Sie sind auf Seite 1von 4

Wahlsysteme

Wahlsysteme sind Verfahren, nach welchen die Wähler ihre Partei- und/ oder Kandidatenpräferenz in
Stimmen ausdrücken. Im Falle von Parlamentswahlen werden mittels Wahlsystemen
Stimmenergebnisse (data of votes) in spezifischer Weise in Mandatsergebnisse (parliamentary seats)
übertragen.

Grundsätzlich lassen sich Wahlsysteme in die Grundtypen Mehrheitswahlsystem und


Verhältniswahlsystem klassifikatorisch unterscheiden. Diese Grundtypen können nach den
Definitionskriterien Entscheidungsprinzip und Repräsentationsprinzip analysiert werden.

1. Verhältniswahlrecht

In der Mehrzahl der westlichen Industrieländer (16) gilt heute das Prinzip der Verhältniswahl. Dem
Verhältnis- oder Proportionalwahlsystem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Anteil der zugeteilten
Mandate proportional zum Stimmenanteil einer Partei sein soll. Die Berechnung der Anzahl, der auf
die jeweilige Partei entfallenden Mandate, wird mit mathematischen Methoden durchgeführt oder
geschieht nach „automatischem“ Verfahren, wobei ein bestimmter Stimmenanteil für die Zuteilung
eines Mandats gesetzlich festgelegt wird. Letzteres war in der Weimarer Republik der Fall. Bei der
Verhältniswahl wird nach Proporz entschieden; das Entscheidungsprinzip bedeutet die Vergabe der
Mandate nach dem Verhältnis der Stimmen zueinander. Das Ziel des Repräsentationsprinzips ist die
proportionale Vertretung der politischen Parteien im Parlament. Somit soll ein (partei-) politisches
Abbild des Parlaments getreu der Wählerschaft wiedergegeben werden. Jede Stimme besitzt den
gleichen Erfolgswert. Die Hauptfunktion dieses Wahlsystems besteht in einer möglichst getreuen
Wiederspieglung der in der Wählerschaft bestehenden gesellschaftlichen Kräfte.

Der Verhältniswahl werden folgende Vorteile zugesprochen:

- Gerechtigkeit: Das Verhältniswahlsystem zeichnet sich durch große Gerechtigkeit aus, da

a) jede Stimme den gleichen Erfolgswert aufweist,


b) Minderheitengruppen entsprechend ihrer tatsächlichen Stärke repräsentiert werden und
c) kein Wähler durch einen Abgeordneten repräsentiert wird, den er nicht gewählt hat.

- Spiegelbild der Wählerschaft: Bei einem reinen Verhältniswahlsystem entsteht ein getreues Abbild
der in der Wählerschaft bestehenden politischen Präferenzen.

- Keine Wahlkreisgeometrie: Durch die Verrechnung auf Wahlgebietsbasis besteht keine Möglichkeit
der Manipulation von Wahlergebnissen durch Wahlkreiseinteilung im Interesse bestimmter Gruppen.

- Erforderliche Experten: Die für jedes Parlament notwendigen Experten können über Landeslisten
besser abgesichert werden.

- Bessere Möglichkeiten für neue Parteien: Die Verhältniswahl ermöglicht neuen Parteien eher den
parlamentarischen Zugang und verhindert ein Kartell der bestehenden Parteien.

- Verhinderung extremer politischer Umschwünge: In Verhältniswahlen ist es außerordentlich selten,


dass sich extreme Veränderungen im Parteiensystem sehr schnell niederschlagen.
2. Mehrheitswahlrecht

In sechs von 25 der westlichen Industrieländer wird derzeitig das Prinzip der Mehrheitswahl
angewandt. Die Mehrheitswahl steht für ein Entscheidungsprinzip, welches unter Berufung des
Prinzips der Einstimmigkeit die Mehrheit der abgegeben Stimmen entscheiden soll. Gemäß diesem
Grundprinzip ist der Abgeordnete im Wahlkreis gewählt, der eine bestimmte Mehrheit auf sich
vereinigt. Ein wesentliches Merkmal ist auch, dass die abgegebenen Stimmen für den oder die
unterlegenen Kandidaten unberücksichtigt bleiben.

Im Gegensatz zur Verhältniswahl liegt ihr die Zielvorstellung zugrunde, bei Wahlen eine
Mehrheitsbildung und eine Entscheidung über die politische Führung hervorzubringen und so eine
Partei mittels parlamentarischer Mehrheitsbildung für die Regierung zu befähigen. Folglich besteht das
angestrebte Ziel in der Etablierung einer Ein-Partei-Regierung. Die Hauptfunktion liegt daher in der
Fähigkeit, eine regierungsfähige Mehrheit zu schaffen.

Es gibt verschiedene Formen der Mehrheitswahl: Qualifizierte Mehrheitswahl (spezifische Anzahl von
Stimmen, zumeist 2/3 der abgegebenen Stimmen), absolute Mehrheitswahl (mehr als die Hälfte
abgegebener Stimmen) und relative Mehrheitswahl (Kandidat mit höchster Stimmenanzahl gilt als
gewählt).

Der Politikwissenschaftler Wichard Woyke hat sich hinsichtlich der Vorzüge und Auswirkungen des
Mehrheitswahlrechts wie folgt geäußert:

- Verhütung der Parteienzersplitterung: Das System der relativen Mehrheit enthält eine versteckte
„Sperrklausel“: Parteien, die die relative Mehrheit der Wählerstimmen nicht auf sich vereinigen
können, scheiden automatisch aus. Minderheitenparteien haben daher nur durch mögliche Hochburgen
die Chance, ein Mandat zu erlangen.
- Stabile Regierungen: Ein Mehrheitswahlsystem führt tendenziell zu Zweiparteiensystemen und somit
zur Bildung stabiler Regierungen.
- Förderung politischer Mäßigung: Da die Wähler der Mitte eine Wahl entscheiden, sind die
konkurrierenden Parteien gezwungen, sich in ihrer Programmatik an der gemäßigten Wählerschaft der
Mitte zu orientieren.
- Förderung des Wechsels in der Regierungsausübung: Bereits kleine Veränderungen in den
Stärkeverhältnissen der Parteien nach Wählerstimmen können durch den Disproportionseffekt (nicht
unbeachtliche Disproportion zwischen Stimmen und Mandaten, die die größere Partei bevorteilt) große
Veränderungen an Mandaten auslösen.
- Personenwahl: Aufgrund der Einteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise entsteht eine enge
Verbindung zwischen Wähler und Kandidat. Der Wähler entscheidet bei seiner Stimmabgabe eher
über Personen als über Parteien.
- Direkte Wahl der Regierung: Der Wähler entscheidet bei der Wahl unmittelbar über Regierung und
Opposition, sodass nicht die Parteien in Koalitionsverhandlungen die Regierungsführung aushandeln.
- Unabhängigkeit des Abgeordneten gegenüber seiner Partei: Durch die direkte Wahl im Wahlkreis
wahrt der Abgeordnete eine unmittelbare Verbindung zum Wähler.

3. Bewertungskriterien

Im Folgenden werden Bewertungskriterien für Wahlsysteme vorgestellt. Diese basieren auf dem
Bewertungskatalog von Eckhard Jesse von 1985. Ziel seines Katalogs ist es, Wahlsysteme im
Allgemeinen zu bewerten. Zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl wird nicht näher unterschieden.
Weiterhin haben demokratische Wahlen, bzw. Wahlsysteme das Ziel der sinnvollen Umsetzung von
Stimmenverteilung in Mandatssitze gemein, womit eine nähere Differenzierung der Wahltypen in
diesem Fall für nicht notwendig erachtet wird.
Verständlichkeit und Einfachheit des Wahlverfahrens steigert die legitimierende Wirkung der Wahl.
Das Wahlsystem soll für den Wähler einfach zu verstehen und zu handhaben sein.

Die Sinnvolle Zuordnung von Stimmen und Mandaten bedeutet, dass die Übertragung von Stimmen in
Mandate dem Wähler einleuchtet, das Wahlergebnis nicht verfälscht und den Wählereinfluss sichert.
Verfälschung bedeutet nicht, dass Stimmen- und Mandatsanteile voneinander abweichen, sondern dass
ein unzureichend einleuchtender Zusammenhang zwischen der Mandatsverteilung und den Stimmen,
die eine Partei errungen hat, besteht.

Ein weiteres Kriterium ist die Chance des Regierungswechsels. Das Wahlsystem sollte nicht so
gestaltet sein, dass die Herrschaft einer Partei zementiert ist.

Die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten sollte gewährleistet sein, indem die Regierung
handlungsfähig ist und eine schwache und zerstrittene Herrschaft ausbleibt. Das Kriterium der
Repräsentation der politischen Richtungen sollte erfüllt sein, um der Integrations- und
Legitimationsfunktion einer repräsentativen demokratischen Wahl nachzukommen.

Die traditionelle Verankerung stellt dar wie stark das Wahlverfahren als solches im Bewusstsein der
Bürger gefestigt ist. Die Bürger sollten dem Wahlsystem Vertrauen und Zufriedenheit
entgegenbringen.1

Diese Kriterien dienen ebenso der Präzisierung des Begriffs „Gerechtigkeit“.

4. Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland

Im Folgenden wird das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland betrachtet. Hierbei werden
Kriterien wie die Historische Entwicklung, der Aufbau des Wahlsystems, das Parteiensystem und
Wählerverhalten und die Reformdebatten in sowohl politischen und gesellschaftlichen Diskursen
erörtert.

4.1 Historische Entwicklung

Revolutionäre Ereignisse in Frankreich 1848 weiteten sich schnell auf Deutschland aus, nachdem sich
vorher in nur wenigen süddeutschen Ländern des Deutschen Bundes ein schwach ausgebildeter
Konstitutionalismus ausgebildet hatte. In Deutschland galt zum Reichstag vor 1918 ein
Mehrheitswahlrecht mit zweitem Wahlgang, falls im ersten Wahlgang kein Kandidat die absolute
Mehrheit errungen hatte. Der Reichstag konnte den Reichskanzler nicht stürzen und der Reichskanzler
war diesem gegenüber auch nicht verantwortlich. Korrekturen der Wahlkreiseinteilung unterblieben
bis 1918, sodass die Wahlkreise unterschiedlich groß wurden. Von dem System dieser passiven
Wahlkreisgeometrie profitierten die Konservativen sehr, währenddessen es der Sozialdemokratie
schadete. Erst im August 1918 wurde für einen Teil städtisch geprägter Wahlkreise entschieden, die
Mandate nach Proporz zu berechnen. Die SPD propagierte schon seit langem ein
Verhältniswahlsystem, um zum einen ihre Benachteiligung zu mindern und zum anderen das Prinzip
eines Gleichheitsgebots zu verwirklichen. Nach dem 1. Weltkrieg wurde sodann die Verhältniswahl
eingeführt. So forderten in der Weimarer Republik die Verfassungsartikel 17 und 22 sowohl für die
Reichstags- als auch für die Landes- und Kommunalwahlen die Verhältniswahl. Die
Mandatsverteilung erfolgte in drei Schritten: Im ersten Zuteilungsverfahren wurden den Parteien für je
60 000 Stimmen in einem der 35 Wahlkreise ein Mandat zugesprochen; in einem zweiten Verfahren
auf der Ebene der 17 Wahlkreisverbände führten überschüssige Stimmen zu weiteren Mandaten; in
einem dritten Verfahren auf der Reichsliste bekamen die Parteien pro 60 000 Stimmen und für einen
Rest von über 30 000 Stimmen erneut ein Mandat.
Es existierte keine Sperrklausel. Die reine Verhältniswahl führte zu einer Zersplitterung des
Parteiensystems. 1920 betrug die Anzahl der Parteien noch 23, 1932 waren es bereits 42. Unter
anderem erschwerte die große Anzahl an Parteien im Parlament die Bildung einer regierungsfähigen
Mehrheit. Das Wahlsystem ist jedoch nur als ein Faktor, der zum Scheitern der Weimarer Republik
beigetragen hat, anzusehen. Nach 1945 entbrannte ein heftiger Streit, ob und inwiefern das reine
Verhältniswahlsystem den Untergang der Weimarer Republik antrieb. Das Grundgesetz hat unzählige
Ableitungen aus der leidvollen historischen Erfahrung gezogen. Das Wahlrecht fand dort die
geringfügigste Folgerung, obgleich es nicht wieder in der Verfassung verankert wurde, um
Änderungen zukünftig zu erleichtern.

Bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland konnten sich die Parteien im Parlamentarischen
Rat über eine verfassungsmäßige Verankerung des Wahlsystems nicht einigen. Die CDU, CSU und
DP (Deutsche Partei) setzten sich allein für ein mehrheitsbildendes Wahlsystem ein, während andere
Parteien, insbesondere die SPD, für ein Verhältniswahlsystem eintraten. Anderen, kleineren Parteien
drohte hinsichtlich des Mehrheitswahlsystems der parlamentarische Ausschluss. Die Reformversuche
der CDU ein mehrheitsbildendes, die kleinen Parteien chancenlos machendes Wahlrecht einzuführen,
scheiterten zum einen am Widerstand der öffentlichen Meinung und zum anderen an der SPD und
FDP. Schließlich kam es zur Umsetzung des Kompromisses der SPD, nach welchem ein Teil der
Abgeordneten nach relativer Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen gewählt wurde, der Mandatsteil
jedoch nach dem Prinzip der Verhältniswahl berechnet werden sollte. Bis 1949 hatte jeder Wähler nur
eine Stimme; reformiert wurde dies 1953. Fortan hatte jeder Wähler zwei Stimmen.

4.2 Aufbau des Systems

Nach Art. 38 GG werden die Abgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und
geheimer Wahl gewählt. Das System der „personalisierten“ Verhältniswahl, welches in der
Bundesrepublik Deutschland angewandt wird, versucht die Entscheidungsregel der Mehrheitswahl und
das Repräsentationsprinzip der Verhältniswahl zu kombinieren.

Die eine Hälfte der Abgeordneten wird in 299 Einzelwahlkreisen mit einfacher Mehrheit gewählt, die
andere Hälfte über Landeslisten der Parteien.

Jeder Wähler verfügt über zwei Stimmen. Mit seiner Erststimme oder Personalstimme entscheidet er
über den Wahlkreisabgeordneten. Die Wahl der Direktkandidaten ermöglicht dem Bürger einen
Kandidaten zu wählen, zu dem er einen persönlichen Bezug hat. Die Wahlkreise werden gesetzlich
festgelegt. Das Bundeswahlgesetz schreibt vor, dass die Zahl der Wahlkreise in den einzelnen Ländern
deren Bevölkerungsanteil soweit wie möglich entsprechen muss. Diese Bestimmung dient neben der
allgemeinen Gleichheit der Wahl ebenso der Vermeidung von Überhangmandaten, die unter anderem
von einer zu hohen Zahl an Wahlkreisen in einem Land verursacht werden können. Zur
Wahlkreiseinteilung spricht die Wahlkommission dem Gesetzgeber Empfehlungen aus.

Quelle: https://www.grin.com/document/320847

Das könnte Ihnen auch gefallen