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Tatbezogene Amnesien –
authentisch oder vorgetäuscht?
Crime-Related Amnesia: Real or Feigned?
1
Institute Institut für Psychologie, Universität Bern/Schweiz
2
Klinikum im Friedrichshain, Klinik für Neurologie, Vivantes Netzwerk für Gesundheit, Berlin
3
Abteilung für Forensische Psychologie, Fakultät für Psychologie und Neurowissenschaften, Universität Maastricht/NL
●
▶ Begutachtung frontiert, dass Täter eine tatbezogene Amnesie of offenders’ claims of crime-related amnesia. Be-
●
▶ Strafprozess geltend machen. Bei weitreichenden juristischen cause of the far-reaching legal consequences of
Konsequenzen muss die Natur der behaupteten the expert opinion, the nature of the suspected
Keywords
Erinnerungsstörung differenzialdiagnostisch be- memory disorder has to be investigated with
●
▶ memory
●
▶ amnesia
urteilt werden. Während organische Amnesien special care and due consideration of differential
●
▶ dissociation relativ einfach diagnostiziert werden können, er- diagnoses. While the diagnosis of organic amne-
●
▶ malingering geben sich für dissoziative Amnesien weitaus sia is comparatively easy to make, the same is
●
▶ forensic assessment größere Probleme. Es wird aufgezeigt, dass es not true for dissociative amnesia. Despite existing
●
▶ criminal prosecution
trotz vorhandener theoretischer Erklärungsansät- theoretical explanations such as stress, peritrau-
ze wie Stress, perideliktischer Dissoziation oder matic dissociation or repression, to date there is
Verdrängung unter Berücksichtigung des empi- no sound, scientifically based and empirically
risch basierten Wissens keine gesicherte Erklä- supported explanation for the occurrence of gen-
rung für das Auftreten tatbezogener Amnesien uine, non-organic crime-related amnesia. In the
gibt. In Abgrenzung zu den häufig „genuin“ ge- criminal context of claimed amnesia, secondary
nannten Amnesien muss die intendierte Vortäu- gain is usually obvious; thus, possible malinger-
schung eines Erinnerungsverlusts vorrangig in ing of memory loss has to be carefully investi-
Betracht gezogen werden. Vom forensischen gated by the forensic expert. To test this hypo-
Sachverständigen ist zu fordern, dass bei geltend thesis, the expert has to resort to methods
gemachter tatbezogener Amnesie die Möglichkeit based on a high methodological level. The diag-
einer Vortäuschung auf hohem methodischen nosis of dissociative amnesia cannot be made by
Niveau geprüft wird. Die Diagnose einer disso- mere exclusion of evidence for organic amnesia;
Bibliografie
ziativen Störung ist als bloße Ausschlussdiagnose, instead, malingering has to be ruled out on an
DOI http://dx.doi.org/10.1055/
sofern sich keine organische Amnesie belegen explicit basis.
s-0031-1273221
Online-Publikation: 15.6.2011 lässt, dagegen nicht zulässig.
Fortschr Neurol Psychiatr 2012;
80: 368 – 381 © Georg Thieme
Verlag KG Stuttgart ∙ New York ∙ Tatbezogene Amnesien: während der Nürnberger Prozesse an, sich nicht
ISSN 0720-4299 Die Ausgangssituation an die Gräueltaten in der Zeit des Dritten Reichs
Korrespondenzadresse ! erinnern zu können. US-amerikanische Experten
Prof. Harald Merckelbach Der Umstand, dass Tatverdächtige angeben, sich analysierten den Fall und kamen zum Schluss,
Abteilung für Forensische nicht oder nicht vollständig an die infrage ste- dass Hess aufgrund einer Hysterie – heute wür-
Psychologie, Fakultät für hende Straftat erinnern zu können, ist jeder im den wir sagen, eines dissoziativen Zustands (sie-
Psychologie und Bereich der Strafuntersuchung praktisch tätigen he unten) – tatsächlich an einer schweren Erin-
Neurowissenschaften,
Person bekannt. Solche tatbezogenen Amnesien nerungsstörung litt. Aufschlussreich erscheint,
Universität Maastricht
Postbus 616
werden vorwiegend bei polizeilichen Ermittlun- dass Hess selbst später eine Vortäuschung der
NL-6200 MD Maastricht gen und forensischen Begutachtungen geltend Amnesie eingestand [1]. Der Fall des „Smemorato
h.merckelbach@psychology.uni- gemacht. Aus der Kriminalgeschichte sind einige di Collegno“ ist der berühmteste Fall einer simu-
maas.nl prominente Fälle bekannt. So gab Rudolf Hess lierten retrograden Amnesie, die das gesamte au-
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tobiografische Wissen einschloss, der jemals in Italien auftrat zwischen geltend gemachter Amnesie und Schweregrad des
und der erneut von Zago, Sartori und Scarlato [2] einer einge- Delikts darstellt: Im Gegensatz zu Taylor und Kopelman [19]
henden Analyse unterzogen wurde. Dabei ging es um den Hoch- wurden hier psychiatrisch kranke Täter untersucht, einschließ-
stapler Bruneri, der vorgab, ein während eines militärischen lich solcher, die an einer Psychose erkrankt waren oder eine
Einsatzes verschwundener Offizier zu sein und behauptete, un- Intelligenzminderung aufwiesen. Damit sind die untersuchten
ter Gedächtnisverlust zu leiden. Das Phänomen der geltend ge- Stichproben, vermutlich aber auch wesentliche Charakteristika
machten Amnesien auf historische Einzelfälle zu reduzieren, der Delikte, kaum miteinander vergleichbar.
würde jedoch der Brisanz der Thematik nicht gerecht. Behaup-
tete tatbezogene Amnesien stellen unverändert ein weitver- Wesentliche Aspekte behaupteter Amnesien
breitetes und ernst zu nehmendes Problem in der forensischen Betrachtet man die aktuelle Literatur, so treten insbesondere
Praxis dar [3 – 7]. 5 Aspekte tatbezogener Amnesien hervor, die bemerkenswert
In Fällen, in denen ein Tatverdächtiger eine Amnesie geltend erscheinen. Erstens konnten finnische Forscher auf der Basis
macht, wird vom Gericht häufig eine Begutachtung in Auftrag von Aktenanalysen zeigen, dass wegen Mordes und Totschlags
gegeben. Der Sachverständige ist mit dem Problem konfron- tatverdächtige Frauen häufiger Amnesien geltend machen als
tiert, zu einer Überzeugung über die Authentizität der Amne- Männer (61 vs. 42%; [21]). Zweitens weisen Studien darauf
sie zu gelangen und, falls diese zu bejahen ist, die Art der hin, dass Personen, die eine tatbezogene Amnesie geltend ma-
Amnesie zu bestimmen. Im Folgenden soll ein Überblick über chen, in der Regel älter sind und mehr Vorstrafen aufweisen als
die Schwierigkeiten geliefert werden, die mit diesem Thema solche, die keine Erinnerungsprobleme angeben [13, 20, 21].
verbunden sind. Dazu sollen grundlegende gedächtnispsycho- Drittens werden bei Tatverdächtigen, die angeben, sich nicht
logische Befunde vorgestellt sowie Erklärungsansätze tatbezo- an die Tat zu erinnern, häufiger neurologische und psychiat-
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oder passager hirnfunktionell begründete) Faktoren zu erklä- von Schlafwandeln geltend machen; daraus erhellt die Notwen-
renden Amnesien den psychologisch begründeten Gedächtnis- digkeit, alternative Erklärungen für die geltend gemachten Ge-
störungen gegenüberstellen, womit dann in der letzteren dächtnislücken in Betracht zu ziehen, insbesondere die Möglich-
Gruppe die dissoziativen und die vorgetäuschten Störungen keit, dass diese nur vorgetäuscht sind (vgl. [40]).
zusammengefasst würden. Darüber hinaus können die organischen Amnesien im Regelfall
Hinzu kommt, dass insofern die klassische Unterscheidung zwi- relativ gut anhand spezifischer Kriterien und Methoden diag-
schen psychogenen und organischen Störungen natürlich relativ nostiziert und von nicht authentischen Amnesien abgegrenzt
zu sehen ist, als jegliche psychische Funktion im Gehirn vor sich werden. Hierzu gehören bildgebende Verfahren (Computerto-
geht und in diesem Sinne organisch basiert ist. Entsprechend mografie, Magnetresonanztomografie) ebenso wie elektrophy-
lassen sich mit modernen bildgebenden Verfahren bei psy- siologische Methoden (Elektroenzephalografie) oder die Kennt-
chischen Störungen Korrelate zerebraler Prozesse sichtbar ma- nis typischer Konstellationen und Verläufe (zum Beispiel bei
chen. Diese Relativierung der klassischen Dichotomie psychogen der transienten globalen Amnesie).
vs. organisch findet insbesondere in den zahlreichen Arbeiten In der psychologisch-forensischen Untersuchung sollte der Gut-
von Markowitsch (z. B. [38]) ihren Niederschlag. All diese theo- achter systematisch auf den Grenzbereich zwischen Erinnern
retischen Erwägungen sind für das Verständnis der Problematik und Vergessen sowie auf die vom Täter dargestellte Rückbildung
tatbezogener Amnesien von zentraler Bedeutung. Die Differen- der Amnesie fokussieren [39]. Charakteristisch für einige organi-
zierung zwischen genuinen und fingierten Amnesien ist ohne sche Amnesien sind Erinnerungsinseln und eine unscharfe Tren-
Zweifel die primäre Aufgabe des Sachverständigen, wenn ein nung zwischen Erinnertem und Vergessenem (vgl. [41]). Damit
Straftäter angibt, sich nicht an die Tat erinnern zu können. In in Verbindung gibt es ein Gefühl, dass die Informationen wieder
der einschlägigen Literatur ist man sich einig, dass es sich dabei abgerufen werden könnten, wenn gewisse Hinweise geliefert
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Zeitspanne von 4 Stunden getrunken hat, durchaus als plausibel Möglichkeit, seine begangene Tat sowie auch die geltend ge-
anzusehen, während dies bei 5 Gläsern innerhalb derselben Zeit machte Erinnerungslücke zu erklären resp. zu rechtfertigen [3],
nicht der Fall ist (für eine detaillierte Abhandlung der Dosis- was von Room [52] pointiert als eine bestenfalls partielle Ent-
Wirkungs-Beziehung siehe [45]). schuldigung für etwas in seinem Kern nicht zu Entschuldigen-
Psychologisch wird die Verbindung zwischen Alkoholintoxikati- des bezeichnet wird.
on und tatbezogener Amnesie häufig durch die Theorie des zu-
standsabhängigen Lernens und Erinnerns (state-dependent me-
mory thesis) verdeutlicht (u. a. [10, 16, 18, 19]). Diese besagt, Dissoziative Amnesie
dass Informationen besser erinnert werden können, wenn der !
funktionelle Zustand des Gehirns bei der Dekodierung demjeni- Das Konstrukt
gen zum Enkodierungszeitpunkt entspricht. Danach wäre ein Nach den gängigen Klassifikationssystemen psychischer Stö-
Täter weniger gut in der Lage, tatbezogene Informationen, die rungen wird die dissoziative Amnesie als Unfähigkeit definiert,
er im alkoholisierten Zustand bei der Tatbegehung gespeichert „sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, die
hat, zu einem späteren Zeitpunkt in nüchternem Zustand aus zumeist traumatischer oder belastender Natur sind; diese ist
dem Gedächtnis abzurufen. Ein kritischer Blick in die einschlägi- zu umfassend, um durch gewöhnliche Vergesslichkeit erklärt
ge Literatur zeigt jedoch, dass diese Argumentation im Falle von zu werden“ ([53], S. 213). Die Bezeichnung dissoziative Amnesie
Tätern mit behaupteter Amnesie einer genaueren Prüfung kaum ist dabei ohne Zweifel nicht optimal, ja geradezu verwirrend
standhält (vgl. [3]). So untersuchte Wolf [46] Mörder, die ihre (vgl. [7, 54]). Sie suggeriert nicht nur, dass die Ursache des Ge-
Tat in einem schwer alkoholisierten Zustand begingen und dächtnisverlusts Dissoziation sei, sondern auch, dass es sich
nachträglich eine tatbezogene Amnesie geltend machten. Um bei Erinnerungsproblemen an traumatische Ereignisse um ein
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ziativen Amnesie genannt, sie beziehe sich ausschließlich oder Dissoziation während einer Straftat
fast ausschließlich auf autobiografische Aspekte und sei – nach Die Vorstellung, dass die Begehung einer Tat zu einer Trauma-
Fiedler – überwiegend anterograd bzw. peritraumatisch, je- tisierung führen kann, hat in der Literatur lebhafte Unterstüt-
doch treten zunehmend Fälle auf, die als dissoziative Amnesie zung gefunden (z. B. [62 – 64]). Nach Kruppa [65] ist es denkbar,
diagnostiziert werden und bei denen semantischer Gedächt- dass die Traumatisierung von Straftätern auf einen Kontrollver-
nisverlust geltend gemacht wird (dazu gehören die typischen lust während der Tat zurückzuführen ist, wobei hier die subjek-
Lexikonleser, die sich das verloren gegangene Wissen durch tive Interpretation eines Ereignisses ausschlaggebend ist. In en-
Studium von Nachschlagewerken wieder aneignen wollen) ger Nähe zu dieser Problematik steht die Frage, ob ein Täter
und/oder ein ausgedehnter retrograder Gedächtnisverlust aufgrund von Scham oder Schuld eine posttraumatische Belas-
nach dem Muster von Hollywood-Filmen geboten wird. Dieser tungsstörung (PTBS) entwickeln kann.
Aspekt der zunehmenden Nachgestaltung von Amnesien durch Wenn Dissoziation potenziell als unmittelbare Reaktion wäh-
Patienten oder Gutachtenprobanden nach dem Muster von Fil- rend und/oder kurz nach einem traumatisierenden Ereignis auf-
men ist beeindruckend von Baxendale [57] dargestellt worden. treten kann (peritraumatische Dissoziation als state dissociation),
Jüngst ist in einer Falldarstellung ein äußerst bizarrer Fall ei- so hängt ihr Vorkommen doch offenbar von individuellen Eigen-
nes geltend gemachten Gedächtnisverlusts, der sich in Anleh- schaften des Betroffenen ab. Zweifelsohne erlebt nicht jeder
nung an einen Hollywood-Film jeweils über Nacht einstellte, Täter einen dissoziativen Zustand bei der Begehung seiner Tat
veröffentlicht und zu einer neuen Amnesieform erklärt wor- – aber es ist auch nicht zu unterstellen, dass eine Tat unter-
den ([58]; vgl. [59]). schiedslos traumatisierend für jeden Täter sei. Neben einer Rei-
he psychischer Merkmale wie depressive Stimmung oder Psy-
Erklärungsversuche: Verdrängung und Dissoziation chosen [6, 7, 11], scheint das Auftreten einer peritraumatischen
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Wegen der einfachen Nutzung, der Zeitökonomie, Standardisie- Fragebogen Simulierter Symptome ([86]; deutsch: [87]). Auch
rung und der Unabhängigkeit von fachlich hoch qualifizierten eigene Untersuchungen [81, 88] haben zeigen können, in wel-
Diagnostikern sowie der Verfügbarkeit psychometrischer Daten chem Ausmaße sowohl Persönlichkeitsfragebogen als auch Be-
wird nicht nur im Rahmen empirischer Untersuchungen, son- schwerdenerfassungsbogen im gutachtlichen Kontext Verzerrun-
dern auch in der klinischen und gutachtlichen Einzelfallbeurtei- gen unterliegen können.
lung gehäuft auf Fragebogen zurückgegriffen. Hier sind vor al- Gleichermaßen können natürlich für den Bereich der klinischen
lem für die State-Dissoziation der Peritraumatic Dissociative Interviews Selbstauskünfte von Untersuchten nicht unhinter-
Experience Questionnaire (PDEQ: [70]; deutsche Version: [71]) fragt für wahr genommen werden. Auch hier gilt es, eine sorg-
und für die Trait-Dissoziation die Dissociative Experiences Scale fältige Analyse von Antwortverzerrungen vorzunehmen, wie
(DES: [72]; deutsche Version [69] bzw. Adaptation: Fragebogen dies etwa durch das Structured Interview of Reported Symptoms
zu Dissoziativen Symptomen, FDS: [73]) zu nennen. Mit beiden (SIRS: [89]) oder, zu Siebtestzwecken, durch den Miller Forensic
Instrumenten wurde gezeigt, dass dissoziative Symptome im fo- Asessment of Symptoms Test (M-FAST: [90]) geleistet wird.
rensischen Kontext gehäuft geschildert werden. Die den Autoren bekannten Verfahren zur Erfassung von Disso-
Zahlreiche Studien verwendeten diese Fragebogen, um Disso- ziation enthalten keinerlei Kontrollskalen. Gleiches gilt für die
ziation bei Opfern (z. B. [74 – 76]) und bei Straftätern (z. B. [66, meisten Skalen, die heute zur Diagnostik und „Quantifizierung“
67, 77 – 79]) zu untersuchen. So fanden Spitzer et al. [80] in ei- von Beschwerden einer PTBS eingesetzt werden, wie zum Bei-
ner Studie anhand einer Stichprobe forensischer Patienten, die spiel die Impact of Event Scale-Revised [91]. Ohne ergänzende
Gewalt- und Sexualdelikte oder Brandstiftung begangen hat- Validitätsskalen oder -instrumente oder andere geeignete, empi-
ten, dass 25 % der Untersuchten im FDS einen klinisch auffälli- risch basierte Maßnahmen zur Validitätssicherung müssen die
gen Wert erreichten. Die Autoren folgerten daraus, dass foren- Ergebnisse, die in solchen Verfahren erhalten werden, sowohl
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In der diagnostischen Praxis sind wir mit einem logischen Di- wurde auf die Herbeiführung einer ähnlichen Stimmungslage
lemma konfrontiert. Eines der am weitesten verbreiteten Instru- wie zur Tatzeit zurückgeführt. Dass die Theorie der Stimmungs-
mente, das State-Dissoziation messen soll, der PDEQ von Mar- zustands-Abhängigkeit als Erklärungsansatz für tatbezogene
mar et al. [70], verlangt vom Probanden, sich in die kritische Amnesien herangezogen wird, hat insbesondere mit dem Glau-
Situation zurückzuversetzen. Die Instruktion lautet: „Bitte be- ben zu tun, dass die meisten Amnesien in der forensischen Pra-
antworten Sie die folgenden Aussagen ..., die ihre Empfindungen xis bei Delikten geltend gemacht werden, die ungeplant, spon-
und Verhaltensweisen während und sofort nach den (hier das tan und mit einem hohen Stresslevel zur Tatzeit assoziiert sind
traumatische Ereignis einsetzen) beschreiben“ (entsprechend [7]. Wie bereits gezeigt wurde, ist diese Argumentation auf-
der deutschen Version von Maercker [71]). Wenn das Testergeb- grund der aktuellen Forschungslage nicht aufrechtzuerhalten.
nis für eine Dissoziation in der kritischen Situation spricht, so Dafür spricht auch, dass diese Theorie bis heute noch nie an ei-
liegt keine komplette Amnesie vor, denn in diesem Fall könnte ner forensischen Population unter realen Bedingungen über-
die Person ja nicht beurteilen, was sie in der Situation gefühlt prüft wurde – ein Unterfangen, das sich praktisch auch kaum
hat. Wenn jedoch eine tatsächliche Amnesie vorliegt, so ist die bewerkstelligen ließe. Mit Parkin [100] ist es unwahrscheinlich,
State-Dissoziation nicht erfassbar. Der Schluss, dass mithilfe ei- dass ein emotionales Arousal anlässlich einer Tatbegehung in ei-
nes solchen Dissoziationsfragebogens eine Dissoziation erfassbar nem anderen Kontext als während der Tat erlebt werden kann
sei und die Dissoziation ihrerseits die Annahme einer Amnesie (siehe dazu auch [101]). Konsequenterweise muss geschlussfol-
stützen würde, muss demzufolge als Oxymoron zurückgewiesen gert werden, dass es nicht realisierbar ist, diesen spezifischen
werden. Um dem aufgezeigten logischen Dilemma zu begegnen, Zustand während einer Tatbegehung (experimentell) zu replizie-
müssten Hilfsannahmen formuliert werden, wie etwa, dass nur ren und dadurch die Theorie einer empirischen Prüfung zu un-
bestimmte Aspekte der Situation (die Tat selbst) vergessen wur- terziehen. Als Grundlage für eine gutachterliche Argumentation
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formationen eher vernachlässigt und demnach auch schlechter drucksvoll: Mehr als 70% von über 100 befragten Personen wa-
erinnert werden. Auch wenn dieser Effekt inzwischen empi- ren der festen Ansicht, dass die genannten Einflüsse tatbezoge-
risch mehrfach nachgewiesen werden konnte und erklärt, ne Amnesien bei angeklagten Tätern stimmig zu erklären
warum Opfer oder Augenzeugen periphere Informationen eher vermöchten. Täter, die eine tatbezogene Amnesie gelten ma-
übersehen als zentrale Situationsmerkmale (vgl. auch den sog. chen, müssen sich also keine allzu großen Sorgen machen, dass
Waffen-Fokus-Effekt: [106]), ist seine Brauchbarkeit für die ihr Verhalten in der breiten Öffentlichkeit auf Unverständnis
Erklärung der spezifischen Problematik tatbezogener Erinne- stößt [3].
rungsprobleme marginal: Bei geltend gemachten (partiellen) Zweitens könnte ein Täter mit der Geltendmachung einer
Amnesien im forensischen Kontext werden nämlich vorwie- Amnesie beabsichtigen, psychiatrisch und/oder psychologisch
gend die tatrelevanten Aspekte nicht mehr berichtet, also just untersucht zu werden und sich damit die Möglichkeit eröff-
diejenigen zentralen Informationen, welche nach Easterbrook nen, eine schuldmildernde Beurteilung zu erreichen. Diese
gut erinnert werden sollten. Im Falle von kompletten retrogra- nicht unbegründete Erwartung, die allein aus der Tatsache, be-
den Amnesien, greift die Theorie ohnehin nicht, da Täter hier gutachtet zu werden, erwächst (von Merckelbach und Christi-
angeben, sich weder an zentrale noch an periphere Informa- anson [51] wurde dies als psychiatric expert cascade bezeich-
tionen erinnern zu können. net), gilt es nicht zuletzt deshalb ernst zu nehmen, weil seit
Fasst man die aktuelle Forschungslage zum Einfluss von nega- Längerem bekannt ist, dass psychologische und psychiatrische
tiven Emotionen auf die Gedächtnisleistung zusammen, so Diagnostiker dazu neigen, auch bei gesunden Individuen Stö-
muss gesagt werden, dass alle Indizien gegen die Möglichkeit rungen zu „finden“ – ein Phänomen, das in der Literatur als
sprechen, dass ein Täter aufgrund eines hohen Stressniveaus pathology bias bekannt ist (vgl. [110]).
während der Tat eine Amnesie entwickeln kann. Im Gegenteil, Drittens liefern geltend gemachte tatbezogene Amnesien dem
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[112] zu sagen pflegt: „Doctor, each time you’ve been fooled schweres Delikt verübte und während der polizeilichen Ermitt-
you don’t know it, do you?“ (S. 255). lungen mit ihn belastenden Indizien konfrontiert wird, entschei-
Trotz dieser Erschwernisse, das Phänomen empirisch zu unter- den sich viele für die lukrativ erscheinende Strategie, eine tatbe-
suchen, liegen Hinweise bezüglich Auftretenswahrscheinlichkei- zogene Amnesie vorzutäuschen [117].
ten aus der Forschung vor. Pyszora et al. [13] weisen darauf
hin, dass 30 – 50% aller Tatverdächtigen die Behauptung einer
Amnesie wieder aufgeben, sobald sie verurteilt wurden. Eine Schlussfolgerungen und Implikationen für die
mögliche Erklärung für diese Remission könnte sein, dass sich forensische Praxis
die Verdrängung oder Dissoziation aus unerklärlichen Gründen !
während des Gefängnisaufenthalts der Betroffenen auflöst. Die Wird im Begutachtungskontext eine tatbezogene Erinnerungs-
pragmatischere Interpretation ist jedoch, dass die Gedächtnis- problematik geltend gemacht, so müssen in erster Linie 3 ver-
störung in diesen Fällen lediglich vorgetäuscht wurde, um das schiedene Amnesie-Formen differenzialdiagnostisch abgeklärt
Urteil in einer günstigen Art und Weise zu beeinflussen. Der werden. Die organische Amnesie lässt sich anhand der klar defi-
Fall Sirhan Sirhan ist dafür ein gutes Beispiel: Nach der Verurtei- nierten Verlaufskriterien sowie unter Verwendung bildgebender
lung teilte dieser seinen Anwälten mit, dass er Robert Kennedy oder elektrophysiologischer Methoden verhältnismäßig leicht
direkt in die Augen gesehen habe, bevor er auf ihn schoss. Auf nachweisen. Bezüglich dissoziativer Amnesien ist, unter Berück-
die Frage, warum er Kennedy nicht zwischen die Augen ge- sichtigung der vorliegenden Forschungsliteratur, festzustellen,
schossen habe, erwiderte Sirhan: „Weil dieser Hurensohn seinen dass diese aus wissenschaftlicher Sicht bislang weder durch ein
Kopf in dem Augenblick gedreht hat, als ich schießen wollte“ hohes Stressniveau, einen dissoziativen Zustand während der
[113]. Diese Antwort zeigt deutlich auf, dass die von Sirhan vor Tat noch einen Verdrängungsmechanismus hinreichend zu be-
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vorgetäuschte handelt, werden im internationalen Rahmen zu- diese Methoden, um den Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen
nehmend neuropsychologische Gutachter herangezogen. Auf- zu spezifischen Ereignissen zu prüfen; hierfür sind auf gänzlich
grund der engen Einbindung von Neuropsychologen in forensi- anderer methodischer Basis aussagepsychologische Verfahren
sche Fragestellungen insbesondere im nordamerikanischen entwickelt worden [138].
Raum ist hier seit den 1980er-Jahren eine Anzahl von empi- Wie bereits dargelegt, gewinnt der Ausschluss von Simulation
risch basierten Methoden entwickelt worden. Auch wenn diese bei der Begutachtung tatbezogener Amnesien verstärkt an Be-
bislang in Europa im Rahmen forensisch-psychiatrischer Be- deutung, zumal das Konzept der dissoziativen Amnesie in Fach-
gutachtungen nur von untergeordneter Bedeutung zu sein kreisen nach und nach kritisch hinterfragt wird. In einer
scheinen, sollte diesen Methoden der Beschwerdenvalidierung kürzlich erschienenen Literaturübersicht zur „kognitiven Archi-
nach der Überzeugung der Autoren eine größere Rolle als bis- tektur“ der Dissoziation wurde von den Autoren geschlussfol-
her zukommen, denn sie gestatten in vielen Fällen eine sichere gert, dass ein hoher Dissoziationsgrad eher mit Konfabulationen
Abgrenzung von authentischem und verzerrtem Antwortver- als mit Gedächtnislücken einhergeht [139]. In einer weiteren Ar-
halten. beit wurde darauf aufmerksam gemacht, dass eher psychotische
Das wichtigste Argument zugunsten einer solchen Position, wie Dekompensation als Dissoziation zu gewalttätigen Handlungen
sie hier vertreten wird, ist darin zu sehen, dass aus der inzwi- und – für unsere Arbeit interessanter – zu Schwierigkeiten, die-
schen umfangreichen Literatur zur Erkennung von Täuschung se im Nachhinein zu rekonstruieren, führen kann. Es scheint
und Betrug bekannt ist, dass selbst Experten große Schwierig- folglich angezeigt, die Verbindung zwischen psychotischer De-
keiten haben, diese mit ausreichender Güte zu erkennen und kompensation und Amnesie gezielt zu untersuchen [140]. In ak-
von authentischem Verhalten abzugrenzen. In unterschiedlichen tuellen Veröffentlichungen wird zudem argumentiert, dass es
Rechtsbereichen (von Ärzten als Gutachter bis zu Vernehmern anzustreben sei, das bestehende Wissen über dissoziative –
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