dünner werden. Dabei war sie eine eifrige Ballett
tänzerin und deshalb ohnehin schlank. „Ich bin vor
einem riesigen Spiegel aufgewachsen“, sagt
Alexandra. Und was sie sah, machte ihr Angst.
im 21. jahrhundert wachsen alle Mädchen vor
einer Art Spiegel auf – dem HD-Bildschirm ihres
Smartphones. Sie blicken auf die funkelnde Glas
fläche, die bunten Icons von Facebook, WhatsApp
und Instagram und erwarten sich Antworten auf
die großen Fragen des Lebens: Wer bin ich? Be
komme ich den Respekt, den ich verdiene? Wer ist
die Schönste im ganzen Land?
Und die meisten denken: Ich bin es sicher nicht.
Junge Frauen standen schon immer unter enor
mem Druck, dem herrschenden Schönheitsideal zu
entsprechen. Mit dieser Situation klarzukommen
ist heute einfacher und schwieriger zugleich. Einer
seits zeigt die Gesellschaft eine größere Toleranz
gegenüber Menschen, die anders aussehen oder
sind. Andererseits bilden die neuen Medien ein
System, das das Leben von jungen Menschen ver
ändert und ihre Unsicherheit verstärkt.
Der Schönheitszwang kann in extremen Fällen
zu Essstörungen wie Magersucht führen – keine
psychische Erkrankung weist eine höhere Sterb
lichkeitsrate auf. Die meisten Betroffenen sind
junge Frauen wie Alexandra, deren Zustand sich in
ihrem letzten Schuljahr derart verschlechterte, dass
sie monatelang eine Tagesklinik besuchen musste.
Magersüchtige Mädchen erfinden Regeln und
Rituale, um sich beim Essen zu zügeln, oder stellen
die Nahrungsaufnahme ganz ein. So haben sie das
Gefühl, wenigstens einen Aspekt ihres Lebens un
ter Kontrolle zu haben. „Ich dachte, sobald ich dem
gesellschaftlichen Schlankheitsideal entspreche,
wäre mein Leben perfekt“, erzählt Estrella, 23, eine
Freundin von Alexandra, die ebenfalls wegen Ma
gersucht behandelt wurde.
Bis vor Kurzem gab es nur wenige Wege für Mäd
chen, um im Teenageralter beliebt zu sein. Am bes
ten sah man aus wie eine Cheerleaderin oder ein
Fotomodel mit langen Haaren und noch längeren
Beinen. Mittlerweile dürfen Mädchen – zumindest
108 national geographic • januar 2017
in weiten Teilen der westlichen Welt – sein und aus -
sehen, wie sie wollen: Streberin oder Sportlerin,
Gothic oder Punk, Skaterin oder Fashion-Bloggerin.
- Die Cover der Modemagazine sind längst nicht
mehr nur den blonden Cheerleaderinnen vorbehal -
ten. Heute sind dort auch Plus-Size-Models zu se -
hen oder Transfrauen oder Models mit einer Behin -
derung und großflächigen Tattoos. Die Definition
von Schönheit mag sich erweitert haben, die Dikta -
tur der Schönheit aber besteht fort.
- Um dem äußeren Druck standzuhalten, brau -
chen Mädchen gute Freundinnen oder eine Subkul -
tur, in der sie sich aufgehoben fühlen. „Ich wurde
- oft als seltsam bezeichnet“, erzählt die 15-jährige
Desirée aus New Jersey. „Aber irgendwann habe ich
mir gesagt: ‚Sei einfach du selbst.‘“ In der siebten
Klasse traf sie dann ein paar Nerds, die Videospiele
- und Musicals mochten. „Mein Dorf“, nennt Desirée
ihre Freunde. Früher war es für Teenager schwierig,
ein „Dorf“ zu entdecken, das zu ihnen passt. Aber
- im Internet finden auch Mädchen, die sonst alleine
im Pausenhof sitzen, Anschluss und Menschen, die
ihre Interessen teilen: Mädchen, die Hello-Kitty-
Cupcakes backen oder Kampfsport betreiben;
- TV-Serien-Fans und Roboter-Bastlerinnen.
Auch für Jugendliche aus dem LSBTQ-Spektrum
(lesbisch, schwul, bi, trans, queer) ist das Leben in
vielerlei Hinsicht leichter geworden. Bei einer Um -
- frage in den USA gaben etwa 50 Prozent der befrag -
ten homosexuellen Jugendlichen an, dass es an
ihrer Schule einen Freundschaftsclub von Homo-
und Heterosexuellen gebe. Allerdings ist die Zahl
der Mobbingfälle bei homosexuellen Jugendlichen
immer noch fast doppelt so hoch wie bei ihren he -
terosexuellen Altersgenossen. Die Wahrscheinlich -
keit, dass sie einen Selbstmordversuch verüben, ist
- mehr als viermal so groß. Und auch das Risiko für
Essstörungen ist in dieser Gruppe erhöht.
Catherine Ratelle aus Dallas war 15, als sie daran
erkrankte. Sie erzählte niemandem davon, genauso
- wenig wie von ihrem anderen Geheimnis, das für
die Schülerin einer Eliteschule noch viel schwerer
- wog: Catherine liebte ein Mädchen. Als sie ihre Uni -
- versitätslaufbahn begann, entschied sie sich ausge -
rechnet für die christliche Universität in Fort Worth
– für lesbische Frauen ein noch schwierigeres Um -
feld. Heute denkt Catherine, dass sie es sich damals
absichtlich schwer gemacht habe: „Vielleicht wollte Im 21. Jahrhundert
ich mir beweisen, dass es nur eine Phase ist, die wie
der vorbeigeht.“ wachsen alle Mädchen
Aber die Phase ging nicht vorbei. Erst nachdem
vor einer Art Spiegel
shington, D.C., umgezogen war, outete sich Cathe auf – dem Bildschirm
rine. Heute ist sie 26 Jahre alt und arbeitet bei
einer NGO, die sich für die Gleichstellung von
ihres Smartphones. Sie
LSBTQ Menschen einsetzt. Es sei heute wahr
scheinlich einfacher, als lesbisches Mädchen auf
zuwachsen, sagt sie; sogar in Texas. „Ich möchte fläche und wollen Ant
mein 15 jähriges Selbst am liebsten an mich drü
cken und sagen: ‚Hey Süße, das stehst du durch!‘“
worten: Wer bin ich?
Werde ich respektiert?
das netz ist in gewisser weise schlimmer als der
rückständigste Teil von Texas. Ein großes Problem
Wer ist die Schönste
ist Mobbing. Wer im Netz oder im Smartphone Chat im ganzen Land?
hetzt oder üble Gerüchte in Umlauf setzt, braucht
weder seinem Opfer, noch kritischen Zeugen in die
Augen zu blicken. Die Hemmschwelle sinkt. Dage
gen kommen auch die vielen Anti Mobbing Pro
gramme nicht an, die Schulen ins Leben gerufen
haben.
Estrella wurde von einer Freundin angegriffen,
weil sie deren Geburtstagsparty verpasst hatte.
Danach bekam sie tagelang SMS und Facebook
Nachrichten: „Niemand kann dich leiden“ – „Du
bist eine Schlampe, niemand will mit dir befreun
det sein“ – „Ohne dich wäre die Welt viel besser.“
Das Schlimmste: Estrella war zu diesem Zeitpunkt
bereits depressiv und hatte Suizid gedanken. Die
giftigen Nachrichten verschlimmerten ihre Selbst
zweifel weiter.
Die digitale Revolution bedroht junge Mädchen
jedoch nicht nur durch Mobbing. Werbung, Promi

ideal, das im wahrsten Sinne des Wortes unerreich

bar ist: Mit Bildbearbeitungsprogrammen werden
Frauenkörper bis zu einer surrealen Perfektion
verzerrt. Photoshop macht Hals und Beine länger, CLARE LARSON, 14
die Taille schmaler, den Mund voller und die „Normalerweise denke ich nicht oft über
solche Sachen nach. Bei der Übung ist mir
Augen unnatürlich groß. Ein Video der Satireseite
klar geworden, wie ich über mich selbst
CollegeHumor.com zeigt, wie man mit ein paar denke: Ich wünsche mir ein gesundes
Klicks und Filtern die perfekte Frau generieren Selbstbewusstsein. Nicht, um andere zu
kann – aus dem Foto eines Pizzastücks. beeindrucken – sondern für mich selbst.“
Aber nicht nur Bilder von Models werden mit
Photoshop bearbeitet. Viele Mädchen stellen nur

moderne mädchen 109

 Fotos auf Instagram ein, die sie vorher retuschiert
haben. In vielen Handykameras gehört der Schön
shop Revolution: heitsfilter zur Standardeinstellung.

Heute sind Mädchen In der Geschichte haben Künstler zwar schon

im Alltag permanent
von Schönheitsvor
bildern umgeben,
die es in der Realität
nicht gibt.
SOPHIA SHAHLAEI, 15
„Wenn man in einer Zeitschrift das Foto
eines Körpers sieht, wirkt es zunächst
echt. Aber sobald man einzelne Teile an
schaut, merkt man: ‚Aha, da war Photo
am Werk.‘ Legt man solche Fotos neben
unbearbeitete Körperporträts, merkt man
sofort: Das ist nicht real.“
immer unnatürlich schöne Wesen erschaffen –
man denke nur an die makellosen Körper der
antiken Marmorstatuen. Aber die Supermodels
der Kunstgeschichte standen in Tempeln und
Palästen und dominierten nicht den Alltag. Heute
sind Mädchen im Alltag permanent von Schön
heitsvorbildern umgeben, die es in der Realität
nicht gibt.
Der allgegenwärtige Schönheitsdruck geht auch
an kleinen Mädchen nicht vorbei. Estrella, die Psy
chologie studieren will, arbeitet nebenher als Kin
dermädchen. Einmal spielte sie gemeinsam mit
einer Siebenjährigen mit einer Kamera. Da deutete
das Mädchen auf ein Bild und sagte: „Kannst du
das löschen? Meine Wangen sehen fett aus.“
„Das war wie ein Stich ins Herz“, sagt Estrella.
Ihre Antwort überlegte sie sich deshalb gut: „Na ja,
deine Wangen sehen eigentlich so aus wie meine“,
sagte sie zu dem Kind, „und ich finde meine Wan
gen gut.“ Dann fragte sie: „Findest du das auch?“
Und als das Mädchen bejahte, sagte sie: „Siehst du,
und ich mag deine Wangen.“
In der Klinikabteilung für Essstörungen war
Alexandra mit 17 Jahren damals die Älteste –
die meisten anderen Patientinnen waren erst 13
-
oder 14. Und ihr ging es bei Weitem nicht am
shop schlechtesten. „Ich habe sehr nette Mädchen ken
nengelernt – mit Magensonden, kurz vor dem
Herzinfarkt, todkrank“, erzählt sie. „Bei jeder Ge
legenheit habe ich versucht, auf die anderen ein
zureden: ‚Nein, es ist nicht wichtig, wie viel du
wiegst. Nein, du bist schön, so wie du bist.‘“ An
ihrem letzten Tag schenkte sie ihren Freundinnen
eine selbst gebrannte CD mit Musik, die diese mo
tivieren sollte weiterzumachen. Und sie gab ein

therapeutin.“
Im Juni 2012 besuchte Alexandra zum ersten
Mal eine Gruppentherapiesitzung bei der Psycho
login Melody Moore. Im Rahmen der Behandlung
lernte sie auch Estrella und Catherine kennen, mit
denen sie heute gut befreundet ist. Die jungen Frau
en waren auf dem Weg der Besserung, fielen aber

110 national geographic • januar 2017

immer wieder in alte Verhaltensmuster zurück.
Moore habe sich gefragt, „wie ich es schaffen kann,
dass sie wirklich geheilt sind und nicht ihr Leben
lang mit Essstörungen kämpfen müssen“. Ihre Lö
sung: Die Frauen sollten anderen Menschen helfen.
„Wenn man sich engagiert und aktiv ist, ist die
Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls geringer.“
moore entwickelte deshalb einen Workshop,
mit dessen Hilfe Mädchen die Gründe für ihre Un
sicherheiten verstehen und ihre Denkweise än
dern sollten. Ihre Patientinnen waren begeistert
und übernahmen bald darauf das Ruder. Etwa ein
Jahr später führten sie den Workshop erstmals
außerhalb von Moores Praxis durch, an einer
katholischen Schule in Dallas. Umringt von 60
Siebtklässlerinnen lasen die Workshop-Leiterin
nen Sätze vor wie: „Manchmal fühle ich mich häss
lich“ – „Ich vergleiche mich mit anderen“ – „Ich
würde lieber anders aussehen.“
Jedes Mädchen, das sich davon angesprochen
fühlte, musste zu den Frauen in einen Kreis treten.
Die Übung sollte den Mädchen zeigen, dass sie mit
solchen Gedanken nicht alleine waren.
Bei einer anderen Aufgabe mussten die Mäd
chen aufschreiben, was sie an sich selbst nicht
mochten – ein Post-it-Zettel für jeden bösen Ge
danken. Dann stellte sich eine der Leiterinnen in
die Mitte, und die Schülerinnen hefteten ihre Kri
tikzettel an die betreffende Körperstelle. Bald war
die Frau komplett mit bunten Papierschnitzeln
bedeckt. Alexandra las laut vor: „Dicke Beine“ –
„Krause Haare“ – „Gelbe Zähne“.
„Zu einer Freundin würdet ihr so etwas nie sa
gen“, sagte Alexandra zu den Schülerinnen. „Wa
rum seid ihr zu hart zu euch selbst?“ Die Mädchen
machten Konfetti aus den Zetteln.
Die Organisation der Workshops hatte auch eine
heilsame Wirkung für Moores Patientinnen. „Als
ich da so neben Alexandra stand und mit ihr den
Workshop gab – war ich unglaublich stolz auf uns
beide“, erinnert sich Estrella. „Ich verstand, dass
ich ein Leben ohne ständige Selbstzweifel führen
kann, statt immer über meine fetten Oberschenkel
nachzudenken.“
So begann die Embody-Love-Bewegung (etwa:
„Verkörpere Liebe“), bei der sich heute gut 250 aus
gebildete Ehrenamtliche engagieren und Work -
shops in den USA, in Kanada, England, Irland,
Australien und Neuseeland durchführen.
- Die Wirkung ist beeindruckend: Lily, 12, hat vier
Tage lang an einem Embody-Love-Workshop in
New Jersey teilgenommen. Eine Lektion, die sie
gelernt hat: lieber nicht zu schnell erwachsen wer -
den. Wenn Lily fernsieht, schaut sie sich mit der
Familie alte Musicals, die Fünfzigerjahre-Sitcom
- „I Love Lucy“ oder Kochsendungen an. Sie darf
- nicht unbeaufsichtigt ins Internet und findet das
in Ordnung. „Ich weiß nicht, ob ich mich dieser
Welt jetzt schon aussetzen möchte.“
Wenn sie so weit ist, wird Lily die Bilder besser
einordnen können, die im Netz auf sie einströmen.
„Es ist eine falsche Realität“, sagt sie. „Auch wenn
- man weiß, dass ein Bild bearbeitet ist, zwingt ei -
- nen das Hirn dazu, dem Bild zu glauben. Weil man
es eben sehen kann.“ Lily hat Mitleid mit den Men -
schen, die die Fotos der Schauspielerinnen und
Models bearbeiten: „Sie müssen sich immerzu auf
den Makel konzentrieren.“
Alexandra führt heute Embody-Love-Work -
shops an ihrer Universität durch und hat sich mit
- Freundinnen angelegt, weil diese nur über Essen
und Körperfettanteil geredet haben. Alexandra
- sagt: „Was könnten wir in der Welt erreichen, wenn
wir uns nicht mit so einem Blödsinn beschäftigen
- würden?“ Sie zählt auch keine Kalorien mehr und
isst, wenn sie Hunger hat. Noch immer ist es ihr
großes Ziel, Selbstmorde zu verhindern und ein
Psychologiestudium abzuschließen. Vor Kurzem
ging sie wieder in das Krankenhaus, in dem sie vor
- fünf Jahren in Behandlung gewesen war – und ver -
- sprochen hatte, als Therapeutin wiederzukom -
men. Alexandra macht dort ein Praktikum, „Ich
fühlte mich, als ginge ich wieder zur Therapie“,
erzählt sie. „Aber dieses Mal hatte ich einen
Dienstausweis um den Hals.“ j
Aus dem Englischen von Ina Pfitzner
Tina Rosenberg ist Koautorin der Kolumne „Fixes“ in
der New York Times. Für NATIONAL G EOGRAPHIC hat sie
unter anderem über Gesundheitshelferinnen in Indien
und äthiopische Frauen geschrieben. Kitra Cahana
für NATIONAL G EOGRAPHIC bereits Repor -
- tagen über Hunger und das Gehirn von Teenagern.
moderne mädchen 111
Schöne Zeit?
Genderforscherin Paula-Irene Villa erklärt,
wie Mädchen in Deutschland mit dem
allgegenwärtigen Leistungsdruck umgehen.

Viele Eltern beschweren sich, dass Mädchen
ab einem gewissen Alter „nur noch vor dem
Spiegel stehen“. Warum sind Schönheit und
Stil für Teenager so wichtig?
Da geht es ja nicht nur um Eitelkeit. Kinder und
Jugendliche experimentieren allgemein viel vor
dem Spiegel und fantasieren sich in
dene Rollen hinein. Manche greifen dabei auf
eher stereotype Muster und Looks zurück, die
ihnen helfen, sich ihrer selbst zu vergewissern
und sicher zu fühlen. Andere leben ihre Lust an
der Grenzüberschreitung aus, lösen sich von der
femininen Rolle und entdecken Punk oder eine
andere Subkultur für sich.
Oder werden Mädchen entsprechend erzo
gen? Im Spielzeugladen werden ihnen rosa
rote Handspiegel angeboten – oder Puppen,
denen man die Haare schönmachen muss.
Es gibt natürlich Phasen, in denen sich Kinder
sehr rollenkonform verhalten. Aber man muss
auch wissen: Sie spielen gern mit starken Stereoty
pen, mit Accessoires, Gesten, Sprachstilen, Bewe
gungen. Das sind Phasen – so wie Kinder eine Zeit
lang nichts Grünes essen oder nicht baden wollen.
Ein Experiment zeigt, dass schon
rene Mädchen eher auf Gesichter reagieren,
Jungs dagegen auf mechanische Geräte. Ist
der Unterschied zwischen den Geschlech
tern bereits in den Genen angelegt?
Es gibt keine stichhaltigen Beweise dafür, dass
Vorlieben für bestimmtes Spielzeug oder eine
Farbe ausschließlich angeboren wären. Auch der
Neurowissenschaftler Simon Baron Cohen, der
die von Ihnen genannte Studie durchgeführt hat,
betont, dass es unmöglich sei, zwischen angebo
renen und anerzogenen Merkmalen zu unter

112 n a t i o n a l geographic • januar 2017

 Eine rosarote Brille braucht
man hier nicht: Werbung
und Design, sagt die Expertin
Paula-Irene Villa, verkauften
immer einen Lebensentwurf.

scheiden. Die soziale Prägung beginnt lächeln und ein Publikum finden sol -
übrigens schon vor der Geburt und hat len, das ihnen applaudiert. Mut, Intel -
auch physiologische Effekte: Wenn ligenz und Erfindungsgeist hingegen
Paare das Geschlecht ihres ungebore - gehören nicht zur Mädchenhaftigkeit.
nen Babys erfahren, beeinflusst das, Das beste Beispiel ist ein T-Shirt, das in
wie sie mit dem Kind reden, den Bauch Paula-Irene Villa Onlineshops populär ist. Darauf steht:
berühren. Und das wiederum beein - ist Professorin für „In Mathe bin ich Deko.“ Für die Jungs
flusst hormonelle Ausschüttungen bei Soziologie und gibt es Shirt-Slogans wie „Wrumm“
der Schwangeren. Es ist ein sehr kom - Gender-Studies an oder „Rockstar“, die durch das Super -
der Ludwig-Maxi -
plexer Prozess. milians-Universität
helden-Paradigma inspiriert sind. Sie
München. werden als Macher, Einzelkämpfer und
Checker präsentiert, sollen erfolgreich,
dien – fast alle Kinderprodukte hart und geschickt sein. Die Botschaft
werden geschlechtsspezifisch gestaltet. Wo an beide Geschlechter lautet: Du bist ganz anders
ran liegt das? als das andere Geschlecht.
Werbung und Design versprechen den Konsu -
menten heute kein Produkt, sondern einen Le - Was macht das mit Kindern?
bensentwurf. Mädchen lernen durch solche Pro - Produkte und Werbung spiegeln der Zielgruppe
dukte, dass sie brav und hübsch sind, dass sie vor, dass es sich bei den Botschaften und Werten,

FOTOS: PIERRE ADENIS/LAIF (O.); A. SCHELLNEGGER/SUEDDEUTSCHE ZEITUNG PHOTO/ Moderne Mädchen 113
PICTURE ALLIANCE (PORTRÄT)
 „Bei ‚Germany’s Next
Topmodel‘ geht es im
Grunde gar nicht
darum, schön zu sein.
Sondern darum, ohne
Murren jede Herausfor -
derung zu bestehen.“
die vermittelt werden, um Naturgesetze handelt.
Diese Idealtypen zeigen, wie Mädchen oder Jun
gen heute auszusehen und sich zu verhalten ha
ben. Für Kinder, die anders sind und den Stan
dards nicht entsprechen können oder wollen, ist
das eine schwierige Situation – die sehr leidvoll
sein kann. Man muss viel Aufwand betreiben,
wenn man was anderes möchte. Es ist fast un
möglich geworden, Mädchenkleidung zu kaufen,
die nicht glitzert, oder Bücher, die weniger ste
reotyp sind. Aber es gibt auch gute Nachrichten.
Welche?
Nur weil die Mädchenprodukte brav und hübsch
sind, verhalten sich die Mädchen nicht automa
tisch brav und harmlos. Wenn sie Barbies kaufen,
dann foltern sie die Puppen auch mal oder fa
ckeln deren Haare ab. Kinder probieren aus, sie
spielen tagelang im Konjunktiv: „Ich wäre jetzt
die Mutter, du wärst die Schwester und du der
Lehrer.“ Dabei spielen sie eben Rollen. Und sie
realität ist.
Gehen Eltern heute sensibler mit Sprüchen
wie „Das ist nichts für Mädchen!“ um?
Es herrscht vielleicht die grundsätzliche Ein
sicht, dass man solche einschränkenden Sätze
vermeiden sollte. Aber gehen Sie mal zu einem
Fußballspiel am Samstagvormittag hin. Da hören
die kleinen Jungs ständig Sätze wie: „Stell dich
nicht so an, wir sind doch nicht beim Mädchen
fußball.“ Erwachsene sollten aufpassen, dass sie
114 national geographic • januar 2017
mit ihren Aussagen zum Geschlecht nicht über
griffig werden.
Wie meinen Sie das?
Kinder werden vielfach – ganz unbewusst – arg
früh sexualisiert. Wenn ein Junge im Kindergar
ten auf ein Mädchen zurennt, heißt es schnell:
„Oh, ein kleiner Aufreißer!“ Das geht einher mit
einer Sexualisierung des Konsums: Es gibt heute
Push up BHs für Zehnjährige und glitzernde
Pumps in Schuhgröße 32.
Wie ist dieser Trend zu erklären?
weise daran liegen, dass die Grenzen zwischen
den Geschlechtern zunehmend verschwimmen.
Wenn man nicht sagen kann, dass Frauen schlecht
einparken und Männer keinen Kuchen backen,
wenn Frauen Kanzlerin werden und Männer Er
zieher – wenn die tradierten Katego rien also nicht
funktionieren, sucht der Mainstream nach Orien
tierungspunkten – wie der Heterosexualität. Viel
leicht ist Sexualität die neue, vermeintlich klare
Grenze zwischen Mädchen und Jungs.
Wie geht es weiter, wenn die Mädchen in die
Pubertät kommen?
Der Körper verändert sich in dieser Zeit sehr
stark, und das ist spannend und intensiv – aber
auch ganz schön unheimlich für sie. Gerade
im Bereich der Sexualität geraten Jugendliche
früh unter Konformitäts und Leistungsdruck.
In Mädchengruppen gibt es besonders strenge
Hierarchien: Wann bekommt man die erste Re
gelblutung, ab wann trägt man einen BH – diese
Schritte dürfen Mädchen nicht zu früh, aber auf
keinen Fall zu spät machen, jedenfalls im Beob
achtungs und Bewertungsgefüge ihrer Cliquen.
Wie beeinflussen Soziale Medien das Auf -
wachsen der jungen Menschen?
Jugendliche sind ohnehin schon verunsichert,
was ihren Körper angeht. Und sie werden zudem
überflutet von Medien, in denen surreal bearbei
tete, geschminkte und gewaxte Körper auftreten.
Wir haben heute zwar mehr Freiheiten, unseren
Körper zu gestalten – aber es ist auch eine Zumu
tung, weil wir durch Körper-Arbeit zeigen sollen,
wie fit, gesund, mobil, flexibel und leistungs -
orientiert wir sind. Bei Heidi Klums „Germany’s
Next Topmodel“ geht es im Grunde gar nicht da -
rum, schön zu sein. Sondern darum, jede Heraus -
forderung erfolgreich zu bestehen und zu gewin -
nen. Die Selbstoptimierung des Körpers gibt es
überall in der Popkultur, und sie vervielfältigt
sich im Netz: Mädchen sind permanent auf Insta -
gram und Facebook, teilen ihre Selfies mit der
ganzen Welt.
Wieso ist Mobbing so ein großes Problem?
Indem sie auf den Schwächen anderer rum -
hacken, versuchen Menschen das eigene Selbst -
bewusstsein zu stärken. Es fällt auf, dass beim
Mobbing in dieser Lebensphase oft das Ge -
schlecht thematisiert wird. Das bietet sich an,
weil nicht alle Teenager zur selben Zeit auf dem -
selben Entwicklungsstand sind. Eine gängige
Diffamierung ist es, der Zielperson vorzuwerfen,
Wer ist die Schönste im ganzen Land? In der Show „Germany’s Next Topmodel“ werden junge
Kandidatinnen zu Models ausgebildet – und müssen dabei ihre Leistungsfähigkeit demonstrieren.
FOTO: PETER WAFZIG/GETTY IMAGES
sie sei kein echter Mann, keine richtige Frau.
Mädchen werden als „nuttig“ oder als „Schlam -
pen“ bezeichnet, Jungs als „schwul“. Die Bot -
schaft ist klar: Ihr seid sexuell nicht begehrens -
wert, also nicht attraktiv, also nicht wertvoll.
Wieso definieren Jugendliche ihre Identität
vor allem über das Aussehen?
Das ist ganz normal. Bildungseliten in Deutsch -
land pflegen gerne den Mythos, man könne (und
müsse) zwischen Oberfläche und innerem We-
sen unterscheiden. Dabei hängt beides stark zu -
sammen. Über Kleidung und Frisur, über Sport
und Diät verkörpern wir uns, unsere Rollen,
und die sind mit bestimmten Vorstellungen und
Werten verbunden. So wie man je nach Umfeld
lernt, Wein zu trinken oder bestimmte Bücher
zu mögen. Sein und Schein hängen bei allen
Menschen eng – aber in komplexer und nicht
immer offensichtlicher Art und Weise – zu -
sammen. Interview: Marlene Göring
Moderne Mädchen 115
116
 Keine
Chance?
Millionen Mädchen
weltweit leiden unter
Armut und Gewalt.
Doch auch diese jungen
Frauen träumen von
einem besseren Leben.
Drei Geschichten aus
Sierra Leone.

Die siebenjährige Zarina sucht nach verwertbaren Materialien, die sie verkaufen
kann – ihr Jagdrevier ist die 28 Hektar große Mülldeponie Ghazipur im indischen
Delhi. Dieses und die anderen Bilder auf den folgenden Seiten wurden von
der amerikanischen Fotojournalistin Stephanie Sinclair gemacht, die die
bedingungen von Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt dokumentiert.
Die 19-jährige Elizabeth und die 13-jährige Rebecca tanzen bei
einer Bondo-Zeremonie in Kabala in Sierra Leone, die den
Übergang ins Erwachsenenalter markiert. Im Rahmen des Ritu -
als werden den jungen Frauen auch die äußeren weiblichen
Geschlechtsteile entfernt. Durch Bondo sollen die Mädchen an
ihre Gemeinde gebunden und auf die Ehe vorbereitet werden.

118
Sexuelle Gewalt ist eine ständige Bedrohung für die neunjährige
Aarti. Im Regen verkauft sie Blumen an einer Straße in Delhi.
Weltweit arbeiten Millionen Kinder für den Lebensunterhalt ihrer
Familie, statt in die Schule zu gehen.

121
Text: Alexis Okeowo
Fotos: Stephanie Sinclair

Es gibt keinen Ort auf der Welt,

an dem es schwieriger ist, ein Mäd -
chen zu sein, als Sierra Leone.
Wer andere westafrikanische Länder wie Ghana, den Senegal oder die
Elfenbeinküste kennt, der wird Sierra Leone ganz anders wahrnehmen:
weniger einladend und lebensfroh, stattdessen herrscht eine unbehag -
liche, ängstliche Atmosphäre. Kein Wunder. Die etwa sechs Millionen
Einwohner haben schwere Jahre hinter sich. Zwischen 1991 und 2002
spaltete ein grausamer Bürgerkrieg das Land. 2014 brach eine tödliche
Ebola-Epidemie aus, die Tausende Opfer forderte. Keine einfachen Le-
bensbedingungen für die Menschen in der Region. Und das gilt ganz
besonders für Mädchen und junge Frauen. Im Gender Inequality Index
der Vereinten Nationen belegt Sierra Leone Rang 181 von 188. Fast die
Hälfte aller Mädchen heiratet vor dem 18. Geburtstag. Viele werden
noch weit früher schwanger – oft nur wenige Monate nach der ersten
Monatsblutung. Eine Studie fand 2013 heraus, dass (weiter auf Seite 128)

Im Dorf Masanga in Sierra Leone findet eine alternative Bondo-Feier

statt, bei der auf Beschneidungen verzichtet wird. Seit 2010 haben über
600 Mädchen bei solchen neuen Zeremonien mitgemacht.

122 national geographic • Ja nuar 2017

124 national geographic • Ja nuary 2017
 Der Fluss nahe der
Stadt Mange Bureh im
Norden Sierra Leones
ist der Treffpunkt der
Jugend: Die Jungs
angeln, während die
Mädchen Wäsche
waschen. Hier macht

verkäuferin gemeinsam
mit ein paar Jungs
Pause.

the dangerous lives of girls 125

Ehen werden in Sierra
Leone oft arrangiert.
Baby Seibureh, 17, und
Claude Seibureh, 48,
aus Freetown heirate -
ten während der Ebola-
Epidemie 2014. Baby
musste den gemeinsa -
men Sohn Joseph
per Kaiserschnitt zur
Welt bringen.

126
mehr als ein Viertel der 15- bis 19-jährigen
Frauen zu diesem Zeitpunkt entweder schwan
ger oder bereits Mutter war – eine der höchsten
Raten weltweit in dieser Altersgruppe. Fast alle
Mädchen besuchen nur die Grund schule.
Gleichzeitig sterben immer noch viele Frauen
bei der Geburt. Die Weltgesundheits organisation
und andere internationale Organisationen
schätzen, dass es in Sierra Leone die weltweit
höchste Müttersterblichkeit gibt. Ein Risikofak
tor dafür ist die weibliche Genitalverstümme
lung, die in dem Land weitverbreitet und ein
„Der Gesellschaft sind Körper, Leben
Mittel ist, mit dem die Gesellschaft die weibliche
Sexualität kontrolliert, die vielen Männern
Angst macht.
Die Mädchen werden in Sierra Leone außer
dem sehr früh verheiratet, da die armen Fami lien
so ein Mitglied weniger versorgen müssen und
„Jungfräulichkeit bei der Hochzeit sehr wichtig
ist“, wie Birgitta Hahn erklärt, die bei Terre des
Femmes für Projekte in Sierra Leone und ande -
ren Ländern Westafrikas zuständig ist. Die jun
gen Frauen ziehen in der Regel zur Familie ihrer
Ehemänner, denen sie schutzlos ausgeliefert
sind. Häusliche und sexuelle Gewalt sind in
SierraLeoneweit verbreitet.
„Je selbstbestimmter eine Frau leben will, und
je mehr sie dabei mit der Tradition bricht, desto
schwieriger wird es für sie“, sagt Afrika-Expertin
Hahn. Der beste Weg für die Frauen, ihre Lage zu
verbessern, sei Bildung: „Allerdings müssen sie
ihre Rechte kennen und die Kraft besitzen, diese
auch einzufordern.“
Fragt man die Menschen in Sierra Leone, wie
ihr Leid begann, geben sie meist dieselbe Ant
wort: mit dem Bürgerkrieg. Zehn Jahre lang foch
ten Rebellen mit Unterstützung aus dem benach
barten Liberia gegen wechselnde Regierungen.
Es ging dabei nicht nur um die Macht über das
Land – sondern auch um die Kontrolle der rei
chen Diamantenvorkommen. In dieser Zeit ver
loren Zehntausende Menschen ihr Leben, über
128 national geographic • Ja nuar 2017
zwei Millionen wurden vertrieben, Tausende
- Frauen und Mädchen vergewaltigt und viele als
Sexsklavinnen verkauft.
Seit dem Ende des Bürgerkriegs hat sich das
Land langsam in Richtung Demokratie und
Stabilität entwickelt, aber die Gewalt ist im-
mer noch präsent. Es gibt keine offiziellen
Zahlen über Vergewaltigungen. Sexuelle Ge-
walt wird oft nicht angezeigt und noch seltener
- bestraft.
- Zwar hat die Regierung 2007 und 2012 neue
Gesetze erlassen, die die Rechte der Frauen no -
minell gestärkt haben. Das Mindestalter für die
Ehe liegt nun bei 18 Jahren, sexuelle Gewalt steht
auch in der Ehe unter Strafe, und Jungen und
- Mädchen haben einen gleichberechtigten Erb -
anspruch. „Es gibt viele neue Vorschriften und
Gesetze“, sagt die Frauenrechtlerin Fatou Wurie
aus Freetown, die in Übersee aufgewachsen und
danach in ihre Heimat zurückgekehrt ist, wo sie
nun Regierungsbehörden berät, „aber die Stim -
- men der jungen Frauen sind in den Texten nicht
zu hören.“
Das liegt auch daran, dass die alten Traditio -
nen und das islamische Recht in Sierra Leone
mindestens so viel Einfluss haben wie Paragra -
fen und Gesetze. Die „Bondo Society“ ist ein so -
genannter Frauengeheimbund, der Mädchen in
die Gemeinschaft der Erwachsenen aufnimmt.
Zu dem Übergangsritus gehört auch die Genital -
verstümmelung. Dabei werden in Sierra Leone
meist die inneren Schamlippen, die Klitoris und
manchmal auch die äußeren Schamlippen ent -
fernt.
- „Bondo wird niemals sterben. Es ist Teil unse -
- rer Kultur“, sagte der damalige Sozialminister
- Moijua Kaikai 2015, forderte aber auch einen
„verantwortungsvollen Umgang“ mit der Tradi -
tion – denn oft führen unfachmännisch aus -
- geführte Operationen zu Infektionen und sogar
- zum Tod. Laut Unicef sind 90 Prozent aller Frau -
en Sierra Leones beschnitten. Fatou Wurie sagt:
 „Der Gesellschaft sind Körper, Leben und Seele
der jungen Frauen egal.“
Sarahs Geschichte
Dach an Dach zieht sich Sierra Leones Haupt
stadt Freetown von einer hügeligen Halbinsel
bis zum glitzernden Hafen. Etwas über einer
Million Menschen leben hier, eine davon ist
Sarah, die eigentlich anders heißt. Sie ist 14,
nägel sind rot lackiert, auf dem Kopf trägt sie ein
und Seele der jungen Frauen egal.“
pfirsichfarbenes Tuch. Das Mädchen ist klein
und zierlich, doch unter der Kleidung wölbt sich
ihr Bauch.
Sarah ist im siebten Monat schwanger. Wenn
sie spricht, tut sie es mit flüsternder Stimme. Ein
Junge aus der Nachbarschaft habe sie vergewal
tigt, erzählt sie. Nach dem Angriff verschwand er
aus der Stadt. Als Sarahs Mutter von der Schwan
gerschaft erfuhr, warf sie die Tochter aus dem
Haus. Jetzt wohnt Sarah bei der Mutter des Jun
gen, von dem sie sagt, er habe sie missbraucht.
Nur sie war bereit, das obdachlose Mädchen bei
sich aufzunehmen. Es ist üblich in Sierra Leone,
dass Frauen bei der Familie ihres Ehemanns
wohnen und im Haushalt mitarbeiten. Sarah
muss für alle Familienmitglieder kochen, sauber
machen und die Wäsche waschen. Wenn sie für
die Arbeit zu erschöpft ist, wird sie von der Haus
herrin geschlagen.
Sierra Leone ist ein armes Land. Vom Staat kön
nen die Mädchen und Frauen kaum Unterstüt
zung erwarten. Viele träumen deshalb von einem
Schulabschluss, mit dem sie ihrer Herkunft ent
kommen und eine Chance haben, ihr Leben
selbst zu gestalten. Ein gutes Zeugnis kann eine
Eintrittskarte sein – zur Universität und zu qua
lifizierteren Jobs.
So weit die Theorie.
Der Schulbesuch ist in Sierra Leone kosten
pflichtig, und nur wenige Familien investieren in
die Bildung der Töchter. Zwischen 2008 und 2012
hat nur eines von drei Mädchen eine weiterfüh
rende Schule besucht.
2015 erließ das Bildungsministerium des Lan
des eine Vorschrift, die es schwangeren Mädchen
verwehrt, am Unterricht teilzunehmen. Sie soll
verhindern, dass die Teenager Mütter ihren Mit
schülerinnen als schlechtes Beispiel dienen –
und gleichzeitig die Schwangeren vor Mobbing
schützen. In der Realität wird so vielen Mädchen
die Ausbildung verwehrt. Viele haben Probleme,
sich nach der Geburt wieder an einer Schule an
zumelden.
Elizabeth Dainkeh arbeitet als Koordinatorin
in einem Bildungszentrum für schulpflichtige
Schwangere und Mütter in Freetown, das von
Unicef, dem Bildungsministerium von Sierra Le
one und anderen Organisationen finanziert wur
de. „Mädchen die schwanger werden, gelten
nichts mehr“, sagt die 35 Jährige. Dainkeh steht
in einem schwülwarmen Klassenraum, in dem
sich Mädchen mit Zöpfen und bunten Kopftü
chern mit ihren Übungsheften Luft zufächeln
und der Lehrerin aufmerksam zuhören. Manche
halten Säuglinge im Arm. „Ich dachte, es wäre
den Mädchen peinlich, wieder zur Schule zu ge
hen“, sagt Dainkeh, „aber sie sind gern hier.“ Sie
weiß, wovon sie spricht. Dainkeh wurde selbst
mit 17 schwanger und von ihrem Vater aus dem
Haus geworfen. Das Baby starb an Mangelernäh
rung, es wurde nicht einmal ein Jahr alt. Heute
rät Dainkeh ihren Schülerinnen, durchzuhalten
und ihren Weg zu gehen. Aber das ist einfacher
gesagt als getan.
Im August 2016 schloss Unicef alle derartigen
Einrichtungen, da diese lediglich als Übergangs
lösung dienen sollen, weil während der Ebo
la Krise staatliche Schulen im ganzen Land über
neun Monate geschlossen blieben. Etwa 14000
Schwangere oder junge (weiter auf Seite 134)
Mädchen in Sierra Leone 129
Initiationsriten werden von Frauengeheimbünden organisiert, denen
auch diese Bondo-„Teufelin“ angehört (l.). Die Mädchen aus dem Dorf
Masanga müssen allerdings keine Genitalverstümmelungen fürchten,
im Gegenteil: Wer an der Zeremonie teilnimmt, kommt in den Genuss
einer Schulausbildung, die von einer gemeinnützigen Organisation
aus der Schweiz finanziert wird.

130
132
Rinki Kumari (vorn) und Arti Kumari besuchen die staatlich ge -
förderte Schule Kasturba Gandhi Balika Vidyalaya im indischen
Forbesganj – und ruhen sich in einer Pause aus. Etwa hundert
benachteiligte Mädchen aus den umliegenden Dörfern besu -
chen die von der Hilfsorganisation Apne Aap geleitete Schule.
Mütter waren an diesen Einrichtungen angemel
det. Dainkeh befürchtet, dass viele von ihnen die
Schule nun ganz abbrechen werden.
Reginas Geschichte
Regina Mosetay sitzt in der Bücherei ihrer Schu
le in Freetown. Draußen auf dem Schulhof la
chen ihre Mitschülerinnen, während sie zu Mit
tag essen. Regina hat sich nur mit Mühe auf ihre
Abschlussklausuren vorbereiten können, denn
seit sie mit 17 ein Kind zur Welt brachte, geht
Endlich saß sie wieder am Schulpult:
Tochter Aminata vor. Zwischen Füttern und Win
delwechseln versucht sie zu lernen.
Regina hat mandelförmige Augen und ein ova
les Gesicht. Wenn sie über etwas nachdenkt,
wandert ihr Blick an die Decke. Sie ist in Low
Cost aufgewachsen, eine Arbeitergegend mit en
gen, belebten Straßen voller Elektronikläden
und Imbissverkäufern. Mit ihrer Mutter, ihrem
Bruder und ihrer Schwester wohnte sie in einem
Haus, in dem auch ihre Großmutter, mehrere
Cousins, ein Onkel und andere Familienmitglie
der lebten – insgesamt elf Menschen.
Auch Regina gehört zu den vielen jungen
Frauen in Sierra Leone, die wegen einer Schwan
gerschaft die Schule verlassen mussten. „Das hat
sehr wehgetan“, erzählt sie. Denn sie mochte den
Unterricht, Englisch war ihr bestes Fach, in der
Schulkapelle war sie als Majorette aktiv und wir
belte den Taktstab herum. Nie hätte sie damit
gerechnet, dass sie ihre Schulkarriere bald würde
beenden müssen. Dann brach 2014 die Ebola-
Epidemie in Freetown aus, und die Behörden
schlossen aus Vorsicht alle Schulen. Wenig spä
ter wurde Regina schwanger – wie viele andere
Mädchen zu dieser Zeit. „Es gab keinen Unter
richt, und wir hatten einfach jede Menge freie
Zeit.“ Ihr Freund Alhassan war damals im letzten
Studienjahr an der Universität.
„Ich schämte mich und hatte Angst, dass alle
von mir enttäuscht sein würden“, erzählt Regina.
134 national geographic • Ja nuar 2017
- Und wirklich gab es Mitschülerinnen, die auf sie
herabblickten. Monatelang saß sie zu Hause und
hatte nichts zu tun. Weil ihre Freundinnen bald
alle wieder zur Schule gingen, war sie viel allein
und langweilte sich sehr. Dann erzählte ihr eine
Tante von neuen Einrichtungen für junge
- Schwangere und Mütter, die den Mädchen die
- Möglichkeit boten, Lehrstoff aufzuholen, damit
- sie später wieder auf eine reguläre Schule gehen
können. Regina war begeistert.
Viele der Inhalte waren ihr schon vertraut.
Aber sie genoss es, in einem Klassenraum an
- einem Holzpult zu sitzen, auf dem ihre Bücher
und ihr offenes Notizheft lagen – lesen, zuhören,
- nachdenken. Klar, in ihrem Bauch wuchs ein
Baby heran. Aber ihren Verstand hatte sie auch
noch, und der bedeutete ihr alles. Drei Monate
- besuchte Regina gemeinsam mit 180 anderen
Schwangeren und Müttern das Zentrum. Einen
Monat nach der Geburt von Aminata im Dezem -
ber 2015 kehrte sie bereits an die staatliche
Schule zurück. Heute warnt sie ihre Freundin -
- nen, mit ihren Freunden aufzupassen. Damit
ihnen nicht das Gleiche passiert. Regina ist keine
Schulabbrecherin mehr, sie hat ein Ziel und eine
- Perspektive. Sie wohnt bei ihrem Freund, der
inzwischen seinen BWL-Abschluss gemacht hat,
seiner Mutter und seiner Großmutter, die sich
mit um Aminata kümmern. Regina möchte spä -
- ter einmal in einer Organisation arbeiten, die
Kindern, insbesondere Mädchen, ein besseres
Leben ermöglicht: „Ich wünsche meiner Tochter,
dass sie nicht erlebt, was ich mitgemacht habe.“
Regina sagt: „Mit meiner Schulbildung kann
- ich für meine Familie sorgen. Ich will selbst -
ständig sein.“
-
Die ersten Ebola-Fälle in Sierra Leone wurden im
Mai 2014 bestätigt. Wochenlang hatte man schon
Gerüchte über ein merkwürdiges Fieber gehört,
das wie ein Blitz zuschlug. Das Virus hatte das
 Land im Griff. In knapp zwei Jahren starben
4000 Menschen. Der Ausnahmezustand ersetzte
den Alltag. Viele Familien hatten Opfer zu bekla -
gen. Mädchen, die ihre Eltern verloren, mussten
für ihre Geschwister sorgen – ohne gelernt zu
haben, wie das geht.
Salmatus Geschichte
Auch Salmatu Fofanah hat durch die Epidemie
fast alles verloren. Die 17-Jährige wohnt an einem
Hang in Mountain Cut, einem dicht bevölkerten
lesen, zuhören, nachdenken
Stadtteil von Freetown. Sie ist schüchtern und
anmutig, hat leuchtende Augen und eine schlan -
ke Figur – sie ist es gewohnt, sich um sich selbst
zu kümmern. Vor zwei Jahren kam der Stiefvater
von einer Beerdigung zurück und brachte das
Ebola-Virus mit in die Familie. Salmatus leibli -
cher Vater war schon 2011 gestorben, an Malaria.
Ihre Mutter war Krankenschwester und be -
handelte ihren Mann zu Hause. Sie wussten da
noch nichts von der Epidemie. Als sich sein Zu -
stand verschlechterte, versuchte sie schließlich,
ihn mit dem Auto ins Krankenhaus zu bringen.
Er starb noch auf dem Weg.
Ein paar Tage später erkrankte auch Salmatus
Mutter – und starb kurz darauf in ihrem Haus.
Auch Salmatu fühlte sich nun unwohl, litt unter
Kopfschmerzen und Fieber. Ihre Tante, ihr On -
kel, ihre ältere Schwester, ihr Bruder, ihr Groß -
vater und mehrere Cousins – alle hatten ähnliche
Symptome. „Wir hatten große Angst“, erzählt
Salmatu. Gemeinsam gingen sie in eine Klinik.
Nur Salmatu und drei Cousins überlebten. Alle
anderen Familienmitglieder starben.
Als sie Ende 2014 zu entfernten Verwandten in
Mountain Cut zog, war sie vor Trauer und Angst
kaum bei Sinnen. Jedes Mal, wenn sie ein Un -
wohlsein spürte, geriet sie in Panik. Im Frühjahr
2015 kehrte sie zurück auf die Schule und hatte
große Angst, dass ihre Klassenkameradinnen sie
wegen der Ebola-Erkrankung meiden würden.
Aber sie sollte eine Überraschung erleben. „Ich
werde überhaupt nicht ausgegrenzt“, erzählt sie.
Im Gegenteil: Wenn sie sich in Erinnerungen an
die Zeit vor Ebola verliert, wenn sie ihre Mutter
und Familie vermisst, muntern ihre Freundin -
nen sie auf. Auf Facebook und WhatsApp sieht
sich Salmatu lustige Beiträge an, um wieder zu
lachen. Und je mehr sie schläft, desto besser geht
es ihr. Sie nimmt an einer Gruppentherapie teil
und kann dort über ihre Probleme reden. „Ich
spreche gern aus, was mich bedrückt. Es erleich -
tert mich“, erzählt Salmatu. Derzeit macht sie
sich aber vor allem um die Abschlussklausuren
Sorgen. „Man muss die Vergangenheit akzeptie -
ren und in die Zukunft blicken. Man muss zufrie -
den mit dem sein, was man hat.“
Salmatus Lieblingsfach ist Geschichte. Sie in -
teressiert sich für die Geschichte ihres Landes
und würde gern Journalistin werden. Ihren
Freund, der gerade Abitur gemacht hat, hält sie
auf Abstand. Sie lässt sich von ihm zu nichts
überreden, was sie nicht will. Im Moment will sie
einfach nur weiter singen und mit ihren Freun -
dinnen an den Strand gehen.
Manchmal ist sie auch zu träge für die Schule.
„Ich schlafe gern. Es ist mein Hobby“, sagt sie
und lächelt. Das ist seit ihrer Kindheit so, als die
Mutter sie zur Beruhigung ins Bett schickte,
wenn sie Wutausbrüche hatte.
An solchen müden Tagen denkt sie an ihre
Mutter, die sich für die Familie aufgeopfert hat.
Wie kann Salmatu da nicht die Schule zu Ende
machen und ein Leben führen, auf das die Mut -
ter stolz sein würde? j
Aus dem Englischen von Sabine Schmidt
Stephanie Sinclair, 43, fotografiert
regelmäßig für N ATIONAL G EOGRA -
PHIC . Die Pulitzer-Preisträgerin
beschäftigt sich vor allem mit Men -
schenrechten und gründete die Hilfs -
organisation „Too Young to Wed“.
FOTO: MARK THIESSEN/
NATIONAL GEOGRAPHIC
Mädchen in Sierra Leone 135
| GLOBALE STATISTIK

Schwarz
BILDUNG

auf weiß und

in Zahlen
1,2 Milliarden Mädchen leben auf der Welt. Sie zu
schützen, ihre Schulbildung sicherzustellen und
ihnen die gleichen Chancen wie Jungen zu geben
ist entscheidend für die Lösung drängender
globaler Probleme wie der Armutsspirale oder der
Ausbreitung von HIV/Aids. Fortschritte gibt es,
aber der Weg bis zur Gleichberechtigung ist weit.

POLITIK

Wenn Frauen an der Macht sind, Die Ungleichheit beim Zugang zu

DIE HÄLFTE ALLER finden Gleichstellungsgesetze eher 58 PROZENT DER weiterführenden Schulen verringert
LÄNDER DER WELT* eine Mehrheit. Quotenregelungen MÄDCHEN BESUCHEN sich weltweit. Trotzdem gehen in
WURDE S CHON haben dazu beigetragen, dass der WEITERFÜHRENDE Zentral- und Westafrika nur 39 Pro-
EINMAL VON EINER Frauenanteil in den Parlamenten SCHULEN, 62 PRO- zent der Mädchen, aber 46 Prozent
FRAU REGIERT. heute im Schnitt bei 23 Prozent liegt. ZENT DER JUNGEN. der Jungen auf eine höhere Schule.

HIV/AIDS SUIZID

Früher Ge schlechtsverkehr und 15- bis 19-Jährige sterben dagegen ins-

15- BIS 19-JÄHRIGE SELBSTMORD IST BEI gesamt am häufigsten bei der Geburt
sexuelle Gewalt erhöhen das Risiko:
MÄDCHEN MACHEN 70 Prozent aller Menschen mit 10- BIS 19-JÄHRIGEN ihres Kindes oder im Wochenbett.
65 PRO ZENT DER HIV leben in den Ländern südlich der MÄDCHEN WELTWEIT Aber in Europa und Asien kommen in
HIV-NEUINFEKTIONEN Sahara – 2015 waren dort drei von DIE HÄUFIGSTE dieser Altersgruppe deutlich mehr
BEI TEENAGERN AUS. vier infizierten Teenagern weiblich. TODESURSACHE. Mädchen durch Suizid ums Leben.

136 national geographic • januar 2017 * BEZOGEN AUF DIE 145 LÄNDER, DIE DER GLOBAL GENDER
GAP INDEX DES WELTWIRTSCHAFTSFORUMS ENTHÄLT.
KINDEREHEN TEENAGER-MÜTTER

Obwohl Mädchen in den meisten Die meisten Teenager-Geburten

MEHR ALS 700 MIL LIO- Ländern mindestens 18 Jahre alt 16 MILLIONEN 15- BIS gibt es in Lateinamerika und im süd-
NEN HEUTE LEBENDE sein müssen, werden sie mit Zustim- 19-JÄHRIGE WERDEN lichen Afrika. Weil der Gebrauch
FRAUEN WURDEN VOR mung der Eltern oft früher verheira- JEDES JAHR MUTTER: von Verhütungsmitteln zugenommen
DEM 18. GEBURTSTAG tet. Diese jungen Frauen sind ver- 10 PROZENT DER hat, ist die Zahl der minderjährigen
VERHEIRATET. mehrt häuslicher Gewalt ausgesetzt. GEBURTEN WELTWEIT. Schwangeren vielerorts gesunken.

DIE GLÄSERNE DECKE

FRAUEN LEITEN
18 PROZENT
ALLER FIRMEN.
Gleichstellung macht
die Wirtschaft rentabler,
sagen Forscher. Nur
zwei Prozent der 500
umsatzstärksten Unter-
nehmen weltweit wer-
den von Frauen geführt.
Dieser Anteil lag in
Vorständen der 100 größ-
ten deutschen Unter-
nehmen 2006 bei 0,2
Prozent, inzwischen
ist er auf 5,3 Prozent
gestiegen.

SEXUELLE GEWALT G E N I T A L-
VERSTÜMMELUNG

Eines von zehn Mädchen unter 20 Jah-
120 MILLIONEN MÄD- ren ist bereits zum Sex gezwungen
CHEN WELTWEIT worden. Kinder, die derart miss-
HABEN SCHON braucht wurden, laufen Gefahr, in
EINMAL SEXUELLE eine Spirale von Gewalt und
GEWALT ERFAHREN. sexueller Ausbeutung zu geraten.
Die Beschneidung von Frauen ist in
200 MILLIO NEN Afrika und in einigen arabischen
MÄDCHEN LEIDEN Ländern trotz Verboten verbreitet.
HEUTE UNTER EINER Der Eingriff ist mit Schmerzen
VERSTÜMMELUNG verbunden und kann zu psychischen
IHRER GENITALIEN. Schäden sowie zum Tode führen.

ILLUSTRATIONEN: PABLO AMARGO. QUELLEN: CATALYST; „FORTUNE“; UNICEF; Globale Stati St i k 137
WELTBANK; WELTWIRTSCHAFTSFORUM, WELTGESUNDHEITSORGANISATION
 Mein
KIN D ER AUF D ER G AN Z EN W ELT ERZ ÄH LEN , W IE IH R

Leben
GESCHLECHT IHR LEBEN UND IHRE ZUKUNFT B E E I N F L U S S T .

mit
T E X T : E V E C O N A N T | F O T O S : R O B I N H A M M O N D

neun
 AVERY JACKSON
KANSAS CITY, MISSOURI
„Ich bin glücklich, dass ich
nicht mehr so tun muss, als wäre
ich ein Junge.“

139
Neun ist ein besonderes Alter. Wie
denken Jungs und Mädchen über
ihr Leben? Eine globale Umfrage:
Mit neun weiß ein kenianisches Mädchen, dass
seine Eltern es bald für ein Brautgeld mit einen
älteren Mann verheiraten werden, der es womög
lich schlägt. Mit neun ahnt ein Junge in Indien,
dass ihn seine Freunde bald drängen werden,
Frauen auf der Straße sexuell zu belästigen. Mit
neun hegen Kinder in Europa und China, in Ke
nia und Brasilien wilde Karrierepläne: Fußball
star, Ärztin, Designer, Pilotin. Die meisten Jungen
müssen sich nicht sorgen, dass ihr Traum auf
grund ihres Geschlechts genau das bleiben wird.
Mädchen aber spüren mit neun genau, dass sie
um ein selbstbestimmtes Leben kämpfen müssen
oder irgendwann an eine gläserne Decke stoßen.
In diesem Alter stehen Kinder an der Schwelle
zur Pubertät, bald wird sich ihr Leben für immer
ändern. Sie denken vielleicht nicht direkt über
Demografie und Megatrends nach, beschreiben
ihren Alltag und ihre Zukunft aber klar und deut
lich. Wir haben Neunjährige auf vier Kontinenten
über ihre Träume und Ängste befragt und wollten
wissen, was sie gern an ihrem Leben ändern wür
den und welchen Einfluss ihr Geschlecht auf ihre
Zukunft hat.
Was ist das Beste daran, ein Mädchen zu sein?
Avery Jackson streicht sich eine regenbogen
farbene Haarsträhne aus der Stirn, überlegt kurz
und sagt: „Alles daran ist gut!“
Was ist das Schlimmste, wenn man ein Mäd
chen ist? „Jungs sagen mir immer: ‚Das ist nichts
für Mädchen.‘“ Auch als Avery begann, sich für
den Hindernislaufsport Parkour zu interessieren,
hörte sie den Satz. Aufhalten ließ sie sich nicht.
Bis zu ihrem vierten Lebensjahr lebte Avery
aus Kansas City als Junge – und war unglücklich.
Seit 2012 lebt sie offen als Transmädchen und
140 national geographic • januar 2017
erinnert sich schmerzhaft daran, wie sie ihre
Kinder gartenfreunde verlor: „Ihre Mütter konn -
- ten mich nicht mehr leiden.“
Spricht man mit Avery, erhält die oft abstrakte
Diskussion um Geschlechterrollen und -rechte
eine neue Dimension. „Neunjährige sind sehr
- redegewandt und klug“, sagt die Harvard-Psy -
- chologin Theresa Betancourt. Zwar müssten die
Kinder bereits mit sozialem Druck und steigen -
- der Verantwortung klarkommen, so Betancourt.
Anders als Teeanger, die dazu neigen, sich anzu -
passen und selbst zu zensieren, seien Neunjähri -
gen aber gnadenlos ehrlich. Auch wenn es um so
intime Themen geht wie ihr Geschlecht.
Yiqi Wang aus Peking gefällt, dass Mädchen
„ruhiger und zuverlässiger sind als Jungs“. Und
Juliana Meirelles Fleury aus Rio de Janeiro findet
es gut, dass „wir als Erste in den Fahrstuhl gehen
- dürfen“. Aber nicht alle äußern sich so fröhlich:
Sunny Bhope zum Beispiel lebt in der Nähe von
Mumbai und hadert mit der Rolle, die ihm zu -
- gedacht ist. Während seine Mutter Reis auf ei -
nem Holzkohle feuer kocht, erklärt Sunny, wie
schlimm er es finde, dass er als Mann bald beim
sogenannten „Eve-teasing“ mitmachen muss.
Mit diesem Euphemismus wird in Indien die
- sexuelle Belästigung von Frauen auf der Straße
bezeichnet. Viele Kinder geben zu, dass es sie
frustriert und verwirrt, sich in die ihnen zugewie -
senen Rollen einzufügen. Aber nicht alle akzep -
- tieren die Grenzen zwischen den Geschlechtern.
Was wäre anders, wenn du ein anderes Ge -
schlecht hättest? Lev Hershberg aus Jerusalem
meint, dass er dann vermutlich „Computer nicht
so gut fände“. Shimon Perel, ebenfalls aus Israel,
sagt, dass er als Mädchen Seilspringen dürfe. Yan
Zhu aus dem chinesischen Dorf Yaqueshui würde
endlich in dem „verbotenen Fluss“ baden, von
dem ihre Großmutter sagt, er sei zu kalt für Mäd
chen. Und Eriah Big Crow vom Stamm der Oglala
Lakota in South Dakota sagt mit leiser, fester
Stimme, dass es gar nichts gebe, was sie nicht tun
könne: Jungen und Mädchen seien doch „genau
gleich“. Ein schöner, richtiger Gedanke, in der
berechtigung der Geschlechter keine Rede sein.
Zwar könnten inzwischen mehr Mädchen welt
weit eine Grundschule besuchen, berichtet die
Unicef Statistikerin Claudia Cappa. Ab dem Alter
von zehn Jahren aber verstärkt sich die Ungleich
heit zwischen den Geschlechtern. „In der Puber
tät ändert sich alles“, sagt Cappa. Mädchen und
junge Frauen besuchen weit seltener weiterfüh
rende Schulen und sind öfter Zwangsehen und
Gewalt ausgesetzt. Cappa sagt: „Dann endet die
Kindheit, und man wird endgültig als weiblich
oder männlich definiert.“
Was willst du werden, wenn du groß bist?
Lokamu Lopulmoe wohnt in einer ländlichen Ge
gend in Kenia und hat keinen Traumberuf. „Wenn
ich erwachsen bin“, sagt sie, „bekommen meine
Eltern das Brautgeld. Wenn der Mann mich schla
gen sollte, können sich meine Eltern zumindest
mit dem Geld trösten.“ 500 Kilometer entfernt
plant Chanelle Wangari Mwangi in ihrem Zimmer
in einer exklusiven Wohnanlage in Nairobi eine
ganz andere Zukunft: Sie will Profigolferin werden
und „den Armen helfen“. Im kanadischen Ottawa
träumt William Kay selbstbewusst von einer Kar
riere als „Banker oder so ’ne Art Computergenie“.
In Selinsgrove im US Bundesstaat Pennsylvania
ist die Jung reporterin Hilde Lysiak immer auf der
Jagd nach Neuigkeiten. Sie glaubt, als Junge wür
de sie mehr Infos von der Polizei bekommen.
Was macht dich traurig? „Wenn sich ein
Mensch selbst tötet“, sagt Tomee War Bonnet aus
South Dakota. In dem Reservat, in dem sie lebt,
gibt es viele Selbstmorde – selbst unter Teen
agern. Rania Singla aus Mumbai ist vor allem
traurig, wenn sie von ihrem kleinen Bruder ge
schlagen wird. Und Lamia al Najjar, die in einer
Behelfsunterkunft im Gazastreifen wohnt, ist
„traurig, wenn ich unser altes Haus sehe“, das
2014 bei Kämpfen zerstört wurde.
Was macht dich glücklich? Ganz oben auf der
Liste stehen Familie, Gott, Essen, Fußball und
Freunde. Für Amber Dubue aus Ottawa bedeutet
Glück, einen „Platz zum Rumrennen“ zu haben.
Und Maria Eduarda Cardoso Raimundo aus Rio
de Janeiro ist glücklich, wenn „Mama und Papa
bei mir sind, mich in den Arm nehmen und mir
Ratschläge geben“. Marias Eltern leben getrennt.
Im Alter von neun Jahren „entwickeln Kinder
wichtige Emotionen wie Einfühlungsvermögen,
Gerechtigkeitsgefühl und Unrechtsbewusstsein“,
sagt Bede Sheppard von der Hilfsorganisation
linge und andere junge Menschen in Not betreut.
Der Jurist hat beobachtet, dass Kinder, die am
meisten unterdrückt und benachteiligt werden,
oft besonders mitfühlend und selbstlos seien.
Lopeyok Kagete vom kenianischen Hirtenvolk
der Turkana träumt zum Beispiel davon, Geld zu
verteilen und „Vieh zu schlachten, damit die
Menschen etwas zu essen haben“. Und Sunny
Bhope aus Indien, der mit seiner Familie in ei
nem Betonhaus mit einem einzigen Raum lebt,
will „Wohnraum für Obdach lose schaffen“.
Was würdest du in deinem Leben oder auf der
Welt gern verändern? Clara Fraga aus Rio würde
Diebe in gute Menschen verwandeln, „damit sie
nicht mehr stehlen“, Kieran Manuel Rosselli aus
Ottawa möchte „Terroristen zur Strecke bringen“.
In den Gesprächen mit den Neunjährigen ist man
oft überrascht, wie ernst sie über düstere Themen
sprechen. Als würde man mit kleinen Er
senen reden und nicht mit Kindern. Fang Wang
aus China etwa würde gern das Gefühl ändern,
dass sie empfindet, „wenn ich einsam bin“.
Ob Mädchen oder Junge, ob in Kanada oder in
Kenia – am häufigsten äußern die Neunjährigen
die Hoffnung, dass die Menschen einander end
lich besser behandeln. Wenn sie die Welt verän
dern könnte, sagt Avery Jackson aus Kansas City,
dann gäbe es „kein Mobbing mehr. Denn das ist
einfach nur schlimm“. j
Aus dem Englischen von Sabine Schmidt
mein leben mit neun 141
 NAWAR KAPUTIR,KENIA
„Egal wo ich bin, werde ich belästigt. Wenn ich zum Wasserholen oder
Brennholzsammeln gehe, sind immer Männer hinter mir her.“

142 national geographic • januar 2017

 M I K A Y L A MC OTTAWA, KANADA
„Als Mädchen kann ich alles machen. Alle Menschen sind gleich. Alle
haben die gleichen Möglichkeiten. Früher war das anders.“

mein leben mit neun 143

 PEKING, CHINA
„Jungs ist es nicht erlaubt, Mädchen zu
mobben. Denn diese sind meistens schwächer,
kleiner und ängstlicher. Stattdessen sollen
wir die Mädchen beschützen. Mein Vater
beschützt ja auch meine Mutter und übernimmt
Verantwortung für unsere Familie.“

144
 PEKING, CHINA
„Ich würde am liebsten meine Persönlichkeit
verändern. Denn ich komme nicht so gut mit
anderen Menschen klar. Ich wäre gern
kontaktfreudiger und weniger schüchtern.“
 MARIA EDUARDA CARDOSO
RIO DE JANEIRO, BRASILIEN
„Ich bin gern ein Mädchen, weil die mehr auf sich achten als die Jungs.“

146 national geographic • januar 2017

 RILEY
P I N E R I D G E R E S E R V A T I O N ,S O U T H D A K O T A , U S A
„Wenn ich groß bin, will ich zu der Spezialeinheit Navy SEALs. Böse Men-
schen haben mein Volk getötet. Deshalb will ich mein Land beschützen.“

mein leben mit neun 147

 LOPEYOK
KAPUTIR,KENIA
„Jungs haben es gut.
Sie haben einen Penis.“

148
NICOLE NDUTA
MUNYUI
NAIROBI, KENIA
„Der Unterschied
zwischen uns ist
folgender: Mädchen
sind sanft, Jungen grob.
Manche von ihnen be -
schimpfen andere Leute,
sind unhöflich und können
sich nicht beherrschen.“
 IBRAHIM AL KHAN YUNIS, GAZASTREIFEN
„Jungs spielen mit Jungs, und Mädchen spielen mit Mädchen. Wir spielen
auch ganz andere Sachen als sie.“

150 national geographic • januar 2017

 TOMEE WAR PINE RIDGE RESERVATION,
SOUTH DAKOTA, USA
„Am schlimmsten finde ich, dass ich nicht die gleichen Dinge tun kann wie
ein Junge. Mich ärgert, dass es bei uns noch nie eine Präsidentin gegeben hat.“

mein leben mit neun 151

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erleben mehr.
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Premium-Angebote im Januar.

Wissenschaft ist manchmal

spannender als jeder Krimi.

Florian Gless, Chefredakteur

Liebe Leser von NATIONAL GEOGRAPHIC,

die Alchemie hat die Fantasie der Menschen schon immer zu großartigen Geschichten inspiriert – von J.K.
Rowlings „Harry Potter und der Stein der Weisen“ bis Goethes „Faust“. 2012 machten Archäologen in Witten-
berg eine sensationelle Entdeckung: Bei Ausgrabungen fanden sie Überreste eines Alchemisten-Labors aus dem
16. Jahrhundert – spektakuläre Zeugnisse des alten Menschheitstraums, Gold herstellen zu können.

Geschichten aus der Wissenschaft sind manchmal spannender als jeder Krimi. Zur Lösung des Rätsels haben Mit-
arbeiter des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle (Saale) die Fundstücke restauriert, darunter in Tausende
Scherben zerbrochene Destillierkolben. Jetzt sind sie als Herzstück der Ausstellung „Alchemie – Die Suche nach
dem Weltgeheimnis“ in Halle zu sehen. Ein Besuch lohnt sich! Zehn unserer Leser bekommen die Gelegenheit, bei
einer exklusiven Führung Alfred Reichenberger Fragen zu stellen und mehr über die Vorfahrin unserer heutigen
Naturwissenschaften zu erfahren.

Ein kulturelles Highlight ganz anderer Art sind die Filme des Mountain Film Festivals im kanadischen Banff. Sie zei-
gen Kletterer, Kajakfahrer und Mountainbiker bei ihren Touren in beeindruckenden Landschaften. Ab Februar 2017
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Herzlichst

Florian Gless, Chefredakteur

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GEOGRAPHIC erscheint 12x im Jahr als digitale Ausgabe für

Verlag: G+J NG Media GmbH & Co. KG, Dr. Frank Stahmer, Am Baumwall 11, 20459 Hamburg. AG Hamburg, HRA 92832. Vertrieb: Belieferung, Betreuung und Inkasso erfolgen durch
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154 national geographic • januar 2017

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I februar 2017

AUFSTAND DER WITWEN

gestoßenen, wenn ihr Ehemann stirbt.

Sie leben isoliert, in Armut und ohne
Doch immer widersetzen
sich mutige Frauen Schicksal.
Eine Reportage aus Indien, Uganda und
Bosnien Herzegowina.

EINE OASE IM
WELTMEER
Diese Rotalgen und
auf der
Bank im Pazifik sollen
auf Men
schen geschützt wer
den, Barack
Obama. Der gerade
aus dem Amt geschie
dene US-Präsident
hat mehr Meeres
schutzgebiete ausge
rufen als alle seine
Vorgänger. Aber der
Klimawandel ist auch in
den spürbar.

KLEIN, ABER OHO

Die Marmorkatze lebt in den
Tropen Asiens. Wie der
Serval und der Iberische Luchs
steht sie im Schatten der gro
ßen Raubkatzen wie Löwe und
Tiger. sind die kleinen
Verwandten ebenso faszinie
rende Tiere.

FOTOS IM UHRZEIGERSINN VON O. L.: AMY

TOENSING, BRIAN FINKE, ORSOLYA HAARBERG UND ERLEND
HAARBERG, JOEL SARTORE, BRIAN SKERRY
 In Lamay (Peru)
trinkt Lucio Chávez
Diaz ein Glas
frutillada: Maisbier
mit Erdbeeren.

DIE EWIGE LIEBEZUM ALKOHOL

Bier, Wein und Schnaps begleiten die Menschheit seit Tausenden Jahren. Forscher fanden
nun heraus: Alkohol hat nicht nur die Kunst, Sprache und Religionen
beeinflusst – sondern machte es überhaupt erst möglich, dass sich Hochkulturen entwickelten.

AUF DEM EISPLANETEN

In Lappland herrscht jetzt tiefer Winter,
die Fichten biegen sich unter der Last
des Schnees. Die Welt ist wie eingefro -
ren. Wer diese Landschaft der Berge,
Seen und Wälder erkundet, findet Ein -
samkeit und große Stille.

Die Februar-Ausgabe erscheint am 27. Januar 2017. 157

Änderungen vorbehalten
HALB MÄNNCHEN,
HALB WEIBCHEN
Die Natur ist zu komplex für Schwarz
Weiß Denken: Die helle Hälfte dieses
Östlichen Tigerschwalbenschwanzes
ist männlich, die dunkle weiblich. Halb
seiten Hermaphroditen, bei denen die
Trennlinie zwischen den Geschlechtern
mitten durch den Körper verläuft, sind
selten – und kommen unter Vögeln,
Krustentieren und Schmetterlingen vor.
Häufiger sind klassische Her ma
diten, die äußerlich wie ein Männchen
oder Weibchen erscheinen, aber beide
Fortpflanzungsorgane aufweisen. An
ders verhält es sich bei Gynandern (Grie
chisch gyne = Frau und ander = Mann),
die eine Art Mosaik aus weib lichen und
männlichen Merkmalen darstellen. Zum
Beispiel besitzen sie Größe und Farbe
des einen Geschlechts, aber die Geni
talien des anderen.
Biologen erklären sich die Entstehung
von Halbseiten Hermaphroditen oder
158 national geographic • Januar
ÖSTLICHER
maßen: Bei Schmetterlingen sind die TIGERSCHWALBEN-
Geschlechtschromosomen andersherum SCHWANZ
verteilt als beim Menschen – Männchen (PAPILIO GLAUCUS)
besitzen zwei gleiche (ZZ), Weibchen
HABITAT
Laubwälder, Parks und
lichen Eizelle kommen manchmal zwei Stadtränder im Osten
Zellkerne mit je einem Z und einem W Nordamerikas
vor. Werden diese simultan von einem
STATUS
männlichen Spermium befruchtet, be Nicht gefährdet
sitzt das Tier beide Geschlechter. Ein
seltenes Phänomen: Im Rahmen einer AUCH INTERESSANT
Die Schmetterlingsart ist
Studie zogen Wissenschaftler 30000
der offi zielle „Staats -
Schmetterlinge auf und fanden nur fünf schmetterling“ von fünf
entsprechende Exemplare. Im Labor US-Bundesstaaten,
hat man auch beobachtet, dass die Halb darunter Georgia und
Alabama.
seiten Hermaphroditen zwar versuchen,
Eier zu legen – letztlich aber unfrucht
bar sind. Diese Laune der Natur bringt
also besonders auffällige Wesen hervor,
die ihre Schönheit aber nicht an die
nächste Generation weitergeben können.
2017 FOTO: JAMES K. ADAMS
 Geheimnisse des Waldes
Der neue Kieling enthüllt Geheimnisse, welche sich
zu allen Jahreszeiten in unseren Wäldern verbergen –
wenn man nur hineingeht und die Augen enhällt.

Andreas Kieling
Sehnsucht Wald
Hardcover mit Schutzumschlag
240 Seiten, 220 Bilder
ISBN 978-3-86690-477-4
€ 49,99 (D)
www.nationalgeographic-buch.de
NG Buchverlag GmbH, Infanteriestraße 11a, 80797 München

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und ihrer Kultur

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