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Kernenergie
Basiswissen
Martin Volkmer
3
Herausgeber:
DAtF
Deutsches Atomforum e.V.
Robert-Koch-Platz 4
10115 Berlin
info@
www. kernenergie.de
Wissenschaftliche Beratung:
Winfried Koelzer
November 2013
4
Inhalt
5
8 Versorgung und Entsorgung 9 Strahlenmessung und
von Kernkraftwerken . . . . . . . . . . . . 67 die Strahlenexposition des Menschen . . . 78
8.1 Kraftwerke als Energiewandler und 9.1 Ionisationskammer . . . . . . . . . . 79
Stoffwandler . . . . . . . . . . . . . 68 9.2 Energiedosis . . . . . . . . . . . . . 79
8.2 Die Versorgung eines Kernkraftwerkes 9.3 Organdosis . . . . . . . . . . . . . . 80
mit Spaltstoff . . . . . . . . . . . . . 68 9.4 Effektive Dosis . . . . . . . . . . . . 81
8.2.1 Uranvorkommen . . . . . . . 68 9.5 Folgedosis . . . . . . . . . . . . . . . 81
8.2.2 Urangewinnung . . . . . . . . 69 9.6 Somatische und genetische
8.2.3 Anreicherung von Uran-235 . . 69 Schäden . . . . . . . . . . . . . . . . 81
8.2.4 Herstellung von Brenn 9.7 Natürliche Strahlenexposition des Men-
elementen . . . . . . . . . . . 69 schen . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
8.3 Die Entsorgung von radioaktiven 9.7.1 Kosmische Strahlung und durch
Abfällen aus Kernkraftwerken . . . . 70 sie erzeugte Radionuklide . . . 83
8.3.1 Entladen der Brennelemente 9.7.2 Terrestrische Strahlung . . . . 84
aus dem Reaktor und Zwischen- 9.7.3 Eigenstrahlung des Körpers . . 85
lagerung . . . . . . . . . . . 71 9.7.4 Gesamtbetrag der natürlichen
8.3.2 Direkte Endlagerung . . . . . 72 Strahlenexposition . . . . . . 85
8.3.3 Wiederaufarbeitung . . . . . 73 9.8 Zivilisatorisch bedingte Strahlen
8.3.4 Konditionierung radioaktiver exposition des Menschen . . . . . . . 86
Abfälle . . . . . . . . . . . . . 73 9.8.1 Strahlenexposition durch
8.3.5 Endlagerung radioaktiver Anwendung ionisierender
Abfälle in Deutschland . . . . 74 Strahlen und radioaktiver
8.4 Transporte bei der Ver- und Stoffe in der Medizin . . . . . 86
Entsorgung . . . . . . . . . . . . . . 75 9.8.2 Strahlenexposition
8.5 Behandlung radioaktiver Betriebs- durch Reaktorunfälle . . . . . 87
abfälle in einem Kernkraftwerk . . . . 76 9.8.3 Strahlenexposition
8.5.1 Behandlung gasförmiger durch Kernwaffentests . . . . 87
Reaktorbetriebsabfälle . . . . 76 9.8.4 Strahlenexposition d
8.5.2 Behandlung flüssiger Reaktor urch Flugverkehr . . . . . . . 88
betriebsabfälle . . . . . . . . 77 9.8.5 Strahlenexposition
8.5.3 Behandlung fester Reaktor durch Kernkraftwerke . . . . . 88
betriebsabfälle . . . . . . . . 77 9.9 Zusammenfassung
der Strahlenexposition . . . . . . . . 89
Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . 90
6
Das Atom 1
1.1 Chemische Elemente und ihre kleinsten Teilchen
Zurzeit sind 118 chemische Elemente (Tab. 1.01) In der Erdkruste einschließlich Wasser und Luft
bekannt. Alle Elemente mit der Ordnungszahl sind Sauerstoff (49,2 %), Silizium (25,7 %) und
95 und höher sind künstlich hergestellt. Einige Aluminium (7,5 %) die häufigsten Elemente. Der
Elemente – Technetium, Promethium, Astat, Mensch besteht im Wesentlichen aus Sauerstoff
Neptunium und Plutonium – wurden zuerst (65 %), Kohlenstoff (18 %) und Wasserstoff (10 %)
künstlich hergestellt und erst später auch ihr (alle Angaben in Gewichtsprozent).
natürliches Vorkommen nachgewiesen.
8
Die kleinsten Teilchen der chemischen Elemente 20. Jahrhunderts entwickelten Modell besteht
werden Atome genannt. Die kleinsten Teilchen das Atom aus einem sehr kleinen Kern, in dem fast
des Wasserstoffs, Kohlenstoffs oder Urans, die die gesamte Masse vereinigt ist, und einer Hülle.
noch die charakteristischen Eigenschaften dieser
Elemente besitzen, nennt man also Wasserstoff Der Kern baut sich aus elektrisch positiv gela
atome, Kohlenstoffatome bzw. Uranatome. denen Protonen (p+) und elektrisch neutralen
Neutronen (n) auf. Sie werden auch als Kern
Der Durchmesser der Atome beträgt etwa teilchen oder Nukleonen bezeichnet. Die Atome
10–7 mm. Erst 10 Millionen Atome aneinander eines jeden Elements haben in ihren Kernen
gereiht ergeben etwa 1 mm. Die Atome sind jeweils eine charakteristische Anzahl von Pro
also für das menschliche Auge unsichtbar. Mit tonen (Tab. 1.01). Jedes Element wird also durch
speziellen Mikroskopen ist es aber gelungen, sie die Protonenzahl eindeutig bestimmt. Bis zum
schemenhaft zu erkennen. In Abb. 1.01 zeigen Element Calcium (20 Protonen) stimmt die Pro-
die dunklen Flecken die Stellen an, an denen sich tonenzahl etwa mit der Neutronenzahl überein,
die einzelnen Atome eines größeren Moleküls von da ab überwiegt die Anzahl der Neutronen.
befinden. Über den inneren Aufbau der Atome
gibt es keine mikroskopischen Aufnahmen. In der Atomhülle befinden sich in der Regel
ebenso viel negativ geladene Elektronen (e–)
wie im Kern Protonen vorhanden sind. Da das
Elektron eine negative Elementarladung und
das Proton eine positive Elementarladung trägt,
gleichen sich die Ladungen aus. Das Atom ist
dann nach außen elektrisch neutral. Verliert ein
Atom ein Elektron aus seiner Hülle, überwiegen
die positiven Ladungen im Kern (positives lon). Abb. 1.01
Nimmt ein Atom ein weiteres Elektron in seine Atome in einem
Hülle auf, überwiegen die negativen Ladungen Kupfer-Chlor-Phthalocyanin-Kristall
(negatives Ion) (Abb. 1.02). Quelle: Bergman/Schäfer, Lehrbuch der
Experimentalphysik, Band III, 8. Auflage,
Hülle Walter de Gruyter, 1987
Die in einem Kern vorhandenen Protonen müssten Kräfte wirksam sind. Sie sorgen dafür, dass Kern
sich eigentlich aufgrund ihrer positiven Ladun- und Hülle nicht aufeinander fallen.
gen gegenseitig abstoßen und dadurch den Kern
zum Zerplatzen bringen. Da aber stabile Atom- Um ein Elektron aus der Atomhülle abzutrennen,
kerne mit z. T. recht vielen Protonen existieren, benötigt man Energie. Dabei zeigt sich, dass für die
kann daraus geschlossen werden, dass es andere einzelnen Elektronen einer Hülle unterschiedlich
Kräfte geben muss, die die Kernteilchen anein viel Energie aufgewendet werden muss. Die Elek-
ander binden. Diese anziehenden Kernkräfte sind tronen sind also unterschiedlich fest an den Kern
stärker als die im Kern wirkenden abstoßenden gebunden bzw. sie besitzen gegenüber dem Atom-
elektrischen Kräfte. kern unterschiedliche Energie. Diese Energiewerte
der Elektronen unterscheiden sich aber nicht
In der Atomhülle befinden sich negativ geladene kontinuierlich, sondern stufenartig voneinander
Elektronen. Elektronen und Protonen müssten (Energiestufen). Um diese Tatsache im Modell zu
sich aufgrund ihrer unterschiedlichen elek veranschaulichen, weist man den einzelnen Elek
trischen Ladungen anziehen, die Hüllenelek tronen bestimmte Bahnen bzw. Schalen zu, die
tronen also auf den Kern fallen. Da das aber nicht um den Kern angeordnet sind (K-, L -, M-, N-, O-,
eintritt, ist anzunehmen, dass auch hier andere P- und Q-Schale, am Kern beginnend) (Abb. 1.03).
9
Abb. 1.03
Atome in vereinfachter Modelldarstel-
lung. Das Atom besteht aus dem
elektrisch positiv geladenen Kern und
der elektrisch negativ geladenen Hülle.
Elektronen mit festerer Bindung an den Kern Proton und Neutron haben fast die gleiche
werden auf kernnahen Bahnen oder Schalen Masse. Die Masse des Elektrons beträgt aber nur
gezeichnet, Elektronen weniger fester Bindung 1/1.836 der Masse des Protons. Das ist ein so
an den Kern auf kernferneren Bahnen oder geringer Betrag, dass man ihn bei Betrachtung
Schalen. Diese Bahnen oder Schalen existieren der Atommassen vernachlässigen kann. Praktisch
nicht wirklich. Es sind lediglich Hilfsvorstellungen ist die gesamte Masse eines Atoms in seinem
zur Veranschaulichung der unterschiedlichen Kern vereinigt (Tab. 1.02).
Energiestufen. Das Größenverhältnis von Atom-
hülle zu Atomkern ist bemerkenswert. Der Durch- Wenn man die Atome eines großen Ozean
messer der Hülle beträgt etwa 10–10 m, der Durch- dampfers in Gedanken so zusammenpresst, dass
messer des Kerns etwa 10–14 m. Der Kern ist also sich die Elektronen dicht an den Atomkernen
etwa 10.000-mal kleiner als die Hülle. Zur Veran- befinden, erhielte man nur eine winzige Menge
schaulichung dieses Verhältnisses kann man das an Materie in der Größe eines Stecknadelkopfes.
Atom in Gedanken auf das 1012-fache vergrößern. Die Masse des Ozeandampfers würde aber
Die Hülle hätte dann einen Durchmesser von 100 erhalten bleiben.
m, der Kern wäre aber nur 1 cm groß (Abb. 1.04).
Die Massen von Proton und Neutron liegen
im Bereich von 10–27 kg. Da das Rechnen mit
so kleinen Werten ungünstig ist, gibt man zur
Beschreibung der Masse eines Atomkerns ledig-
lich an, wie viele Protonen und Neutronen er ent-
hält. Das ist seine Massenzahl.
100 m
Neben der Masse ist die elektrische Ladung die
zweite wichtige Eigenschaft des Atomkerns. Je-
des Proton besitzt die kleinste bisher nachgewie-
Kirschkern sene positive Ladungsmenge, die deshalb auch
1 cm Elementarladung genannt wird. Die Anzahl der
Protonen ist also gleich der Anzahl der Elemen-
tarladungen. Das wird durch die Kernladungszahl
beschrieben. Sie entspricht der Ordnungszahl der
chemischen Elemente.
10
2 + 6 + 92 +
4 12 235
2 n 6 n 143 n
Abb. 1.05
4 12 235
2 He 6 C 92 U Aufbau der Atomkerne im Modell
Massenzahl:
Gesamtzahl der Protonen
Kern eines Kern eines Kern eines und Neutronen
Heliumatoms Kohlenstoffatoms Uranatoms
Kernladungszahl:
Anzahl der Protonen
Kern eines Kern eines Kern eines Im natürlichen Wasserstoff treten drei Isotope
Heliumatoms Kohlenstoff- Uranatoms auf (Abb. 1.06):
atoms
4 12 235
2 He 6 C 92 U Tab. 1.03
Kennzeichnung des Kernaufbaus
Proton Deuteron Triton
Massenzahl: 4 Massenzahl: 12 Massenzahl:235
Kernladungszahl: 2 Kernladungszahl: 6 Kernladungszahl: 92 1 2 3 Abb. 1.06
1H 1H 1H Die Kerne der Wasserstoffisotope
(Modelldarstellung)
Für die Elementarteilchen gilt:
99,989% 1 Wasserstoff,
1
1 p 1
0 n 0
-1 e 1 H leichter Wasserstoff
Proton Neutron Elektron Der Kern besteht aus einem Proton ( 11 p ).
Die Atome eines Elements können bei gleicher kleinste 3 Überschwerer Wasserstoff
Protonenzahl eine unterschiedliche Neutronen- Mengen 1 H=T oder Tritium (T)
zahl besitzen. Solche Atome mit gleicher Kern Der Kern besteht aus einem Proton und
ladungszahl (Ordnungszahl), aber mit unter- zwei Neutronen. Tritium wird in den oberen
schiedlicher Massenzahl, bezeichnet man als Schichten der Atmosphäre durch die kosmische
Isotope. Sie unterscheiden sich nicht in ihren Strahlung ständig neu gebildet und entsteht
chemischen, wohl aber in ihren kernphysika auch in Kernkraftwerken. Tritium ist radioaktiv.
lischen Eigenschaften.
Da die 118 Elemente z. T. viele Isotope haben, Ein Wassermolekül, das z. B. die Wasserstoff
existieren insgesamt etwa 3.850 Nuklide. Davon isotope H-1 und H-3 (T) enthält, wird deshalb HTO
sind 257 stabil, alle anderen zerfallen spontan, abgekürzt. Enthält das Molekül nur das Isotop
d. h. sie sind radioaktiv. Man nennt sie deshalb H-2, kürzt man es D2O ab.
Radionuklide.
Abb. 1.07 gibt für die ersten zehn Elemente des
Proton, Neutron und Elektron gehören zu den Periodensystems die Isotope an.
Elementarteilchen. Es sind kleinste Teilchen,
aus denen sich die Materie aufbaut oder die Da die Kernladungszahl für jedes Element
beim radioaktiven Zerfall entstehen, bei der festliegt, die Massenzahl aber verschieden sein
kosmischen Strahlung auftreten bzw. durch kann, wird bei einer abgekürzten Schreibweise
Kernreaktionen künstlich erzeugt werden können. lediglich die Massenzahl rechts neben den Namen
Elementarteilchen stellen keine unwandelbaren oder das Symbol des betreffenden Elements
Gebilde dar, sondern können auf verschiedene geschrieben, z. B.: H-3, He-4, C-12, U-235, U-238.
Weise umgewandelt, erzeugt und vernichtet
werden.
11
Anzahl der Protonen
Ne-16 Ne-17 Ne-18 Ne-19 Ne-20 Ne-21 Ne-22 Ne-23 Ne-24 Ne-25 Ne-26 Ne-27 Ne-28
10 2p β+ β+ β+ 90,48 % 0,27 % 9,25 % β– β– β– β– β– β–
F-15 F-16 F-17 F-18 F-19 F-20 F-21 F-22 F-23 F-24 F-25 F-26 F-27
9 p p β+ β+ 100 % β– β– β– β– β– β– β– β–
O-12 O-13 O-14 O-15 O-16 O-17 O-18 O-19 O-20 O-21 O-22 O-23 O-24 O-25
8 2p β+ β+ β+ 99,757 % 0,038 % 0,205 % β– β– β– β– β– β– n
N-10 N-11 N-12 N-13 N-14 N-15 N-16 N-17 N-18 N-19 N-20 N-21 N-22 N-23
7 p p β+ β+ 99,636 % 0,364 % β– β– β– β– β– β– β– β–
C-8 C-9 C-10 C-11 C-12 C-13 C-14 C-15 C-16 C-17 C-18 C-19 C-20 C-21 C-22
6 2p β+ β+ β+ 98,93 % 1,07 % β– β– β– β– β– β– β– n β–
B-7 B-8 B-9 B-10 B-11 B-12 B-13 B-14 B-15 B-16 B-17 B-18 B-19
5 2p β+ p 19,9 % 80,1% β– β– β– β– n β– n β–
Li-4 Li-5 Li-6 Li-7 Li-8 Li-9 Li-10 Li-11 Li-12 Li-13 Stabiles Nuklid
3 p p 7,59 % 92,41% β– β– n β– n n Beta–-Zerfall (b–)
Beta+-Zerfall (b+);
He-3 He-4 He-5 He-6 He-7 He-8 He-9 He-10 Elektroneneinfang (e)
2 0,000134 % 99,999866 % n β– n β– n 2n
verschiedene Zerfallsarten
H-1 H-2 H-3 H-4 H-5 H-6 H-7 n: Neutron
1 99,98865 % 0,0115 % β– n 2n 3n 2n p: Proton
α: Alpha-Zerfall
n-1
β–
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Abb. 1.09
Kernkräfte können nur zwischen FK > Fel
benachbarten Kernteilchen wirken
12
Die elektrischen Kräfte Fel, die zwischen den Pro-
tonen wirken, haben im Prinzip eine unendliche (a) (b)
Reichweite. Ihre Stärke nimmt jedoch mit der
Entfernung r gemäß 1/r2 ab (Abb. 1.08).
x x
Abb. 1.10
Wegen der geringen Reichweite werden die
Kernkräfte ( ) und elektrische Kräfte
Kernkräfte nur zwischen unmittelbar benach-
( ) sind nur für das mit (x) bezeich
barten Kernteilchen wirksam. Das ist immer nur nete Proton angegeben.
zwischen einer begrenzten Anzahl von Teilchen
„Anziehende“ Kernkräfte sind nur
der Fall. Besteht ein Atomkern aus nur einigen zwischen benachbarten Kernteilchen
wenigen Teilchen, ist jedes Teilchen mit jedem wirksam, „abstoßende“ elektrische
anderen in Kontakt, so dass die Kernkräfte wirk- Kräfte wirken auch über größere
sam werden können (Abb. 1.09). Entfernungen.
Ist die Teilchenzahl größer, kann nicht mehr jedes Eine weitere Eigenschaft der Kernkräfte ist, dass
Kernteilchen über Kernkräfte mit jedem anderen sie zwischen allen Teilchen wirken, unabhängig
in Wechselwirkung treten. Anders ist es bei den von ihrer Ladung. Die Kernkräfte haben also
im Kern auftretenden elektrischen Kräften. Sie gleiche Größe zwischen den Teilchenpaaren
stoßen sich alle untereinander ab, auch über Proton/Proton, Proton/Neutron und Neutron/
die Entfernung vieler Kernteilchen hinweg Neutron.
(Abb. 1.10).
Wie stark die Kernteilchen im Kern zusammen- Kern ein kleiner Teil ihrer Massen in Energie
gehalten werden, lässt sich berechnen. Das ist umgewandelt wird. Diese Energie wird in Form
am einfachsten am Kern des Heliumatoms darzu einer unsichtbaren energiereichen Lichtart (Gam
stellen. Er besteht aus zwei Protonen und zwei mastrahlung) abgegeben und tritt auch z. T. als
Neutronen. Die Masse des Kerns müsste sich Bewegungsenergie des entstandenen Kerns auf.
eigentlich aus zwei Protonenmassen und zwei Würde der Heliumkern wieder in seine Bestand-
Neutronenmassen ergeben: teile zerlegt werden, müsste genau die verloren
gegangene Energie dem Kern wieder zugeführt
2 · mp = 2 · 1,67262 · 10–27 kg = 3,34524 · 10–27 kg werden. Der Massenverlust (und damit die abge-
2 · mn = 2 · 1,67493 · 10–27 kg = 3,34986 · 10–27 kg gebene Energie) ist also für das Zusammenhalten
m2p + 2n = 6,69510 · 10–27 kg der Kernteilchen verantwortlich.
(a) (b)
Sehr genaue Massenbestimmungen des Helium Dass durch Energieabgabe Teilchen zu einer
kerns haben aber ergeben, dass seine Masse stabilen Einheit zusammengefügt werden
mHe = 6,644656 · 10–27 kg beträgt. Die Masse können, lässt sich anhand eines mechanischen
des Heliumkerns ist also um 0,050444 · 10–27 kg Modells veranschaulichen (Abb. 1.12).
geringer als die Summe der Massen der einzeln
existierenden Teilchen. Dieser Verlust macht (a) Vier Kugeln liegen getrennt voneinander auf
etwa 0,8 % aus (Abb. 1.11). einer Ebene (indifferentes Gleichgewicht).
Sie haben gegenüber der unteren Ebene
Der Massenverlust (auch Massendefekt genannt) potenzielle Energie Ep1 („Höhenenergie“).
kommt dadurch zustande, dass beim Zusammen (Die vier Kugeln entsprechen den zwei Proto-
schluss von Protonen und Neutronen zu einem nen und den zwei Neutronen.)
13
(b) Fallen die vier Kugeln anschließend in die haben ergeben, dass die Bindungsenergie pro
Vertiefung, liegen sie dicht beieinander im Kernteilchen bei den Kernen der einzelnen
stabilen Gleichgewicht. Da sie nun gegen Elemente bzw. deren Isotopen unterschiedlich ist
über der ursprünglichen Position niedriger (Tab. 1.04). Die Bindungsenergie je Nukleon ist in
liegen, haben sie potenzielle Energie Abb. 1.13 graphisch dargestellt.
(„Höhenenergie“) verloren bzw. abgegeben.
(Das entspricht der Energieabgabe beim Nuklid Gesamt- mittlere
Auftreten der Kernkräfte.) Bindungsenergie indungsenergie
B
in MeV je Nukleon in MeV
Wie viel Energie einer bestimmten Masse ent-
spricht, kann nach dem von Einstein formulierten H-2 2,225 1,113
Gesetz berechnet werden:
He-3 7,7118 2,573
Je größer bei einer Kernentstehung der Massen Abgesehen von den sehr leichten Atomkernen
verlust und damit die Energieabgabe ist, liegt die Bindungsenergie je Nukleon zwischen
desto fester sind die Kernteilchen aneinander 7 MeV und fast 9 MeV. Die Energie, mit der die
gebunden. Man nennt diese Energie deshalb äußeren Elektronen der Atomhülle gebunden
auch Bindungsenergie. Genaue Messungen sind, liegt dagegen nur bei 2 bis 3 eV.
4
8 2 He 94
36 Kr
139
56 Ba
7
Bindungsenergie je Nukleon in MeV
235
6 92 U
6
5 3 Li
3
3
2 He
2
2
1 1 H
Abb. 1.13 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200 220 240
Mittlere Bindungsenergie je Nukleon Massenzahl
in Abhängigkeit von der Massenzahl
14
Die mittlere Bindungsenergie je Nukleon hat bei Dass die Bindung der Nukleonen bei den schwe-
Kernen mit den Massenzahlen 40 bis 100 (z. B. ren Kernen lockerer wird, ist darauf zurückzufüh-
Fe-57, Kr-87) ihren höchsten Wert und nimmt zu ren, dass bei Vergrößerung der Nukleonenzahl
den leichteren und den schwereren Kernen hin die Kernkräfte insgesamt zwar zunehmen, aber
ab. Für die Nutzung der Kernbindungsenergie eben nur zwischen den benachbarten Teilchen
stehen also grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur wirken. Die abstoßenden Kräfte zwischen den
Verfügung: Protonen nehmen ebenfalls zu, sie wirken aber
zwischen allen Protonen. Dadurch wird der Zu-
• Es werden sehr leichte Kerne (z. B. 21 H + 31 He
) sammenhalt zwischen den Kernteilchen wieder
miteinander verschmolzen. Daraus entstehen etwas gelockert. Von einer bestimmten Protonen-
dann schwerere Kerne, deren Kernteilchen zahl an sind die Kerne nicht mehr stabil, sondern
stärker aneinander gebunden sind. Das ist mit instabil (radioaktiv).
einem Massenverlust und somit einer Ener-
gieabgabe verbunden. Nach diesem Prinzip
arbeiten die Energiefreisetzung im Innern der
Sonne und der geplante Fusionsreaktor.
15
2 Kernumwandlungen und
Radioaktivität
1896 entdeckte der französische Physiker Bei den in der Natur vorkommenden Radio
Antoine Henri Becquerel, dass Uransalze eine nukliden spricht man von natürlicher Radio
unsichtbare Strahlung aussenden, die lichtdicht aktivität; bei den durch künstliche Kernum
verpackte Fotoplatten schwärzte und ein wandlung erzeugten Radionukliden von
geladenes Elektroskop entladen konnte. Die künstlicher Radioaktivität. Von den bisher
Eheleute Marie und Pierre Curie untersuchten bekannten rund 3.850 verschiedenen Nukliden,
solche Strahlen aussendenden Mineralien die Isotope der 118 chemischen Elemente
genauer. Dabei fanden sie 1898 die Elemente sind, sind nur 257 stabil, alle anderen zerfallen
Polonium und das sehr viel stärker strahlende spontan. Beim Zerfall wird eine „Strahlung“
Radium. Im selben Jahr wurde die Strahlung von ausgesandt. Nach der Haupteigenschaft der
G. C. Schmidt auch bei Thorium nachgewiesen. Strahlung, Stoffe zu ionisieren, bezeichnet man
sie als ionisierende Strahlung. Die Strahlung
Die neu entdeckten Strahlen ließen sich durch entsteht dadurch, dass die Kerne radioaktiver
physikalische Einwirkungen auf den s trahlenden Atome Masse- und Energieportionen mit hoher
Stoff oder durch chemische Prozesse nicht Geschwindigkeit ausschleudern. Diesen Vorgang
beeinflussen. Daraus schloss man, dass die nennt man radioaktiven Zerfall.
Strahlenaussendung nicht durch chemische
Vorgänge verursacht wird. Heute weiß man,
dass die Strahlen aus den Kernen instabiler
Atome ausgesandt werden. Diese Gesamt
erscheinung wird Radioaktivität genannt. Die
Kerne radioaktiver Atome heißen Radionuklide.
Alphastrahlen 2.1
Die beim radioaktiven Zerfall von Atomkernen von denen hier nur eine dargestellt ist. Der Kern
ausgesandten Heliumkerne (2 Protonen, schleudert einen Heliumkern heraus, wodurch
2 Neutronen) werden Alphateilchen genannt die Kernladungszahl um 2, die Massenzahl um 4
(Abb. 2.01). Als Teilchenstrom bilden sie die sinkt. Es entsteht das neue Element Radon (Rn).
Alphastrahlen. Die Anfangsgeschwindigkeit Dieser Vorgang wird auch Alphazerfall genannt.
der austretenden Alphateilchen liegt zwischen
15.000 und 20.000 km/s. Er kann durch eine Kernreaktionsgleichung
beschrieben werden:
226 222 4
88 Ra 86 Rn + 2 He
17
2.2 Betastrahlen
Beim Betazerfall wird aus dem Kern eines Bei manchen natürlichen und künstlich herge-
Radionuklids ein Elektron abgegeben. Seine stellten Radionukliden tritt eine Strahlung auf,
Geschwindigkeit kann zwischen Null und nahezu bei der Teilchen von der Masse eines Elektrons,
Lichtgeschwindigkeit liegen. Diese Elektronen aber mit einer positiven Ladung ausgeschleudert
bilden dann die Betastrahlen (Abb. 2.02). Das werden. Es sind Positronen. Die Strahlung
ausgeschleuderte Elektron stammt nicht aus wird deshalb Positronenstrahlung oder Beta+-
der Atomhülle! Es entsteht, wenn sich im Kern Strahlung genannt (Abb. 2.03). Das Positron
ein Neutron in ein Proton und ein Elektron um entsteht im Kern, wenn sich ein Proton in ein
wandelt. Neutron und ein Positron umwandelt.
137 22
55 Cs
22
11 Na 10 Ne
137
56 Ba
Reaktionsgleichung: 1 1 0
1 p 0 n + +1 e
1 1 0
0 n 1 p + -1 e Beispiel eines Beta+-Zerfalls:
18
Gammastrahlen 2.3
Bei den Kernumwandlungen kann eine energie Die Gammaquanten bewegen sich mit einer
reiche Strahlung auftreten, die die gleiche Natur konstanten Geschwindigkeit c0 = 299.792.458 m/s
wie das sichtbare Licht hat, nur energiereicher als (Vakuumlichtgeschwindigkeit). Gammastrahlen
dieses ist. Sie trägt den Namen Gammastrahlung. treten häufig bei Alpha- oder Betazerfall auf.
Abgesehen von der Art des Entstehens ist sie Nach dem Ausschleudern eines Alpha- oder Beta
praktisch identisch mit der Röntgenstrahlung. teilchens gibt der Atomkern noch vorhandene
Die Gammastrahlung wird – wie auch das sicht- überschüssige Energie in Form eines oder
bare Licht – in einzelnen „Portionen“ (Quanten, mehrerer Gammaquanten ab. Durch den Gamma-
Photonen) abgegeben (Abb. 2.04). zerfall ändert sich der Energieinhalt des Kerns,
nicht jedoch dessen Kernladungs- und Massen-
zahl.
Beispiel:
137m 137
137m
56 Ba 56 Ba + γ
56 Ba 137
56 Ba
Ein energiereicherer, angeregter (metastabiler)
Bariumkern gibt ein Gammaquant ab und geht
dadurch in einen niedrigeren und gleichzeitig
stabileren Energiezustand über.
Abb. 2.04
Gammaquant Gammaquanten treten außer bei Kernum Emission eines Gamma-Quants
(Photon) wandlungen auch noch bei anderen Reaktionen aus einem angeregten Kern in Modell-
zwischen Elementarteilchen auf. darstellung
Bei natürlichen und künstlich erzeugten Radio Der Kern eines neutronenarmen Atoms fängt
nukliden kann noch eine weitere Umwandlungs meist aus der innersten Schale der Elektronen
art auftreten, der so genannte Elektroneneinfang. hülle – der K-Schale, daher auch der Name
K-Einfang – ein Elektron ein, wodurch sich ein
Proton in ein Neutron umwandelt (Abb. 2.05).
Der in der Atomhülle frei gewordene Platz wird
p+ von einem äußeren Elektron wieder aufgefüllt.
Dabei entsteht eine charakteristische Röntgen-
strahlung.
e–
n Reaktionsgleichung:
e– 1
p + 0
e 1
n
1 -1 0
Ein Hüllenelektron
vereinigt sich mit
einem Proton des Kerns Beispiel:
40
19 K zu einem Neutron
40 0 40
19 K + -1 e 18 Ar
19
2.5 Protonen- und Neutronenstrahlen
Die erste künstliche Kernumwandlung wurde Nach der Kernreaktion erfolgt ein Elektronen
in einer mit Stickstoff gefüllten Nebelkammer ausgleich, d. h. es werden aus der Umgebung so
beobachtet. Aus den Untersuchungen ergab sich viele Elektronen aufgenommen (oder in anderen
folgende Erklärung: Ein Alphateilchen (Helium- Fällen an sie abgegeben), dass die beteiligten
kern) dringt in den Kern eines Stickstoffatoms ein Atome wieder elektrisch neutral sind.
und verschmilzt mit ihm für kurze Zeit zu einem
hochangeregten Zwischenkern des Elements Werden Neutronen aus einem Atomkern heraus-
Fluor. Der Fluorkern zerfällt in einen Sauerstoff- geschlagen oder herausgeschleudert, entsteht
kern und ein Proton (Abb. 2.06). dadurch eine Neutronenstrahlung. Das kann
z. B. in den oberen Schichten der Atmosphäre
durch Zusammenprall der kosmischen Primär-
teilchen mit den Luftmolekülen geschehen oder
bei Kernspaltungen in einem Kernkraftwerk. Der
Nachweis freier Neutronen gelang erstmals dem
Engländer Chadwick 1932 beim Beschuss von
4 Beryllium mit Alphateilchen (Abb. 2.07).
2 He
14
7N
4
2 He
9
18 4 Be
9F
13
6C
17
8O
1
1p
Abb. 2.06 (links)
Nachweis freier Protonen durch
Rutherford (1919) in Modelldarstellung
Kernreaktionsgleichung: 12
6C
1
4 14 18 17 1 0n
Abb. 2.07
2 He + 7 N 9 F 8 O + 1 p
Nachweis freier Neutronen durch
Chadwick (1932) in Modelldarstellung
Bei Kernreaktionen wird auch die folgende abge-
kürzte Schreibweise benutzt: Kernreaktionsgleichung:
9
14
7 N (α, p) 178 O 4 Be + 42 He 13
6 C 12
6 C + 10 n + γ
Ausgangskern | Geschoss | ausgesandtes | Endkern Ein freies Neutron ist radioaktiv. Es zerfällt in ein
Teilchen
Proton und ein Elektron sowie ein Antineutrino
(in der Reaktionsgleichung weggelassen).
Reaktionsgleichung:
1 1 0
0 n 1 p + -1 e
20
Halbwertzeit 2.6
Bei einem einzelnen radioaktiven Atomkern kann Bei einer angenommenen Anzahl von 12.000.000
man nicht vorhersagen, zu welchem Zeitpunkt er radioaktiven Atomkernen kann man sich den
zerfallen wird. Er kann in der nächsten Sekunde Ablauf des Zerfalls anhand einer Auflistung
oder erst in Tausenden von Jahren zerfallen. Bei (Tab. 2.03) deutlich machen. Als Radionuklid
einer großen Anzahl von Atomen lässt sich aber ist auch hier wieder Wasserstoff-3 (Tritium) ge-
eine Wahrscheinlichkeitsaussage über den Ablauf wählt worden. Es zerfällt mit einer Halbwertzeit
des Zerfalls machen. Es zerfallen zum Beispiel von etwa 12,3 Jahren unter Aussenden eines
von einer Menge Wasserstoff-3 (Tritium) in Betateilchens zu dem nicht mehr radioaktiven
ca. 12,3 Jahren die Hälfte der Atome, nach Heliumisotop He-3 (Abb. 2.09).
weiteren 12,3 Jahren ist von dem Rest wiederum
die Hälfte zerfallen usw. (Abb. 2.08). Anzahl
der Atomkerne
Anzahl der radioaktiven Atome
in %
12 · 106
100
50
H-3
3
2 He
25
12,5
Abb. 2.08 (links)
6,25
3,125 Abklingen der Aktivität bei
6 · 106
0 Heute in 12,3 in 24,6 in 36,9 in 49,2 in 61,5 Tritium (Wasserstoff-3)
Jahren Jahren Jahren Jahren Jahren radioaktiv
nicht radioaktiv
21
Zeit Anzahl der abgelaufenen Anzahl der Anzahl der nicht mehr
in Jahren Halbwertzeiten radioaktiven Kerne radioaktiven Tochterkerne
0 0 12.000.000 (100 %) 0 (0 %)
12,3 1 6.000.000 (50 %) 6.000.000 (50 %)
24,6 2 3.000.000 (25 %) 9.000.000 (75 %)
36,9 3 1.500.000 (12,5 %) 10.500.000 (87,5 %)
49,2 4 750.000 (6,25 %) 11.250.000 (93,75 %)
61,5 5 375.000 (ca 3,12 %) 11.625.000 (96,88 %)
73,8 6 187.500 (ca. 1,56 %) 11.812.500 (98,44 %)
86,1 7 93.750 (ca. 0,78 %) 11.906.250 (99,22 %)
98,4 8 46.875 (ca. 0,39 %) 11.953.125 (99,61 %)
Tab. 2.03 110,7 9 23.438 (ca. 0,20 %) 11.976.562 (99,80 %)
Zahlenmäßige Beschreibung
123 10 11.719 (ca. 0,10 %) 11.988.281 (99,90 %)
des radioaktiven Zerfalls bei H-3
Wird die Anzahl der zu Beginn eines Zerfalls Damit lässt sich die Zerfallsgleichung umformen
vorhandenen radioaktiven Kerne mit N0, die am zu:
Ende der Abklingzeit t noch vorhandenen Kerne
mit Nt und die Halbwertzeit mit T1⁄2 bezeichnet, N0
so ergibt sich die Anzahl dann noch radioaktiver Nt = = N0 · 2 –t/T = N0 · 2 –λt/ln2
1/2
2 t/T1/2
Kerne nach der Gleichung:
((
t/T1/2 Unter Berücksichtigung von 2 = eln2 folgt:
1 N0
Nt = N0 · =
2 2 t/T1/2
Nt = N0 (eln2)–λt /ln2 = N0 e–λt
Rechenbeispiel: Wie viele radioaktive Kerne
des Wasserstoff-3 sind nach 98,4 Jahren (acht
Halbwertszeiten) noch vorhanden, wenn es am
Anfang 12.000.000 waren?
2.7 Aktivität
Die Zeit, in der die Hälfte einer großen Anzahl von (z. B. in 1 Sekunde). Beim Vergleich mehrerer
radioaktiven Atomkernen sich umwandelt, wird Substanzen weiß man dann, welche Substanz
Halbwertzeit genannt. Sie hat für jedes Radio stärker aktiv ist, d. h. in welcher Substanz mehr
nuklid einen charakteristischen Wert. Für den Kernumwandlungen pro Zeiteinheit stattfinden.
Umgang mit radioaktiven Substanzen ist es aber Zur Beschreibung dieses Sachverhaltes hat
wichtiger zu wissen, wie viele radioaktive Atom- man die Aktivität oder Zerfallsrate festgelegt.
kerne sich in einer bestimmten Zeit umwandeln
22
Sie gibt die Anzahl der Kernumwandlungen pro Bei zehn Kernumwandlungen pro Sekunde ergibt
Zeiteinheit an: sich eine Aktivität von 10 Bq, bei 1.000 Kern
umwandlungen pro Sekunde eine Aktivität von
Anzahl der Kernumwandlungen 1.000 Bq = 1 kBq.
Aktivität =
Zeit
Viele Radionuklide bilden nach ihrer Umwand-
lung Tochterkerne, die wiederum radioaktiv sind.
Die Anzahl der Kernumwandlungen wird als Zah- So wandelt sich z. B. Ra-226 in das radioaktive
lenwert ohne Einheit angegeben. Für die Zeit Edelgas Rn-222 um. Aktivitätsangaben für ein
wird als Einheit die Sekunde gewählt. Die Einheit Radionuklid beziehen sich aber immer auf die
der Aktivität ist also 1/s = s–1 (reziproke Sekunde). Ausgangssubstanz, nicht auf die angesammelten
Als besonderer Einheitenname für die Aktivität Folgeprodukte.
wurde das Becquerel (Bq) eingeführt:
Hinweis
Abgeleitete Aktivitätseinheiten:
„Aktivität“ ist eine physikalische Größe
1 Bq = 1 · s–1 und beschreibt die Zerfallsrate eines
• Spezifische Aktivität (Bq/kg, Bq/g usw.) radioaktiven Stoffs. Mit „Radioaktivität“
(Tab. 2.04) bezeichnet man die Eigenschaft der
Die Zahlenangabe in Becquerel gibt also die spontanen Umwandlung instabiler
Anzahl der Kernumwandlungen pro Sekunde an. • Aktivitätskonzentration (Bq/m3, Bq/l usw.) Atomkerne in andere Atomkerne.
In Abb. 2.10 wird davon ausgegangen, dass in
einer bestimmten Menge radioaktiver Atome (nur • Flächenaktivität (Bq/m2, Bq/cm2 usw.)
die Atomkerne sind in der Abbildung dargestellt)
in vier Sekunden vier Kernumwandlungen statt- • Aktivitätsrate: Bildung, Zufuhr oder Abgabe
finden. Die Aktivität beträgt dann: von Aktivität pro Zeitintervall (Bq/a, Bq/h,
Bq/s usw.)
4 1
A = = = 1 · s–1 = 1 Bq Eine veraltete Einheit der Aktivität ist das Curie,
4s 1s
Einheitenzeichen Ci. Für die Umrechnung gilt:
1 Ci = 3,7 · 1010 Bq
15
Fe-59 1,8 · 1015
23
3 Das Wesen der Energie
Energiearten und Energieumwandlungen 3.1
Um Lasten hochzuheben, Maschinen anzutreiben, allgemein, dass Energie nicht vernichtet und
Werkstücke zu verformen, elektrische Geräte zu nicht neu geschaffen werden kann. Man vermag
betreiben sowie zum Erwärmen und Beleuchten lediglich eine Energieform in eine andere um
benötigt man Energie. Sie muss den Geräten und zuwandeln. Dabei entstehen aber stets Verluste.
Maschinen zugeführt werden, wenn sie die ge- Nur ein Teil wird in eine neue, nutzbare Energie
wünschten Arbeiten verrichten sollen. Energie form, ein anderer Teil in eine nicht oder nur
kommt in verschiedenen Formen vor, als Bewe- schwer nutzbare Energieform umgewandelt.
gungsenergie, potenzielle Energie (Lageenergie, Zum Beispiel wandelt ein Elektromotor die zuge
Spannenergie), Wärmeenergie, Lichtenergie, führte elektrische Energie nicht nur in nutzbare
elektrische Energie, chemische Energie und Kern- Bewegungsenergie, sondern zu einem kleinen
energie. So wird z. B. zum Antrieb eines Autos die Teil auch in nicht nutzbare Wärmeenergie um.
chemische Energie des Treibstoffs eingesetzt, bei Man merkt es daran, dass sich der Motor beim
einem Wasserkraftwerk die potenzielle Energie Betrieb erwärmt.
des gestauten Wassers, bei einem Windkraftwerk
die Bewegungsenergie der Luft, beim Generator Wie groß bei Energieumwandlungen der Anteil
eines Kernkraftwerks die Kernenergie und zum nutzbarer Energie ist, wird durch den Wirkungs-
Erwärmen einer Kochplatte elektrische Energie. grad η ausgedrückt (η: griechischer Buchstabe
„eta“). Der Wirkungsgrad ist stets kleiner als 1.
Wenn mit Hilfe von Energie eine Arbeit verrichtet
wird, wandelt sich immer die zugeführte Energie nutzbare Energie E2
in eine andere Energieform um. Es gilt nämlich Wirkungsgrad = η =
angewendete Energie E1
Bei großen technischen Anlagen finden meist • Im Brenner wird die zu Staub zermahlene Kohle
mehrere Energieumwandlungen statt, so dass verbrannt und dabei die chemische Energie
sich eine Umwandlungsreihe bzw. Umwand- der Kohle in Wärmeenergie umgewandelt.
lungskette ergibt. Zwischen Ausgangs- und
Endenergie treten dann weitere Energiefor- • Im Kessel führt die Wärme zum Verdampfen
men auf. Bei einem Kohlekraftwerk sind es des Wassers. Da der Dampf unter hohem
vier Energieumwandlungsstufen (Abb. 3.01): Druck gehalten wird, ist die Wärmeenergie
in potenzielle Energie des hochgespannten
Dampfes umgewandelt worden.
WE WE WE WE
Rauchgaskanal
Speisewasser
Vorwärmanlage
Kondensator
Kühlwasser Abb. 3.01
Fluss Energieumwandlungen
Brenner Pumpe bei einem Kohlekraftwerk
Brennkammer
(WE: Wärmeenergieverluste)
25
• Lässt man den hochgespannten Dampf aus In Kernkraftwerken finden ebenfalls vier Ener-
den Düsen gegen die Schaufeln der Dampf- gieumwandlungen statt (Abb. 3.02). Dabei ist
turbine strömen, wandelt sich die potenzielle lediglich die erste Energieumwandlung anders
Energie in Bewegungsenergie um. als in Kohlekraftwerken. In den Brennelementen
werden die Kerne bestimmter Uranatome gespal-
• Die letzte Energieumwandlung findet im ten, wodurch sich die Brennelemente erhitzen.
Generator statt, der an die Dampfturbine Es findet also eine Umwandlung von Kernenergie
gekoppelt ist. Bewegungsenergie wird in in Wärmeenergie statt. Alle anderen Energieum-
elektrische Energie umgewandelt. wandlungsstufen stimmen mit denen der Koh-
lekraftwerke überein. Der Gesamtwirkungsgrad
Bei fast jeder Umwandlungsstufe wird Wärme- eines Kernkraftwerks beträgt etwa 0,34.
energie ungenutzt an die Umgebung abgegeben.
Diese Verluste führen dazu, dass der Gesamt
wirkungsgrad von Kohlekraftwerken heute bei
maximal 0,46 liegt.
WE WE WE WE
Reaktor-
druck-
gefäß Frischdampf Turbine Generator
Speisewasser
Vorwärmanlage
Kondensator
Brenn-
element Kühlwasser
Abb. 3.02
Umwälz- Fluss
Energieumwandlungen Steuerstab pumpe Pumpe
bei einem Kernkraftwerk
(hier mit Siedewasserreaktor)
Sowohl bei Kohlekraftwerken als auch bei Kern- Je heftiger sich die Teilchen bewegen (je größer
kraftwerken wird durch eine erste Energie ihre mittlere Geschwindigkeit ist), desto höher
umwandlung Wärme erzeugt. Damit lässt sich ist die Temperatur des Stoffs. Bei festen
die Temperatur des Wassers erhöhen und Wasser- Stoffen führen die Teilchen Schwingungen
dampf erzeugen. Diese Vorgänge können mit dem um ihre Position im Kristallgitter aus (siehe
Teilchenmodell genauer beschrieben werden: Abb. 3.03). Kommen die Teilchen zur Ruhe, ist
die tiefstmögliche Temperatur erreicht. Das ist
• Alle festen, flüssigen und gasförmigen Stoffe der absolute Nullpunkt von -273,15 °C.
sind aus kleinsten Teilchen aufgebaut. Es
können Moleküle, Atome oder Ionen sein. • Die Geschwindigkeit der Teilchen kann auf
Wasser besteht z. B. aus Wassermolekülen, zweierlei Weise erhöht werden:
Eisen aus Eisenatomen und Kochsalz aus −− Durch mechanische Arbeit (Reibung) steigt
Natrium- und Chloridionen. die mittlere Geschwindigkeit der Teilchen.
Die mechanische Energie ist dann in
• Oberhalb des absoluten Nullpunktes Bewegungsenergie der Teilchen umge
(-273,15 °C) befinden sich die Teilchen in wandelt worden. Die Energie, die in Form
dauernder ungeordneter Bewegung. der Teilchenbewegung vorliegt, wird innere
Energie genannt.
26
Bei einem Kohlekraftwerk sind die heißen Ver-
brennungsgase in Kontakt mit den kälteren
Rohrleitungen des Kessels und diese wiederum
in Kontakt mit dem Wasser. Die Energieüber
tragung erfolgt von den schnelleren Gasteilchen
zu den langsameren Eisen- bzw. Wasserteilchen.
Besitzen die Wasserteilchen eine genügend
-273,15 ºC große Geschwindigkeit, können sie die Flüssigkeit
verlassen, d. h. Wasser verdampft.
27
3.5 Energie der Teilchenstrahlung
3.5.1 Alphateilchen
relative
Die von einem radioaktiven Atomkern ausgesand- Häufigkeit häufigste Energie
ten Alphateilchen besitzen alle dieselbe Energie
100
oder beim Zerfall in mehrere Gruppen unter-
schiedliche Energien. Die Alphateilchen einer 80
Gruppe haben aber immer dieselbe Energie. 60
22 22 0 0
11 Na 10 Ne + +1 e + 0 νe
Hat das ausgesandte Alphateilchen die Maximal
energie erhalten, ist der Kern in den Grund
zustand übergegangen. Ist die Energie des Alpha- Neutrinos und Antineutrinos sind elektrisch neu-
teilchens kleiner, befindet sich der Kern noch in trale Elementarteilchen und besitzen nach dem
einem angeregten Zustand (metastabil). Die rest- Standardmodell der Teilchenphysik keine Masse.
liche Energie des angeregten Kerns wird in Form Sie stellen also eine Portion besonderer Energie
eines Gammaquants abgegeben. dar. Da sie kaum mit Materie wechselwirken,
besitzen sie ein außerordentlich hohes Durch-
Die Tab. 3.01 zeigt Beispiele für die Energie von dringungsvermögen und lassen sich deshalb nur
Alphateilchen einiger Radionuklide: schwer nachweisen.
Radionuklid Energie der Alphateilchen Die frei werdende Zerfallsenergie verteilt sich
in MeV in der Reihenfolge dann nach Zufall in beliebigen Bruchteilen der
abnehmender Häufigkeit Maximalenergie auf die beiden Elementar
teilchen. Wird durch Elektron und Antineutrino
Rn-222 5,48952; ... bzw. Positron und Neutrino nicht die gesamte
Tab. 3.01 Zerfallsenergie verbraucht, entstehen zusätzlich
Ra-226 4,78434; 4,601; ... noch ein Gammaquant oder mehrere Gamma-
Beispiele für Energien der Alphateilchen
einiger Alphazerfälle quanten.
U-238 4,198; 4,151; ...
(Die Punkte hinter den Energiewerten
weisen auf weitere Alphateilchen hin, Pu-239 5,1566; 5,1443; ... Die Tab. 3.02 gibt Beispiele für die maximale
die mit geringerer Häufigkeit auftreten.) Energie von Beta-Teilchen einiger Radionuklide.
In Kernreaktionsgleichungen und Tabellen wird
3.5.2 Betateilchen nur die Maximalenergie angegeben. Beispiel:
28
3.5.3 Neutronen
Abhängig von der Entstehungsart haben die bei Ihre mittlere Energie beträgt etwa 1,5 MeV. Zur
Kernprozessen erzeugten Neutronen eine einheit- Spaltung weiterer Kerne des Uran-235 werden
liche Energie oder ihre Energie liegt zwischen fast aber Neutronen mit einer Energie von etwa
Null und einem Höchstwert. 0,025 eV benötigt. Das entspricht etwa einer
Geschwindigkeit von 2.200 m/s. Die Tab. 3.03
Die bei Kernspaltungen entstehenden Neutronen gibt die Neutronengeschwindigkeiten für ver-
besitzen eine kontinuierliche Energieverteilung. schiedene Neutronenenergien an.
Alphateilchen, Betateilchen, Protonen und Die Abb. 3.08 zeigt, dass die Energie der Gamma-
Neutronen, die bei Kernumwandlungen ausge quanten bis zu 107-mal so groß sein kann wie die
schleudert werden, ergeben eine Teilchen Energie der Lichtquanten.
strahlung. Ausgeschleuderte Gammaquanten
bilden eine elektromagnetische Wellenstrahlung. Gammaquanten werden u. a. nach einem Alpha-
Sie hat dieselbe Natur wie z. B. die Rundfunk oder Betazerfall von einem Kern abgestrahlt,
wellen, das sichtbare Licht oder die Röntgen- wenn dieser noch überschüssige Energie besitzt.
strahlen. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit Das kann in einer oder in mehreren Stufen
elektromagnetischer Wellen beträgt im Vakuum geschehen. Die Quanten einer bestimmten Stufe
c0 = 299.792.458 m/s ≈ 300.000 km/s. Sie ist haben alle dieselbe Energie. Die Anzahl der aus-
unabhängig von der Energie der einzelnen gesandten Quanten kann also größer sein als
Gammaquanten (Photonen). die Anzahl der umgewandelten Atomkerne.
Die Tab. 3.04 gibt Beispiele für die Energie von
Die Energie eines einzelnen Quants ist nur Gammaquanten einiger Radionuklide.
von seiner Wellenlänge bzw. seiner Frequenz
abhängig. Je kleiner die Wellenlänge (bzw. je Radio- Umwand- Energie
größer die Frequenz) eines Quants, desto größer nuklid lungsart der häufigsten
ist auch seine Energie (Abb. 3.07). Gammaquanten
in MeV
Gammaquant Gammaquant
niedrigerer höherer Be-7 K-Einfang 0,478
Energie Energie
N-16 Beta-Minus 6,129; 7,115; ...
Abb. 3.07
Na-22 Beta-Plus 1,275
Wellenlänge oder Frequenz eines Quants
bestimmen seine Energie
Ba-137m Gamma 0,662
Tab. 3.04
U-235 Alpha 0,186; 0,144; ...
Gammaenergie einiger Radionuklide
Alpha- und Betateilchen, die aus radioaktiven Ausgesandte Teilchen und Rückstoßkerne
Atomkernen ausgeschleudert werden, besitzen stoßen mit den in unmittelbarer Umgebung vor
aufgrund ihrer Masse und ihrer Geschwindig handenen Atomen zusammen und versetzen die-
keit Bewegungsenergie. Je größer Masse und se in heftigere Bewegungen. Das macht sich als
Geschwindigkeit sind, desto größer ist die Temperaturerhöhung bemerkbar.
Bewegungsenergie. Da der radioaktive Atom-
kern beim Ausschleudern eines Teilchens einen
Rückstoß erfährt, besitzt er ebenfalls Bewegungs
energie.
29
Strahlenart Frequenz Wellenlänge Energie
in s–1 in m in eV in J
3 · 100 108 1,24 · 10–14 1,99 · 10–33
3 · 10 1
10 7
1,24 · 10 –13
1,99 · 10–32
3 · 102 106 1,24 · 10–12 1,99 · 10–31
3 · 103 105 1,24 · 10–11 1,99 · 10–30
3 · 104 104 1,24 · 10–10 1,99 · 10–29
3 · 10 5
10 3
1,24 · 10 –9
1,99 · 10–28
3 · 106 102 1,24 · 10–8 1,99 · 10–27
3 · 107 10 1,24 · 10–7 1,99 · 10–26
3 · 108 1 1,24 · 10–6 1,99 · 10–25
3 · 10 9
10 –1
1,24 · 10 –5
1,99 · 10–24
3 · 1010 10–2 1,24 · 10–4 1,99 · 10–23
3 · 1011 10–3 1,24 · 10–3 1,99 · 10–22
3 · 1012 10–4 1,24 · 10–2 1,99 · 10–21
3 · 1013 10–5 1,24 · 10–1 1,99 · 10–20
3 · 1014 10 –6 1,24 · 10 0 1,99 · 10–19
3 · 1015 10–7 1,24 · 101 1,99 · 10–18
3 · 1016 10–8 1,24 · 102 1,99 · 10–17
3 · 1017 10–9 1,24 · 103 1,99 · 10–16
3 · 1018 10–10 1,24 · 10 4 1,99 · 10–15
3 · 1019 10–11 1,24 · 105 1,99 · 10–14
3 · 1020 10–12 1,24 · 106 1,99 · 10–13
3 · 1021 10–13 1,24 · 107 1,99 · 10–12
Abb. 3.08 3 · 1022
10–14
1,24 · 10 8
1,99 · 10–11
Beziehung zwischen Frequenz, 3 · 1023 10–15 1,24 · 109 1,99 · 10–10
Wellenlänge und Energie
3 · 1024 10–16 1,24 · 1010 1,99 · 10–9
elektromagnetischer Wellen
30
Kernspaltung und Kettenreaktion 4
4.1 Entdeckung der Kernspaltung
Im Jahr 1932 gelang dem Engländer Chadwick, die In Berlin waren die Chemiker Otto Hahn und
sehr durchdringenden Strahlen richtig zu deuten, Fritz Straßmann (bis 1938 zusammen mit der
die beim Beschuss von Beryllium mit Alpha Physikerin Lise Meitner) damit beschäftigt,
teilchen neben der Gammastrahlung entstehen. die geringen Mengen der erzeugten Isotope
zu identifizieren. Chemische Untersuchungen
4
2 He + 9
4 Be 12
6 C + 1
0 n +γ legten die Annahme nahe, dass beim Beschuss
von Uran mit Neutronen Radiumisotope ent
standen seien. In einem Aufsatz, den Otto Hahn
Die dabei auftretenden Teilchen nannte er wegen und Fritz Straßmann am 22. Dezember 1938 der
ihres elektrisch neutralen Charakters Neutronen. Zeitschrift „Naturwissenschaften“ zur Publikation
eingereicht hatten und der am 6. Januar 1939
Nachdem das Proton bereits 1919 durch erschien, heißt es:
Rutherford entdeckt worden war, konnte man
nun endlich den Aufbau der Atomkerne aus „Unsere ‚Radiumisotope‘ haben die Eigenschaften
Protonen und Neutronen erklären. des Bariums; als Chemiker müßten wir eigentlich
sagen, bei den neuen Körpern handelt es sich
Gleichzeitig hatte man ein Teilchen zur Ver nicht um Radium, sondern um Barium; denn
fügung, das sich relativ leicht in andere Atom andere Elemente als Radium oder Barium kom-
kerne einbauen ließ, da ein Neutron von den men nicht in Frage.“
positiven Ladungen der Protonen nicht abge
stoßen wird, weil es ungeladen ist. Die freien Durch Gedankenaustausch mit anderen For-
Neutronen wurden zunächst zur Erzeugung schern, vor allem mit der nach Schweden
künstlicher Isotope benutzt. emigrierten Lise Meitner, festigte sich die Über-
zeugung, dass beim Beschuss von Uran mit
Beispiel einer Isotopenerzeugung mit stabilem Neutronen tatsächlich radioaktives Barium ent
Endkern: standen war. Das konnte dann aber nichts anderes
bedeuten, als dass Urankerne „zerplatzten“, wie
1 1 2
1 H + 0 n 1 H + γ Hahn es nannte. Eine zweite Arbeit von Hahn und
Straßmann, die im Januar 1939 zur Veröffent
lichung eingereicht worden war, trägt bereits den
Beispiel einer Isotopenerzeugung mit radio Titel: „Nachweis der Entstehung aktiver Barium-
aktivem Endkern: isotope aus Uran und Thorium durch Neutronen-
bestrahlung; Nachweis weiterer aktiver Bruch
19
9 F + 10 n 20
9 F (Aktivierung) stücke bei der Uranspaltung“.
32
Kernspaltung und Spaltprodukte 4.2
Grundsätzlich können alle Atomkerne (Ausnah- Bei den in Deutschland betriebenen Kernkraft
me H-1) gespalten werden. Bei bestimmten Uran- werken werden Kerne des Uran-235 (und z. T. auch
und Plutoniumisotopen ist aber die Spaltung mit des Plutonium-239) gespalten. Dafür braucht das
Hilfe von Neutronen besonders leicht durchzu- Uran nicht als Element vorzuliegen. Es ist auch
führen. Außerdem wird bei der Spaltung dieser in Form chemischer Verbindungen (z. B. als UO2)
Kerne mehr Energie frei als dafür aufgewendet spaltbar. Eine Kernspaltung lässt sich durch eine
werden muss (exotherme Reaktion). In der Natur Kernreaktionsgleichung beschreiben.
kommen drei Uranisotope vor, U-234, U-235 und
235
U-238. Sie sind Alphastrahler mit unterschied
92 U + 10 n 236
92 U 89
36 Kr +144 1
56 Ba + 3 0 n + γ
lichen Halbwertzeiten (Tab. 4.01).
A B C D
1
n 1
0n
89
0 36 Kr
1
0n
1
0n
144
56 Ba
235 236 236
92 U 92 U 92 U
Abb. 4.01
Vier-Phasen-Modell zur Kernspaltung
33
Die Spaltung eines Uran-235-Kerns kann ver Ausbeute in %
schiedene Trümmerkerne (Spaltprodukte)
ergeben. Dabei muss die Summe der Kern 10
ladungszahlen der Spaltprodukte gleich der
Kernladungszahl des Urans sein. Die Summe der 1
Massenzahlen der Trümmerkerne und der frei
gewordenen Neutronen betragen stets 236.
0,1
Die Massenzahlen der Spaltprodukte liegen
zwischen 64 und 170 sowie den Massenzahlen 0,01
1 bis 21 im Fall der ternären Spaltung (Spaltung
des Urankerns in drei Bruchstücke). Ein Maxi-
mum liegt bei der Massenzahl 95, ein zweites 0,001
Maximum bei der Massenzahl 140. Die Massen-
Abb. 4.02 zahlen liegen am häufigsten im Verhältnis 2 : 3 0,0001
Häufigkeitsverteilung der zueinander. 60 80 100 120 140 160
bei der Spaltung von Uran-235 Massenzahl
entstehenden Spaltprodukte Abb. 4.02 zeigt die Häufigkeitsverteilung der
bei der Spaltung von Uran-235 entstehenden
Spaltprodukte. Man kennt heute fast 1.000 ver Neben den Spaltprodukten entstehen durch
schiedene Spaltprodukte des Uran-235, die sich Neutroneneinfang im Uran Plutonium und
auf 53 verschiedene Elemente beziehen, von andere Actinoide (Actinoide ist eine Bezeichnung
Mangan bis Thulium; hinzu kommen noch einige für die Elemente mit den Kernladungszahlen
Elemente im Bereich Wasserstoff bis Neon, die 89 [Actinium] bis 103). Die Tab. 4.02 gibt die
bei der ternären Spaltung entstehen. Zusammensetzung von Kernbrennstoff vor und
nach dem Reaktoreinsatz bei einem Abbrand von
Beispiele: 45.000 MWd/t an. Ein Abbrand von 45.000 MWd/t
bedeutet, dass der Kernbrennstoff so lange im
235
U + 01 n 236
U 147 87
La + 35 Br + 2 01 n Reaktor eingesetzt war, dass pro Tonne Kernbrenn-
92 92 57
stoff eine Energie von 45.000 MWd gewonnen
235 wurden (1 MWd = 24.000 kWh).
92 U +01 n 236
92 U 89
36 Kr + 144 1
56 Ba + 3 0 n
235
92 U + 01 n 236
92 U 137
55
96
Cs + 37 Rb + 3 01 n
93,30 % U-238
Kernbrennstoff
Aufgrund des Neutronenüberschusses sind 0,45 % U-236
nach dem
die Spaltprodukte zum großen Teil radioaktiv. 0,48 % U-235
Reaktoreinsatz
4,64 % Spaltprodukte
Sie wandeln sich unter Aussenden von Beta (Abbrand
1,03 % Pu
Tab. 4.02 strahlen in stabile Kerne um. Dabei werden ganze 45.000 MWd/t)
0,10 % übrige Actinoide
Radionuklide im Kernbrennstoff Zerfallsreihen durchlaufen. Es ist aber auch
vor und nach dem Einsatz im Reaktor Neutronenemission möglich.
Im Urankern sind die Nukleonen (Protonen und von 235 · 0,9 MeV, also rund 210 MeV, der sich
Neutronen) mit einer mittleren Energie von etwa aus mehreren Teilbeiträgen zusammensetzt
7,6 MeV pro Nukleon gebunden. In den kleineren (Tab. 4.03).
Spaltproduktkernen mit Massenzahlen zwischen
80 und 150 beträgt die mittlere Bindungsenergie Von dem Energiebetrag 210 MeV können in einem
je Nukleon aber etwa 8,5 MeV. Die Differenz von Kernreaktor nur etwa 190 MeV = 1,9 · 108 eV
0,9 MeV je Nukleon wird bei der Kernspaltung frei- genutzt werden, das sind rund 90 %, da die
gesetzt. Da der Urankern 235 Nukleonen besitzt, Energie der Gammastrahlen nur z. T. im Innern
ergibt sich bei jeder Spaltung ein Energiebetrag des Reaktors absorbiert und die Zerfallsenergie
34
Art der Energie Energie • Umrechnung der Einheit J in die Einheit eV
(1 J = 6,242 · 1018 eV):
Bewegungsenergie
175 MeV
der Spaltprodukte Eth = 10,8 · 1016 J
= 6,242 · 1018 eV · 10,8 · 1016
Bewegungsenergie der Neutronen 5 MeV
≈ 6,74 · 1035 eV
Bei der Kernspaltung auftretende
7 MeV
Gammastrahlung
Für den gesamten Energiebetrag von
Energie aus dem Betazerfall 6,74 · 1035 eV ergibt sich eine sehr große
7 MeV Anzahl N von Kernspaltungen:
der Spaltprodukte
35
4.4 Kettenreaktion im Uran-235
Hahn und Straßmann äußerten bereits in ihren und Energie einander äquivalent. Es sind zwei
beiden ersten Aufsätzen über die Kernspaltung Formen eines und desselben Phänomens. Masse
die Vermutung, dass neben den beiden Spaltpro- lässt sich in Energie und Energie in Masse über-
dukten noch einige Neutronen entstehen müss- führen. Das Gesetz lautet:
ten. Dies wurde von Forschern in Frankreich im
März 1939 experimentell bestätigt. Damit hatte E = m · c2
man die Möglichkeit erkannt, einen sich selbst
(E: Energie, m: Masse, c: Lichtgeschwindigkeit)
erhaltenden Kernspaltungsprozess ablaufen zu
lassen. Unter geeigneten Bedingungen können
nämlich die freigesetzten Neutronen sofort wei- Bei einer vollständigen Spaltung von 1 kg
tere Uranatome spalten, so dass ein lawinenartig Uran-235 tritt ein Massenverlust von 1 g auf.
ablaufender Spaltprozess entsteht. Er wird allge- Die Spaltprodukte und sekundären Neutronen
mein als Kettenreaktion bezeichnet. haben nur noch eine Masse von 999 g. Die Masse
von 1 g erscheint dann in Form von Energie:
Abb. 4.03 zeigt den Beginn einer solchen Ketten-
reaktion im Modell. Geht man davon aus, dass 1 g = 10–3 kg c ≈ 300.000 km/s = 3 · 108 m/s
nach jeder Spaltung zwei freie Neutronen zur Ver-
fügung stehen (tatsächlich sind es im Mittel 2,4),
sind es in den weiteren Schritten 4, 8, 16, 32, 64, m2
E = 10–3 kg · (3 · 108)2
128 usw. Wenn genügend Urankerne vorhanden s2
sind, keine Neutronen nach außen verloren ge-
hen oder von Fremdatomen eingefangen werden, kg m2
E = 9 · 1013
verdoppelt sich die Anzahl der Kernspaltungen s2
von Neutronengeneration zu Neutronengenerati-
on, der gesamte Vorgang läuft lawinenartig ab. Es gilt:
Dabei werden ungeheure Mengen an Energie in
kürzester Zeit frei. 1 kg · m 1 N · s2
1N = 1 kg =
s2 m
Wenn man die Masse der Kernteilchen des
Uran-235 und des primären Neutrons mit der Daraus folgt:
Summe der Massen der Spaltprodukte und der
sekundären Neutronen vergleicht, so ist nach der N · s2 · m2
E = 9 · 1013
Kernspaltung ein geringer Massenverlust fest m · s2
zustellen. Dieser Verlust entspricht der bei der
Spaltung frei werdenden Energie. Nach einem E = 9 · 1013 N m = 9 · 1013 J
von Einstein 1905 formulierten Gesetz sind Masse
Abb. 4.03
1. Neutronengeneration 2. Neutronengeneration 3. Neutronengeneration
Kettenreaktion im Uran-235
36
Erzeugung von Plutonium-239 und von Uran-233 4.5
37
5 Kontrollierte Kernspaltung
Aufbau eines Kernreaktors 5.1
Spaltneutronen 5.2
Eine kontrollierte Kettenreaktion lässt sich nur Zur Charakterisierung der Neutronen nach ihrer
entwickeln, wenn eine ausreichende Anzahl von Energie bzw. ihrer Geschwindigkeit wird die
Neutronen zur Verfügung steht. Bei der Spaltung Einteilung nach Tab. 5.01 verwendet. Die ange
eines Kerns U-235 entstehen zwei mittelschwere gebenen Energiebeträge stellen Richtwerte dar,
Trümmerkerne sowie zwei bis drei Neutronen. die Übergänge sind fließend. Die bei der Spaltung
Diese Spaltneutronen haben unterschiedliche von U-235-Kernen auftretenden Neutronen
Energien (Geschwindigkeiten). Am häufigsten gehören also praktisch ausschließlich zu den
tritt der Wert von 0,7 MeV auf, im Mittel liegt schnellen Neutronen (E > 0,1 MeV).
ihre Energie bei etwa 1,5 MeV (Abb. 5.02).
1,0
0,025 eV
0,9 thermische Neutronen
(bei 300 K)
0,8
langsame Neutronen < 10 eV
0,7
0,6 mittelschnelle
10 eV bis
0,5 (epithermische oder inter
0,1 MeV
mediäre) Neutronen
0,4 Tab. 5.01
0,3 schnelle Neutronen > 0,1 MeV Einteilung der Neutronen nach ihrer
kinetischen Energie
0,2
0,1 In einem Reaktor kann mit den Spaltneutronen
grundsätzlich Folgendes geschehen: Abb. 5.02
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Energieverteilung der Neutronen,
Energie in MeV • Sie verlassen die Spaltzone und gehen dadurch die bei der Spaltung von U-235 durch
für weitere Spaltungen verloren. thermische Neutronen entstehen
39
• Sie werden von U-238, von den für die Reaktor langsameres
funktionen notwendigen Materialien oder Neutron, E2
von stets vorhandenen Verunreinigungen
aufgenommen, wodurch künstliche Isotope schnelles
entstehen. Neutron, E1
Rückstoßkern, E3
Sauerstoff-16, im Kühlmittel von Druck- und
Siedewasserreaktoren enthalten, wandelt sich E1 = E2 + E3
z. T. durch Neutroneneinfang in Stickstoff-16
Abb. 5.04 um. E1, E2, E3: Bewegungsenergien
Elastischer Stoß
16 1 16 1
8 O + 0 n 7 N + 1 p
langsameres
Neutron, E2
Stickstoff-16 ist radioaktiv (T½ = 7,13 s) und zer- schnelles
fällt unter Aussendung eines Betateilchens zu Neutron, E1
Sauerstoff-16. Gleichzeitig werden zwei ener-
giereiche Gammaquanten abgegeben. Quant
16
7 N 16
8 O + 0
-1 e + γ1 + γ2 E3
T1/2 = 7,13 s 6,129 MeV 7,115 MeV E1 > E2 + E3
Abb. 5.05 E1, E2, E3: Bewegungsenergien
Unelastischer Stoß Der Gesamtverlauf von Aktivierung und Zerfall
zeigt die Abb. 5.03.
angeregt, der die Anregungsenergie in Form
1
0n eines Gammaquants wieder abgibt (Abb. 5.05).
16
8O
16
7N
16
8O
• Neutronen werden von Kernen des U-235
aufgenommen und lösen dadurch weitere
Kernspaltungen aus. Wenn in einem Reaktor
eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion
abläuft, sagt man, der Reaktor ist kritisch.
γ Was dann im Einzelnen mit einer Neutronen
Abb. 5.03 1 0 generation geschieht, lässt sich in verein
1p -1 e
Aktivierung von Sauerstoff durch ein fachter Form zahlenmäßig angeben. Dabei
Neutron und radioaktiver Zerfall des radioaktiver Zerfall
wird hier von 2,4 Neutronen pro Spaltung aus-
entstandenen Stickstoff gegangen (Tab. 5.02).
40
Moderator 5.3
Neutronen, die bei der Spaltung von Kernen des Moderator Mittlere Neigung
U-235 freigesetzt werden, haben eine relativ Stoßzahl für zum Einfang
hohe Geschwindigkeit. Damit ist die Wahr- eine thermischer
scheinlichkeit, dass sie weitere Kernspaltungen Abbremsung Neutronen
von in relativen
hervorrufen, sehr gering. Wenn dennoch mit 1,75 MeV Einheiten
den schnellen Neutronen eine Kettenreaktion auf 0,025 eV
in Gang gehalten werden soll, muss man eine
hohe U-235-Konzentration wählen und eine
aufwendige Reaktortechnik anwenden. Man Wasserstoff H-1 18 650
beschreitet diesen Weg ausschließlich, wenn
nicht nur U-235-Kerne gespalten, sondern aus Deuterium H-2 25 1
nicht spaltbarem Material mit Hilfe von schnellen
Neutronen neuer Spaltstoff erzeugt werden soll. Beryllium Be-9 86 7
Moderator
(z.B. Wasser)
41
eingesetzt, da es gute mechanische und ther- Die absorbierten Neutronen gehen für weitere
mische Eigenschaften besitzt. Für eine Verwen- Kernspaltungen verloren. Andererseits ist
dung im Reaktor muss es jedoch absolut rein Wasser (H2O) preiswert und besitzt zusätzlich
sein. Wasserstoff in Form von Leichtem Wasser günstige Eigenschaften, die die Sicherheit des
(H2O) ist zwar das beste Bremsmittel, es hat Reaktors betreffen. Bei Verwendung von Was-
jedoch eine sehr große Neigung zum Einfang ser als Moderator muss der Neutronenverlust
von Neutronen. Dabei entsteht Deuterium: ausgeglichen werden. Dazu erhöht man den
Anteil von U-235 von 0,7 % auf 3 bis 5 %. Man
1 1 2
1 H + 0 n 1 H + γ erhält dann mehr Spaltungen sowie mehr
Neutronen. Uran mit einem über 0,7 % liegen-
den Anteil von U-235 nennt man angereicher-
tes Uran.
Die Temperatur in den Brennstäben eines Reaktors koeffizient ist hier also negativ. Bei dieser Art
schwankt in Abhängigkeit von der verlangten von Selbstabilisierung spricht man deshalb von
Reaktorleistung. Sie liegt bei Volllast im Innern inhärenter (innewohnender) Stabilität.
der Brennstäbe bei etwa 800 °C. Die Temperatur
hat Einfluss auf die Wirksamkeit des Moderators. Bei dem Reaktor vom Typ Tschernobyl sind der
Ein Vergleich zwischen den Moderatoren Graphit Moderator (Graphit) und das Kühlmittel (Wasser)
und Wasser macht das deutlich. unterschiedliche Stoffe. Wenn die Anzahl
der Kettenreaktionen und damit die Leistung
In den Leichtwasserreaktoren ist das Wasser ansteigen, entstehen im Kühlmittel Wasser mehr
Kühlmittel und Moderator. Steigt die Anzahl der Dampfblasen.
Kernspaltungen und damit auch die Leistung an,
erhöht sich z. B. in einem Siedewasserreaktor der Da Wasserdampf pro Volumen weniger Moleküle
Dampfblasenanteil. Da das Wasser aber gleich enthält als Wasser, werden weniger Neutronen
zeitig Moderator ist, bedeuten mehr Dampf absorbiert. Am Moderator Graphit kann nun
blasen eine „Verdünnung“ des Moderators. Es eine höhere Anzahl von Neutronen abgebremst
werden jetzt zwar weniger Neutronen absorbiert, werden, so dass auch die Anzahl der Kern
noch weniger aber abgebremst (Moderatoreffekt spaltungen steigt.
ist von größerem Gewicht als der Absorptions
effekt) (Abb. 5.07). Dadurch sinkt die Anzahl der Durch eine erhöhte Anzahl von Kernspaltungen
Kernspaltungen von selbst. Der Dampfblasen steigt dann aber auch die Leistung an, die zu
Abb. 5.07
Bei Wasser ist die Moderation
von der Temperatur abhängig
42
noch mehr Dampfblasen führt usw. Man sagt,
der Dampfblasenkoeffizient des Moderators ist spezifische Leistung
positiv. Nur durch geeignete Sicherheitsein in W/cm3
richtungen wird verhindert, dass der Leistungs- 20
anstieg außer Kontrolle gerät.
Zum anderen bedeutet grundsätzlich eine Moderatormoleküle zunimmt. Sie überträgt sich
Erhöhung der Moderatortemperatur, dass die dann auch auf die Neutronen, die nun nicht mehr
Bewegungsenergie der Moderatoratome bzw. so wirkungsvoll abgebremst werden.
10
5 B + 1
0 n 7
3 Li + 4
2 He + γ der Druckaufbau begrenzen die Lebensdauer der
Steuerstäbe. Der Austauschrhythmus beträgt
etwa sechs Jahre.
113
48 Cd + 1
0 n 114
48 Cd + γ Der Zustand eines Reaktors kann durch den Mul-
tiplikationsfaktor k beschrieben werden. Er gibt
Das entstehende Lithium gelangt zum Teil in das das Verhältnis der Anzahl der Spaltungen einer
Kühlmittel des Reaktors und wird – zusammen Neutronengeneration zur Anzahl der Spaltungen
mit anderen Verunreinigungen – durch die der vorhergehenden Neutronengenerationen an:
Kühlmittelreinigungsanlage fortlaufend entfernt.
Die Alphateilchen wandeln sich durch Aufnahme Zahl der Spaltungen
von Elektronen in Helium um, das in den Röhrchen einer Neutronengeneration
k =
der Steuerstäbe einen beachtlichen Gasdruck Zahl der Spaltungen
der vorhergehenden Neutroneneneration
erzeugt. Die Abnahme der Borkonzentration und
43
Beispiel für ein sehr kleines Volumen der Bei der Inbetriebnahme eines Reaktors oder der
Spaltzone: Steigerung seiner Leistung wäre eine Steuerung
mit mechanischen Vorrichtungen nicht möglich,
1. Neutronengeneration: 3.750 Spaltungen weil sie viel zu langsam wären.
Bei starken Abweichungen vom normalen Wie verzögerte Neutronen für die Reaktor
Reaktorbetrieb oder bei Störfällen kann der steuerung genutzt werden können, lässt sich
Reaktor durch schnelles Einfahren der Absorber- durch eine Analogie veranschaulichen (Abb. 5.11
stäbe innerhalb weniger Sekunden abgeschaltet und Tab. 5.04). Das wird hier für den Fall der
werden. Leistungserhöhung des Reaktors erklärt.
Dieser „Schnellschuss“ wird automatisch ausge- Ein Wasserbehälter hat einen Zu- und einen Ab-
löst, kann aber auch durch Betätigen eines Not- lauf. Der Zulauf besteht aus einem Rohr mit gro-
schalters herbeigeführt werden. ßem und einem Rohr mit kleinem Querschnitt.
Der Abfluss kann durch Betätigen eines Schiebers
Bei einer Kettenreaktion tritt die Neutronen geöffnet werden, so dass sich der Behälter sehr
vermehrung in Bruchteilen von Sekunden auf. schnell entleert.
Steuerstab Steuerstab
z. B. B4C z. B. B4C
Abb. 5.10
Stellung der Steuerstäbe Moderator Brennstab Moderator Brennstab
beim Anfahren und beim (z.B. Wasser) (z.B. Wasser)
Abfahren eines Reaktors
44
Kontrollierte Kettenreaktion Wassermodell
Zulauf
Prompte Neutronen (99,25 %) Zufluss einer großen Wassermenge
durch das große Rohr
Verzögerte Neutronen (0,75 %) Zufluss einer kleinen Wassermenge
durch das kleine Rohr
Sollwert
Neutronenfluss im Reaktor Wasserstand im Behälter
Anfahren des Reaktors, Langsamer Anstieg des Wassers
Vermehrung der Neutronen entsprechend dem Wasserzulauf
von Generation zu Generation durch das kleine Rohr
um maximal 0,75 %
Schieber
Der Reaktor hat sein Der Wasserstand erreicht
Leistungsniveau erreicht. einen Sollwert.
Vollständiges Einfahren der Vollständiges Herausziehen des
Regelstäbe, Neutronenabsorption, Schiebers, das Wasser fließt in
Erlöschen der Kettenreaktion kürzester Zeit aus dem Behälter
Abfluss
Dazu muss der Schieber so weit geöffnet werden, Tab. 5.04
dass soviel Wasser abfließt, wie durch das große Vergleich der Steuerung einer Ketten
Rohr zufließt. Der Wasserstand steigt dann nur reaktion mit einem Wassermodell
Es soll nun erreicht werden, dass sich der Wasser- langsam entsprechend dem Zufluss durch das
stand nur in dem Maße erhöht, wie Wasser durch kleine Rohr an und kann durch Verstellen des Abb. 5.11
das Rohr mit dem kleinen Querschnitt zufließt. Schiebers leicht gesteuert werden. Wassermodell zur Erklärung der Reaktor
steuerung mit Hilfe der verzögerten
Neutronen
Uran und Moderator lassen sich entweder mit U-238 eingefangen, wenn Uran und Moderator
einander mischen (homogener Reaktor) oder getrennt angeordnet sind, der Moderator also
räumlich getrennt voneinander anordnen das Uran umgibt (heterogener Reaktor). Dann
(heterogener Reaktor). gelingt es auch, mit Natururan und Graphit als
Moderator einen Neutronenvermehrungsfaktor
Bei einer homogenen Mischung beider Stoffe gibt k > 1 zu erreichen.
es ein optimales Verhältnis, bei dem der Moderator
seine maximale Wirkung hat. Der Multiplikations Der erste Reaktor, der von Enrico Fermi 1942
faktor (Neutronenvermehrungsfaktor) k ist dann in Chicago (USA) gebaut wurde, hatte diesen
am größten. Tab. 5.05 gibt für optimale homo Aufbau. Dazu wurden rund 400 t Graphit sowie
gene Mischungen von Natururan und Moderator 36 t Natururan benötigt. Bei Verwendung von
den maximal erreichbaren Wert für k an. Schwerem Wasser hätten bereits 3 t Natururan
ausgereicht.
Moderator Maximaler
Multiplikationsfaktor Bei einem Kernreaktor setzt die Kettenreaktion
nur ein, wenn eine Mindestmenge an U-235
Wasser (H2O) 0,62
(oder Pu-239) vorhanden ist. Da während des
Beryllium (Be) 0,66 Reaktorbetriebs der Anteil an U-235 ständig Tab. 5.05
Graphit (C) 0,84 geringer wird und der größer werdende Anteil an Maximaler Multiplikationsfaktor
Spaltprodukten immer mehr Neutronen absor- für Natururan und verschiedene
Schweres Wasser (D2O) 1,33
biert, muss der Reaktor mit einem Überschuss an Moderatoren (Homogene Mischung)
spaltbarem U-235 betrieben werden. Dieser Über-
Bei einem homogenen Reaktor, der mit Natururan schuss darf jedoch nicht zu groß sein, weil sonst
(0,7 % U-235) betrieben wird, ist also eine Ketten die Reaktorsteuerung sehr schwierig wird.
reaktion nur bei Verwendung von Schwerem Wasser
möglich. Nur dann kann der Multiplikationsfaktor Nach etwa einem Jahr sind die zusätzlichen Reser
k > 1 sein. Das ist der Grund, weshalb heute in ven an U-235 aufgebraucht. Das U-235 ist dann
Uranerzlagerstätten mit Hilfe von Regenwasser zwar noch nicht vollständig gespalten, im Reaktor
keine Kettenreaktion entstehen kann. Das wäre kann aber keine Kettenreaktion mehr herbei
erst bei einem höheren Anteil an U-235 möglich. geführt werden. Der Reaktor wird deshalb abge-
schaltet und nach einer Abkühlzeit geöffnet, um
Die bei Kernspaltungen entstehenden Neutronen neue Brennelemente einzusetzen bzw. die bereits
werden in einem geringeren Maß von Kernen des benutzten in andere Positionen umzusetzen.
45
5.7 Verfahren zur Anreicherung von U-235
Im natürlichen Uran befinden sich etwa 99,3 % Da der Gasdurchsatz einer Zentrifuge sehr
U-238 und etwa 0,7 % U-235. Dieses Natururan ist gering ist, müssen viele Zentrifugen parallel
für Leichtwasserreaktoren nicht geeignet. Es wird geschaltet werden, um eine genügend große
Uran mit einem Gehalt an U-235 von mindestens Kapazität zur Verfügung zu haben. Insgesamt
2 % benötigt. sind dann etwa 150.000 Zentrifugen im
Einsatz.
Die Anreicherung geschieht in Urananreiche
rungsanlagen. Für alle Anreicherungsverfahren Das an U-235 angereicherte Uranhexafluorid
muss das Uran in Form von Uranhexafluorid besteht z. B. aus 4 % 235UF6 und aus 96 % 238UF6.
(UF6) vorliegen. Diese chemische Verbindung Es wird anschließend in UO2-Pulver umge
verdampft bereits bei 56 °C, so dass also in wandelt, das dann zu Tabletten verarbeitet wird
den Anlagen Gasanteile voneinander getrennt (UO2-Pellets). Sie bilden den so genannten
werden: Kernbrennstoff. (Dieser Name ist eigentlich irre
führend, denn in einem Reaktor findet keine
niedriger Druck Verbrennung statt. Der exaktere Ausdruck wäre
Membran an U-235 Spaltstoff.)
angereicherter
Gasstrom
an U-235
angereichertes
Uran
UF6
Einspeisung an U-235
von UF6 abgereichertes
Uran
Abb. 5.12 (links) an U-235
Prinzip des Gasdiffusionsverfahrens abgereicherter
hoher Druck Gasstrom
238
UF6
mittlerer Druck
235UF6 Vakuum
46
Naturreaktor von Oklo 5.8
In Gabun (Westafrika) gibt es ergiebige Uranerz- Wie konnte es aber in der Natur zu einer
vorkommen, die seit Ende der 1960er Jahre abge- kontrollierten Kettenreaktion kommen? Damit
baut werden. Zur Qualitätskontrolle wird ständig eine Kettenreaktion in Gang kommt, müssen
die Zusammensetzung des gewonnenen Erzes drei Bedingungen erfüllt sein. Es müssen eine
sowie vor allem der Anteil an Uran-235 bestimmt. hohe Urankonzentration mit einem genügend
großen Anteil an U-235 vorliegen, ein Moderator
Bei der Analyse einer solchen Probe aus dem Tage zur Abbremsung der Neutronen zur Verfügung
bau Oklo stellte man im Mai 1972 fest, dass der stehen und Stoffe fehlen, die zu viel Neutronen
Uran-235-Gehalt nicht wie üblich 0,7202 Atom- einfangen.
prozent, sondern nur 0,7171 Atomprozent be-
trug. Das waren 0,003 Atomprozent weniger als Die Urankonzentration beträgt in Oklo an einigen
sonst bei allen anderen Uranerzvorkommen auf Stellen bis über 60 Gewichtsprozent. Solche
der Welt festgestellt worden war. besonders uranreiche Zonen sind etwa 0,6 bis 1 m
dick und wenige Meter breit. Da die Uranerzlager-
Bei der Untersuchung weiterer Proben stellte man stätte etwa 1,8 Milliarden Jahre alt ist, lag zur Zeit
Abreicherungen bis herab zu 0,296 Atomprozent ihres Entstehens auch der Gehalt an U-235 höher,
fest. Dabei zeigte sich, dass die Abreicherung und zwar über 3 % (U-235: T1/2 = ca. 0,7 · 109 a).
desto größer war, je mehr Uran das Erz enthielt, Unter diesen Bedingungen konnte dann auch
d. h. je höher die Gesamt-Urankonzentration lag. Wasser ein geeigneter Moderator sein.
Bei Urangehalten unter etwa 1 % waren dagegen
die Anteile von U-238 und U-235 wie sonst üblich Die Kettenreaktion hielt sich vermutlich mehrere
verteilt. hunderttausend Jahre selbst in Gang. Dabei
traten Temperaturen zwischen etwa 180 °C und
Im August 1972 wurde erstmals die Hypothese etwa 450 °C auf. Wie es über so lange Zeit zu
formuliert, dass in der Erzlagerstätte in Oklo einer kontrollierten Kettenreaktion kommen
ein natürlicher Reaktor in Betrieb gewesen sein konnte, ist noch nicht bekannt.
könnte. Der Gehalt an U-235 wäre dann durch
Kernspaltungen bzw. eine längere Zeit in Gang Man nimmt an, dass zwei unterschiedliche
gehaltene Kettenreaktion verringert worden. Kontrollmechanismen wirksam waren:
Einen eindeutigen Beweis für die stattgefundene • Geringe Beimengungen von Li-6, B-10 und
Kettenreaktion erhielt man durch den Nach- Cd-113 sowie die entstandenen Spaltprodukte
weis der dabei entstandenen Spaltprodukte. haben gerade so viel Neutronen eingefangen,
Die Tab. 5.06 zeigt als Beispiel die Werte für das dass die Kettenreaktion nicht lawinenartig
Edelgas Xenon, von dem sich noch etwa 1 % ablief.
der ursprünglich entstandenen Menge im Erz
befindet. Da die Erzlagerstätte sehr alt ist, sind • Das als Moderator wirkende Wasser bildete
die relativ kurzlebigen Spaltprodukte nicht mehr einen zweiten Regelmechanismus. Je nach-
vorhanden, wohl aber die stabilen Endglieder dem, ob Regenwasser in das Uran eindrang
ihrer Zerfallsreihen. oder aus ihm verdampfte, nahm die Anzahl
der Kernspaltungen zu oder ab. Verdampfte
An insgesamt 13 Stellen fand man dadurch Wasser aus dem Erdreich, konnten die Neu
Hinweise auf prähistorische Reaktortätigkeit. tronen nicht mehr ausreichend abgebremst
werden. Die Anzahl der Kernspaltungen ging
zurück und die Temperatur sank. Sickerte
Wasser ein, stieg die Anzahl der Kernspaltun-
gen wieder usw.
Herkunft Massenzahl
natürl. Xe 0,10 0,09 1,9 26,4 3,3 21,2 27,0 10,5 8,9
Xe-Gehalt
0,00017 3,07 0,0015 13,08 19,45 35,45 28,95 Tab. 5.06
in Atomprozent Spalt-Xe
bei Isotopenzusammensetzung von Xenon
aus natürlichen Vorkommen,
Oklo 0,0028 3,46 0,0346 12,38 20,35 35,38 28,48 als Spaltprodukt in Kernkraftwerken
und einer Probe aus Oklo
47
6 Kernkraftwerke
Kernkraftwerk mit Siedewasserreaktor 6.1
Beispiel: Kernkraftwerk Gundremmingen Block C
1 6 7 8 9
2
13
3
12 10
11
4
16
15 14
5
Fluss oder
Kühlturm
49
Das Reaktordruckgefäß mit den Brennelementen
ist ein zylindrischer Stahlbehälter. Er ist mit
einem Betonschild abgeschirmt und befindet sich
zusammen mit einer Reihe weiterer Anlagenteile
und Sicherheitseinrichtungen in einem Sicher-
heitsbehälter, der in der Abbildung jedoch nicht
dargestellt ist.
Durch das Wasser wird die in den Brennele rehstrom-Synchrongenerator gekoppelt ist. Der
D
menten erzeugte Wärme abgeführt. Um ein Generator liefert an den Klemmen eine Leistung
Sieden zu verhindern, wird der Betriebsdruck im von 1.480 Megawatt (Wirkleistung) bei einer
Hauptkühlkreis auf 157 bar heraufgesetzt und Spannung von 27 kV. Die Frequenz beträgt 50 Hz.
durch einen Druckhalter geregelt. Das Kühlmit-
tel tritt mit einer Temperatur von 291 °C in den Kernbrennstoff UO2/MOX
Reaktor ein und verlässt ihn mit einer Temperatur
Anreicherung an U-235 bis zu 4 %
von 326 °C. Etwa 67.680 t Kühlmittel werden je
Stunde durch den Reaktor bewegt. Kernbrennstoffmenge 103 t
Anzahl der Brennelemente 193
Das erhitzte Wasser gibt seine Wärme in vier
Anzahl der Brennstäbe
Dampferzeugern (davon nur einer in Abb. 6.02 je Brennelement
236
dargestellt) an das Wasser eines Sekundärkreises
ab. Aufgrund der hohen Temperatur und des nied Brennstablänge 4,83 m
rigeren Druckes verdampft es im Sekundärkreis Anzahl der Steuerstäbe 61
und liefert pro Sekunde 2,14 t Sattdampf von
Absorbermaterial In, Ag, Cd
283,8 °C und einem Druck von 67 bar. Durch ein
solches Zweikreissystem wird erreicht, dass die Kühlmittel und Moderator H2O
im Reaktorkühlmittel auftretenden radioaktiven thermische Reaktorleistung 3.900 MW
Stoffe auf den ersten Kühlkreislauf beschränkt
bleiben und nicht in die Turbine und den elektrische Bruttoleistung 1.480 MW
Tab. 6.02 Kondensator gelangen. Mit Hilfe des erzeugten elektrische Nettoleistung 1.410 MW
Technische Daten Dampfes wird eine Turbine (Hochdruckteil,
Bruttowirkungsgrad 38 %
zum Kernkraftwerk Brokdorf Niederdruckteil) betrieben, die direkt mit einem
9 10 11
5
4
15
6
3
2 14 12
1
7
16
17
Fluss oder
18 13 Kühlturm
50
Im Kondensator wird der aus der Turbine aus vorgänge können die Steuerstäbe ganz oder
tretende Dampf wieder verflüssigt. Dazu sind teilweise in den Reaktor eingefahren und wieder
etwa 208.000 m3 Kühlwasser pro Stunde erforder heraus gezogen werden. Für langsame oder lang-
lich, die der Elbe entnommen werden. Das Kon- fristige Regelvorgänge wird Borsäure als Neutro-
densat wird durch eine Vorwärmanlage zuge- nenabsorber dem Reaktorkühlwasser zugesetzt.
führt, auf 218 °C vorgewärmt und anschließend
in den Dampferzeuger zurückgeleitet. Die Brennelemente befinden sich in einem Druck-
behälter aus Spezialstahl (Wandstärke 25 cm),
Für die Steuerstäbe des Reaktors wird eine Legie der zusammen mit dem Primärkreislauf in einem
rung aus Silber, Indium und Cadmium als Ab doppelwandigen Sicherheitsbehälter unterge-
sorbersubstanz verwendet. Für schnelle Steuer bracht ist.
Weltweit werden in Kernkraftwerken überwiegend Durch einen fast drucklosen, mit Schwerem
Leichtwasserreaktoren vom Typ der Druck- und Wasser (D2O) gefüllten Moderatortank verlaufen
Siedewasserreaktoren eingesetzt. Mit knapp 90 % horizontal Druckrohre, die die Brennelemente
der installierten elektrischen Nettoleistung haben enthalten und die von D2O als primärem Kühl-
sie den größten Anteil an allen Kraftwerksreak mittel zur Abführung der bei der Kernspaltung
toren. Rund 6 % der installierten Leistung entfällt entstandenen Wärme durchströmt werden. Um
auf mit Schwerem Wasser (D2O) moderierte und ein Sieden zu verhindern steht dieses primäre
gekühlte Druckröhren-Reaktoren (CANDU), der rest Kühlmittel unter einem Druck von etwa 100 bar.
liche Anteil auf graphitmoderierte, wassergekühlte Das erhitzte Schwerwasser überträgt seine Wär-
Druckröhren-Siedewasserreaktoren (RBMK) und me in Dampferzeugern an den Sekundärkreislauf,
graphitmoderierte, gasgekühlte Reaktoren (AGR). in dem Wasser – H2O – verdampft und über eine
Turbine den Generator antreibt (Abb. 6.03).
6.3.1 Kernkraftwerk mit Schwerwasser-Druck-
röhren-Reaktor (CANDU) Durch die Nutzung von D2O als Moderator ist prin-
zipiell die Verwendung von Natururan, also Uran
Dieser Schwerwasser-Drückröhrenreaktor – häufig mit dem natürlichen Anteil von nur rund 0,7 % des
auch CANDU-Reaktor (CANada Deuterium Uranium) spaltbaren Isotops Uran-235 möglich. Allerdings
genannt – ist ein von einem kanadischen Unter wird heute üblicherweise auf bis zu 2 % an U-235
nehmen entwickelter Reaktortyp, der überwie- angereichertes Uran verwendet. Die Verwendung
gend in Kanada und Indien genutzt wird. Auch im von Druckröhren an Stelle eines großvolumigen
Kernkraftwerk Cernavodă in Rumänien sind zwei Druckbehälters wie bei Druckwasserreaktoren
CANDU-Reaktoren im Betrieb. führt zu eine technisch einfacheren Fertigung.
9 10 11
5 6
15
1
2
14 12
3
4 7 17
16
18 13
Fluss oder
Kühlturm
51
Ermöglicht wird dadurch auch ein Wechsel der Die Vorteile dieses in der ehemaligen UdSSR ent-
Brennelemente während des Reaktorbetriebs, in- wickelten Reaktortyps lagen in
dem einzelne Druckröhren abgeschaltet werden, • der einfacheren Fertigung von Druckröhren
um die Brennelemente zu wechseln. gegenüber großvolumigen Druckbehältern,
• der leichter möglichen Entwicklung von Reak
6.3.2 Kernkraftwerk mit graphitmoderiertem toren größerer Leistung, da gleichartige
Druckröhren-Siedewasserreaktor (RBMK) Komponenten lediglich in ihrer Anzahl ver-
mehrt zu werden brauchten,
RBMK ist die Abkürzung der russischen Bezeich- • einem Brennelementwechsel während des
nung für einen graphitmoderierten, wasserge- Anlagenbetriebs ohne Stillstandzeiten.
kühlten Druckröhren-Siedewasserreaktor.
Nachteilig ist die wegen des sehr großen Reaktor-
Der Reaktorkern besteht aus etwa 1.700 t Graphit kerns aufwendige, komplizierte und träge Steue-
ziegeln, die zu einem zylindrischen Block von 7 m rung der Kettenreaktion.
Höhe und 12 m Durchmesser aufgeschichtet sind.
Das Volumen des Reaktorkerns ist mehr als 10-mal 6.3.3 Kernkraftwerk mit graphitmoderiertem
größer als bei einem typischen Siedewasser gasgekühltem Reaktor (AGR)
reaktor. Im Graphitblock befinden sich senkrechte
Bohrungen für die 1.693 Druckröhren, die je ein Der AGR – Advanced Gas-cooled Reactor – ist
Brennelement mit zwei hintereinander angeord- ein in Großbritannien gebauter und betriebener
neten Brennstabbündeln aus jeweils 18 Brenn- graphitmoderierter, CO2-gekühlter Reaktor. Er
stäben enthalten. Jedes Brennstabbündel ist ist eine Weiterentwicklung des Reaktortyps, mit
3,65 m lang und enthält 64,8 kg Urandioxid mit dem das weltweit erste kommerzielle Kernkraft-
einem Anteil von 2,4 % U-235. Insgesamt enthält werk – Calder Hall, England – am 27. August 1956
der Reaktor rund 193 t Uran. Weitere Bohrungen Strom in das öffentliche Netz lieferte.
im Graphitblock enthalten die 191 Regel- und Ab-
schaltstäbe. Die in den Brennelementen durch Im AGR wird auf bis zu 2,7 % angereichertes Uran
Kernspaltungen erzeugte Wärme wird vom um- eingesetzt. Die Temperatur des Kühlmittels CO2
gebenden Wasser in den Druckröhren aufgenom- beträgt etwa 650 °C und die Wasserdampftempe-
men, das dadurch z. T. verdampft. Das Wasser- ratur beim Turbineneintritt 566 °C. Dadurch wird
Dampf-Gemisch gelangt aus den Druckröhren zu ein hoher Wirkungsgrad der Anlage von 41,6 % er-
Dampfabscheidern, in denen eine Trennung von reicht. Diesem Vorteil steht allerdings nachteilig
Wasser und Dampf herbeigeführt wird. Der Dampf gegenüber, dass die Ausnutzung des Uran-Brenn-
strömt zu zwei Turbinen, das Wasser wird wieder stoffs (der sogenannte Abbrand) deutlich geringer
in den Reaktor zurückgepumpt (Abb. 6.04). ist als bei Druck- und Siedewasserreaktoren.
2 4 6 7
9 10 11
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5
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Fluss oder
Kühlturm
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5
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Kühlturm
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6 17
Fluss oder
4 2 9 10 11 4 Kühlturm
53
Th-232 eingefangen. Das entstehende Th-233 zer- „Schnellen Reaktor“ oder auch wegen der Mög-
fällt in Protactinium-233, aus dem durch weiteren lichkeit des Zugewinns an Spaltstoff „Schneller
Betazerfall das ebenfalls durch langsame Neu Brutreaktor“.
tronen spaltbare U-233 entsteht (s. Abb. 4.05,
S. 37). Während des Betriebs erzeugte dieser Da solche Reaktoren nur mit schnellen Neutronen
Reaktor also einen Teil des Spaltstoffs selbst. betrieben werden können, darf kein Moderator
Als Moderator wurde Graphit verwendet. Die im vorhanden sein. Als Kühlmittel ist deshalb Was-
Reaktor erzeugte Wärme wurde durch bis auf ser ungeeignet, da es die Neutronen auf geringe
750 °C erhitztes Helium nach außen geführt. In Geschwindigkeiten abbremst (moderiert). Als
Dampferzeugern gab das Helium seine Wärme an Kühlmittel wird deshalb z. B. flüssiges Natrium
einen Wasser-Dampf-Kreislauf ab (Abb. 6.06). verwendet. Sein Schmelzpunkt liegt bei 98 °C,
sein Siedepunkt bei 883 °C. Im Reaktorkern wird
6.3.5 Kernkraftwerk mit Schnellem Reaktor das Kühlmittel Natrium auf etwa 550 °C erhitzt.
Da das Natrium dabei nicht siedet, ist auch der
In Siede- und Druckwasserreaktoren kann von entstehende Druck relativ niedrig. Im Primär-
den in der Natur vorhandenen Uranisotopen kreislauf liegt er bei etwa 10 bar.
nur das U-235 gespalten werden. Der Prozess
kann aber in einem speziellen Reaktortyp so Das Natrium, das durch den Reaktorkern strömt,
gesteuert werden, dass auch das U-238 genutzt wird durch die Neutronenstrahlung radioaktiv.
wird. U-238 nimmt dabei ein Neutron auf und es Aus Sicherheitsgründen gibt das Natrium des
entsteht U-239, das sich über Neptunium-239 in Primärkreislaufs seine Wärme in einem Wärme-
spaltbares Pu-239 umwandelt (s. Kap.4.5). Durch tauscher an das Natrium eines Sekundärkreislaufs
diesen Vorgang lässt sich mehr spaltbares Mate- ab. Das Natrium in diesem sekundären Kreislauf ist
rial erzeugen als durch Kernspaltungen für den dann nicht mehr radioaktiv. Im Dampferzeuger des
Reaktorbetrieb verbraucht wird. Da in einem sol- dritten, des Wasser-Dampf-Kreislaufs, wird schließ-
chen Reaktor schnelle Neutronen für den Prozess lich Wasserdampf von rund 500 °C erzeugt, der
genutzt werden, nennt man diesen Reaktortyp einer Dampfturbine zugeführt wird (Abb. 6.07).
11 14 15 16 17
8
13
3
2 18
1
4 12 22
5 10
21
6 7 23 20 19
Fluss oder
Kühlturm
54
Sicherheitseinrichtungen 7
bei Kernkraftwerken
7.1 Strahlenquellen in einem Kernkraftwerk
Die von einem Kernreaktor ausgehende Strah- etwa 1.000 verschiedene Spalt-Radionuklide,
lung hat verschiedene Ursachen: die sich auf 53 verschiedene Elemente verteilen
(vom Mangan mit der Kernladungszahl 25
• Bei der Spaltung der Kerne des U-235 mit Hilfe bis zum Thulium mit der Kernladungszahl 69
langsamer Neutronen tritt eine Neutronen- sowie die bei einer Spaltung in drei Bruch
und Gammastrahlung auf. Beispiel: stücke entstehenden Elemente vom Wasser-
stoff bis zum Neon).
235
92 U + 10 n 236
92 U 131
53 I +102 1
39 Y + 3 0 n + γ
Viele Spaltprodukte wandeln sich unter Aus
senden von Betastrahlen in stabile Kerne um.
Beide Strahlenarten haben ein hohes Durch- Dabei werden zum Teil Zerfallsreihen durch-
dringungsvermögen. Sie müssen deshalb laufen (Abb. 7.01 und Abb. 7.02). Es ist aber
durch eine Reihe von Barrieren abgeschirmt auch Neutronenemission möglich. Radio
Abb. 7.01 (links) werden. aktive Isotope eines bestimmten Elements
Radioaktiver Zerfall des Sn-131 (z. B. radioaktives Iod) können direkt bei der
• Die bei der Kernspaltung entstehenden Spalt- Kernspaltung oder beim nachträglichen Zerfall
Abb. 7.02 produkte sind aufgrund ihres Neutronenüber- eines Spaltproduktes entstehen.
Radioaktiver Zerfall des I-137 schusses meist radioaktiv. Man kennt heute
• Eine weitere Quelle bilden die Aktivierungs-
produkte. Zunächst inaktive Nuklide können
sich durch Aufnahme eines freien Neutrons in
Radionuklide umwandeln. Hier zwei Beispiele:
131 137
50 Sn 53 I
58
26 Fe + 10 n 59
26 Fe (Aktivierung)
HWZ HWZ
56 s 0 24,2 s 0
-1 e -1 e
59 59
26 Fe 27 Co + -10 e + γ (radioaktiver
T1/2 = 44,5 d
Zerfall)
131 137
51 Sb 54 Xe
59
27 Co+ 10 n 60
27 Co (Aktivierung)
HWZ HWZ
23 min 0 3,83 min 0
-1 e -1 e
60 60
27 Co 28 Ni + -10 e + γ (radioaktiver
T1/2 = 5,272 a
Zerfall)
131 137
52 Te 55 Cs
Materialien im Bereich der Neutronen
HWZ HWZ strahlung, wie z. B. das Kühlmittel Wasser,
25 min 0
-1 e
30,17 a 0
-1 e
der Beton, Stahl und seine Legierungsbestand
teile, Korrosionsprodukte oder die Luft können
auf diese Weise radioaktiv werden und dann
über eine mehr oder weniger lange Zeit Strah-
131 137m
lung aussenden.
53 I 56 Ba
56
Grundlegendes Sicherheitskonzept 7.2
Bei Kernspaltungen und beim Zerfall von Radio- in der Umgebung des Kernkraftwerks keine
nukliden werden ionisierende Strahlen ausge- Schäden verursacht.
sandt. Sie stellen für Lebewesen eine Gefahr dar.
In Kernkraftwerken werden deshalb die Strah- Die Spaltprodukte sind radioaktiv und erzeu-
len abgeschirmt und die strahlenaussendenden gen auch nach dem Abschalten des Reaktors
Radionuklide sicher eingeschlossen. Diese grund- große Wärmemengen. Diese so genannte
legenden Anforderungen müssen sowohl bei Nachwärme beträgt unmittelbar nach dem
normalem Reaktorbetrieb als auch im Störfall Abschalten 6,5 % der Ausgangsleistung und
erfüllt sein: nimmt nach einem Tag auf 0,8 % ab. Bei einem
Kraftwerk mit einer thermischen Leistung von
• Ein störungsfreier Normalbetrieb erfordert 3.000 MW wären das 24 MW. Bei fehlender
die Verwendung qualitativ hochwertiger Kom- Wärmeabfuhr würde die Temperatur bis weit
ponenten und Anlagenteile (optimale Werk- über das Schmelzen der Brennstäbe hinaus
stoffe, gewissenhafte Fertigung und deren ansteigen. Radioaktive Spaltprodukte könnten
Prüfung – Beispiel s. Abb. 7.03, umfassende dann freigesetzt werden. Es muss also in jeder
Kontrollen und Wiederholungsprüfungen wäh- Situation sichergestellt sein, dass die Nach-
rend der gesamten Lebensdauer der Anlage), wärme abgeführt wird.
die Einplanung hoher Sicherheitsreserven,
eine schonende Betriebsweise und den Einsatz Die künstlich erzeugten Radionuklide (Spalt-
fachkundigen Betriebspersonals. produkte, Aktivierungsprodukte, Actinoide)
werden durch mehrere, gestaffelt hinter
einander angeordnete Schutzbarrieren einge-
Schweißnaht Film schlossen. Die Radionuklide dürfen niemals
unkontrolliert und in unzulässigen Mengen in
Strahlenquelle
die Biosphäre gelangen. Die Barrierenfunktion
muss unter allen Störfallbedingungen auf-
recht erhalten werden. Der Einschluss der in
den Brennstäben vorhandenen Spaltprodukte
ist oberstes Ziel der Reaktorsicherheitstechnik.
57
Qualitätssicherung
Bei der Auswahl der Werkstoffe
und ihrer Verarbeitung werden
eine Vielzahl von Kontrollen
vorgenommen. Während des
Reaktorbetriebes sind laufende Diversität
Redundanz Kontrollen vorgeschrieben. [diversitas (lat.) = Verschiedenheit]
[redundantia (lat.) = Überfülle] Da auch mehrfach vorhandene gleich
Wichtige Sicherheitssysteme werden artige Sicherheitssysteme aus der
mehrfach (redundant) angeordnet. gleichen Ursache (z. B. Konstruktions
Es sind mindestens zwei Systeme fehler) versagen können, werden für
mehr vorhanden (n + 2), als für den gleichen Zweck technisch unter-
die eigentliche Funktion benötigt schiedliche Einrichtungen vorgesehen.
werden.
Fail-Safe
Entmaschung [fail (engl.) = versagen,
Damit ein ausfallendes Sicher safe (engl.) = sicher, gefahrlos]
heitssystem das Nachbarsystem Sicherheit Soweit eine technische Reali-
nicht beeinträchtigt, besitzen sierung möglich ist, wird die
sie keine gemeinsamen Kompo- Reaktoranlage bei Ausfällen
nenten. Außerdem werden sie automatisch in einen sicheren
räumlich getrennt und baulich Zustand überführt („fehlerver-
besonders geschützt angeordnet. zeihendes“ Sicherheitssystem).
Um die Sicherheit von Kernkraftwerken weiter zu technischen Zugriff des Menschen entziehen.
verbessern, wird eine umfassende Sicherheits- So kann man z. B. gegen den Einschlag eines
forschung betrieben. Man versucht, einzelne großen Meteoriten keine Sicherheitsein
Komponenten zu verbessern, vorhandene Sicher- richtungen schaffen. Für solche Fälle muss
heitsreserven zu bestimmen, einzelne Schutz- ermittelt werden, ob die Eintrittswahrschein
und Sicherheitssysteme in ihrem Zusammenspiel lichkeit so groß und die Auswirkungen so
unter immer neuen Bedingungen zu beurteilen katastrophal sind, dass ein Risiko nicht mehr
sowie den Ablauf möglicher bzw. hypothetischer akzeptiert werden kann.
Störfälle zu analysieren. Die dabei gewonnenen
Erkenntnisse können zur Verbesserung der In den folgenden Abschnitten werden beispiel-
bestehenden Sicherheitssysteme beitragen. haft einige besonders wichtige Sicherheitsein-
Neben den technisch denkbaren Störfällen sind richtungen vorgestellt.
auch solche Fälle vorstellbar, die sich einem
58
aus dem Reaktor auftritt. Das Reaktorgebäude In Abb. 7.06 ist der Aufbau zylinderförmiger
übernimmt gleichzeitig den Schutz des Reaktors Brennstäbe im Längsschnitt wiedergegeben. Die
gegen äußere Einwirkungen (z. B. Erdbeben, Flug- Stäbe haben z. B. bei einem der heute üblichen
zeugabsturz, Druckwellen). Siedewasserreaktoren eine Länge von 4,17 m
und einen äußeren Durchmesser von ca. 11 mm.
Einige der Barrieren zur Strahlenabschirmung Die Umhüllung besteht aus Zirkaloy (Zirkonium-
sind gleichzeitig Sicherheitsbarrieren gegen das Legierung) mit einer Wandstärke von 0,65 mm.
Austreten radioaktiver Stoffe. Sie sind bei Siede- Das Material der Brennstäbe soll den Kernbrenn-
wasser- und bei Druckwasserreaktoren vorhan- stoff von dem Kühlmittel des Primärkreislaufes
den. Im Einzelnen sind dies: trennen und außerdem verhindern, dass die bei
der Kernspaltung entstehenden Spaltprodukte in
• das Kristallgitter des Brennstoffs selbst, das Kühlmittel gelangen. Weitere Anforderungen
sind mechanische Festigkeit, Korrosions- und
• die Brennstabhülle, Hitzebeständigkeit sowie eine geringe Neigung
zur Neutronenabsorption.
• das Reaktordruckgefäß mit dem angeschlos
senen Rohrsystem des Primärkühlkreises, Die aus Urandioxid (UO2) gepressten, gesinterten
(durch Erhitzen zusammengebackenen) und
• der Sicherheitsbehälter mit Dichthaut, geschliffenen Pellets werden in das mit End
kappen verschlossene Rohr eingebracht. Eine
• Rückhalteeinrichtungen für flüssige und Druckfeder drückt von oben auf die Pellets und
gasförmige radioaktive Stoffe. hält sie in einer Säule fest zusammen. Dadurch
wird gleichzeitig oberhalb des Kernbrennstoffs ein
Im Folgenden werden die Barrieren, die das Raum für die bei der Kernspaltung entstehenden
sichere Einschließen der radioaktiven Stoffe Edelgase und die leicht flüchtigen Spaltprodukte
garantieren, näher beschrieben. geschaffen. Der Spaltgasraum verhindert somit
ein unzulässiges Anwachsen des Gasdruckes im
7.3.1 Brennstab Brennstoff bei der sehr starken Erwärmung.
Für die Kernspaltung in Leichtwasserreaktoren Eine größere Anzahl von Brennstäben wird zu
wird heute fast ausschließlich Uran-235 ver einem Brennelement mit Hilfe von Abstand
wendet. Es ist in dem in der Natur vorkommen- haltern zusammengefasst (Abb. 7.07). Das als
den Uran mit einem Anteil von etwa 0,7 % ent- Kühlmittel und Moderator dienende Wasser
halten. Dieser Anteil wird in dem so genannten strömt von unten an den durch die Kernspaltung
Kernbrennstoff auf 3 bis 5 % angereichert. erhitzten Brennstäben vorbei und führt somit die
Wärme ab.
7.3.2 Reaktordruckgefäß
Stabhalteplatte
Das Reaktordruckgefäß mit dem angeschlos-
senen Rohrsystem für das Kühlmittel bildet
die dritte Barriere. Das Reaktordruckgefäß des
Druckfeder
Druckwasserreaktors des Kernkraftwerks Neckar 2
Spaltgasraum
ist ein zylindrischer Stahlbehälter mit einer Höhe
von 12 m und einem Innendurchmesser von 5 m.
Seine Wandstärke beträgt 25 cm und sein Leer
Isoliertablette
Al2O3
gewicht rund 520 t. Die Abb. 7.08 zeigt das etwas
kleinere Reaktordruckgefäß des Kernkraftwerks
4,17 m
UO2 Biblis A.
Tablette
Abstandhalter
Typbedingt ist das Reaktordruckgefäß eines
Siedewasserreaktors größer als das eines Druck-
Kühlmittel wasserreaktors. Beim Kernkraftwerk Gund
H2O remmingen Block C beträgt die lichte Höhe des
Reaktordruckgefäßes 22,35 m, der Innendurch-
Isoliertablette
Al2O3 messer 6,62 m, die Wandstärke 17,1 cm und das
gasdichte
Leergewicht 785 t. Das Druckgefäß steht in einer
Zirkaloyhülle Betonkammer (mit besonderer Kühlung), die die
Stützhülse
Funktion einer Strahlenabschirmung hat (biolo
gischer Schild).
Endkappe Abb. 7.06
Bei der Vielzahl der Brennstäbe, die in einem Längsschnitt durch einen Brennstab
ca. 11 mm
Kernreaktor enthalten sind, können vereinzelte (Prinzipdarstellung)
59
Abb. 7.07 Undichtigkeiten nicht ausgeschlossen werden. 7.3.3 Sicherheitsbehälter
Fertigung eines Brennelementes Ein geringer Anteil der im Brennstoff ent
für einen Siedewasserreaktor standenen radioaktiven Substanzen kann so in Der Sicherheitsbehälter mit den dazugehörigen
das Kühlmittel gelangen. Außerdem befinden Einrichtungen, wie z. B. schnellschließende
sich im Wasser z. T. durch Neutronen aktivierte Armaturen in den aus dem Sicherheitsbehälter
Korrosionsprodukte. Ein Austreten dieser radio- herausführenden Rohrleitungen, stellt die vierte
aktiven Stoffe wird durch das Reaktordruckgefäß Sicherheitsbarriere in einem Kernkraftwerk dar.
und die Wandungen des Kühlmittelkreises ver- Sie umschließt das Reaktordruckgefäß und den
hindert. Darüber hinaus wird dem Reaktorkühl- unmittelbar daran anschließenden Teil des Kühl-
kreislauf fortlaufend Wasser entnommen, von mittelkreislaufes.
Korrosions- und Spaltprodukten befreit und dann
gereinigt dem Kreislauf wieder zugeführt. Bei Siedewasserreaktoren wird ein Sicherheits-
behälter mit Druckabbausystem verwendet.
Die einzelnen Teile des Kühlmittelkreises sind im Dadurch wird erreicht, dass der Behälter für
Allgemeinen durch Schweißnähte miteinander einen niedrigeren Druck, als er sich beim völligen
verbunden. Ihre Dichtigkeit wird durch besondere Ausdampfen des Kühlmittels ergeben würde,
Prüfverfahren (Ultraschall, Röntgenstrahlen) ausgelegt bzw. kleiner ausgeführt werden kann.
in regelmäßigen Zeitabständen nachgewiesen. Dies wird dadurch ermöglicht, dass der z. B. aus
Sind an einzelnen Stellen des Kühlmittelkreis- einem Leck möglicherweise austretende Dampf
laufes Durchführungen nach außen erforderlich, über Rohrleitungen in Wasserbecken geleitet
z. B. für Pumpen, Ventile, Absperrschieber oder wird und dort kondensiert. Neben dem Sicher-
Turbinenwellen, so werden geeignete technische heitsbehälter mit Druckabbausystem gibt es den
Maßnahmen vorgesehen, damit das Kühlmittel Volldrucksicherheitsbehälter. Er hält dem Druck
nicht austreten kann. Hierzu gehört beispiels stand, der beim völligen Ausdampfen des Kühl-
weise die Verwendung spezieller Stopfbuchsen. mittels entsteht.
60
7.3.4 Rückhalteeinrichtungen für flüssige und
gasförmige radioaktive Stoffe Aktivkohle
(Beispiel für einen Siedewasserreaktor)
61
e rgeben meist nur wenige Prozent der Geneh- Tritium entsteht dabei über folgende Reaktionen:
migungswerte (Tab. 7.01). Die Pfade Abluft und
10
Abwasser sind separat ausgewiesen.
5 B (n, 2α) 31 H (mit schnellen Neutronen)
Bei der großen Anzahl von Brennstäben treten zonen eingerichtet (Abb. 7.11). Da Luft immer
vereinzelt Undichtigkeiten auf. Man geht heute von der Stelle mit höherem Druck zur Stelle mit
davon aus, dass jeder 100.000ste Brennstab niedrigerem Druck strömt, kann erreicht werden,
feinste Haarrisse oder Poren aufweist, durch die dass bei normalem Betrieb Luft immer nur von
vor allem gasförmige und leicht flüchtige Radio- weniger aktiven zu stärker aktiven Räumen
nuklide in das umgebende Wasser gelangen. Das strömt (also von außen nach innen).
Kühlmittel und die in ihm vorhandenen Stoffe
werden durch die Neutronenstrahlung z. T. akti- Der Luftdruck im Reaktorgebäude ist etwa 1 hPa
viert und dadurch radioaktiv. Auf diese Weise ent- (1 mbar) geringer als außerhalb des Gebäudes.
stehen z. B. Fe-59 und Co-60. In dem häufig vorhandenen Ringspalt zwischen
Sicherheitsbehälter und Dichthaut herrscht
Durch kleinste Undichtigkeiten an verschiedenen ein um 10 hPa (10 mbar) geringerer Druck. Im
Stellen des Kühlmittelkreises (z. B. bei Dichtungen Sicherheitsbehälter selbst schwankt der Druck
von Pumpen, Ventilen oder von Durchführungen in Abhängigkeit von verschiedenen Betriebs
der Turbinenwelle) treten geringe Mengen bedingungen.
radioaktiver Stoffe aus und befinden sich dann im
Reaktorgebäude. Radioaktive Stoffe, die sich im Reaktorgebäude
befinden, gelangen mit der Luft in die Unter-
7.4.1 Unterdruckzonen druckzonen bzw. die Absaugvorrichtungen. Dort
können sie kontrolliert weiterbehandelt werden.
Damit die Spalt- und Aktivierungsprodukte das Bei Störungen in der Reaktoranlage wird die Luft
Reaktorgebäude auf keinen Fall unkontrolliert aus den Unterdruckzonen in den Sicherheits
verlassen, werden verschiedene Unterdruck behälter zurückgepumpt.
62
Ein Medium kann nur von der Stelle
mit höherem Druck zur Stelle
mit niedrigerem Druck strömen.
Atmosphärischer Luftdruck
(z.B. 1.013 hPa)
63
Frischdampf Dampf
6,67 MPa = 66,7 bar 1,03 MPa = 10,3 bar
Kondensatordruck
40 hPa = 40 mbar
Austritt
zur Dampfstrahl-Vakuumpumpe 1.170 hPa = 1.170 mbar
Kühlwasser
Kondensator Eintritt
1.500 hPa = 1.500 mbar
zum Vorwärmer und zum Dampferzeuger
Abb. 7.14
Beispiel für typische Druckverhältnisse
in Turbine und Kondensator
7.5 Notkühlsystem
64
sieht dafür Notkühlsysteme vor. Sie bestehen im Die Notkühlsysteme sind mehrfach vorhanden.
Prinzip aus drei Komponenten: Jedes einzelne System besitzt mehrere paral-
lel angeordnete Pumpen bzw. Ventile. Auch die
• Es sind ausreichende Wasservorräte sowohl Stromversorgung ist mehrfach sichergestellt. Die
innerhalb als auch außerhalb des Sicherheits- Notkühlungen laufen automatisch, d. h. unab-
behälters vorhanden. Mit Hilfe von Rohr hängig vom Betriebspersonal, an. Zur weiteren
leitungen, Pumpen und Ventilen wird das Erhöhung der Sicherheit können zusätzliche Not-
Wasser in den Reaktordruckbehälter gepumpt. kühlsysteme auch von Hand in Betrieb gesetzt
werden.
• Wasser, das aus der Bruchstelle austritt und
in den so genannten Sumpf des Sicherheits Die Notkühlsysteme für einen Siedewasser- und
behälters gelangt, wird in das Reaktordruck einen Druckwasserreaktor sind in den Abb. 7.16
gefäß oder eines der Wasserreservoirs und Abb. 7.17 in stark vereinfachter Form
zurückgepumpt. Dadurch entstehen Notkühl- dargestellt. Anlagenteile und Komponenten sind
kreisläufe. nur einfach eingezeichnet worden, um die Über-
sichtlichkeit der Abbildungen zu erhalten.
• Die Nachzerfallswärme, die das Wasser auf-
nimmt, kann über einen Wärmetauscher an
die Umgebung abgeführt werden. Dadurch
ist eine langfristige Kühlung des Reaktors
möglich.
2 Vorrats-
3 behälter
Sumpf
Abb. 7.16
Pumpe
5 Funktion der Notkühlsysteme beim
4 Bruch einer Hauptkühlmittelleitung
Ventil in einem Siedewasserreaktor
(Notkühlsysteme stark vereinfacht
und ohne Redundanz dargestellt)
Niederdruck- Dampferzeuger
Vorratsbehälter Gas
unter Druck Pumpe
3
Frischdampf
zur Turbine
Hochdruck- Ventil
Vorrats- 2
Speisewasser
behälter vom Kondensator
65
7.6 Unfälle
Obwohl bei den Reaktoren in Deutschland ein Bei Arbeiten im Sicherheitsbehälter beseitigt man
gleichzeitiges Versagen aller Notkühlsysteme den erhöhten Stickstoffanteil wieder, so dass der
praktisch ausgeschlossen werden kann, besteht Behälter gefahrlos betreten werden kann.
theoretisch dennoch die Möglichkeit für den
Eintritt eines solchen Ereignisses. Aber auch bei Durch Absaugen des Dampf-Gas-Gemisches, das
einem Unfall lässt sich eine Freisetzung größe- bei einem solchen Störfall anfiele, ließe sich der
rer Spaltproduktmengen verhindern. Dabei ist Druck im Sicherheitsbehälter verringern. Das
von entscheidender Bedeutung, dass die Barrie geschieht automatisch beim Überschreiten des
renfunktion des Sicherheitsbehälters erhalten Auslegungsdruckes. Der Entlastungs-Gasstrom
bleibt, d. h. der Sicherheitsbehälter nicht durch würde dann über eine Gaswäsche und Filter
Überdruck zerstört wird. weitestgehend von radioaktiven Stoffen gerei-
nigt. Nach der Reinigung kann der Gasstrom über
Ein Druckaufbau im Sicherheitsbehälter über den Abluftkamin kontrolliert an die Umgebung
den Auslegungsdruck hinaus (bei Siedewasser abgegeben werden.
reaktoren etwa 3,5 bar) wäre möglich, wenn die
Nachzerfallswärme nicht aus dem Sicherheits Bei gleichzeitigem Ausfall aller Notkühlsys
behälter abgeführt werden kann oder wenn die teme käme es nicht nur zu einem Druckanstieg
Wassereinspeisung aller Notkühlsysteme ver- im Sicherheitsbehälter, sondern auch zu einem
sagt. Im letztgenannten Fall käme es nicht nur Temperaturanstieg im Reaktorkern. Nach kurzer
zu einem Anstieg des Dampfdruckes, sondern Zeit wäre die Schmelztemperatur der Brenn
auch zur Entstehung von Wasserstoff aufgrund elementhüllrohre erreicht (ca. 1.900 °C). Der
einer chemischen Reaktion zwischen schmelzen- geschmolzene Reaktorkern befände sich dann
dem Hüllrohrmetall und Wasser. Der Druck wür- im unteren Teil des Reaktordruckbehälters, wo
de verstärkt, wenn es zu einer Verbrennung des er sich bis auf 2.400 °C aufheizen könnte. Da
Wasserstoffs mit dem Sauerstoff der Atmosphäre Stahl bereits bei 1.700 °C schmilzt, würde – wenn
käme. Um den Sicherheitsbehälter zu schützen, keines der ausgefallenen Notkühlsysteme wieder
müssen also eine Verbrennung des entstande- aktiviert werden könnte – der Boden des Reaktor
nen Wasserstoffs verhindert und die Möglichkeit druckbehälters durchschmelzen. Anschließend
zu einer Druckentlastung geschaffen werden. In könnte es auch zum Schmelzen des Betons
Kernkraftwerken mit Siedewasserreaktor sind kommen (Schmelztemperatur ca. 1.400 °C). Je
dafür eine Stickstofffüllung und eine gefilterte mehr Beton aber geschmolzen würde, desto
Druckentlastung vorgesehen (Abb. 7.18). niedriger läge die Temperatur der Schmelze, da
sich nun die Nachzerfallswärme auf eine größere
Wasserstoff kann nur verbrennen, wenn Sauer Masse mit größerer Oberfläche verteilte. Unter
stoff zugegen ist. Der Sauerstoffgehalt im der Annahme, dass die Schmelze sich selbst
Sicherheitsbehälter wird deshalb während des überlassen wäre, würde es Monate dauern, bis
normalen Kraftwerkbetriebs von 20 % auf < 5 % das 5 m starke Betonfundament zerstört wäre.
verringert. Ein Verbrennungsvorgang, gleich Wahrscheinlich käme es aber zum Erstarren der
welcher Art, ist dann nicht mehr möglich. Schmelze im Fundament.
Reaktordruckgefäß
Zum
Abluftkamin
Frischdampfleitung
Klappe
fein Metallfaserfilter
grob
Wasser
Konden-
Gaswäscher
sations- Speisewasser-
kammer leitung
Abb. 7.18
Stickstofffüllung des Sicherheitsbehälters Behälter mit Sicherheitsbehälter
und gefilterte Druckentlastung bei einem Stickstofffüllung Pumpe Ventil
Kernkraftwerk mit Siedewasserreaktor.
66
Versorgung und Entsorgung 8
von Kernkraftwerken
8.1 Kraftwerke als Energiewandler und Stoffwandler
Die Elektrizitätsversorgungsunternehmen erzeug Die Verbrennung von Kohle und die Spaltung
ten 2012 etwa 60% der elektrischen Energie in des Urans führen dazu, dass in Kohle- und
Deutschland mit Kohle- und Kernkraftwerken. In Kernkraftwerken neue Stoffe entstehen. Diese
Kohlekraftwerken wird Kohlestaub verbrannt und Kraftwerke sind also nicht nur Energiewandler,
dabei die chemische Energie des Brennstoffs zum sondern auch Stoffwandler (Abb. 8.01 und 8.02).
Teil in elektrische Energie umgewandelt. In Kern- Wasserkraftwerke, Windkraftwerke oder Solar-
kraftwerken werden Kerne des U-235 gespalten, kraftwerke sind dagegen reine Energiewandler.
wodurch Kernenergie frei wird, die dann zu einem
Teil in elektrische Energie umgewandelt werden Zum Betrieb eines Kernkraftwerkes müssen lau-
kann. fend Uran in geeigneter Form bereitgestellt und
die durch Kernspaltungen neu entstandenen
Stoffe weiter behandelt werden. Das verlangt
umfangreiche Maßnahmen zur Versorgung und
Entsorgung von Kernkraftwerken.
elektrische elektrische
chemische Kohlekraftwerk Energie Kernkraftwerk Energie
Energie des als Kernenergie als
Brennstoffes Energiewandler Wärme- Energiewandler Wärme-
energie energie
U-238
CO2
U-235
Kohle H2O
Abb. 8.01 (links) Kohlekraftwerk U-238 Kernkraftwerk U-236
als SO2 als
Kohlekraftwerk als Energie- und Stoffwandler U-235
Luft Stoffwandler Spaltprodukte
Stoffwandler NOx
Transurane
8.2.1 Uranvorkommen
68
eltweiten Jahresverbrauch von rund 68.000 t
w 8.2.3 Anreicherung von Uran-235
Uran ist auf der Grundlage dieser Vorkommen
eine Versorgung für über 200 Jahre gesichert. Das Produkt „Yellow Cake“ besitzt nur technische
Neben diesem bergtechnisch gewinnbaren Natur Reinheit. Außerdem liegt darin das Uran in seiner
uran stehen weltweit etwa 1,8 Millionen t Uran natürlichen Isotopenzusammensetzung vor (ca.
aus Lagerbeständen des Kernbrennstoffkreislaufs 99,3 % U-238, ca. 0,7 % U-235). Um das Uran in
und der militärischen Abrüstung zur Verfügung. heute am meisten verbreiteten Kernkraftwerken
Etwa 4 Milliarden t Uran sind im Meerwasser mit Leichtwasserreaktoren einsetzen zu können,
gelöst; die Gewinnung von Uran aus Meerwasser muss der Anteil von U-235 von 0,7 % auf 3 bis 5 %
ist aber derzeit nicht wirtschaftlich. erhöht werden, und es ist eine wesentlich höhere
Reinheit erforderlich. Verunreinigungen würden
8.2.2 Urangewinnung zu einer erhöhten Neutronenabsorption und zu
störenden Reaktionen mit dem Hüllrohrmaterial
Das im Erz vorhandene Uran wird durch physi der Brennstäbe führen.
kalische und chemische Verfahren vom übrigen
Gestein getrennt. Dazu wird das Erz gebrochen, Zur Anreicherung und weiteren Reinigung wird
fein zermahlen und mit Säure oder Lauge unter das „Yellow Cake“ in die gasförmige Verbindung
Anwesenheit eines Oxidationsmittels (z. B. Uranhexafluorid UF6 umgewandelt (Konversion).
MnO2 oder Na2CIO3) ausgelaugt. Die Oxidation Dazu sind eine Reihe chemischer Reaktionen
ist notwendig, um das Uran von der im Erz vor erforderlich, bei denen gleichzeitig Reinigungs-
liegenden vierwertigen, schlecht löslichen Form prozesse ablaufen. Uranhexafluorid ist eine farb-
in eine sechswertige, gut lösliche Form zu über- lose, kristalline Substanz. Bei Normaldruck geht
führen. sie bei einer Temperatur von 56,5 °C von der
festen Phase in die Gasphase über (Sublimation).
Als Gas lässt sich UF6 durch Filter von noch ent
UO2 +H2SO4 + ½O2 UO2 (SO4) + H2O haltenen Feststoffen und durch Ausfrieren von
(vierwertig) (sechswertig) anderen Gasen befreien. Mit einer Reinheit von
mindestens 99,5 % wird es in Stahlbehältern
gelagert bzw. zur Anreicherungsanlage trans-
Die chemische Verbindung UO2(SO4) trägt den portiert. Als Anreicherungsverfahren dominiert
Namen Uranylsulfat. heute das Zentrifugenverfahren; anfangs wurde
ausschließlich das Diffusionsverfahren ange-
Durch Herauslösen mit Hilfe von Säure kann bis wandt. Ein Laserverfahren ist in der Entwicklung.
zu 90 % des Urans aus dem Erz gewonnen wer-
den. Das Uranylsulfat enthält jedoch eine Reihe 8.2.4 Herstellung von Brennelementen
von Begleitstoffen, die in weiteren Reinigungs-
prozessen entfernt werden. Durch Zugabe von In der Brennelementfabrik wird das an U-235
MnO, NaOH oder NH3 wird das Uran aus der uran- angereicherte UF6 in UO2 umgewandelt. Dazu
haltigen Flüssikeit abgeschieden. Beim Einsatz verwendet man ein nass-chemisches Verfahren.
von NH3 ergibt sich Ammoniumuranat, das meist Das UF6 lässt man in einem Behälter mit Wasser,
in Form von Ammoniumdiuranat (NH4)2 U2O7 vor- Ammoniak und Kohlenstoffdioxid reagieren. Es
liegt. Es wird eingedickt, gefiltert, gewaschen entsteht dann Ammonium-Uranyl-Carbonat (AUC):
und getrocknet. Wegen seiner gelben Farbe hat
es den Namen „Yellow Cake“ erhalten. Das in mo- UF6 + 2 H2O UO2F2 + 4 HF
dernen Anlagen gewonnene Konzentrat besteht
zu rund 80 % aus U3O8 und ist braun/schwarz.
69
weiter verdichtet werden. Da die UO2-Tabletten z wischen Kernbrennstoff und Hüllrohr mit Helium
(engl. UO2-Pellets) sehr maßgenau sein müssen, geflutet (1 bis 30 bar) und durch Aufschweißen
werden sie noch geschliffen. Anschließend füllt der Endkappen gasdicht verschlossen. Dadurch
man sie in Hüllrohre aus Zirkaloy. Diese werden entsteht ein Brennstab. Mehrere zu einem
dann zur Verbesserung des Wärmeübergangs Bündel zusammengefasste Brennstäbe bilden ein
Brennelement.
Nach dem Einsatz im Reaktor werden die ver- Die Alternative ist die Wiederaufarbeitung der
brauchten Brennelemente aus dem Reaktor ent- verbrauchten Brennelemente. Dabei werden die
nommen und müssen zunächst im Abklingbecken Brennelemente geöffnet und Uran, Plutonium,
abkühlen. Danach stehen grundsätzlich zwei Transurane sowie Spaltprodukte nass-chemisch
Entsorgungswege zur Verfügung: Die Wieder voneinander getrennt. Uran und Plutonium lassen
aufarbeitung oder die direkte Endlagerung. Bis sich erneut in Reaktoren einsetzen und einige
ein geeignetes Endlager für hochaktive Stoffe Transurane sowie Spaltprodukte in Forschung,
zur Verfügung steht, müssen die verbrauchten Technik und Medizin verwenden. Daher bezeich-
Brennelemente und die Wiederaufarbeitungs net man diesen Weg als „geschlossenen Brenn-
abfälle in Transport- und Lagerbehälter verpackt stoffkreislauf“. Nur die Spaltprodukte, die je nach
in Zwischenlagern aufbewahrt werden. Je nach Abbrand etwa 3 bis 5 % der ursprünglichen Brenn-
späterem Endlagerkonzept kann es erforderlich stoffmenge ausmachen, und die metallischen
sein, die Abfälle und Reststoffe vor der Abgabe Strukturteile der Brennelemente müssen als
an ein Endlager noch entsprechend zu behandeln radioaktive Abfälle endgelagert werden.
und zu verpacken.
Die Wahl zwischen den beiden Lösungen ist vor
Beim Konzept der direkten Endlagerung wer- allem eine politische Entscheidung. Für den
den die verbrauchten Brennelemente komplett offenen Brennstoffkreislauf spricht die Vermei-
als radioaktiver Abfall betrachtet (sogenannter dung der aufwändigen Wiederaufarbeitung mit
„offener Brennstoffkreislauf“). Nach einer aus- der Aufkonzentrierung hochaktiver Abfallstoffe.
reichend langen Zwischenlagerung von z. B. Infolge des Verzichts auf die Rezyklierung von
30 bis 40 Jahren zum weitgehenden Abklingen Uran und Plutonium steigt andererseits aber der
von Wärmeerzeugung und Aktivität werden sie Uranverbrauch. Und durch die Endlagerung der
in endlagergerechte Behälter verpackt und in ein kompletten Brennelemente nimmt das Volumen
Endlager verbracht. an hochaktivem Abfall stark zu, das Inventar an
Kernkraftwerk Zwischenlagerung
Fertigung von
Uran-Brennelementen
Konditionierung
Fertigung von Mischoxid-
(MOX-)Brennelementen
Urananreicherung
Wiederaufarbeitung
Uranabbau
Abb. 8.04
Offener und geschlossener Endlager
Brennstoffkreislauf
Quelle: AREVA GmbH
70
radioaktiven Stoffen im Endlager ist insgesamt
höher und deren Aktivität klingt langsamer ab.
0,48% U-235
3,3 % U-235 0,45% U-236
4,64%
0,45% umge- Spaltprodukte
2,82% U-235 wandelt in U-236
verbraucht 0,10%
Np, Am
1,03% Pu
2,37% gespalten
2,27%
gespalten
71
Abklingen der spezifischen Wärmeleistung Abklingen der spezifischen Aktivität
bei bestrahltem Brennstoff bei bestrahltem Brennstoff
P in kW/t Asp in Bq/t
1.000 1018
100 1017
Spaltprodukte
10 1016
Spaltprodukte Actinoide
1 1015
Brennelementhüllen
(ohne Brennstoff)
Brennelementhüllen
(ohne Brennstoff)
Actinoide
0,1 1014
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10
Zeit in Jahren Zeit in Jahren
Abb. 8.07
Anfangsanreicherung: 3,5% U-235
Abklingen von Wärmeleistung und
Abbrand: 30.000 MWd/t
Aktivität bei bestrahltem Kernbrennstoff
72
s enkrechten Bohrlöchern, die jeweils aus un- Besondere Sicherheitsmaßnahmen sind bei der
tertägigen Strecken in ca. 800 m Tiefe erstellt Handhabung der Lösungen von Plutonium not-
werden, übereinander endgelagert. Somit wendig. Denn es muss verhindert werden, dass
wird ein im Vergleich zum Referenzkonzept sie ein Volumen bzw. eine Konzentration errei-
schnellerer dichter Einschluss im Wirtsgestein chen, bei der selbständig eine Kettenreaktion
gewährleistet. einsetzen könnte. Zur Verhinderung dieser Kriti
kalität werden nur geringe Mengen schwach
• Das jüngste Konzept ist die direkte Endlage- konzentrierter Lösungen verarbeitet oder den
rung von unzerlegten Brennelementen in Lösungen so genannte Neutronengifte zur Neu
CASTOR-Behältern in kurzen, vertikalen Groß- tronenabsorption beigemengt. Außerdem lassen
bohrlöchern. Entsprechende Vorstudien zeigen sich die Behälter so formen, dass aufgrund der
die mögliche Machbarkeit der Schacht- und großen Oberfläche die Neutronenverluste stets
Streckenförderung auch für die schwereren sehr hoch sind und deshalb keine Kettenreaktion
CASTOR-Behälter. Damit ließe sich die hand einsetzen kann.
habungs- und strahlenschutztechnisch auf-
wändige Zerlegung der Brennelemente ver- Da die abgebrannten Brennelemente hochaktiv
meiden. sind, muss man die Wiederaufarbeitung in Zellen
vornehmen, die durch dicke Betonwände abge-
Der größte Teil der bisherigen Entwicklungen in schirmt sind (so genannte Heiße Zellen, Wand-
Deutschland zu Endlagerbehältern und Endlager- stärke bis 2 m). Die Arbeiten werden mit Hilfe
konzepten bezieht sich auf Endlagerung in Stein- fernbedienter Werkzeuge (so genannter Tele
salz. Die Anforderungen an die endlagergerechte manipulatoren) durchgeführt; sie können durch
Verpackung und an das Einlagerungskonzept ein Strahlenschutzfenster aus dickem Bleiglas
hängen aber von dem gewählten Wirtsgestein, beobachtet werden.
insbesondere durch die unterschiedlichen Tem-
peraturleitfähigkeiten der Gesteine, ab. Sollte Abgetrenntes Plutonium kann direkt als neuer
einmal die Entscheidung für ein anderes Wirts- Spaltstoff eingesetzt werden (U-Pu-Mischoxid-
gestein als Steinsalz fallen, wären wesentli- brennstäbe). Uran aus der Wiederaufarbeitung
che Anpassungen notwendig. Entsprechende kann dabei als Trägermaterial verwendet wer-
Forschungs- und Entwicklungsarbeiten werden den. Die Wiederanreicherung dieses Urans wird
bisher insbesondere in den Ländern geleistet, kaum praktiziert, da sich auch das Neutronen
die die Endlagerung in den jeweiligen Wirtsge absorbierende Uran-236 mitanreichert.
steinen planen, z.B. für Granit in Schweden und
Finnland, für Ton in der Schweiz und in Frank- Die radioaktiven Spaltprodukte bzw. Actinoide
reich. Bei vielen dieser Forschungsarbeiten sind müssen verpackt und sicher endgelagert werden,
deutsche Wissenschaftler im Rahmen von Groß- damit sie auf Dauer aus der Biosphäre ausge-
projekten beteiligt. schlossen sind. Das Hüllrohrmaterial, das durch
Neutronenbestrahlung radioaktiv geworden ist,
8.3.3 Wiederaufarbeitung wird ebenfalls endgelagert.
73
der Wärmeleitfähigkeit spezielle Bedingungen 8.3.5 Endlagerung radioaktiver Abfälle in
erfüllen. Die Begrenzung für die Außentempe- Deutschland
ratur des Endlagerbehälters liegt im Wirts
gestein Salz bei ca. 200°C, im Tonstein bei Bei der Endlagerung radioaktiver Abfälle muss
ca. 100°C. sichergestellt sein, dass sie auf Dauer von den
Stoffkreisläufen der Biosphäre isoliert sind.
Endlagergerecht konditionieren bedeutet, die
anfallenden radioaktiven Rohabfälle in eine end- In Deutschland soll die Endlagerung radioaktiver
lagerungsfähige Form zu überführen. Flüssige Abfälle in tiefen geologischen Strukturen vor-
Abfälle werden eingedampft oder zementiert. genommen werden. Für radioaktive Abfälle
Feste Abfälle werden zerkleinert, getrocknet, mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung ist
gegebenenfalls verbrannt, verpresst oder zemen dafür das ehemalige Eisenerzbergwerk Schacht
tiert. Die so vorbehandelten Abfälle werden Konrad bei Salzgitter vorgesehen. 2002 wurde
schließlich in standardisierte Behälter verpackt. die Genehmigung zur Errichtung des Endlagers
Dies können zylindrische Betonbehälter, zylin erteilt und 2007 abschließend höchstrichter-
drische Gussbehälter oder Container sein. lich bestätigt. Zurzeit laufen die Arbeiten zur
Herrichtung als Endlager. Das Bundesamt für
Container sind großvolumige quaderförmige Strahlenschutz als verantwortlicher Betreiber des
Behälter aus Stahlblech, armiertem Beton oder Endlagers erwartet, dass das Endlager nicht vor
Gusswerkstoff. Der größte Container mit knapp 2019 in Betrieb genommen werden kann.
elf Kubikmetern nimmt bis zu 28 Zweihundert-
Liter-Fässer auf. Diesen Abfällen ist gemeinsam, Für die Endlagerung radioaktiver Abfälle aller
dass sie ohne zusätzliche Strahlenabschirmung Art einschließlich Wärme entwickelnder radio
gehandhabt werden können und bei der Endlage- aktiver Abfälle wurde von 1979 bis 2000 der Salz-
rung das umgebende Gestein nur gering erwär- stock Gorleben auf seine Eignung untersucht.
men. Nach einem 10-jährigen Moratorium wurden die
Erkundungsarbeiten im Oktober 2010 wieder auf-
Wärmeentwickelnde Abfälle fallen bei der genommen. Parallel dazu wurde eine vorläufige
direkten Endlagerung von Brennelementen, aber Sicherheitsanalyse für den Standort Gorleben
auch bei der Wiederaufarbeitung ausgedienter erstellt. Seit November 2012 wurde die Erkun-
Brennelemente an. Während Uran und Plutonium dung des Salzstocks aus politischen Gründen
aus der Wiederaufarbeitung wieder der Brenn wieder unterbrochen, das Erkundungsbergwerk
elementherstellung zugeführt werden, lagert befindet sich seitdem im Offenhaltungsbetrieb.
die Lösung mit Spaltprodukten und Actinoiden Im Juli 2013 wurde mit dem Standortauswahl
in gekühlten Edelstahl-tanks. Die konzentrierte gesetz eine neue Standortsuche beschlossen,
Spaltproduktlösung hat eine spezifische Aktivität die sich neben Steinsalz auch auf andere Wirts
von etwa 4 · 1013 Bq/l. gesteine erstrecken soll. Gorleben wird als mög
licher Standort im Verfahren berücksichtigt.
Die entstehende Zerfallswärme muss deshalb
durch Kühlsysteme abgeführt werden. Nach Dass die geologische Stabilität von Steinsalz
etwa fünfjähriger Abklingzeit kann eine Volumen lagerstätten den Abschluss radioaktiver Abfälle
verminderung und eine Überführung in eine über sehr lange Zeiträume sichern kann, geht aus
wasserunlösliche Form durch Verglasung vor ihrer Geschichte hervor. Es ist bekannt, dass die
genommen werden. Salzformationen eine hohe geologische Stabilität
aufweisen. In seiner geologischen Entwicklung
Nach fünfjähriger Lagerzeit ist die spezifische von seiner Entstehung bis heute war der Salzstock
Wärmeleistung pro kg Spaltprodukt von 1 kW Gorleben überwiegend von Meerwasser bedeckt,
auf weniger als 0,06 kW abgesunken. Eine trotzdem existiert die Salzlagerstätte noch heute.
Überführung der Spaltproduktlösung in eine
endlagerungsfähige Form ist dadurch besser Die vorläufige Sicherheitsanalyse Gorleben hat
möglich. Dabei wird an den Endlagerkörper eine keine Erkenntnisse ergeben, die die Eignungs-
Reihe von Anforderungen gestellt: Gute mecha- höffigkeit des Standorts grundsätzlich in Frage
nische Festigkeit, hohe Resistenz gegenüber stellen.
Auslaugung, gute Wärmebeständigkeit und
Wärmeleitfähigkeit, hohe Beständigkeit gegen-
über ionisierenden Strahlen.
74
8.4 Transporte bei der Ver- und Entsorgung
Zur Ver- und Entsorgung eines Kernkraftwerks • Der Transport von Brennelementen, die in ei-
werden verschiedene Arten von Transporten not- nem Reaktor eingesetzt worden sind, verlangt
wendig: hohe Sicherheitsvorkehrungen. Durch die in
den Brennstäben enthaltenen Spaltprodukte
• Der Transport des Uranerzes zur Erzaufbe sind die spezifische Aktivität und damit auch
reitungsanlage, die sich zur Minimierung die Wärmeproduktion außerordentlich hoch.
des Transportwegs in unmittelbarer Nähe Für den Transport von abgebrannten Brenn-
befindet, erfolgt auf offenen Lastwagen. elementen kommen Transportbehälter vom
Typ CASTOR oder vergleichbare Behälter zum
• Das Urankonzentrat „Yellow Cake” wird zur Einsatz. Dies sind Guss- oder Stahlbehälter, die
Umwandlung in Uranhexafluorid (UF6) zur außen mit Kühlrippen versehen sind. Ihre Län-
Konversionsanlage transportiert. Der Trans- ge beträgt 5 bis 7 m und ihr Durchmesser rund
port geschieht in handelsüblichen Stahl 2,5 m. Sie können bis zu 10 t Transportgut auf-
fässern von 200 oder 400 l Fassungsvermögen. nehmen. Das Gesamtgewicht beträgt bis zu
150 t (Abb. 8.08).
• Das Uranhexafluorid wird von der Konver
sionsanlage zur Anreicherungsanlage ge- Die Anforderungen an einen Transportbe
bracht. Da UF6 bei 56,5 °C gasförmig wird, hälter sind in Bezug auf mechanische Stabili-
muss das Material in Druckbehältern unter- tät, Dichtheit und Temperaturfestigkeit sehr
gebracht werden (Abb. 8.09). Die spezifische hoch. Selbst bei schwersten Verkehrsunfällen
Aktivität von UF6 ist gering, die chemische müssen sie einen sicheren Einschluss des
Toxizität aber sehr hoch. Es muss deshalb radioaktiven Materials garantieren. Transport-
sichergestellt sein, dass die Behälter beim behälter der Typ-B-Verpackung, wie sie für ab-
Transport und bei möglichen Unfällen dicht gebrannte Brennelemente eingesetzt werden,
bleiben. Nach der Anreicherung besitzt das müssen folgenden Prüfungen standhalten:
UF6 eine höhere U-235-Konzentration. Deshalb
müssen beim Transport und der Lagerung An- −− Freier Fall des Behälters aus 9 m Höhe auf
ordnungen gewählt werden, bei denen eine ein unnachgiebiges Fundament.
Kettenreaktion nicht von selbst in Gang kom-
men kann (unterkritische Anordnung). −− Freier Fall des Behälters aus 1 m Höhe auf
einen Stahldorn mit einem Durchmesser
• Die Umwandlung von UF6 in UO2 sowie die von 15 cm und einer Höhe von mindestens
Herstellung von Brennelementen sind jeweils 20 cm.
an einem Ort zusammengefasst, sodass keine
Transportwege außerhalb der Fabrikations −− Feuertest von 30 Minuten bei mindestens
räume entstehen. Die fertigen Brennelemente 800 °C.
werden in Transportbehältern auf Lastwagen
zum Kernkraftwerk transportiert. Besonder −− Eintauchen des Behälters in Wasser für
heiten bezüglich der Strahlenabschirmung 15 Stunden und einer Wassertiefe von 15 m
treten dabei nicht auf, da auch angereicher- oder bei Zulassung für besonders große
tes Uran nur eine geringe spezifische Aktivität Gesamtaktivität für 1 Stunde und einer
besitzt. Wassertiefe von 200 m.
Abb. 8.08
Verladung eines CASTOR-Behälters
mit hochaktiven Abfällen
Quelle: GNS Gesellschaft für Nuklear-
Service mbH
75
• In den USA, Großbritannien und Deutschland • Bei der Wiederaufarbeitung fallen Spaltpro-
sind noch weitergehende Belastungstests dukte als radioaktive Abfälle sowie Uran und
durchgeführt worden, ohne dass dabei die Plutonium an. Für die Endlagerung kondi
Behälter undicht wurden: Fall eines Behälters tionierte, in eine Glasmatrix gebundene Spalt-
aus 600 m Höhe auf harten Wüstenboden, produkte werden in gleichartigen Transport-
Zusammenprall von Brennelementtranspor behältern befördert wie die ausgedienten
ter und Lokomotive (Relativgeschwindigkeit Brennelemente. Bei Plutoniumtransporten
130 km/h) und Aufprall eines tonnenschweren muss neben den Sicherheitsmaßnahmen auf-
Projektils mit einer Geschwindigkeit von fast grund der Radioaktivität auch das Eintreten
1.100 km/h auf den Behälter. einer Kritikalität durch eine spezifische Behäl-
terauslegung ausgeschlossen werden.
In einem Kernkraftwerk mit einer elektrischen Beim Reaktorbetrieb entstehen durch Leckagen
Leistung von 1.300 MW fallen jährlich etwa 50 m3 und Neutronenaktivierung gasförmige, flüssige
konditionierte radioaktive Betriebsabfälle mit und feste Reaktorbetriebsabfälle, die soweit wie
vernachlässigbarer Wärmeentwicklung an, sowie möglich zurückgehalten werden. Um die Aktivität
Abfälle aus der Entsorgung der jährlichen Ent der Abluft und des Abwassers zu verringern, gibt
lademenge der abgebrannten Brennelemente, es zwei unterschiedliche Verfahren.
deren Mengen vom Entsorgungsweg abhängen:
Bei einer Wiederaufarbeitung entstehen 10 m3 • Verzögerte Abgabe, damit die Radioaktivität
radioaktive Abfälle mit vernachlässigbarer von selbst abklingt.
Wärmeentwicklung und 3 m3 wärmeentwickelnde
Abfälle – die verglasten hochaktiven Spaltpro • Abtrennen der Radionuklide durch physika
dukte. Bei der direkten Endlagerung der abge- lische sowie chemische Verfahren und End
brannten Brennelemente fallen 45 m3 wärme lagerung dieser Radionuklide.
entwickelnde Abfälle an (Tab. 8.01).
8.5.1 Behandlung gasförmiger Reaktor
Radioaktive Wärme- betriebsabfälle
Abfälle mit entwickelnde
vernachlässig- radioaktive Die wichtigsten gasförmigen und leichtflüchtigen
barer Wärme- Abfälle Radionuklide sind die Spaltprodukte Xe-133
entwicklung
und I-131. Xe-133 hat eine Halbwertzeit von
Betriebsabfälle Kernkraftwerk
5,25 Tagen. Es wird in einer Verzögerungsstrecke
bis zu 60 Tage zurückgehalten, die ursprüngliche
Aktivität ist dann auf weniger als 0,1 % abge
klungen.
–
Verzögerungsstrecken bestehen z. B. aus Aktiv-
50 m3
kohlefiltern. Das Gas wird zunächst in der ersten
Entsorgung der abgebrannten Brennelemente ... Filterschicht adsorbiert (Gasmoleküle lagern sich
an der Oberfläche von Kohlenstoffpartikeln an).
Im Laufe der Zeit bewegen sie sich durch Aus-
Direkte tausch langsam durch die Kohlefilterstrecke bis
–
Endlagerung zum Abluftkamin.
Tab. 8.01 45 m3
Der Anteil des I-131 in der Gebäudeluft ist gering.
Jährliche konditionierte Volumina
Da dieses Element aber im Gegensatz zu den Edel-
radioaktiver Abfälle am Beispiel eines
1.300-MWe-Kernkraftwerks Wieder gasen chemische Verbindungen eingehen kann,
(Betriebsabfälle und Abfälle aus aufarbeitung wird es durch mehrere hintereinander ange
der Brennelemententsorgung je nach ordnete Filter zurückgehalten. Eine Rückhaltung
10 m3 3 m3
Entsorgungsvariante) von mehr als 99,9 % wird dadurch erreicht, dass
die Filter zusätzlich mit Silbernitrat getränkt sind.
Abhängig vom Aggregatzustand, der spezifischen Bei Kontakt mit Iod entsteht dann Silberiodid,
Aktivität, der Radiotoxizität (strahlenbedingte das in den Filtern verbleibt. In ähnlicher Weise
Gefährlichkeit) sowie der Wärmeentwicklung wird mit den Aerosolen verfahren, bei denen
werden zur Konditionierung unterschiedliche Ver- sich radioaktive Teilchen an Staubpartikel oder
fahren angewandt. Wassertröpfchen angelagert haben.
76
Abb. 8.09
Lagerung von verfestigten radioaktiven
Betriebsabfällen in Stahlfässern in einem
Kernkraftwerk
Das Tritium liegt im Wesentlichen als HTO vor • 20 m3 Verdampferkonzentrate aus der Abwas
(Wassermolekül, dessen Wasserstoffatome die seraufbereitung,
Isotope H-1 und H-3 = T sind). Wegen der relativ
langen Halbwertzeit von 12,323 Jahren können • 7 m3 Ionentauscherharze aus der Kühlmittel-
keine Verzögerungsstrecken eingesetzt werden. reinigung,
Da die maximale Energie der vom Tritium aus
gesandten Betateilchen aber nur 0,02 MeV • 6 m3 Metallteile,
beträgt und keine Gammaquanten auftreten,
entsteht durch die Abgabe des Tritium an die • 3 m3 Filterhilfsmittel, Schlämme, Öle.
Umgebung nur eine geringe, weit unter den
zugelassenen Werten liegende zusätzliche
Strahlenexposition der Bevölkerung.
77
9 Strahlenmessung und die
Strahlenexposition des Menschen
Der Mensch besitzt kein Sinnesorgan für ioni nachweisbare Veränderung hervorruft, kann
sierende Strahlen. Sie lassen sich nur mit diese erfasst werden. Der Grad der Veränderung
Hilfe von Messinstrumenten nachweisen. ist dann ein Maß für die Intensität der verur
Strahlenmessungen sind nur möglich, wenn sachenden Strahlung. Einige besonders wichtige
Wechselwirkungen der Strahlung mit Mate- Messverfahren werden hier in vereinfachter
rie stattfinden. Erst wenn die Strahlung eine Form vorgestellt.
Ionisationskammer 9.1
Eine Ionisationskammer besteht im einfachsten nicht so stark ist, dass durch Zusammenstöße
Fall aus einem luftgefüllten Behälter, in dem sich mit Luftmolekülen weitere Ionisationen aus
zwei Elektroden befinden. Sie sind über einen gelöst werden. Die Stromstärke ist dann allein
Strommesser mit einer Gleichspannungsquelle der Anzahl der primär erzeugten Ionen bzw.
verbunden. Gelangt Strahlung in das Innere, Elektronen proportional. Die Stromstärken
werden Ionen erzeugt, und die Luft zwischen werden an einem Messgerät angezeigt.
den Elektroden wird elektrisch leitend. Darauf-
hin kommt es zu einem Stromfluss, der durch ein Zum Nachweis von Alpha- und Betateilchen wer-
Messgerät angezeigt wird (Abb. 9.01). den die Wände der Ionisationskammer aus sehr
dünnem Material hergestellt, damit die Teilchen
möglichst ungehindert in das Innere gelangen
können. Bei Gammaquanten wählt man dage-
Strahlen- gen dickere Wände, damit die Gammaquanten
quelle
aus den Atomen der Kammerwand Elektronen
- - - - herauslösen, die dann in der Luft der Kammer
weitere Ionisationen hervorrufen. Soll die Kam-
+ + + +
A - mer näherungsweise den Verhältnissen in einem
organischen Gewebe angepasst werden, verwen-
det man für den Aufbau spezielle Kunststoffe.
Ionisations-
kammer
- + Die durch Strahlung erzeugten Elektronen stellen
eine Ladungsmenge dar. Daraus wurde die früher
benutzte Größe der Ionendosis hergeleitet. Die
+ Ionendosis gibt die erzeugte Ladung pro Masse
[N2] + e-
Beispiel für die Entstehung
eines Ladungsträgerpaares: N2 der durchstrahlten Luft an. Wenn in 1 kg Luft Abb. 9.01
( Elektronenflussrichtung) durch ionisierende Strahlen so viele Ionen bzw. Prinzipieller Aufbau einer Ionisations-
freie Elektronen erzeugt werden, dass im ange- kammer
schlossenen Leiterkreis 1 Sekunde lang ein Strom
In der Ionisationskammer werden positives Ion von 1 A fließt, beträgt die Ionendosis 1 C/kg. Das
und herausgelöstes Elektron zur jeweils entge- entspricht 6,25 · 1018 Elektronen bzw. Ionen pro
gengesetzt geladenen Elektrode hin beschleu- 1 kg Luft. Für die Ionendosis wurde die Einheit
nigt. Die Spannung wird so gewählt, dass einer- Röntgen R verwendet. Für Umrechnungen gilt:
seits Ion und Elektron nicht mehr rekombinieren
(sich wieder vereinigen) können, andererseits 1 R = 2,58 · 10-4 C/kg.
aber die Beschleunigung zu den Elektroden
Energiedosis 9.2
In Luft wird zur Bildung eines Ladungsträger- ebenfalls als Maß für die physikalische Strahlen-
paares die Energie von 34 eV benötigt. Da der wirkung verwendet werden. Dafür ist die Energie
Quotient 1 C/1 kg Auskunft darüber gibt, wie dosis definiert worden. Die Energiedosis einer
viele Paare erzeugt worden sind, lässt sich auch ionisierenden Strahlung gibt die pro Masse eines
die Energie berechnen, die dafür notwendig war. durchstrahlten Stoffes absorbierte Energie an:
Statt die erzeugte Ladung oder die erzeugten
Ladungsträgerpaare anzugeben, kann man also absorbierte Strahlungsenergie
Energiedosis = ;
auch die Energie betrachten, die bei der Ionisa- Masse
tion auf die Luftmoleküle übertragen worden ist. E
D =
Die von einem Stoff aufgenommene Energie kann m
79
Der Quotient 1 J/1 kg wird als Einheit für die Die Energiedosis wurde früher in der Einheit
Energiedosis verwendet. Der besondere Einhei- Rad (rd oder rad) angegeben. Das Wort Rad
tenname für die Energiedosis ist das Gray (Gy): ergibt sich aus der englischen Bezeichnung
„radiation absorbed dose“. Für Umrechnungen
1J gilt: 1 Gy = 100 Rad.
1 Gy =
1 kg
9.3 Organdosis
Mit der Energiedosis allein kann die biologische Da die Strahlungs-Wichtungsfaktoren Zahlen
Strahlenwirkung nicht beurteilt werden. Es werte ohne Einheit sind, ergibt sich als Einheit
zeigt sich nämlich, dass bei gleichen Energie der Organdosis der Quotient J/kg (dieselbe Ein-
dosen, aber unterschiedlichen Strahlenarten, heit wie für die Energiedosis). Als besonderer
die hervorgerufenen Effekte unterschiedlich sein Einheitenname für die Organdosis ist das Sievert
können. Wird z. B. von zwei gleichen biologischen (Sv) festgelegt worden.
Objekten das eine mit Alphastrahlen, das andere
mit Betastrahlen bestrahlt und nehmen beide
Objekte gleich viel Energie auf, so sind die Strahlenart Strahlungs-
und Energiebereich Wichtungsfaktor wR
durch die Alphastrahlen hervorgerufenen bio
logischen Strahlenwirkungen etwa 20-mal größer
(Abb. 9.02). Die größere biologische Wirkung von Photonen,
1
Alphastrahlen kann durch die größere Anzahl alle Energien
erzeugter Ionen oder Anregungen pro Weg
länge erklärt werden. Eine dichtere Ionisierung Elektronen, Myonen,
1
in einem kleinen Bereich ist viel schädlicher als alle Energien
eine gleich große Anzahl von Ionisationen, die
auf e inen größeren Bereich verteilt sind. Neutronen
< 10 keV 5
10 keV bis 100 keV 10
> 100 keV bis 2 MeV 20
Tab. 9.01 > 2 MeV bis 20 MeV 10
Strahlungs-Wichtungsfaktoren > 20 MeV 5
nach Strahlenschutzverordnung
Protonen,
außer Rückstoßprotonen, 5
Abb. 9.02 Menschliches Gewebe Menschliches Gewebe Energie > 2 MeV
mit Betastrahlen be- mit Alphastrahlen be-
Bei gleicher Energiedosis rufen
strahlt. Angenommene strahlt. Angenommene
Alphastrahlen eine größere biologische Energiedosis 0,1 Gy. Energiedosis 0,1 Gy. Alphateilchen,
Wirkung hervor als Betastrahlen Biologische Strahlen- Biologische Strahlen-
wirkung in relativen wirkung in relativen Spaltfragmente, 20
intakte Zelle Einheiten: 1 Einheiten: 20 schwere Kerne
geschädigte Zelle
Zur Berücksichtigung der unterschiedlichen bio- Für die Organdosis wurde früher die Einheit Rem
R im Index stammt von der englischen logischen Wirkung der verschiedenen Strahlen- (rem = röntgen equivalent man) benutzt. Für
Bezeichnung radiation (Strahlung). arten wurde der Strahlungs-Wichtungsfaktor wR Umrechnungen gilt: 1 Sv = 100 rem.
eingeführt (Tab. 9.01). Das Produkt aus der über
das Gewebe oder Organ T gemittelten Energie Die so definierte Organdosis und deren Angabe
dosis DT,R, die durch die Strahlung R erzeugt wird, in der Einheit Sievert darf aufgrund der Her
und dem Strahlungs-Wichtungsfaktor wR ist die leitung der Strahlungs-Wichtungsfaktoren streng
Organdosis HT,R. Besteht die Strahlung aus Arten genommen nur für Personen und Strahlendosen
und Energien mit unterschiedlichen Werten von bis in den Bereich von etwa 0,5 Sv verwendet
wR, so werden die einzelnen Beiträge addiert. Für werden. Die Energiedosis mit ihrer Einheit Gray
die Organdosis HT für das Gewebe oder Organ T kann dagegen für jede Dosis, jedes Lebewesen
gilt dann: und jeden Stoff genutzt werden. Bei medizinisch-
therapeutischen Strahlenanwendungen erfolgt
daher wegen der normalerweise sehr hohen
HT = Σw
R
R
· DT,R Dosiswerte die Dosisangabe in Gray.
80
Effektive Dosis 9.4
andere Organe
oder Gewebe
0,05
E =
Σw H
T
T T
Tab. 9.02
Gewebe-Wichtungsfaktoren
nach Strahlenschutzverordnung
Folgedosis 9.5
Die Bestrahlung von Gewebe oder Organen durch Wird kein Integrationszeitraum t angegeben, ist
inkorporierte radioaktive Stoffe ist von der Verweil- für Erwachsene ein Zeitraum von 50 Jahren und
zeit der Radionuklide im jeweiligen Gewebe oder für Kinder ein Zeitraum vom jeweiligen Alter bis
Organ abhängig. Diese Verweilzeit ergibt sich aus zum Alter von 70 Jahren zu Grunde zu legen.
dem Zusammenwirken des radioaktiven Zerfalls
einerseits und dem Ausscheiden des Stoffes aus t0 + τ
dem Körper aufgrund der Stoffwechselvorgänge ·
andererseits. Die Organ-Folgedosis HT (t) bei einer
Inkorporation zum Zeitpunkt t0 ist das Zeitintegral
HT ( τ ) = ∫ HT (t)dt
t0
der Dosisleistung ḢT (t) im Gewebe oder Organ T.
81
Für das Auftreten von Frühschäden muss Bei bösartigen Spätschäden (z. B. Leukämie,
der Organismus von einer Mindestmenge an Krebs) ist diese Mindestmenge an Strahlung
Strahlung getroffen werden. Diese Schwellen sehr klein oder es gibt überhaupt keine Schwelle
dosis für den Menschen liegt bei einmaliger (Kurve A oder B in Abb. 9.05). Es würde dann
Ganzkörperbestrahlung zwischen 200 und bedeuten, dass auch einzelne Strahlungsteilchen
300 mSv. Es zeigen sich z. B. kurzzeitige Ver oder Gammaquanten Krebs auslösen können,
änderungen des Blutbildes. Je größer die Strah wenn z. B. die von der Strahlung getroffene Zelle
lungsmenge wird, desto gravierender sind auch die- bereits vorgeschädigt ist bzw. der Reparatur
se Strahlenschäden. Frühschäden beim Menschen mechanismus und das Immunsystem des Körpers
sind (außer Veränderungen des Blutbildes) zum geschwächt sind. Mit steigender Strahlungs
Beispiel Unwohlsein, Erbrechen, Entzündungen menge nimmt aber nicht die Schwere der
der Schleimhäute und Fieber. Eine einmalige Erkrankung zu, sondern die Wahrscheinlichkeit
Ganzkörperbestrahlung mit einer Dosis von für eine Erkrankung. Das ist aber bei kleinen
7.000 mSv gilt als tödlich, wenn keine Therapie Strahlenexpositionen im Bereich von einigen zehn
maßnahmen durchgeführt werden (Abb. 9.04). Millisievert bisher weder experimentell nach-
gewiesen noch durch statistische Erhebungen
Somatische Spätschäden treten erst nach Jahren gesichert ermittelt. Diese Annahme ergibt sich
oder Jahrzehnten auf. Dabei hat sich der Schaden lediglich durch rückwärtige Verlängerungen der
in den Zellen unmittelbar nach der Bestrahlung Dosis-Wirkungs-Kurve für Strahlendosen ober-
ergeben. Die am Gesamtorganismus beobacht- halb von einigen hundert Millisievert (Kurve A in
baren Krankheitssymptome treten aber sehr viel Abb. 9.05).
später in Erscheinung.
Bei genetischen Schäden treten Veränderungen
Für das Auftreten eines Strahlenfrühschadens an den Chromosomen der Keimzellen auf. Sie
(Hautrötung, Haarausfall, Blutarmut) gibt es wirken sich erst bei den Nachkommen aus. Auch
eine Schwellendosis von etwa 500 mSv und bei genetischen Schäden ist eine Reparatur
mehr, die überschritten sein muss, damit Schä- möglich oder es kann die nach einem falschen
den dieser Art entstehen (Schwellendosis, Kurve genetischen Code aufgebaute Zelle, das daraus
C in Abb. 9.05.). Bleibt die Dosis unterhalb dieses entstandene Gewebe bzw. der nicht lebens
Schwellenwerts, dann treten diese Erkrankungen fähige Embryo abgestoßen werden. Ein gene
zwar nicht auf, die Entstehung von Spätschäden tischer Schaden würde dann nicht an die nächste
ist aber nicht ausgeschlossen. Generation weitergegeben.
Mittlere Strahlenexposition
1,9 mSv/a durch medizinische Strahlenanwendung
in der Bundesrepublik Deutschland (effektive Dosis)
82
Grundsätzlich sind Mutationen natürliche Ereig- Eintritts-
nisse, die bei Menschen, Tieren und Pflanzen häufigkeit
immer wieder vorkommen. Sie können spontan Bereich für den
auftreten oder gezielt durch chemische bzw. Effekte bekannt sind
physikalische Einflüsse herbeigeführt werden.
Dass auch ionisierende Strahlen Mutationen aus-
lösen, ist bereits 1927 nachgewiesen worden.
A
Die durch die natürliche Strahleneinwirkung
B Abb. 9.05
hervorgerufenen Mutationen sind zahlen-
C Genereller Verlauf der Extrapolations
mäßig so gering, dass sie aus den zeitlichen
möglichkeiten aus dem Bereich
Schwankungen der natürlichen Mutationsraten bekannter Dosis-Risiko-Beziehung
nicht hervortreten. Erst eine Keimdrüsendo- (hohe Strahlendosen) in den Bereich
sis von etwa 10 mSv einer locker ionisierenden natürliche Inzidenz
kleiner Strahlendosen
Strahlung (Beta- oder Gammastrahlung) führt A: lineare Extrapolation
unter 1 Million Neugeborenen zu der Spontan Dosis B: linear-quadratische Extrapolation
rate 0,006 % genetischer Schadensfälle. C: Risikokurve mit Schwellenwert
Die natürliche ionisierende Strahlung lässt sich Die kosmische Strahlung wird von der Atmosphäre
auf vier verschiedene Quellen zurückführen: z. T. absorbiert. Bei einem Aufenthaltsanteil von
80 % in Häusern und 20 % im Freien und einer
• Aus dem Weltall trifft eine Teilchenstrahlung Abschirmung durch das Baumaterial der Häuser
und energiereiche Photonenstrahlung auf die von 20 % ergibt sich in Meereshöhe eine effektive
Erde (kosmische Strahlung). Jahresdosis von 0,3 mSv.
• In der Erdatmosphäre werden durch die Mit zunehmender Höhe über dem Meer steigt die
kosmische Strahlung ständig Radionuklide Exposition durch kosmische Strahlung an (siehe
neu gebildet (kosmogene Radionuklide). Abb. 9.06). Unter den genannten Aufenthalts
bedingungen beträgt die effektive Jahresdosis
• In der Erdmaterie wandeln sich natürliche in 1.000 m Höhe etwa 0,4 mSv und auf der Zug
Radionuklide mit langer Halbwertszeit in nur spitze 1,7 mSv.
einem Zerfallsschritt in inaktive Nuklide um.
3,5
• In der Erdmaterie wandeln sich die natürlichen
Radionuklide Thorium und Uran mit langer 3,0
Halbwertszeit in mehreren Stufen zu inaktiven
effektive Jahresdosis, mSv
Nukliden um.
2,5
9.7.1 Kosmische Strahlung und durch sie
erzeugte Radionuklide 2,0
Zugspitze
83
Sedimentation, Konvektion oder Niederschläge
auf die Erdoberfläche gelangen und zur Strahlen
exposition des Menschen beitragen. C-14 ent-
steht in den oberen Schichten der Atmosphäre α
über eine Kernreaktion mit Neutronen aus N-14:
14 1 14 1
7 N + 0 n 6 C + 1 p β¯
40 α
19 K β¯ β¯
11 %
89 %
K-Einfang β¯
α α
β¯
40m
18 Ar
β¯ α
40 α β¯
20 Ca
γ
α
β¯ β¯
Abb. 9.08
Uran-Radium-Zerfallsreihe In den drei Zerfallsreihen durchlaufen die Radio-
nuklide die Kernladungszahl 86. Es treten damit
verschiedene Radon-Isotope auf. Radon ist ein Die Bestrahlung des Menschen durch die terres
Edelgas, das teilweise aus dem Erdboden und aus trische Strahlung ist vom geologischen Unter-
dem Mauerwerk von Gebäuden austritt und dann grund und den verwendeten Baumaterialien
in der Luft weiter zerfällt. Radon und seine Folge abhängig. Die Tab. 9.04 gibt die Mittelwerte
produkte führen vor allem zu einer erhöhten der terrestrischen Strahlenexposition bei einem
Strahlenexposition der Lunge. Aufenthalt im Freien für die Bundesländer wie-
der. Die mittlere effektive Jahresdosis in Deutsch-
Zerfallsreihe Beginn Ende land durch die terrestrische äußere Bestrahlung
einschließlich der Strahlenexposition durch das
Baumaterial unserer Häuser beträgt 0,4 mSv.
232 208
Thorium-Reihe 90 Th 82 Pb Es gibt Gebiete der Erde, in denen die terres
trischen Strahlendosen weit über den höchsten
235 207 Werten der Bundesrepublik Deutschland liegen.
Uran-Actinium-Reihe 92 U 82 Pb Dabei handelt es sich um Gebiete, in denen der
Boden oder das Gestein eine hohe Konzentration
238 206
an Thorium bzw. Uran und deren Folgeprodukten
Tab. 9.03 Uran-Radium-Reihe 92 U 82 Pb aufweist. Solche Gebiete finden sich in Brasilien,
Natürliche Radioaktivitätszerfallsreihen Indien und Iran (Tab. 9.05).
84
Bundesland Effektive Gebiet Mittlere effektive Max. Jahres-
Jahresdosis Jahresdosis Ortsdosis
in mSv in mSv in mSv
85
Exposition durch Effektive Jahresdosis in mSv
Kosmische Strahlung
primordiale Radionuklide*
* Radionuklide, die seit der
Erdentstehung existieren K-40 0,15 0,17
Rb-87 0,006 } 0,3
U-238-Reihe: U-238 † Ra-226 0,02
Rn-222 † Po-214
Pb-210 † Po-210
} 0,12 1,1
0,05
} 1,3
Tab. 9.07
Th-232-Reihe: Th-232 † Ra-224 0,01
Mittlere natürliche Strahlenexpositon
Rn-220 † Tl-208 } 0,14 0,07 } 0,2
in Deutschland unter Berücksichtigung
einer Aufenthaltszeit von 20 % im Freien
Summe 0,7 1,4 2,1
und 80 % in Gebäuden.
• Flugverkehr, Röntgen-Aufnahme
Lendenwirbelsäule 0,6 – 1,1
• Betrieb von Kernkraftwerken und anderen
kerntechnischen Anlagen. Mammographie
0,2 – 0,04
beidseits
Tab. 9.08 9.8.1 Strahlenexposition durch Anwendung Brustkorb 0,02 – 0,04
Gerundete Mittelwerte der effektiven ionisierender Strahlen und radioaktiver
Stoffe in der Medizin Zahn ≤ 0,01
Dosis für einige Röntgenuntersuchungen
86
Die verabreichten Substanzen enthalten radio- Nach dem Unfall im März 2011 in der japanischen
aktive Isotope, die eine möglichst kurze Halb- Kernkraftwerksanlage Fukushima Daiichi konnten
wertzeit besitzen, nicht zu lange im Körper ge- zwar in Deutschland Spuren der freigesetzten Ra-
speichert werden und deren Strahlung nicht zu dioaktivität gemessen werden. Eine Strahlendo-
energiereich ist. Dies setzt voraus, dass beson- sis durch die geringen Aktivitätskonzentrationen
ders empfindliche Messverfahren zur Verfügung ist allerdings nicht gegeben.
stehen.
9.8.3 Strahlenexposition durch Kernwaffen-
Der Dosisbeitrag durch die Nuklearmedizin für tests
die Bevölkerung beträgt mit 0,1 mSv pro Jahr nur
wenige Prozent des Wertes durch die Röntgen Kernwaffenexplosionen erzeugen sehr große
diagnostik. Radioaktivitätsmengen an Spalt- und Akti
vierungsprodukten. Neben diesen Spalt- und
9.8.2 Strahlenexposition durch Reaktorunfälle Aktivierungsprodukten haben für die Strahlen-
exposition auch noch die bei der Explosion aus
Aufgrund des Reaktorunfalls von Tschernobyl dem Uran-238 entstehenden Plutoniumisotope
am 26. April 1986 gelangten aus dem zerstörten Pu-239, Pu-240 und Pu-241 sowie der Teil des
Reaktor große Mengen radioaktiver Stoffe ins ungespalten gebliebenen Bombenmaterials
Freie. Ein Großteil der Radionuklide hat zu einer Pu-239 eine Bedeutung.
hohen Kontamination der Umwelt in einer 30-km-
Zone um den Reaktor geführt. Als Folge des Bis heute wurden 543 Kernwaffen oberirdisch,
Brands des Reaktors wurden radioaktive Stoffe in d. h. mit einer Freisetzung der radioaktiven Stoffe
mehrere Kilometer Höhe transportiert und z. T. in die Atmosphäre, gezündet. Die nach Zahl und
über weite Gebiete verteilt. Sprengkraft größten Versuchsserien wurden
in den Jahren 1961/62 durch die USA und die
Durch meteorologische Einflüsse bedingt sind Sowjetunion mit 128 Explosionen durchgeführt.
die aus der radioaktiven Wolke abgelagerten
Aktivitätsmengen in den Regionen der Bundes Die Strahlenexposition der Bevölkerung durch
republik sehr unterschiedlich – im Norden und den radioaktiven Fallout folgt aus einer externen
Westen deutlich geringer als im Süden und Bestrahlung durch die auf dem Boden abge
Südosten. Daher ist keine bundeseinheitliche lagerte Radioaktivität und durch die interne
Darstellung hinsichtlich der resultierenden Strahlendosis infolge Inhalation oder den Verzehr
Strahlendosis, die zudem noch stark von der von kontaminierten Nahrungsmitteln.
individuellen Ernährungsgewohnheit abhängt,
möglich. Für Personen in Mitteleuropa ergibt sich für
den Zeitraum von 1960 bis 2030 im Mittel eine
Berechnet man die Dosis für einen Zeitraum von effektive Dosis von rund 2 mSv; rund 80 % dieser
50 Jahren (1986 bis 2036), so ergibt sich ein Ge- Dosis sind in den Jahren von 1960 bis 1970
samtbetrag von 0,4 mSv im Norden und 2,3 mSv angefallen.
in den Voralpen. Für Einzelpersonen mit extre-
men Lebens- und Verzehrgewohnheiten können Die Abb. 9.09 zeigt die Ergebnisse von Messun-
sich Dosiswerte bis zum Zwei- oder Dreifachen gen des Cs-137-Gehaltes im Körper, die an einer
dieser Werte ergeben. Referenzpersonengruppe mit dem Ganzkörper-
zähler des Karlsruher Instituts für Technologie
ermittelt wurden.
0 Abb. 9.09
1960 1970 1980 1990 2000 2010 Jahr Cs-137-Körperaktivität der Karlsruher
Referenzgruppe
87
9.8.4 Strahlenexposition durch Flugverkehr 9.8.5 Strahlenexposition durch Kernkraftwerke
Eine erhöhte Strahlenexposition durch die kos Bei den in einem Kernkraftwerk arbeitenden
mische Strahlung tritt bei Flügen in größeren Personen kommt es im Wesentlichen zu einer
Höhen auf. Dadurch erhöht sich die durch kos- äußeren Strahleneinwirkung. Für die übrige
mische Strahlung hervorgerufene Exposition Bevölkerung ist praktisch nur die Strahlen
der westeuropäischen Bevölkerung im Mittel einwirkung von Bedeutung, die aufgrund
um 0,01 mSv im Jahr. Für einzelne Flugstrecken inkorporierter Radionuklide aus radioaktiven
können folgende Werte als Anhaltspunkt dienen: Ableitungen der Kernkraftwerke entsteht. Es
kommt also im Wesentlichen zu einer internen
Frankfurt – New York – Frankfurt Strahlenexposition.
0,1 Millisievert
Zum Schutz des Kraftwerkspersonals und der
Frankfurt – Singapur – Frankfurt Bevölkerung hat der Gesetzgeber in der Strahlen-
0,08 Millisievert schutzverordnung Dosisgrenzwerte festgelegt,
die nicht überschritten werden dürfen. Diese
Frankfurt – Palma de Mallorca – Frankfurt Grenzwerte schließen die natürliche und die
0,01 Millisievert medizinische Strahlenexposition nicht ein.
Die durch die erhöhte kosmische Strahlung Für beruflich strahlenexponierte Personen beträgt
verursachte Strahlenexposition des fliegen- der Grenzwert der effektiven Dosis 20 Millisievert
den Personals wird durch amtlich zugelassene je Jahr. Für Personen, die außerhalb der Strahlen-
Rechenprogramme ermittelt. Im Jahr 2011 wur- schutzbereiche eines Kernkraftwerks leben oder
den in Deutschland auf diese Weise rund 40.000 arbeiten, darf die effektive Körperdosis durch
Personen überwacht. Die mittlere Jahresdosis die Ableitung radioaktiver Stoffe für jeden der
betrug 2,1 mSv. Das fliegende Personal ist damit Expositionspfade Wasser und Luft den Wert von
eine der am höchsten strahlenexponierten Be- 0,3 mSv im Jahr nicht überschreiten.
rufsgruppen in Deutschland.
Die tatsächlich für die Bevölkerung durch den Be-
trieb der Kernkraftwerke in Deutschland auftre-
tenden Strahlenexpositionen (Abb. 9.10) liegen
deutlich unter diesen Grenzwerten.
Brokdorf
*
Emsland
Grafenheinfeld
Grohnde
Gundremmingen
Isar
Neckar
Abb. 9.10
Effektive Folgedosis an der ungüns
Philippsburg
tigsten Einwirkungsstelle außerhalb von
* kleiner als 0,0001
*
88
Zusammenfassung der Strahlenexposition 9.9
89
Sachwortverzeichnis
90
Massenverlust . . . . . . . . . . . . . . . 13, 36 Ringspalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Massenzahl . . . . . . . . . . . . . 10, 14, 17, 34 Röntgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
metastabil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Röntgenstrahlung . . . . . . . . . . . . . . . 19
Moderator . . . . . . . . . . . . . . . . . 39, 41 Rückhalteeinrichtungen
MOX-Brennelement . . . . . . . . . . . . . . 49 für radioaktive Stoffe . . . . . . . . . . . . . . 61
Multiplikationsfaktor . . . . . . . . . . . . . 43 Rückstoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
91
Wellenlänge von Gammaquanten . . . . . . . 29
Wiederaufarbeitung . . . . . . . . . . 37, 70, 73
Wirkungsgrad . . . . . . . . . . . . . 25, 35, 52
Xenon-133 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Zentrifugen-Verfahren . . . . . . . . . . . . . 46
Zerfall, radioaktiver . . . . . . . . . . . . . . 40
Zerfallsreihen . . . . . . . . . . . 34, 47, 56, 84
Zirkaloy . . . . . . . . . . . . . . . . 27, 59, 70
Zwischenkern . . . . . . . . . . . . . . . 20, 33
92
Notizen
93
94
Herausgeber:
DAtF
Deutsches Atomforum e.V.
Robert-Koch-Platz 4
10115 Berlin