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Leitartikel

Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren
der EU gegen Polen — Bestands-
aufnahme und Zwischenfazit 130
Weitere Themen

Arbeits- und Sozialrecht 141 Verkehr 141 Wettbewerbsrecht 142 Steuerrecht 143
Gemeinsame ­Handelspolitik 143 Binnenmarkt und ­Industriepolitik 144
Verbraucher­schutzrecht 145 Immaterialgüterrecht 147 Polizeiliche und j­ ustizielle
­Zusammenarbeit 148 Strafrecht 151 Internationales Privat- und Verfahrens­-
recht 152 Europäisches Z
­ ivilprozessrecht 152 Grundrechte 153

5 / 2016
Herausgeber

Europa Institut an der Universität Zürich


und Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts-
und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg

Zeitschrift für Europarecht


Impressum

Zeitschrift für Europarecht, EuZ

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Hirschengraben 56, CH-8001 Zürich Jonas Racine, MLaw UZH/UNIL (JR) (Stv. Leitung)
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E-Mail: eiz@eiz.uzh.ch, Dr. Wesselina Uebe (WU)
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und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg
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EUZ / 18. Jahrgang / Nr. 5 AUGUST 2016


Blick auf Europa
1570
2015 5.8
6.4*
16.9
18.5*
14.4

15.8

13.0
10.1
4.5

15.8 11.7
13.4 11.8 1.6
14.5
15.3*
12.4+
45.9 3.8+ 10.8
3.2
17.4
18.7* 4.5
12.0 29.6 6.5*
11.3 1.1
9.5 13.6
0.9++ 8.6
52.0+ 13.3 1.4
6.2
7.9 12.4 1.8
11.2

Percentage of immigrant
(foreign-born) population
* including asylum applicants between January 2015 and June 2016
(in the most affected countries), data by Eurostat
+
based on the number of foreign citizens
+
+ data obtained by imputation

Quelle: United Nations, 2015


Das Wichtigste in Kürze ­— 129

Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren
der EU gegen Polen —
Bestandsaufnahme und
Zwischenfazit — 130
Matthias Oesch

Weitere Themen: Immaterialgüterrecht — 147


Neue Richtlinie soll Schutz von
Arbeits- und S ­ ozialrecht — 141 ­Geschäftsgeheimnissen verbessern 147
EuGH: Anknüpfung des Beschluss der EU-Kommission zum
Aufenthalts­rechts an den Bezug von EU-US Datenschutzschild 148
­Sozialleistungen ist zulässig 141 Polizeiliche und ­justizielle ­Zusammenarbeit — 148
Verkehr — 141 Aktionsplan Cybersicherheit 148
Viertes Eisenbahnpaket zur ­Modernisierung EUGH: Rückführungsrichtlinie verbietet
des Schienenverkehrs 141 ­Freiheitsstrafen bei illegaler Einreise 149
Wettbewerbsrecht — 142 Einigung über den Europäischen ­— Grenz-
Bericht der Kommission über und ­Küstenschutz 149
die Wettbewerbspolitik 2015 142 Weiteres Massnahmenpaket zur Prävention
Steuerrecht — 143 von ­Radikalisierung 150
AIA über länderbezogene Berichte m ­ ultinationaler Vorschlag zur Reform
Unternehmen in Kraft getreten 143 der ­Geldwäscherichtlinie 150
Gemeinsame H ­ andelspolitik — 143 Strafrecht — 151
Bericht über Handels- und Neue Richtlinie stärkt die Rechte von ­Kindern
­Investitionshindernisse 143 im Strafverfahren 151
Binnenmarkt und ­Industriepolitik — 144 Bericht zur Umsetzung des ­Rahmenbeschlusses
Umsetzung der Binnenmarktagenda 144 zur organisierten ­Kriminalität 151
Europäische Agenda für Internationales Privat- und Verfahrensrecht — 152
die kollaborative Wirtschaft 144 Neue Verordnungen stärken die Z ­ usammenarbeit
Verbraucherschutzrecht — 145 bei der Klärung des ­Güterrechts internationaler
Verordnungsvorschlag zur Verbesserung Paare 152
der ­grenzüberschreitenden ­Zusammenarbeit Europäisches ­Zivilprozessrecht — 152
im­Verbraucherschutz 145 Verordnungsvorschlag zur Verbesserung des
Verordnungsvorschlag über grenz­überschreitende ­Schutzes von Kindern in ­grenzüberschreitenden
Paketzustelldienste 146 Familiensachen 152
Verordnungsvorschlag über Massnahmen Grundrechte — 153
gegen Geoblocking 146 EUGH/Generalanwältin Kokott: ­Kopftuchverbot
Leitlinien zu Fluggastrechten 147 in Unternehmen zulässig 153

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Das Wichtigste in Kürze


Sehr geehrte Leserinnen und Leser Die Europäische Kommission hat am 2. Juni 2016
Leitlinien für die sogenannte «kollaborative Wirtschaft»
Im Leitartikel der aktuellen Ausgabe der EuZ nimmt veröffentlicht. Gemeint sind Geschäftsmodelle, bei denen
Prof. Dr. Matthias Oesch, Professor für Öffentliches Recht, Tätigkeiten durch Internetplattformen ermöglicht wer-
Europarecht und Wirtschaftsvölkerrecht an der Univer- den, die einen offenen Markt für die vorrübergehende
sität Zürich, eine Bestandsaufnahme zum im Januar 2016 Nutzung von Waren oder Dienstleistungen schaffen,
erstmals eingeleiteten Rechtsstaatlichkeitsverfahren der welche häufig von Privatpersonen angeboten werden.
EU gegen Polen vor. Dabei untersucht er zunächst die Das aufstrebende Geschäftsmodell wirft verschiedene
Tragweite des in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatlich- Fragen zur Anwendung des bestehenden Rechtsrahmens
keitsprinzips sowie die Möglichkeiten der EU, systema­ bzgl. Marktzugangsanforderungen, Haftung, Verbraucher-
tischen Gefährdungen dieses Prinzips entgegenzuwir­ - schutz, Arbeitsverhältnissen oder Steuern auf, was zu
ken, — namentlich den in Art. 7 EUV geregelten Sank­ Rechtsunsicherheiten für herkömmliche Unternehmen,
tions­mechanismus und das diesem Mechanismus vorge- neue Dienstleistungsanbieter und Verbraucher gleicher-
lagerte, 2014 eingeführte Rechtsstaatlichkeitsverfahren massen führt. Die offenen Fragen sollen mithilfe der
der Kommission. Nachfolgend gibt er einen Überblick zu neuen Leitlinien geklärt werden.
den seit dem Regierungswechsel in Polen im Oktober Drei neue Verordnungsvorschläge der Europäischen
2015 verabschiedeten rechtsstaatlich problematischen Kommission vom 25. Mai 2016 verfolgen die Förderung
Gesetzesänderungen und erläutert die Schlussfolgerun- des grenzüberschreitenden Online-Handels. Die Kom-
gen des von der Europäischen Kommission für Demokra- mission beabsichtigt, für einen besseren Schutz der Ver-
tie durch Recht des Europarates (Venedig-Kommission) braucher zu sorgen, die grenzüberschreitende Paket­
im März 2016 veröffentlichten Gutachtens, auf welches zustellung erschwinglicher zu gestalten und gegen
sich die Kommission bei ihrer kritischen Stellungnahme Geoblocking vorzugehen.
zu den Gesetzesänderungen der polnischen Regierung Das Europäische Parlament und der Rat konnten am
berief. Obwohl das Rechtsstaatlichkeitsverfahren der- 22. Juni 2016 eine Einigung über einen Kommissionsvor-
zeit noch hängig ist, lassen sich bereits zwei Beobach- schlag zur Errichtung einer europäischen Grenz- und
tungen machen: Einerseits verfügt die Kommission mit Küstenwache erzielen. Dieses Vorhaben ist Teil der euro­
dem neuen Verfahren über ein notwendiges und sinn- päischen Migrationsagenda und soll ein starkes Mana­ge­
volles Instrument, das es ihr ermöglicht, mit dem be- ment der EU-Aussengrenzen gewährleisten. Die Bestre-
troffenen Mitgliedstaat in einen Dialog zu treten und bungen zielen darauf ab, die Schwächen von Frontex,
gleichzeitig politischen Druck aufzubauen. Andererseits welche in der aktuellen Flüchtlingskrise zutage traten,
wird das Zusammenspiel zwischen der EU und der Vene- zu überwinden. Der Grenz- und Küstenschutz wird aus
dig-Kommission als federführende Instanz bei der Be- einer aus Frontex hervorgehenden europäischen Agentur
wertung nationaler Rechtsetzungen konkretisiert, womit und den für das Grenzmanagement zuständigen Behör-
das Verfahren auf eine gesamteuropäische Dimension den der Mitgliedstaaten bestehen.
gehoben wird.
Die Redaktion

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130
Das Rechtsstaatlich- Matthias Oesch*

keitsverfahren der
Das hängige Verfahren offenbart
EU gegen Polen — zweierlei: Das neue Instrument
Bestandsaufnahme ist gleichermassen notwendig wie
und Zwischenfazit sinnvoll. Zudem fällt das informelle
Zusammenspiel der EU-Kommission
mit der Venedig-Kommission ins
I. Licht; letztere bleibt bei der recht­
Einleitung lichen Bewertung von nationalen
Die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demo-
Massnahmen federführend.
kratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung
der Menschenrechte sind gemäss Art. 2 EUV die Werte,
auf die sich die EU gründet. Diese Werte repräsentieren
Ideale und Grundüberzeugungen, welche ideenge-
schichtlich der Aufklärung und dem Humanismus ent-
sprangen und allen Verfassungen der Mitgliedstaaten
gemeinsam sind. Auch der Europarat beruht auf diesen
Grundsätzen. Sie stellen Grundelemente einer sich ent-
wickelnden paneuropäischen Identität dar und sind
prägend für das Selbstverständnis der EU, über eine ur-
sprünglich primär wirtschaftlich ausgerichtete (Zweck-)
Gemeinschaft hinaus eine Wertegemeinschaft bzw.
Werteunion zu verkörpern. Damit wird ein materieller
Verfassungskern definiert, welcher gleichermassen für
die Union und für die Mitgliedstaaten gilt; der europäi-
sche Staaten- und Verfassungsverbund wird zum euro-
päischen «Werteverbund»1. Gleichzeitig gewährleistet
die Einhaltung dieser Werte durch die Organe der EU
und die mitgliedstaatlichen Behörden die Funktions­
fähigkeit der Union.
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Rechtsstaat-
lichkeitsprinzip, welches «als Rückgrat jeder modernen
demokratischen Grundordnung»2 die Grundlage für den
Schutz der weiteren in Art. 2 EUV ausgewiesenen Werte
darstellt. Es verpflichtet nicht nur die EU, sondern auch
ihre Mitgliedstaaten, die Ausübung hoheitlicher Befug-
nisse rechtlich zu binden und damit die Herrschaft des
Rechts (rule of law) sicherzustellen (II.A.). Um systemi-
schen Gefährdungen des Rechtsstaatlichkeitsprinzips
durch Mitgliedstaaten zu begegnen, stehen zwei Instru-

* Professor an der Universität Zürich. Praxis und Lehre sind bis Mitte Juni
2016 berücksichtigt.
1 Christian Calliess, Europa als Wertegemeinschaft — Integration und
Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, Juristenzeitung 2004,
S. 1033, 1036.
2 Mitteilung der Kommission: Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des
Rechtsstaatsprinzips, 11. März 2014, COM(2014) 158 final, Ziff. 1.

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mente zur Verfügung: der Sanktionsmechanismus ge- sierung durch die Rechtspraxis bedürfen.3 Ausgehend
mäss Art. 7 EUV, bei dem der Rat, der Europäische Rat von den mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen und
und das Europäische Parlament beteiligt sind, und das Dokumenten des Europarates (Urteile des Europäischen
dem Sanktionsmechanismus vorgelagerte Rechtsstaat- Gerichthofs für Menschenrechte, Venedig-Kommission)
lichkeitsverfahren der Europäischen Kommission (II.B). scheint sich dahingehend ein Grundkonsens herauszu-
Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren wurde 2014 eingeführt kristallisieren, dass Art. 2 EUV die Organe der EU und
und im Januar 2016 zum ersten Mal eröffnet. Anlass dazu ihre Mitgliedstaaten verpflichtet, ihr Handeln rechtlich
gaben rechtsstaatlich problematische Gesetzesänderun- zu binden. Es geht um den Vorrang oder die Vorherrschaft
gen zur Zusammensetzung und zur Arbeitsweise des des Rechts bzw. — so die englische Fassung von Art. 2
Verfassungsgerichts sowie zu den öffentlich-rechtlichen EUV — die rule of law. Die Ausübung politischer Macht ist
Medien in Polen (III.A.). Die Europäische Kommission nicht nur im Nationalstaat, sondern auch im supranati-
liess verlauten, dass sie bei der Bewertung der Gesetzes- onal organisierten Staatenverbund allein in rechtlich
änderungen die Empfehlungen der Europäischen Kom- verfasster, begrenzter und überprüfbarer Gestalt zuläs-
mission für Demokratie durch Recht des Europarates sig.4 Die Steuerung des europäischen Integrationspro-
­(Venedig-Kommission) berücksichtigen wird. Die Vene­dig-­ zesses erfolgt «durch Recht».5 Dabei wird hinlänglich
Kommission kam im März 2016 zum Schluss, dass die Ge­ zwischen einer formellen und einer materiellen Dimen-
setzesänderungen diverse Aspekte des Rechtsstaatlich- sion des Rechtsstaatlichkeitsprinzips unterschieden:6
keitsprinzips verletzen (III.B.). In der Folge verabschiedete –– Formell verlangt Art. 2 EUV institutionelle und ver-
die Europäische Kommission eine «Stellungnahme zur fahrensmässige Vorkehrungen bei der Rechtsgewin-
Rechtsstaatlichkeit» und forderte Polen auf, die rechts- nung und -durchsetzung; im Vordergrund stehen die
staatlichen Defizite zu beheben (III.C.). Gewaltenteilung (inkl. unabhängiger Gerichte), das
Zurzeit ist nicht absehbar, wie das hängige Verfah- Gesetzmässigkeitsprinzip und die Rechtssicherheit.
ren ausgehen wird. Gleichwohl lassen sich bereits heute –– Materiell verlangt Art. 2 EUV die Beachtung gewisser
zwei Beobachtungen machen, welche für die weitere (Mindest-)Vorgaben mit Blick auf den Inhalt des
Entwicklung und Etablierung des Rechtsstaatlichkeits- Rechts selbst, nämlich der gemeineuropäisch aner-
prinzips wesentlich sein dürften: Zum einen verfügt die kannten Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrund-
Europäische Kommission mit dem neuen Rechtsstaat- sätze (v.a. Willkürverbot, Nichtdiskriminierung, Gleich-
lichkeitsverfahren über ein gleichermassen notwendiges heit vor dem Gesetz). Damit wird auch der Bogen
wie sinnvolles Instrument. Es ermöglicht, mit dem be- geschlagen zu den weiteren in Art. 2 EUV ausgewie­
troffenen Mitgliedstaat in einen formalisierten, im Ideal­ senen Werten der Achtung der Menschenwürde,
fall konstruktiv-kritischen Dialog zu treten. Gleichzeitig Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Wahrung der
­
wird politischer Druck aufgebaut, um den Mitgliedstaat ­Menschenrechte.
zu einem Einlenken zu bewegen. Demgegenüber fehlt
der Kommission die Kompetenz, verbindliche Anordnun-
gen oder Sanktionsmassnahmen zu treffen. Zum anderen 3 S. allgemein zur Entwicklung und Tragweite des Rechtsstaatlichkeits-
rückt das Zusammenspiel mit der Venedig-Kommission prinzips in Europa Venice Commission, Report on the Rule of Law, adopted
des Europarates ins Licht. Die Europäische Kommission 25-26 March 2011; Venice Commission, Rule of Law Checklist, adopted
11-12 March 2016; Benjamin Schindler, in: B. Ehrenzeller et al. (Hrsg.), St. Gal-
überlässt die rechtliche Bewertung der polnischen Ge- ler BV-Kommentar, 3. Aufl., Zürich/St. Gallen 2014, Art. 5 Rz. 3; Eberhard
setzesänderungen im Wesentlichen der Venedig-Kom- Schmidt-Assmann, Der Rechtsstaat, in: HStR II, 3. Aufl., Heidelberg 2004,
mission, deren Fachwissen und Autorität weitherum § 26 Rz. 10-16; zur Offenheit des Rechtsstaatlichkeitsprinzips Oliver Diggel-
mann, Usurpation des Rechtsstaatsbegriffs durch die staatsrechtliche Ortho-
anerkannt sind. Auf diese Weise wird die Causa auf eine doxie?, Jusletter 12. September 2011, Rz. 12.
internationale Ebene gehievt; sie wird nicht mehr nur 4 Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft,
als unionsinterne Angelegenheit behandelt, sondern 3. Aufl., Bern 2011, § 6 Rz. 21, zur Rechtsstaatsidee im Allgemeinen.
5 Jörg Philipp Terhechte, in: A. Hatje/P.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Europäi-
­erhält eine gesamteuropäische Dimension. sches Organisations- und Verfassungsrecht (EnzEur Bd. 1), Baden-Baden
2014, § 7 Rz. 18-31.
6 Kommissionsmitteilung (Fn. 2), Ziff. 2 und Anhang; Venice Commission
II. 2011 (Fn. 3), Rz. 28, 41; Venice Commission 2016 (Fn. 3), Rz. 18; Christian Cal-
Rechtsstaatlichkeit als grundlegender liess, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV-/AEUV-Kommentar, 4. Aufl.,
München 2011, Art. 2 EUV Rz. 25—26; Waldemar Hummer, Ungarn erneut am
Wert der EU Prüfstand der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wird Ungarn dieses Mal
zum Anlassfall des neu konzipierten «Vor Artikel 7 EUV»-Verfahrens?, EuR
2015, S. 625, 630; Matthias Oesch, Europarecht, Band I: Grundlagen, Insti­
A. Inhalt und Tragweite des Rechtsstaatlichkeitsprinzips tutionen, Verhältnis Schweiz—EU, Bern 2015, Rz. 104; Stefanie Schmahl, § 6
Das Rechtsstaatlichkeitsprinzip gemäss Art. 2 EUV ist Rechtsstaatlichkeit, in: R. Schulze et al. (Hrsg.), Europarecht, 3. Aufl., Baden-
Baden 2015, Rz. 4. Zeitweise wird als weiteres konstitutives Element der
ein schillerndes Konzept, dessen Inhalt und Tragweite Rechtsstaatlichkeit die Demokratie erwähnt, welche zum Rechtsstaatsprin-
nicht unverrückbar feststehen, sondern der Konkreti- zip mitunter jedoch in einem gewissen Spannungsfeld steht.

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Oesch — Das Rechtsstaatlichkeitsprinzip wird mancherorts
in den unionalen Verträgen aufgegriffen und weiter aus-
Das Rechtsstaatlich- formuliert. Dies gilt typischerweise etwa für das Prinzip
keitsverfahren der der begrenzten Einzelermächtigung und das Verhältnis-
EU gegen Polen — mässigkeitsprinzip (Art. 5 und Art. 13 Abs. 2 EUV), den
Bestandsaufnahme Grundsatz der Offenheit (Art. 15 AEUV), den Datenschutz
und Zwischenfazit (Art. 16 AEUV), die Begründungspflicht (Art. 296 Abs. 2
AEUV) und die Verbindlicherklärung der einschlägigen
Grundrechte (Art. 6 EUV). Im Sekundärrecht finden sich
weitere, mitunter bereichsspezifisch wirkende Ausfor­
mu­lierungen. Der EuGH, dem Art. 19 EUV die Aufgabe
zuweist, «die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und
Anwendung der Verträge» zu sichern, hat wiederholt be-
stätigt, dass die EU eine «Rechtsgemeinschaft»7 bzw.
«Rechtsunion»8 ist; er hat in rechtsschöpferisch eindrück-
licher Weise allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt,
welche aus dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip fliessen
und so zur Konstitutionalisierung des europäischen In-
tegrationsprozesses beigetragen.9 Dazu gehören etwa
der Grundsatz des Vertrauensschutzes10, das Rückwir-
kungsverbot11, der Bestimmtheitsgrundsatz12, die Rechts-
sicherheit13, das Willkürverbot14, die Gleichheit vor dem
Gesetz15, das Recht auf wirksamen Rechtsschutz (ins­
besondere auch im Bereich des Grundrechtsschutzes)16,
die Staatshaftung17 und die Unabhängigkeit der Gerichte18.
Mit Blick auf das spezifisch unionsrechtliche System der
Machtverteilung und -begrenzung zwischen den Orga-
nen der EU hat sich in der Praxis des EuGH der Begriff
des institutionellen Gleichgewichts eingebürgert.19 Auch
die Betonung der Wirksamkeit des EU-Rechts (effet
utile), sein Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht und

7 Urteil Les Verts, 294/83, EU:C:1986:166, Rz. 23; Gutachten EWR I, 1/91,
EU:C:1991:490, Rz. 21; Urteil PKK und KNK, C-229/05 P, EU:C:2007:32,
Rz. 109.
8 Urteil Inuit, C-583/11 P, EU:C:2013:625, Rz. 91.
9 S. dazu Claus Dieter Classen, Rechtsstaatlichkeit als Primärrechtsgebot
in der Europäischen Union — Vertragsrechtliche Grundlagen und Rechtspre-
chung der Gemeinschaftsgerichte, EuR 2008, Beih 3, S. 7, 11—21; Armin von
Bogdandy/Michael Ioannidis, Das systemische Defizit: Merkmale, Instrumente
und Probleme am Beispiel der Rechtsstaatlichkeit und des neuen Rechts-
staatlichkeitsaufsichtsverfahrens, ZaöRV 2014, S. 283, 290.
10 Urteil Mulder/Minister van Landbouw en Visserij, 120/86, EU:C:1988:213,
Rz. 24.
11 Urteil Racke, 98/78, EU:C:1979:14, Rz. 20; Urteil Decker, 99/78,
EU:C:1979:15, Rz. 8.
12 Urteil Gondrand und Garancini, 169/80, EU:C:1981:171, Rz. 17.
13 Urteil S.N.U.P.A.T., 42/59, EU:C:1961:5, S. 172.
14 Urteil Hoechst, 46/87, EU:C:1989:337, Rz. 19.
15 Urteil Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals, C-550/07 P,
EU:C:2010:512, Rz. 54; s. auch Art. 20 GRC.
16 Urteil Inuit, C-583/11 P, EU:C:2013:625, Rz. 91; s. auch Art. 19 Abs. 1
EUV und Art. 47 GRC.
17 Urteil Francovich, C-6/90 und C-9/90, EU:C:1991:428, Rz. 31—46; s. für
die Haftung der EU Art. 340 Abs. 2 AEUV.
18 Urteil Niederlande und Van der Wal, C-174/98 P, EU:C:2000:1, Rz. 17.
19 Urteil Roquette, 138/79, EU:C:1980:249, Rz. 33.

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seine einheitliche Geltung dienen dazu, die Herrschaft (Art. 3 Abs. 2 EUV), kann nicht erreicht werden, wenn
des Rechts zu sichern.20 ein Mitgliedstaat rechtsstaatliche Prinzipien missachtet.
Die grundlegenden Werte gemäss Art. 2 EUV stellen Aus einer grundsätzlichen Warte sind dabei nicht primär
nicht nur verbindliche Leitlinien für die EU dar, sondern umstrittene Einzelfälle (ein falsches Urteil, eine einma-
richten sich als Mindestanforderungen an eine gute lig überlange Verfahrensdauer, ein korrupter Parlaments­
Staatsführung (good governance) auch an die Mitglied- abgeordneter) problematisch, sondern systemische Be-
staaten. Gemäss Art. 49 EUV können nur diejenigen drohungen und Defizite. Dies ist der Fall, «wenn in
­europäischen Staaten, welche die in Art. 2 EUV genann- wichtigen gesellschaftlichen Bereichen das Recht nicht
ten Werte achten und sich für ihre Förderung einsetzen, allgemein befolgt wird und damit nicht in der Lage ist,
Mitglieder der EU werden. Diese Werte bilden gleich- bei einer signifikanten Zahl sozialer Akteure normatives
sam die «Geschäftsgrundlage» der Mitgliedschaft.21 Der Erwarten zu stabilisieren».26
­Europäische Rat konkretisierte 1993 die materiellen Bei- Das EU-Recht stellt mit dem Sanktionsmechanismus
trittskriterien unter anderem dahingehend, dass ein gemäss Art. 7 EUV und dem vorgelagerten Rechtsstaat-
Beitrittskandidat «eine institutionelle Stabilität als Ga- lichkeitsverfahren zwei Instrumente zur Verfügung, um
rantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, systemische Verletzungen des Rechtsstaatlichkeitsprin-
für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung zips zu ahnden und betroffene Mitgliedstaaten aufzu­
und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben» fordern, Abhilfe zu schaffen.27
muss.22 Gestützt darauf untersucht die Kommission im
Rahmen von Beitrittsverhandlungen regelmässig, ob 1. Sanktionsmechanismus gemäss Art. 7 EUV
­gewisse (Minimal-)Anforderungen an die Gewalten­ Art. 7 EUV sieht für den Fall, dass ein Mitgliedstaat die
teilung, die Immunität der Parlamentsabgeordneten, den Werte gemäss Art. 2 EUV in schwerwiegender und an-
Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte, die wirk- haltender Weise verletzt, einen speziellen Sanktions­
same Korruptionsbekämpfung, die Offenheit und Effi­ mechanismus vor. Dabei besteht die Möglichkeit, be-
zienz des Gesetzgebungsprozesses und die Beachtung stimmte Rechte dieses Mitgliedstaates auszusetzen,
der Grundrechte erfüllt sind.23 Indikativ für die Beurtei- einschliesslich der Stimmrechte im Rat.28 Das Verfahren
lung der Einhaltung der rechtsstaatlich gebotenen (Min- ist zweistufig aufgebaut. Im Rahmen des Frühwarnsys-
dest-)Standards durch die Mitgliedstaaten sind auch tems wird festgestellt, ob die eindeutige Gefahr einer
die Checklisten, welche die Venedig-Kommission auf- schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genann-
gestellt hat.24 Selbstredend bleiben die Mitgliedstaaten ten Werte besteht. Im Rahmen des Hauptverfahrens
während ihrer Mitgliedschaft zur Beachtung dieser sys- wird festgestellt, ob eine schwerwiegende und anhaltende
temischen Vorgaben verpflichtet. Dabei betreffen diese Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte vorliegt;
Vorgaben die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in im Anschluss daran werden allfällige Massnahmen er-
ihrer Gesamtheit und beschränken sich nicht allein auf griffen. Der betroffene Mitgliedstaat erhält regelmässig
unionsrechtlich geregelte Bereiche.25 die Gelegenheit, sich zu den Vorwürfen zu äussern.
Art. 7 EUV i.V.m. Art. 354 AEUV enthält detaillierte Vor-
B. Verletzung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips gaben in Bezug auf die Quoren, welche in den betei­ligten
durch einen Mitgliedstaat Organen — im Europäischen Rat, im Rat und im Euro­
Die Verletzung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips durch päischen Parlament — erreicht werden müssen, damit
einen Mitgliedstaat stellt nicht nur das Selbstverständ- entsprechende Beschlüsse gefällt werden können. Die
nis der EU als Werteverbund infrage, sondern bedroht Feststellung, dass eine schwerwiegende und anhal-
auch ihre Funktionsfähigkeit. Das Ziel, «ihren Bür­
gerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Si-
cherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen» zu bieten
26 Von Bogdandy/Ioannidis (Fn. 9), S. 300.
27 In Ergänzung dazu haben sich der Rat und die im Rat vereinigten Ver­
treter der Mitgliedstaaten verpflichtet, einen jährlich stattfindenden «Dialog
zur Förderung und zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit im Rahmen der Ver-
träge einzurichten», s. Ratstagung vom 16. Dezember 2014, Dok. 16936/14,
20 Schmahl (Fn. 6), Rz. 9—11. S. 20-22. Das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) steht zur Ver­
21 Calliess (Fn. 1), S. 1040. fügung, wenn eine rechtsstaatlich problematische Handlung eines Mitglied-
22 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Kopenhagen, staats im Anwendungsbereich des EU-Rechts liegt, s. etwa Urteil Kommis-
21./22. Juni 1993, SN 180/1/93, S. 13. sion/Deutschland, C-518/07, EU:C:2010:125, betr. Unabhängigkeit nationaler
23 Meinhard Hilf/Frank Schorkopf, in: E. Grabitz et al. (Hrsg.), Das Recht Datenschutzbehörden; Urteil Kommission/Ungarn, C-286/12, EU:C:2012:687,
der Europäischen Union: Kommentar, EL 51, München 2013, Art. 2 EUV betr. Pensionsalter von Richtern und Staatsanwälten.
Rz. 35; http://ec.europa.eu/enlargement/index_en.htm. 28 Der EUV enthält keine Antwort auf die Frage, ob es darüber hinaus zu-
24 Venice Commission 2011 (Fn. 3), Annex; Venice Commission 2016 lässig ist, einem Mitgliedstaat gegen dessen Willen die Mitgliedschaft zu ent-
(Fn. 3), S. 11ff. ziehen. Vereinzelt wird argumentiert, als ultima ratio bleibe ein Ausschluss
25 Kommissionsmitteilung (Fn. 2), Ziff. 3; von Bogdandy/Ioannidis (Fn. 9), gestützt auf Art. 60 Abs. 2 WVRK denkbar, sofern sich der Sanktionsmecha-
S. 292. nismus gemäss Art. 7 EUV als dauerhaft unzureichend erweisen sollte.

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134
Oesch — tende Verletzung der in Art. 2 genannten Werte vorliegt,
bedarf der Einstimmigkeit im Europäischen Rat (wobei
Das Rechtsstaatlich- der betroffene Mitgliedstaat nicht stimmberechtigt ist)
keitsverfahren der und der Zustimmung durch das Europäische Parlament.
EU gegen Polen — Gemäss Art. 269 AEUV ist der Gerichtshof auf Antrag
Bestandsaufnahme des betroffenen Mitgliedstaates für die Überprüfung der
und Zwischenfazit Einhaltung der einschlägigen Verfahrensbestimmungen
zuständig. Die inhaltliche Beurteilung eines Fehlverhal-
tens bleibt jedoch allein Sache der politischen Organe.
Mit Blick auf die strengen Voraussetzungen ist das
Verfahren gemäss Art. 7 EUV klarerweise als ultima ratio
ausgestaltet; der ehemalige Kommissionspräsident José
Manuel Barroso hat es gar als «nuclear bomb» bezeich-
net.29 Bis anhin wurde noch nie ein solches Verfahren
eröffnet, geschweige denn durchexerziert.30 Damit be-
steht die paradoxe Situation, dass sich beitrittswillige
Kandidatenländer im Rahmen der Beitrittsverhandlun-
gen einer strikten Prüfung der Beachtung der Rechts-
staatlichkeit unterziehen müssen, während der schwer-
fällige Sanktionsmechanismus gemäss Art. 7 EUV kein
adäquates Instrument darstellt, um angemessen auf ein
systemisches Politikversagen in den Mitgliedstaaten
selber zu reagieren. Dieses Paradoxon wird mitunter als
«Kopenhagen-Dilemma»31 bezeichnet.

2. Rechtsstaatlichkeitsverfahren
Die Europäische Kommission führte 2014 ein dem Sank-
tionsmechanismus vorgeschaltetes Verfahren zum Schutz
der Rechtsstaatlichkeit ein, um — im Gegensatz zum
(allzu) schwerfälligen Sanktionsmechanismus — zügig
und wirksam auf entsprechende Bedrohungen reagieren
zu können.32 Das Europäische Parlament begrüsste die
Einführung des neuen Verfahrens ausdrücklich; der Rat
reagierte zurückhaltender.33 Auch dieser neue «EU-
Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips» richtet
sich — analog zu Art. 7 EUV — nicht gegen einzelne

29 José Manuel Barroso, 11. September 2013, zit. bei Hummer (Fn. 6), S. 629.
30 Die nach der Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen Partei Öster-
reichs (FPÖ) unter Jörg Haider ergriffenen unfreundlichen «Sanktions­
massnahmen» der übrigen 14 EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich — u.a.
Einstellung der bilateralen Kontakte und Verweigerung des Zugangs zu Kon-
sultationen auch im Rahmen der EU — im Jahr 2000 wurden nicht unter die-
sem Titel erlassen; dazu Waldemar Hummer/Walter Obwexer, Die Wahrung
der «Verfassungsgrundsätze» der EU: Rechtsfragen der «EU-Sanktionen»
gegen Österreich, EuZW 2000, S. 485.
31 Richard Yamato/Juliane Stephan, Eine Politik der Nichteinmischung,
DÖV 2014, S. 58, 65; s. auch Hummer (Fn. 6), S. 629.
32 Kommissionsmitteilung (Fn. 2). Anlass dazu gaben nicht zuletzt rechts-
staatlich problematische Gesetzesänderungen in Ungarn, welche seit der
Wahl von Viktor Orbán zum Ministerpräsidenten 2010 erlassen worden
waren, s. dazu Yamato/Stephan (Fn. 31), S. 59—61.
33 Offenbar kam ein Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates zum
Schluss, für die Einführung des Rechtsstaatlichkeitsverfahrens fehle eine
vertragliche Grundlage; demgegenüber bejahen Hummer (Fn. 6), S. 636—638
(inkl. Hinweis auf das erwähnte Gutachten), und von Bogdandy/Ioannidis
(Fn. 9), S. 294, die Zulässigkeit.

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135
Grundrechtsverstösse oder fehlerhafte Gerichtsurteile, III.
sondern gegen systemische Beeinträchtigungen der
Rechtsstaatlichkeit:
Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren
«Der neue EU-Rahmen soll in erster Linie bei einer Gefähr- gegen Polen
dung der Rechtsstaatlichkeit (…) zur Anwendung kommen,
die ihrem Wesen nach systemimmanent ist. Die Gefährdung A. Gesetzesänderungen und die Reaktion
muss sich gegen die politische, institutionelle und/oder recht- der Europäischen Kommission
liche Ordnung eines Mitgliedstaats als solche, die verfas- In den Parlamentswahlen vom Oktober 2015 erreichte
sungsmässige Struktur, die Gewaltenteilung, die Unabhängig- die nationalkonservative Partei Prawo i Sprawiedliwość
keit oder Unparteilichkeit der Justiz oder das System der (PiS) die absolute Mehrheit. Seither setzt sich auch die
richterlichen Kontrolle einschliesslich der Verfassungsjustiz Regierung unter Ministerpräsidentin Beata Szydło aus
(sofern vorhanden) richten und beispielsweise von neuen Vertreterinnen und Vertretern der PiS zusammen. Im
Massnahmen oder weit verbreiteten Praktiken der Behörden Dezember 2015 verabschiedete das neue Parlament di-
und fehlendem Rechtsschutz ausgehen. Das neue EU-Verfah- verse Gesetzesänderungen, welche mit Blick auf das
ren kommt zum Einsatz, wenn die nationalen Vorkehrungen Rechtsstaatlichkeitsprinzip bedenklich erscheinen. Im
zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit nicht ausreichend erschei- Zentrum stehen Gesetzesänderungen zur Zusammen-
nen, um die Gefährdung effektiv abzustellen.»34 setzung und zur Arbeitsweise des Verfassungsgerichts
sowie zu den öffentlich-rechtlichen Medien:36
Die Kommission untersucht einleitend, ob Anzeichen –– Verfassungsgericht: Das neue Parlament akzeptierte
dafür vorliegen, dass in einem Mitgliedstaat systemi- die Ernennung von fünf Verfassungsrichterinnen und
sche Rechtsstaatlichkeitsdefizite existieren («Sach- -richtern durch das alte Parlament nicht. Es hob ent-
standsanalyse der Kommission»). Sofern dies der Fall sprechende Beschlüsse auf und ernannte seinerseits
ist, tritt die Kommission mit dem Mitgliedstaat in einen neue Richterinnen und Richter. Auch verkürzte das
strukturierten Dialog und übermittelt eine «Stellung- neue Parlament die Amtszeit des Präsidenten und des
nahme zur Rechtsstaatlichkeit», womit dem Mitglied- Vizepräsidenten des Verfassungsgerichts von neun
staat die Möglichkeit eingeräumt wird, sich formell zu auf drei Jahre; als Folge davon endeten die Mandate
den Vorwürfen zu äussern. Sofern der Mitgliedstaat die der damaligen Amtsinhaber drei Monate nach An-
vorgebrachten Bedenken nicht auszuräumen vermag nahme der Änderung. Das Verfassungsgericht er-
und keine Abhilfemassnahmen in die Hand nimmt, for- klärte diese Akte des neuen Parlaments weitgehend
muliert die Kommission Empfehlungen und setzt eine als unzulässig; einzig die Neubestellung von zwei
Frist zur Problembehebung («Empfehlung zur Rechts- neuen Richterinnen und Richtern wurde als recht-
staatlichkeit»). Dabei kann die Kommission auf die Ex- mässig erachtet, weil die Amtszeit ihrer Vorgänger
pertise Dritter zurückgreifen; im Vordergrund steht erst nach den Parlamentswahlen ausgelaufen war und
dabei die Venedig-Kommission des Europarates.35 Trifft damit das neue Parlament zur Neubestellung zustän-
der Mitgliedstaat weiterhin keine zufriedenstellenden dig war. Der polnische Präsident, Andrzej Duda, wei-
Massnahmen, beantragt die Kommission beim Rat, ein gerte sich jedoch, die Urteile des Verfassungsgerichts
förmliches Verfahren gemäss Art. 7 EUV zu eröffnen. pflichtgemäss zu veröffentlichen, seine Rechtskraft zu
Das letzte Wort liegt folglich beim Rat bzw. beim Euro- akzeptieren und die vom alten Parlament rechtmässig
päischen Rat und beim Europäischen Parlament (Art. 7 gewählten drei neuen Richterinnen und Richter zu
Abs. 2 und Abs. 3 EUV). Die Kommission verfügt über vereidigen. Seither bleibt die ordnungsgemässe Zu-
keine Handhabe, eigenständig verbindliche Anordnun- sammensetzung des Verfassungsgerichts umstritten.
gen oder Sanktionsmassnahmen zu verfügen. Des Weiteren erliess das neue Parlament Vorschriften
Im Januar 2016 eröffnete die Kommission zum ersten über die Arbeitsweise des Verfassungsgerichts. Die
Mal ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren. Anlass dazu g­aben Erledigung von Streitsachen soll neu strikt in der Rei-
rechtsstaatlich problematische Gesetzesänderungen in henfolge ihrer Anhängigmachung erfolgen, was eine
Polen. Darum geht es im nächsten Kapitel. zeitnahe Überprüfung der Verfassungsmässigkeit von
neuem Gesetzesrecht verunmöglicht. Auch wurden
die für die Beschlussfähigkeit nötige Zahl anwesender
Richterinnen und Richter (13 von 15) und die für den

36 Siehe zum nachfolgenden Überblick Europäische Kommission, Fact­


sheet: Orientierungsaussprache des Kollegiums über die jüngsten Ent­
34 Kommissionsmitteilung (Fn. 2), Ziff. 4.1. wicklungen in Polen und den Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips:
35 Kommissionsmitteilung (Fn. 2), Ziff. 1 in fine, 4.2. Fragen und Antworten, 13. Januar 2016, http://europa.eu/rapid/search.htm.

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136
Oesch — Erlass von Entscheiden erforderlichen Mehrheiten
(Zweidrittelmehrheit) angehoben, was mit Blick auf
Das Rechtsstaatlich- den hängigen Streit um die korrekte Zusammenset-
keitsverfahren der zung des Verfassungsgerichts darauf hinausläuft, dass
EU gegen Polen — ein Entscheid über die Feststellung der Verfassungs-
Bestandsaufnahme widrigkeit eines Gesetzes faktisch nicht mehr mög-
und Zwischenfazit lich ist. Das Verfassungsgericht erklärte auch diese
Massnahmen als verfassungswidrig. Die polnische
Regierung weigert sich seither, Urteile des Verfas-
sungsgerichts (welches weiterhin nach Massgabe der
Vorschriften Recht spricht, welche vor dem Erlass der
umstrittenen Gesetzesänderungen galten) im Amts-
blatt zu veröffentlichen.
–– Öffentlich-rechtliche Medien: Das neue Parlament ver-
abschiedete ein Gesetz («kleines Mediengesetz»),
mit dem die Vorschriften über die Besetzung der Ver-
waltungs- und Aufsichtsräte der öffentlich-rechtlichen
Rundfunkveranstalter in Polen, des öffentlich-recht-
lichen Fernsehens (TVP) und des öffentlich-rechtli-
chen Hörfunks (PR), geändert wurden. Die Verwal-
tungs- und Aufsichtsräte sind neu dem Finanzminister
unterstellt. Neu ist es zudem möglich, bestehende
Verwaltungs- und Aufsichtsräte mit sofortiger Wir-
kung abzusetzen.

Die Europäische Kommission schaltete sich im Dezem-


ber 2015 in die Diskussion ein.37 Sie bat die polnische
Regierung um weitere Informationen über die Massnah-
men zur Zusammensetzung und Arbeitsweise des Ver-
fassungsgerichts und zur Reform der Leitung der öffent-
lich-rechtlichen Rundfunkveranstalter. Zudem empfahl
sie der polnischen Regierung, die Venedig-Kommission
zu konsultieren. Die polnische Regierung antwortete der
Kommission im Januar 2016. Die Kommission gab sich
damit nicht zufrieden und eröffnete ein Rechtsstaatlich-
keitsverfahren gegen Polen. Gleichzeitig entschied die
Kommission, das im Dezember 2015 vom polnischen
Aussenminister in Auftrag gegebene Gutachten der Ve-
nedig-Kommission abzuwarten und danach über wei-
tere Schritte zu beraten.38
Auch das Europäische Parlament beschäftigte sich
mit den umstrittenen Gesetzesänderungen. In einer
­Anhörung vor dem Parlament im Januar 2016 liess die
polnische Premierministerin Beata Szydło verlauten, die
Rechtsstaatlichkeit werde nicht verletzt: «Die Bürger
Polens haben sich für unser politisches Programm in
einer demokratischen Wahl entschieden, und nun set-

37 Siehe zur nachfolgenden Chronologie der Ereignisse Orientierungs­


aussprache der Kommission (Fn. 36).
38 Dieses Vorgehen ist ganz auf der Linie des Memorandums of Under­
standing zwischen dem Europarat und der EU von 2007, wonach «the Coun-
cil of Europe will remain the benchmark for human rights, the rule of law and
democracy in Europe» (Rz. 10).

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137
zen wir es um, achten dabei aber unsere Verfassung und Wirkmacht. Empfehlungen der Venedig-Kommis-
sowie die EU-Verträge»; immerhin liess sie durchblicken, sion werden von den betroffenen Staaten in aller Regel
dass sie bereit sei, mit der Opposition über eine Lösung berücksichtigt. Auch der Europäische Gerichtshof für
der Verfassungskrise zu diskutieren.39 Menschenrechte (EGMR) und nationale Höchstgerichte
nehmen regelmässig auf Gutachten der Venedig-Kom-
B. Gutachten der Venedig-Kommission mission Bezug.45 Des Weiteren entwickelt die Venedig-
Die Venedig-Kommission wurde 1990 durch das Minis- Kommission Leitlinien und Checklisten; dazu gehört
terkomitee des Europarates gegründet.40 Sie ist ein selb- die Rule of Law Checklist von 2016.46 Insgesamt trägt
ständiges und unabhängiges Kollegialgremium. Zurzeit die Venedig-Kommission erheblich — wenngleich indi-
hat die Venedig-Kommission 60 Mitgliedstaaten.41 Pro rekt — zu Regelbildungen bei.
Mitglied nimmt eine Vertreterin oder ein Vertreter an Im Dezember 2015 ersuchte der polnische Aussen-
den Arbeiten der Kommission teil. Dabei handelt es sich minister die Venedig-Kommission, die Gesetzesänderun-
um anerkannte Fachleute auf dem Gebiet des Verfas- gen zur Zusammensetzung und Arbeitsweise des Verfas-
sungs- und Völkerrechts, welche ihr Mandat unab­ sungsgerichts zu beurteilen.47 Die Venedig-Kommission
hängig und weisungsungebunden wahrnehmen.42 Die verabschiedete das von sechs Rapporteuren verfasste
Venedig-Kommission erstellt auf Ersuchen eines Mit- Gutachten im März 2016.48 Sie kommt zum Schluss, dass
gliedstaates, des Europarates oder namentlich genann- die Gesetzesänderungen und die Weigerung des Präsi-
ter internationaler Organisationen Gutachten zu verfas- denten, die Urteile des Verfassungsgerichts zu akzeptie-
sungsrechtlichen Fragen (demokratische Einrichtungen ren, durchs Band gegen gemeineuropäisch akzeptierte
und Grundrechte, Verfassungsrecht und allgemeine (Minimal-)Standards des Rechtsstaatlichkeitsprinzips
Rechtsprechung, Wahlen, Abstimmungen und politi- verstossen.49 Die Gesetzesänderungen beeinträchtigen
sche Parteien).43 Ursprünglich stand die Unterstützung die effektive Funktionsweise des Verfassungsgerichts,
der mittel- und osteuropäischen Staaten bei der Ausar- welches die ihm übertragenen Aufgaben der Verfas-
beitung ihrer neuen Verfassungen in den 1990er-Jahren sungskontrolle nicht mehr ordnungsgemäss wahrneh-
im Vordergrund. Jüngere Gutachten, welche politisch men kann. Die Venedig-Kommission stellt dabei auf
ein grosses Echo auslösten, betrafen etwa umstrittene frühere Gutachten wie auch auf die Praxis des Europäi-
Verfassungs- und Gesetzesänderungen in der Ukraine, schen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu
in Russland, in Weissrussland sowie in den Ländern des Art. 6 EMRK ab; ebenso bezieht sie sich rechtsverglei-
arabischen Frühlings (v.a. Tunesien). Die Gutachten der chend auf die verfassungsrechtliche Praxis in den Mit-
Venedig-Kommission sind zwar nicht verbindlich; sie gliedstaaten. Sie fasst ihre Ausführungen wie folgt
sind «soft instruments», welche dazu beitragen, die ­zusammen:
Entwicklung gesamteuropäisch akzeptierter Mindest- «Constitutional democracies require checks and balances. In
standards abzubilden und entsprechende Vorgaben zu this respect, where a constitutional court has been establis-
formulieren.44 Kraft des Fachwissens und der Autorität hed, one of the central elements for ensuring checks and ba-
der für die Kommission tätigen Expertinnen und Exper- lances is the independent constitutional court, whose role is
ten geniessen sie aber gleichwohl eine hohe Legitimität especially important in times of strong political majorities. (…)
However, as long as the situation of constitutional crisis rela-
ted to the Constitutional Tribunal [in Poland] remains un-
39 http://www.europarl.europa.eu/portal/en und Link zu Video/Meetings settled and as long as the Constitutional Tribunal cannot carry
(Übersetzung: Mediendienst). out its work in an efficient manner, not only is the rule of law
40 S. zur Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht des Euro-
parates, welche ihren Namen der Tatsache verdankt, dass ihre Sitzungen in in danger, but so is democracy and human rights. (…) A solu-
Venedig stattfinden, www.venice.coe.int; Wolfgang Hoffmann-Riem, «Soft
Law» und «Soft Instruments» in der Arbeit der Venedig-Kommission des
Europarates: Zur Wirkungsmacht einer beratenden Einrichtung, in: M. Bäu-
erle et al. (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven. Festschrift für Brun-Otto Bryde 45 Hoffmann-Riem (Fn. 40), S. 609. Darüber hinaus beteiligt sich die Vene-
zum 70. Geburtstag, Tübingen 2013, S. 595, 597—606. dig-Kommission vereinzelt mit amicus curiae-Stellungnahmen an Verfahren
41 Die EU ist nicht Mitglied der Venedig-Kommission, institutionell aber vor dem EGMR und nationalen Höchstgerichten.
gleichwohl eingebunden; an den Sitzungen nimmt regelmässig ein Vertreter 46 Siehe Fn. 3.
der EU-Kommission teil. 47 Demgegenüber waren die Gesetzesänderungen betr. öffentlich-rechtli-
42 Die Schweiz wird durch Regina Kiener, Professorin an der Universität che Medien nicht Gegenstand der Untersuchung durch die Venedig-Kom-
Zürich, vertreten. mission.
43 Eine Arbeitsgruppe, bestehend aus einigen Kommissionsmitgliedern, 48 European Commission for Democracy Through Law (Venice Commis-
bereitet ein Gutachten vor; dabei treffen sich die Mitglieder auch mit Vertre- sion), Opinion on Amendments to the Act of 25 June 2015 on the Constitutio-
tern der Behörden und der Zivilgesellschaft des betroffenen Mitgliedstaates. nal Tribunal of Poland, adopted 11—12 March 2016, www.venice.coe.int und
Das Gutachten wird sodann in einer Plenarsitzung formell angenommen und Link zu Main Documents/Opinions.
auf der Website der Kommission veröffentlicht (www.venice.coe.int). 49 Die Kommission verweist dabei auf den einschlägigen «European stan-
44 S. zu den Wirkungen der Gutachten der Venedig-Kommission Hoff- dard» (ibid., Rz. 65, 78) und das «European constitutional heritage» (ibid.,
mann-Riem (Fn. 40), S. 597, 606—628. Rz. 114).

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138
Oesch — tion to the current conflict over the composition of the Cons-
titutional Tribunal, which originated from the actions of the
Das Rechtsstaatlich- previous Sejm must be found. (…) In a State based on the rule
keitsverfahren der of law, any such solution must be based on the obligation to
EU gegen Polen — respect and fully implement the judgments of the Constitutio-
Bestandsaufnahme nal Tribunal. The Venice Commission therefore calls on all
und Zwischenfazit State organs and notably the Sejm to fully respect and imple-
ment the judgments of the Tribunal.»50

Der Befund der Venedig-Kommission ist eindeutig: Die


Gesetzesänderungen zur Zusammensetzung und Ar-
beitsweise des Verfassungsgerichts stellen eine Gefahr
für die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Polen dar.
Die Venedig-Kommission empfiehlt Polen, diese Defi-
zite zu beheben.

C. «Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit»


der Europäischen Kommission
Die Europäische Kommission forderte Polen in der Folge
auf, die Empfehlungen der Venedig-Kommission unver-
züglich umzusetzen. Auch das Europäische Parlament
äusserte «die ernsthafte Sorge, dass die effektive Läh-
mung des Verfassungsgerichtshofs in Polen Demokratie,
Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gefährdet»,
«befürwortete die Entscheidung der Kommission, einen
strukturierten Dialog gemäss dem Rahmen für Rechts-
staatlichkeit einzuleiten» und «fordert[e] die Kommis-
sion für den Fall, dass die polnische Regierung die Emp-
fehlungen der Venedig-Kommission im Laufe des
strukturierten Dialogs nicht einhält, dazu auf, dass sie
mit der Aussprache einer ‹Empfehlung zur Rechtsstaat-
lichkeit› die zweite Phase des Rechtsstaatlichkeitsme-
chanismus einleitet».51 Die polnische Premierministerin
Beata Szydło zeigte sich in einer ersten Stellungnahme
wenig einsichtig; sie meinte, «die EU solle sich besser
auf ‹ernsthafte Krisen› konzentrieren, anstatt sich in
einen internen politischen Konflikt einzumischen».52
Vor diesem Hintergrund kündigte die Europäische Kom-
mission Mitte Mai 2016 an, demnächst eine «Stellung-
nahme zur Rechtsstaatlichkeit» zu verabschieden.53 Auf
diese Weise erhöhte die Kommission den politischen
Druck. Diese Drohkulisse veranlasste Polen vorerst,
Kompromissbereitschaft zu signalisieren. Beata Szydło
liess verlauten, seitens ihrer Regierung gebe es durchaus
einen «Willen zur Verständigung».54 Gleichwohl unter-

50 Ibid., Rz. 135—138.


51 Entschliessung des Europäischen Parlaments zur Lage in Polen vom
11. April 2016, 2015/3031(RSP), Rz. 3, 7.
52 www.diepresse.com und Link zu Politik/Europa.
53 Europäische Kommission, Pressemitteilung vom 18. Mai 2016: Kolle-
gium erörtert Entwurf einer Stellungnahme zur Lage der Rechtsstaatlichkeit
in Polen, http://europa.eu/rapid/search.htm.
54 Neue Zürcher Zeitung vom 25. Mai 2016, S. 2; s. auch Neue Zürcher
­Zeitung vom 24. Mai 2016, S. 3; Neue Zürcher Zeitung vom 27. Mai 2016, S. 5.

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liess es Polen, konkrete Massnahmen zu ergreifen. Aus kann. Dabei tritt aber auch der Schwachpunkt des Ver-
diesem Grund erliess die Kommission am 1. Juni 2016 fahrens zutage: Die Kommission verfügt über keine
formell eine «Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit».55 Handhabe, nötigenfalls verbindliche (Straf-)Massnah-
Die Kommission bezweckte damit, «den Schwerpunkt men zu erlassen. Das Verfahren beruht auf dem Prinzip
der laufenden positiven Gespräche auf die konkreten «Hoffnung», d.h. auf der Bereitschaft betroffener Mit-
Schritte zu legen, die zur Beseitigung der systembe- gliedstaaten, Empfehlungen der Kommission im Geist
dingten Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit erforder- der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zu be-
lich sind».56 Der Inhalt der Stellungnahme ist vertrau- herzigen und geforderte Abhilfemassnahmen zu ergrei-
lich; sie dürfte in Bezug auf die Gesetzesänderungen zur fen. Es ist durchaus vorstellbar, dass ein Mitgliedstaat,
Zusammensetzung und Arbeitsweise des Verfassungs- welcher en pleine connaissance de cause gegen rechts-
gerichts weitgehend auf den Erwägungen der Venedig- staatliche Prinzipien verstösst, sich auch von Empfeh-
Kommission beruhen. lungen der Kommission nicht einschüchtern lässt.57
Es bleibt zu hoffen, dass die Auseinandersetzung Die Verantwortung, die Einhaltung des Rechtsstaat-
zwischen der Europäischen Kommission und Polen wei- lichkeitsprinzips durch die Mitgliedstaaten zu über­
terhin dialogorientiert geführt wird und einer allseits wachen und systemische Bedrohungen zu ahnden, liegt
akzeptablen Lösung zugeführt werden kann. Andern- damit weiterhin zuvörderst bei den Vertretern der Mit-
falls wird die Kommission nicht darum herumkommen, gliedstaaten. Der Europäische Rat bzw. der Rat ent-
eine «Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit» anzuneh- scheidet zusammen mit dem Europäischen Parlament
men und damit die nächste — und letzte — Eskalations- letztlich autoritativ darüber, ob tatsächlich eine schwer-
stufe des Rechtsstaatlichkeitsverfahrens zu zünden. wiegende und andauernde Verletzung der Rechtsstaat-
lichkeit bzw. zumindest die Gefahr einer solchen Ver­
IV. letzung vorliegt. Es bleibt zu hoffen, dass sich die
Mitgliedstaaten ihrer Verantwortung bewusst sind und
Fazit in konkreten Fällen — in Abkehr von der bisherigen Pra-
xis — nicht davor zurückschrecken, vom vertraglich an-
Das Rechtsstaatlichkeitsprinzip ist eine tragende gelegten Sanktionsmechanismus Gebrauch zu machen.
Säule des europäischen Integrationsprozesses. Die Aus- Die Auseinandersetzung um die umstrittenen Ge-
übung hoheitlicher Befugnisse wird in Europa we­ setzesänderungen in Polen ist für die Bereitschaft der
sentlich durch das Primat des Rechts geprägt, welches EU, rechtsstaatlich problematische Entwicklungen zu
an die Stelle des Rechts des Stärkeren getreten ist. Dabei benennen und Remedur zu verlangen, ein Lackmustest.
nimmt Art. 2 EUV nicht nur die Organe und weiteren Dies gilt nicht nur für die Kommission als Hüterin der
Ein­richtungen der EU in die Pflicht, sondern richtet Verträge, sondern insbesondere auch für den Rat und
sich als verbindliche Handlungsanweisung auch an die den Europäischen Rat. Sofern der strukturierte Dialog
Mitgliedstaaten. Sofern in einem Mitgliedstaat der ge- zwischen der Kommission und Polen nicht zu einer be-
meineuropäische Mindeststandard unterschritten wird, friedigenden Lösung führt, werden die Vertreter der
bedarf es eines Eingreifens der EU. Mit dem Rechts- Mitgliedstaaten nicht darum herumkommen, zusam-
staatlichkeitsverfahren verfügt die Kommission über men mit dem Europäischen Parlament Stellung zu be-
ein neues Instrument, diese Aufgabe wahrzunehmen. ziehen und ein entsprechendes Präjudiz zu setzen. Die
Dieses Verfahren ist kein revolutionärer Wurf, sondern handstreichartig orchestrierte faktische Entmachtung
das Resultat des politisch Machbaren. Im Mittelpunkt des Verfassungsgerichts und die Gefährdung der Unab-
steht der fortwährende Dialog mit dem Ziel, eine ein- hängigkeit der Verwaltungs- und Aufsichtsräte der öf-
vernehmliche Lösung zu finden. Wenngleich Sachstand- fentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter stellen tra-
analysen und Stellungnahmen der Kommission nicht
­veröffentlicht werden, sondern nur «pressetaugliche»
Zusammenfassungen, führt die Publizität, welche mit 57 S. dazu auch die Entschliessung des Europäischen Parlaments vom
der Einleitung eines solchen Verfahrens einhergeht, 10. Juni 2015 zur Lage in Ungarn, 2015/2700(RSP), mit der Aufforderung an
dazu, dass rechtsstaatliche Defizite europaweit debat- die Adresse der Kommission, «einen Vorschlag über die Einrichtung eines
EU-Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechte
tiert werden und politischer Druck aufgebaut werden zu unterbreiten», weil das aktuell verfügbare Instrumentarium nicht zufrie-
denstellend funktioniert; der vorgeschlagene Mechanismus soll für den Fall
einer systemischen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit eine «automatische
und abgestufte Reaktion» vorsehen; «geeignete verbindliche und korrigie-
55 Europäische Kommission, Pressemitteilung vom 1. Juni 2016: Stellung- rende Instrumente» sollen sicherstellen, dass bestehende Defizite behoben
nahme der Kommission zur Rechtsstaatlichkeit in Polen und zum Rahmen werden (ibid., Rz. 12); s. für weitere Vorschläge für einen neuen Mechanis-
zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips: Fragen und Antworten, http://europa. mus zur Überwachung der Einhaltung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips auch
eu/rapid/search.htm. Petra Bárd et al., An EU Mechanism on Democracy, the Rule of Law and Fun-
56 Ibid. damental Rights, CEPS Paper No. 91, 2016, S. 26—46.

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140
Oesch — gende Grundwerte der EU infrage. Ein solches Vorgehen
ist problematisch und bedarf einer beherzten Reaktion
Das Rechtsstaatlich- seitens der EU. Dabei geht es nicht darum, einen miss-
keitsverfahren der liebigen Mitgliedstaat, in concreto Polen, politisch zu
EU gegen Polen — isolieren, sondern schlicht um die Sicherstellung der
Bestandsaufnahme Einhaltung der in Art. 2 EUV formulierten Verpflichtung,
und Zwischenfazit die Rechtsstaatlichkeit zu beachten.
Eine paneuropäische Dimension erhält das hängige
Verfahren durch das Zusammenspiel mit der Venedig-
Kommission. Polen hat von sich aus die Venedig-Kom-
mission ersucht, die Gesetzesänderungen zu beurteilen,
und die Auseinandersetzung damit aus dem unions-
rechtlichen Korsett gelöst. Auch die Europäische Kom-
mission stützt sich bei der rechtlichen Bewertung der
Gesetzesänderungen wesentlich auf die Venedig-Kom-
mission. Auf diese Weise profitieren alle Beteiligten von
der Expertise und der Reputation der Venedig-Kommis-
sion. Die Venedig-Kommission ist breiter abgestützt
als die Europäische Kommission; das «Outsourcing» der
Bewertung der Gesetzesänderungen entlastet die EU le-
gitimatorisch. Die Inanspruchnahme der Venedig-Kom-
mission darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen,
dass die Verantwortung, für die Einhaltung der grund­
legenden Werte gemäss Art. 2 EUV (auch) durch Polen
zu sorgen, bei der EU liegt. Die diesbezüglichen Zustän-
digkeiten der Europäischen Kommission, des Rates, des
Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments
sind nicht delegierbar.

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141
Arbeits- und Verkehr
­Sozialrecht
Viertes Eisenbahnpaket zur
­Modernisierung des Schienenverkehrs
EuGH: Anknüpfung von Sozialleistungen
am Aufenthaltsrecht ist zulässig Am 19. April 2016 wurde über das vierte Eisenbahn-
paket zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat
Wenige Tage vor dem sog. Brexit fällte der EuGH ein und der Kommission interinstitutionelle Einigkeit er-
Urteil, das die britische Regelung stützte, welche den zielt. Das Paket umfasst Massnahmen, welche den
Bezug von gewissen Sozialleistungen an das Bestehen Schienenverkehr neu beleben, die Dienstleistungsqua-
eines Aufenthaltsrechts knüpfte. Ausgangspunkt waren lität verbessern und das Angebot für Bahnreisende viel-
die Beschwerden von in Grossbritannien wohnhaften EU- seitiger gestalten sollen. Der Schienenverkehr in der EU
Ausländern, dass ihnen gewisse Sozialleistungen verwehrt soll attraktiver, innovativer und wettbewerbsfähiger
blieben, weil sie kein Aufenthaltsrecht ausweisen konn- werden.
ten. Die Kommission erhob daraufhin gegen Grossbritan- Mit dem Paket wird der Binnenmarkt im Schienen-
nien eine Vertragsverletzungsklage und machte geltend, verkehrsbereich vollendet. Alle europäischen Eisenbahn­
dass die britischen Vorschriften nicht mit den Bestim- unternehmen erhalten das Recht, ihre Dienstleistungen
mungen der Verordnung zur Koordinierung der Systeme in der gesamten Union anzubieten. Die Unparteilichkeit
der sozialen Sicherheit vereinbar seien. Die Verordnung der Infrastrukturbetreiber gewährleistet hierbei einen
stellt u.a. sicher, dass niemand sozialversicherungsrecht- diskriminierungsfreien Netzzugang. Die Ausschreibung
liche Nachteile zu gewärtigen hat, weil er sein Recht auf öffentlicher Dienstleistungsaufträge sorgt dafür, dass
Personenfreizügigkeit ausübt. Gemäss der Kommission die Mitgliedstaaten den grösstmöglichen Ertrag aus öf-
sei die Bedingung eines Aufenthaltsrechts für die Aus- fentlichen Mitteln erzielen können und zugleich ein
zahlung von Kindergeldern und Steuergutschriften für opti­maler Umfang an öffentlichen Verkehrsdienstleis-
Kinder diskriminierend, stelle die Verordnung doch tungen für Unionsbürger aufrechterhalten wird. Ferner
bloss auf den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Antrag- wird die Eisenbahnagentur ERA mit weiteren Befugnis-
stellers ab. Zwar räumte die britische Regierung ein, dass sen ausgestattet.
durch das Erfordernis des Aufenthaltsrechts die eigenen Das Paket basiert auf zwei Pfeilern, nämlich dem
Staatsbürger bevorteilt würden, doch sei die Massnahme technischen Pfeiler und dem Marktpfeiler. Der Markt-
verhältnismässig, um sicherzustellen, dass die infrage pfeiler umfasst (i) eine Verordnung, die u.a. die Vergabe
stehenden Sozialleistungen nur an Personen ausgestellt öffentlicher Dienstleistungsaufträge für inländische
würden, die ausreichend integriert sind. Der EuGH teilte Schienenpersonenverkehrsdienste regelt («PSO-Verord-
die Ansicht Grossbritanniens und verwarf insbesondere nung»), (ii) eine Richtlinie über die Öffnung des Marktes
das Argument der Kommission, welche im Aufenthalts- für inländische Schienenpersonenverkehrsdienste und
rechterfordernis eine zusätzliche Voraussetzung zu der die Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur («Governan­
in der Verordnung vorgesehenen Voraussetzung des ge- ce-Richtlinie») und (iii) einen Vorschlag zur Aufhebung
wöhnlichen Aufenthalts sah. Der Gerichtshof führte aus, einer alten Verordnung über staatliche Beihilfen für Eisen­
dass das Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne bahnunternehmen («Verordnung über die Normalisie-
der Verordnung keine notwendige Voraussetzung für den rung der Konten der Eisenbahnunternehmen»). Der tech-
Anspruch auf die Leistungen sei, sondern vielmehr eine nische Pfeiler beinhaltet (iv) eine Verordnung über die
Kollisionsnorm darstelle, die die gleichzeitige Anwen- Eisenbahnagentur der Europäischen Union und zur Aufhe-
dung verschiedener nationaler Rechte zum Nachteil eines bung der Verordnung (EG) Nr. 881/2004, (v) eine Richt-
die Personenfreizügigkeit nutzenden EU-Bürgers ver- linie über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems in
meiden solle. Die Verordnung schaffe kein gemeinsames der Europäischen Union (Neufassung der Richtlinie 2008/
System der sozialen Sicherheit, sondern lasse unter- 57/EG) sowie (vi) eine Richtlinie über die­Eisenbahnsi-
schiedliche nationale Systeme bestehen. Mithin würden cherheit (Neufassung der Richtlinie 2004/49/EG).
keine inhaltlichen Voraussetzungen an das Vorliegen Die Texte zur technischen Säule sind in der Folge am
eines Anspruchs auf Sozialleistungen definiert. Dies sei 11. Mai 2016 angenommen und im Amtsblatt der Euro-
vielmehr die Aufgabe der Mitgliedstaaten. päischen Union publiziert worden und damit heute bereits
in Kraft. Mithin müssen nun noch die Texte zur Markt-
Urteil in der Rechtssache C-308/14 säule vom Rat angenommen werden; hiermit wird im
vom 14. Juni 2016. (JR) Herbst 2016 gerechnet. Danach wird von den Mitglied-

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staaten eine rasche Umsetzung der neuen Vorschriften in der wettbewerbspolitischen Instrumente erachtet die
nationales Recht erwartet. Kommission aber nicht für nötig. Vielmehr soll gegenüber
allen Marktteilnehmern das Wettbewerbsrecht durch-
ABl. L 138 gesetzt werden, unabhängig davon, ob es sich um ein
vom 26. Mai 2016, S. 1–43, 44–101, 102–149 Start-Up-Unternehmen oder ein marktbeherrschendes
Factsheet der Europäischen Kommission, Unternehmen handelt. Als Beispiele nennt die Kommis-
MEMO/16/1383. (DI) sion laufende kartellrechtliche Untersuchungen gegen
Google und Amazon. Auch auf traditionellen Märkten
wie dem Markt für Fernsehsendungen oder auf dem
Software- und Hardware-Markt für Mobilgeräte wurde
die Kommission 2015 regelmässig wettbewerbskorrigie-
rend aktiv. Zudem wurde 2015 eine Verordnung erlassen,
Wettbewerbsrecht mit der die Roaming-Gebühren der Mobilgeräte zum
15.6.2017 abgeschafft werden. Um den Ausbau der in
Europa benötigten Hochgeschwindigkeits-Breitband-
Bericht der Kommission netze zu fördern und damit Auswahl, Qualität und Preis
des Telekommunikationsangebots zu verbessern, stellt
über die Wettbewerbs- die Kommission, u.a. via Fusionskontrolle, den Wettbe-
politik 2015 werb in diesem Sektor sicher.
Kapitel IV erläutert den Stand des Aufbaus einer in-
Die Kommission hat ihren Bericht über die Wettbe- tegrierten und klimafreundlichen europäischen Energie­
werbspolitik 2015 am 15. Juni 2016 veröffentlicht. Der union, der 2015 mit der von der Kommission präsentier-
Bericht zeigt, dass die 2015 im Wettbewerbsbereich ten Rahmenstrategie begonnen hat. Bei der Integration
durchgeführten Arbeiten der Kommission einen erheb- der Märkte spielt die Durchsetzung des Kartellrechts
lichen Beitrag zu einer Reihe von zentralen politischen eine wichtige Rolle, da so Marktverzerrungen beseitigt
Prioritäten der Kommission geleistet haben. Die EU- werden, die sich aus dem Verhalten marktbeherrschen-
Kommissarin für Wettbewerb, Margrethe Vestager, der Akteure ergeben (Beispiel: Verhalten von Gazprom
fasste in ihrem Vorwort zum Bericht die Tätigkeit der in Mittel- und Osteuropa). Auch werden wettbewerbs-
Kommission 2015 in Zahlen zusammen: 318 Genehmi- widrige Vereinbarungen über die Aufteilung von Märk-
gungen von Unternehmenszusammenschlüssen, 7 Anti­ ten beendet und Infrastrukturen zugänglich gehalten.
trust- und Kartell­beschlüsse und 200 Genehmigungen Beim staatlich unterstützten Übergang zu einer grünen
von Beihilfemassnahmen. Wirtschaft spielen wettbewerbsrechtliche Überlegungen
Nach der Einleitung (Kapitel I) erläutert die Kom- ebenfalls mit: in ihren Leitlinien für staatliche Umwelt-
mission im Kapitel II, wie ein wirksamer Wettbewerb schutz- und Energiebeihilfen fördert die Kommission die
zur Belebung der Investitions- und Innovationstätigkeit Integration erneuerbarer Energiequellen in den Markt,
beiträgt. Als konkretes Beispiel wird die Investitionsof- um Wettbewerbsverfälschungen durch staatliche Unter­
fensive für Europa genannt, die im November 2014 lan- stützungsmassnahmen zu vermeiden. Mithilfe der Fusi-
ciert wurde und 2015 den Europäischen Fonds für stra- onskontrolle wird zudem verhindert, dass Marktstruk-
tegische Investitionen (EFSI) schuf, der mithilfe der turen im Energiebereich geschaffen werden, die den
Euro­ päischen Investitionsbank (EIB) Finanzmittel für Wettbewerb behindern.
strategische Investitionen bereitstellt. Zudem wurde Kapitel V legt die positiven Auswirkungen der Wett-
eine Initiative zur Modernisierung des Beihilferechts an­ bewerbspolitik auf die Verwirklichung eines vertieften
gestossen, die den Mitgliedstaaten dabei helfen soll, ihre und faireren EU-Binnenmarkts dar. Hierzu gehört,
Beihilfemassnahmen (Einsatz öffentlicher Mittel zur Mo- neben Massnahmen zur Stärkung der Steuertranspa-
bilisierung von Investitionen) gezielter auf Wirtschafts- renz und zur Gewährleistung einer gerechten Steuerbe-
wachstum, Schaffung von Arbeitsplätzen und den so­ lastung, die Bekämpfung selektiver Steuervergünsti-
zialen Zusammenhalt auszurichten. gungen, die den begünstigten Unternehmen unfaire
Kapitel III befasst sich mit dem positiven Einfluss der Wettbewerbsvorteile verschaffen. Für die Integration
Wettbewerbspolitik auf die Schaffung eines digitalen des Binnenmarkts ist auch die einheitliche Anwendung
Binnenmarkts durch die Beseitigung regulierungsbe- des EU-Wettbewerbsrechts entscheidend. Seit Novem-
dingter Hindernisse und die Zusammenführung der na- ber 2015 läuft eine öffentliche Konsultation zur Frage,
tionalen Märkte. Zu diesem Zweck nahm die Kommission wie die Rolle der nationalen Wettbewerbsbehörden bei
im Mai 2015 ihre Strategie für einen digitalen Binnen- der Durchsetzung des EU-Kartellrechts gestärkt wer-
markt an. Eine Überarbeitung des Wettbewerbsrechts und den kann.

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Die Kommission hat 2015 in verschiedenen Fällen in einem EU-Mitgliedstaat ansässig, leitet sie diese In-
von Kartellen Geldbussen in Millionenhöhe verhängt. Ein formationen direkt an die jeweilige nationale Steuerbe-
besonderes Augenmerk legte sie dabei auf den Finanz- hörde weiter. Andernfalls müssen die Tochtergesell-
und Zahlungssektor. Im Bankensektor hat die Beihil- schaften mit Sitz in der EU die Informationen von ihren
fenkontrolle der Kommission dazu beigetragen, Wettbe- Muttergesellschaften anfordern. Die EU-Mitgliedstaaten
werbsverzerrungen zu begrenzen. Staatliche Beihilfen können diese Informationen austauschen.
für Banken können seit Januar 2015 nur noch gewährt Die EU folgt mit dieser Richtlinie den OECD-Leitli-
werden, wenn die Bank im Einklang mit der neuen nien zum BEPS-Aktionsplan (Base Erosion and Profit
Richtlinie über die Sanierung und Abwicklung von Ban- Shifting). Damit soll die Erosion von Besteuerungs-
ken (BRRD) und mit den EU-Beihilfevorschriften abge- grundlagen und die Verlagerung von Gewinnen gemin-
wickelt wird. dert werden.
Das letzte Kapitel (VI) beschreibt schliesslich den
Einsatz der Kommission, den internationalen und inter- ABl. L 146
institutionellen Austausch zu Wettbewerbsfragen zu vom 3. Juni 2016, S. 8. (JR)
fördern. Dabei verstärkte sie einerseits die multilaterale
und bilaterale Zusammenarbeit mit traditionellen und
neu aufkommenden Wirtschaftsakteuren, andererseits
vertiefte sie den Dialog innerhalb der EU, insbesondere
mit dem Europäischen Parlament und dessen Ausschuss
für Wirtschaft und Währung (ECON-Ausschuss). Gemeinsame
KOM (2016) 393 endg. ­Handelspolitik
vom 15. Juni 2016. (CR)

Bericht über Handels- und


­Investitionshindernisse

Steuerrecht Der Bericht der Kommission über Handels- und Inves-


titionshindernisse und über protektionistische Tenden-
zen zuhanden des Rates und des Europäischen Parla-
Automatischer Informationsaustausch ments umfasst die Periode vom 1. Juli 2015 bis zum 31.
Dezember 2015.
über länderbezogene Berichte ­multi­natio- Im ersten Teil bietet der Bericht einen Überblick zu
naler Unternehmen in Kraft getreten den protektionistischen Tendenzen bei 31 Handelspart-
nern der EU. Es wird festgestellt, dass die seit 2008 er-
Der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister hat am griffenen handelsbeschränkenden Massnahmen weiter
25. Mai die Richtlinie (EU) 2016/881 zur Änderung der zunehmen, wenn auch weniger stark als in den Vorjah-
Richtlinie 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum ren. Der Grossteil der einschlägigen Massnahmen geht
automatischen Austausch von Informationen (AIA) im auf das Konto der Schwellenländer China, Russland, In-
Bereich der Besteuerung angenommen. Die Richtlinie donesien und Indien.
wurde am 3. Juni 2016 im Amtsblatt veröffentlicht und Im zweiten Teil erläutert der Bericht die wichtigsten
trat am selben Tag in Kraft. Die Mitgliedstaaten müssen Handelshemmnisse einiger der essenziellsten Handels-
die neuen Regelungen ab dem 5. Juni 2017 anwenden. partner der EU (USA, China, Japan, Indien, Russland und
Die neue Richtlinie richtet sich an multinationale Mercosur). Mit Blick auf die USA und Japan versucht die
Unternehmen, die in mehr als einem EU-Land tätig sind. EU, diese Hemmnisse im Kontext der Verhandlungen
Sie verpflichtet die Konzerne, bestimmte steuerrele- über Freihandelsabkommen zu beseitigen, wobei einige
vante Informationen jährlich für alle Steuerhoheitsge- Hindernisse bereits abgebaut werden konnten, insbeson-
biete, in denen sie einer Geschäftstätigkeit nachgehen, dere in Japan. Auch in den Mercosur-Ländern (in Brasi-
zur Verfügung zu stellen. Zu diesen Informationen zäh- lien und insbesondere Argentinien) wurden auf verschie-
len: die Höhe der Erträge, die Vorsteuergewinne oder denen Ebenen positive Entwicklungen verzeichnet.
-verluste, die bereits gezahlten und noch zu zahlenden Fortschritte mit Indien gestalten sich dagegen schwierig.
Ertragsteuern, die Zahl der Beschäftigten, das ausge- Die grössten Schwierigkeiten bei der Beseitigung von
wiesene Kapital, die einbehaltenen Gewinne sowie die Markthindernissen ergeben sich jedoch in China und in
materiellen Vermögenswerte. Ist die Muttergesellschaft Russland.

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Im dritten Teil des Berichts wird die Strategie der Zudem werden die Mitgliedstaaten angehalten, ihre
Kommission zur Überwindung von Handels- und Inves- Strukturreformen weiterhin fortzusetzen und investiti-
titionshindernissen beschrieben. Dabei wird auf die onshemmende Engpässe und Bürokratie zu beseitigen.
­Bedeutung der Aushandlung und Umsetzung multila­ Die Mitgliedstaaten werden ebenfalls aufgefordert, in
teraler und bilateraler Abkommen sowie auf die Markt­ verschiedenen Bereichen nationale Binnenmarktschran-
öffnungsstrategie verwiesen. Angesichts der stetigen ken zu beseitigen. So beispielswiese Steuervorschriften,
Ausweitung der bilateralen Handelsagenda schlägt die welche grenzüberschreitende Investitionen erschweren
Kommission eine «vertiefte Partnerschaft» mit den Mit­ oder mit Strafen belegen.
gliedstaaten, dem Europäischen Parlament und weiteren Mit dieser Mitteilung will die Kommission die Zu-
beteiligten Akteuren vor, um die Umsetzung der Han- sammenarbeit mit den EU-Organen und den Mitglied-
delsabkommen gemeinsam anzugehen. staaten auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene
zügig voranbringen und sicherstellen, dass alle Initiati-
KOM (2016) 406 endg. ven im Rahmen der Binnenmarktagenda bis zum Ende
vom 20. Juni 2016. (TN) der Amtszeit der Kommission eingeführt und funk­
tionsfähig sind.

KOM (2016) 361 endg.


vom 1. Juni 2016. (TN)

Binnenmarkt und
­Industriepolitik Europäische Agenda für
die kollaborative Wirtschaft
Umsetzung der Binnenmarktagenda Dienstleistungen und Portale der kollaborativen
Wirtschaft sind in Europa in den vergangenen Jahren
Die Kommission erstattet in ihrer Mitteilung zur Um- schnell gewachsen. Gemeint sind Geschäftsmodelle, bei
setzung der Binnenmarktagenda Bericht über den Fort- denen Tätigkeiten durch Internetplattformen ermög-
schritt der Arbeiten für ein unternehmensfreundliches licht werden, die einen offenen Markt für die vorrüber-
Umfeld auf dem Binnenmarkt. Auf der Agenda zur Voll- gehende Nutzung von Waren oder Dienstleistungen
endung des Binnenmarktes stehen Projekte wie die schaffen, welche häufig von Privatpersonen angeboten
Schaffung eines digitalen Binnenmarktes, um den Bin- werden. Dazu zählen etwa der Vermittler von Mitfahr-
nenmarkt ohne Grenzen für den Dienstleistungssektor gelegenheiten «Uber», der Vermittler von Übernach-
in der Praxis zu verwirklichen, der Aufbau einer Kapi- tungsgelegenheiten «Airbnb» sowie der Paketdienst
talmarktunion, um eine bessere Verbindung zwischen «Sennder». Nach Einschätzung der Kommission schafft
Sparvermögen und Investitionen herzustellen, oder die die kollaborative Wirtschaft neue Möglichkeiten für Ver-
Schaffung eines einfachen, modernen und betrugssi- braucher und Unternehmer und kann auch einen wich-
cheren Mehrwertsteuersystems, um den Verwaltungs- tigen Beitrag zur Entstehung von Arbeitsplätzen und
aufwand zu reduzieren und den grenzüberschreitenden Wachstum in der Europäischen Union leisten.
Handel zu verbessern. Indes wirft die kollaborative Wirtschaft auch ver-
Darüber hinaus arbeitet die Kommission in Zusam- schiedene Fragen zur Anwendung des bestehenden
menarbeit mit dem Europäischen Investitionsfonds (EIF) Rechtsrahmens auf, da viele Angebote die traditionellen
an der Einrichtung eines europaweiten Risikokapital- Linien zwischen Verbraucher und Anbieter, Beschäftig-
Dachfonds, der öffentliche Mittel und privates Kapital tem und Selbstständigem oder der gewerbsmässigen
kombinieren würde, um zusätzliche Anreize für neue und nicht gewerbsmässigen Erbringung von Dienstleis-
Unternehmen zu bewirken und deren Entwicklung zu tungen verwischen. Dies kann zu Rechtsunsicherheit
fördern. führen, be­sonders, wenn unterschiedliche Regelungen
Die Kommission ersucht den Europäischen Rat die aufgrund abweichender Ansätze auf nationaler Ebene
Mitteilung zu billigen und seinerseits das Europäische hinzukommen. Ein Beispiel hierfür sind Kurzzeitvermie-
Parlament und den Rat anzuhalten in jenen Bereichen tungen. Städte wie London, Paris oder Amsterdam gehen
Einigung über die legislativen Massnahmen zu erzielen, mit diesen Dienstleistungen relativ flexibel um, während
in denen Entscheidungen dringend erforderlich sind, das deutsche Zweckentfremdungsgesetz die Nutzung von
um die notwendigen Reformen voranzutreiben. Wohneigentum für andere Zwecke als die beabsichtigte

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Verwendung verbietet und ein sehr striktes regulatives –– Steuern: Wie andere Marktteilnehmer auch müssen
Umfeld für Kurzzeitvermietungen vorsieht. Dienstleistungsanbieter und Plattformen der kolla-
Diese uneinheitliche Behandlung neuer Geschäfts- borativen Wirtschaft Steuern zahlen. Dabei handelt es
modelle schafft Unsicherheit für herkömmliche Unter- sich um Einkommen-, Körperschaft- und Mehrwert-
nehmen, neue Dienstleistungsanbieter und Verbraucher steuer. Die Mitgliedstaaten sind aufgerufen, die An-
gleichermassen. Wie in ihrer Binnenmarktstrategie an- wendung der Steuervorschriften in der kollaborativen
gekündigt, hat die Kommission am 2. Juni 2016 Leitlinien Wirtschaft weiter zu vereinfachen und klarer zu ge-
für die Mitgliedstaaten veröffentlicht, um zu einer aus- stalten. Die Plattformen der kollaborativen Wirtschaft
gewogenen Entwicklung der kollaborativen Wirtschaft sollten uneingeschränkt mit den nationalen Behörden
beizutragen. Die Mitteilung beinhaltet Klarstellungen zu kooperieren, um Wirtschaftstätigkeiten zu erfassen
wichtigen Fragen, mit denen sowohl Marktteilnehmer und die Steuererhebung zu erleichtern.
als auch Behörden konfrontiert sind. Die EU-Mitglied- Die Kommission kündigt an, das sich rasch ändernde
staaten werden aufgefordert, die bestehenden Rechts- rechtliche Umfeld und die wirtschaftlichen Entwick-
vorschriften im Sinne der Leitlinien zu prüfen und gege- lungen weiter zu überwachen. Sie will Veränderungen
benenfalls zu ändern. Folgende Fragen stehen gemäss der Preise und der Qualität der Dienstleistungen verfol-
den Ausführungen der Kommission im Vordergrund der gen sowie mögliche Hindernisse und Probleme aufzei-
Mitteilung: gen, die auf voneinander abweichende nationale Rege-
–– Marktzugangsanforderungen: Eine Zulassungspflicht lungen oder Regelungslücken zurückgehen.
für Dienstleistungsanbieter sollte nur dann bestehen,
wenn es für im Allgemeininteresse liegende Ziele unbe- KOM (2016) 356 endg.
dingt erforderlich ist. Absolute Verbote einer Tätigkeit vom 2. Juni 2016. (TB)
sollten das letzte Mittel bleiben. Plattformen sollten
keinen Genehmigungs- oder Zulassungsanforderun-
gen unterliegen, wenn sie lediglich als Vermittler
zwischen Verbrauchern und den Anbietern der eigent-
lichen Dienstleistung auftreten (z.B. Beförderung oder
Unterkunft). Ausserdem sollten die Mitgliedstaaten Verbraucher­
zwischen Einzelpersonen, die gelegentlich Dienstleis-
tungen erbringen, und gewerbsmässigen Anbietern schutzrecht
unterscheiden, beispielsweise anhand von Schwellen-
werten für den Umfang der Tätigkeit.
–– Haftung: Gemeinsame Plattformen können von der Verordnungsvorschlag zur Verbesserung
Haftung für Informationen, die sie im Namen von
Dienstanbietern speichern, ausgenommen werden.
der grenzüberschreitenden
Sie sollten jedoch nicht von der Haftung für von ihnen ­Zusammenarbeit im Verbraucherschutz
selbst angebotene Dienstleistungen wie Zahlungsab-
wicklungen ausgenommen werden. Die Kommission Die Kommission hat, wie in ihrer Strategie für einen
ruft die gemeinsamen Plattformen dazu auf, weiter digitalen Binnenmarkt vom 6. Mai 2015 vorgesehen,
auf freiwilliger Basis gegen gesetzeswidrige Online- einen Vorschlag für die Überarbeitung der Verordnung
Inhalte vorzugehen und das Vertrauen hierdurch zu (EG) Nr. 2006/2004 vom 27. Oktober 2004 über die
stärken. ­Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung
–– Verbraucherschutz: Die Mitgliedstaaten sollten dafür der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen
sorgen, dass Verbraucher hinreichend vor unlauteren Behörden («CPC-Verordnung») vorgelegt.
Geschäftspraktiken geschützt werden, ohne dass un- Im digitalen Umfeld können Verstösse gegen den
verhältnismässige Pflichten für Privatpersonen entste- Verbraucherschutz nur durch grenzübergreifende Zu-
hen, die nur gelegentlich Dienstleistungen erbringen. sammenarbeit im gesamten Binnenmarkt wirksam be-
–– Arbeitsverhältnisse: Das Arbeitsrecht liegt überwie- kämpft werden. Die CPC-Verordnung schaffte hierfür
gend in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und einen förmlichen Rahmen. Bei ihrer Bewertung der
wird durch EU-Mindestsozialstandards und die EU- Wirksamkeit und der operationellen Mechanismen der
Rechtsprechung ergänzt. Die Mitgliedstaaten sollten Verordnung (Bericht KOM [2016]) 284 eng. vom 25. Mai
bei der Entscheidung, ob jemand als Beschäftigter 2016) kam die Kommission jedoch zum Schluss, dass
einer Plattform gilt, möglicherweise Kriterien wie das diese den Herausforderungen der digitalen Wirtschaft
Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses, die Art und der Entwicklung des grenzüberschreitenden Ein-
der Arbeit und die Frage der Entlohnung heranziehen. zelhandels in der EU nicht gewachsen sind und insbe-

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sondere erhebliche und weitverbreitete Verstösse gegen schickt werden. Laut Kommission beklagen Verbraucher
Verbrauchergesetze nicht wirksam zu bekämpfen ver- und kleine Unternehmen, dass Probleme mit der Paketzu-
mögen. stellung und insbesondere die hohen Preise sie davon ab-
Einerseits verfügen die nationalen Durchsetzungs- halten, in anderen Mitgliedstaaten zu kaufen bzw. dorthin
behörden über unzureichende Ermittlungs- und Durch- zu verkaufen. Die Tarife, die Postdienstbetreiber für den
setzungsbefugnisse, was sich insbesondere negativ auf Versand eines kleinen Pakets in einen anderen Mitglied-
die Beweisführung und Amtshilfe auswirkt. Mit der vor- staat verlangen, seien nicht selten bis zu fünfmal höher als
geschlagenen Modernisierung der Verordnung sollen die die entsprechenden Inlandstarife und stünden in keinem
nationalen Behörden mit mehr Mindestbefugnissen aus- vernünftigen Verhältnis zu den tatsächlichen Kosten.
gestattet werden: So sollen sie beispielsweise die Kom- Mit der Verordnung soll der Wettbewerb durch mehr
petenz erhalten, Testkäufe vorzunehmen, einstweilige Preistransparenz stimuliert werden. Die Kommission
Massnahmen zu erlassen, Webseiten zu blockieren oder schlägt keine Obergrenze für Zustelltarife vor. Die Preis-
Sanktionen zu verhängen. regulierung soll nur bei einem Versagen des Wettbe-
Weiter wird der Austausch von Marktinformationen werbs als letztes Mittel eingesetzt werden. Die Kommis-
zwischen den Behörden in Anbetracht der breit angelegten sion will 2019 über die bis dahin erzielten Fortschritte
Marketingkampagnen von elektronischen Händlern von Bilanz ziehen und dann beurteilen, ob weitere Massnah-
der Kommission als ungenügend bewertet. Eine gemein- men erforderlich sind.
same Priorisierung der Warnmeldungen und ein schnelle- Auf der Grundlage der vorgeschlagenen Verordnung
res System zur Datensammlung sollen dem abhelfen. sollen den nationalen Postdienst-Regulierungsstellen
Die Kommission bemängelt ausserdem die beschränkte diejenigen Daten vorliegen, welche sie brauchen, um die
Eignung des derzeitigen Amtshilfemechanismus, Ver- grenzüberschreitenden Märkte zu überwachen und um
stösse, die aufgrund der Organisationsstruktur des Händ- zu prüfen, ob die Preise erschwinglich und kostenorien-
lers mehrere Länder gleichzeitig betreffen, einheitlich tiert sind. Die Verordnung soll auch wettbewerbs­fördernd
zu behandeln. Derzeit sei eine kostspielige und langwie- wirken, indem sie vorschreibt, dass Dritte einen trans-
rige Doppelung von Durchsetzungstätigkeiten nationa- parenten und nicht diskriminierenden Zugang zu grenz-
ler Behörden feststellbar. Der Verordnungsvorschlag soll überschreitenden Paketzustelldiensten und -Infrastruk­
die Koordination der Massnahmen verbessern und die turen erhalten sollen. Die Kommission will auch mit der
Zuständigkeiten klarer verteilen. Veröffentlichung der Tariflisten von Universaldienstan-
Im Fällen weitverbreiteter Verstösse, die Verbrau- bietern mehr Wettbewerb unter den Anbietern und für
cher in einem Grossteil der EU schädigen können, soll mehr Preistransparenz sorgen.
die Kommission die Mitgliedstaaten bei der Koordina- Der Vorschlag bildet eine Ergänzung zu den Selbst-
tion der gemeinsamen Aktionen stärker unterstützen, regulierungsinitiativen, mit denen Postdienstbetreiber
womit Zeit und Ressourcen eingespart werden sollen. die Qualität und Kundenfreundlichkeit von grenzüber-
schreitenden Paketzustelldiensten verbessern möchten.
KOM (2016) 283 endg.
vom 25. Mai 2016. (CR) KOM (2016) 285 endg.
vom 25. Mai 2016. (TB)

Verordnungsvorschlag
über grenz­überschreitende Verordnungsvorschlag über Massnahmen
Paketzustelldienste gegen Geoblocking

Im Rahmen ihrer Strategie für den digitalen Binnen- Die Kommission hat im Rahmen ihrer Strategie für
markt hat die Kommission am 25. Mai 2016 einen Verord- den digitalen Binnenmarkt am 25. Mai 2016 einen wei-
nungsvorschlag über grenzüberschreitende Paketzustell­ teren Vorstoss unternommen und einen Verordnungsvor­
dienste vorgelegt. Der vorgeschlagene Rechtsakt verfolgt schlag über Massnahmen gegen Geoblocking vorgelegt.
mehr Preistransparenz und eine bessere Regulierungs- Ziel dieses Vorschlags ist es, den Verbrauchern besseren
aufsicht bei den grenzüberschreitenden Paketzustell- Zugang zu Waren und Dienstleistungen im Binnenmarkt
diensten. Verbraucher und Einzelhändler sollen dadurch zu verschaffen, indem direkte und indirekte Diskrimi-
von günstigeren Tarifen und praktischen Rücksende- nierungen seitens der Anbieter, die auf dem Wohnsitz
möglichkeiten auch dann profitieren, wenn Sendungen der Kunden basieren und eine künstliche Segmentie-
in abgelegene Randgebiete gehen oder aus diesen ver- rung des Marktes bewirken, verhindert werden. Kunden

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stossen auf eine solche Ungleichbehandlung vielfach bei linien fassen die umfangreiche Rechtsprechung des
grenzüberschreitenden Online-Käufen. EuGH zu den Fluggastrechten zusammen und liefern
Trotz der Umsetzung des Grundsatzes der Nichtdis- einen Überblick über bestehende Praktiken. Hervorge-
kriminierung nach Artikel 20 Absatz 2 der Dienstleis- hoben seien folgende Klarstellungen:
tungsrichtlinie 2006/123/EG kommt es weiter vor, dass –– Entschädigungsansprüche entstehen ab einer Verspä-
Kunden, die Waren oder Dienstleistungen jenseits der tung von drei Stunden am Endziel.
Grenze erwerben möchten, der Verkauf verweigert wird –– Entschädigungen sind auch geschuldet, wenn ein Pas-
oder dass für sie unterschiedliche Bedingungen gelten. sagier aufgrund einer Verspätung seinen Anschluss-
Dies ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass un- flug verpasst.
klar ist, welche objektiven Kriterien eine Ungleichbe- –– Präzisierung der «aussergewöhnlichen Umstände», auf
handlung von Kunden durch Anbieter rechtfertigen. Um die sich Fluggesellschaften berufen können, um von
diesem Problem abzuhelfen, will die Kommission An- Entschädigungszahlungen freigestellt zu werden: Bei-
bietern und Verbrauchern grössere Klarheit darüber spielsweise ist ein Zusammenstoss zweier Flugzeuge
verschaffen, in welchen Fällen eine Ungleichbehand- auf dem Boden kein aussergewöhnlicher Umstand,
lung aufgrund des Wohnsitzes nicht gerechtfertigt ist. der von einer Entschädigungspflicht befreien wür-
Mit dem betreffenden Verordnungsvorschlag sollen den. Auch ein Zusammenstoss zwischen einem Flug-
die Sperrung des Zugangs zu Websites und anderen On- zeug und einem Gepäckladefahrzeug fällt nicht dar-
line-Schnittstellen sowie die Weiterleitung von Kunden unter.
von einer Länderversion auf eine andere verboten wer- –– Präzisierung von Unterstützungsmassnahmen, die von­
den. Ferner wird die Diskriminierung von Kunden in seiten der Fluggesellschaften zugunsten von Passa-
vier spezifischen Fällen des Verkaufs von Waren und gieren vorzunehmen sind, wenn aussergewöhnliche
Dienstleistungen verboten, und Umgehungen eines sol- Umstände vorliegen: So müssen Fluggesellschaften
chen Diskriminierungsverbots in Vereinbarungen über Zeitreserven vorsehen, die es erlauben, nach Wegfallen
passive Verkäufe werden untersagt. Sowohl Verbraucher der aussergewöhnlichen Umstände (bspw. Unwetter),
als auch Unternehmen werden als Endnutzer von Waren den Flug schnellstmöglich durchzuführen.
und Dienstleistungen durch derartige Praktiken beein- Die Leitlinien sollen gelten, bis der hängige Vorschlag
trächtigt und sollten daher von den in diesem Vorschlag für eine Revision der Fluggastrechteverordnung verab-
enthaltenen Vorschriften profitieren. Transaktionen, bei schiedet wird.
denen Waren oder Dienstleistungen von einem Unter-
nehmen zum Weiterverkauf erworben werden, sollten C (2016) 3502 endg.
jedoch ausgenommen werden, damit die Anbieter ihre vom 10. Juni 2016. (JR)
Vertriebssysteme im Einklang mit dem europäischen
Wettbewerbsrecht betreiben können.
Dieser Vorschlag betrifft nicht die Preisgestaltung an
sich, sodass die Anbieter ihre Preise weiterhin in nicht-
diskriminierender Weise frei festsetzen können. Ebenso
wenig ist die dynamische Preisgestaltung betroffen, bei Immaterialgüterrecht
der die Anbieter ihre Angebote auf der Grundlage einer
Reihe von Faktoren, die nicht mit dem Wohnsitz der
Kunden zusammenhängen, im Laufe der Zeit anpassen.
Neue Richtlinie soll Schutz von
­Geschäftsgeheimnissen verbessern
KOM (2016) 289 endg.
vom 25. Mai 2016. (TB) Das Europäische Parlament und der Rat haben die
Richtlinie (EU) 2016/943 vom 8. Juni 2016 verabschiedet,
mit welcher Vorschriften für den Schutz vertraulichen
Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen
Leitlinien zu Fluggastrechten (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb so­
wie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung festgelegt
In Form einer Bekanntmachung hat die Kommission werden. Die Richtlinie wurde am 15. Juni 2016 im Amts-
Leitlinien zur Auslegung der Fluggastrechteverordnung blatt veröffentlicht und trat am 5. Juli 2016 in Kraft.
(EG) 261/2004 veröffentlicht. Ziel der Leitlinien ist es, Die Richtlinie führt erstmals eine europaweite Defi-
Reisende, Fluggesellschaften und nationale Behörden nition von Geschäftsgeheimnissen ein: Diese sind ge-
besser über ihre Rechte und Pflichten zu informieren heime Informationen, deren Geheimhaltung kommerzi-
und damit mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Die Leit- ellen Wert hat und die den Umständen angemessenen

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Geheimhaltungsmassnahmen unterliegen. Sie umfassen EU-US-Datenschutzschild-Abkommen stellt einen neu­
ein breites Spektrum von Informationen, das über das ­en Rahmen für den transatlantischen Austausch von per-
technologische Wissen hinaus auch Geschäftsdaten wie sonenbezogenen Daten zu kommerziellen Zwecken dar.
Informationen über Kunden und Lieferanten, Business- Darin verpflichtet sich die USA, die Überwachung
pläne oder Marktforschung und -strategien einschliesst. personenbezogener Daten nur unter Einhaltung klarer
Die neuen Regelungen sollen eine abschreckende Beschränkungen, Schutzvorkehrungen und Aufsichts-
Wirkung entfalten, ohne Grundrechte und Grundfreihei- mechanismen vorzunehmen. Auch räumt die Vereinba-
ten oder Allgemeininteressen zu beschneiden. So sollen rung betroffenen EU-Bürgern bessere Rechtsschutzme-
sie einerseits sicherstellen, dass investigativer Journalis­ chanismen in den USA ein. Zudem soll die Weitergabe
mus weiter ohne neue Einschränkungen möglich ist und von personenbezogenen Daten durch datenverarbei-
der Schutz der journalistischen Quellen nicht infrage ge- tende Unternehmen in den USA streng gehandhabt
stellt wird. Des Weiteren soll die Richtlinie keine Grund- ­werden und das Register, in welches sich besagte am
lage für zusätzliche Beschränkungen für Arbeitnehmer in Privacy Shield beteiligte Unternehmen eintragen kön-
Arbeitsverträgen sein. Arbeitnehmer sollen ihre im Zuge nen, regelmässig vom US-Handelsministerium über-
ihrer üblichen Tätigkeiten auf ehrliche Weise erwor­­­ prüft werden. Weiter soll auch eine gemeinsame jährli-
benen Kenntnisse und Qualifikationen weiterhin unein­ che Überprüfung der Funktionsweise des Privacy Shield
geschränkt nutzen können. Auch die Autonomie der durch die EU und die USA stattfinden, um das gute
So­
­ zialpartner und ihr Recht, Kollektivvereinbarungen Funktionieren sicherzustellen.
ein­­zu­gehen, sollen durch die neue Richtlinie nicht be- Die Kommission sieht damit die Anforderungen an den
schnitten werden. Schutz personenbezogener Daten, die aus dem Schrems-
Um den Schutz von «Whistleblowern», d.h. Perso- Urteil ergehen, als erfüllt an.
nen, die in gutem Glauben im allgemeinen öffentlichen
Interesse Geschäftsgeheimnisse preisgeben, zu gewähr- C (2016) 4176 endg.
leisten, erstreckt sich der in der Richtlinie vorgesehene vom 12. Juli 2016. (JR)
Schutz von Geschäftsgeheimnissen nicht auf Fälle, in
denen ein Vergehen, ein Fehlverhalten oder eine illegale
Tätigkeit aufgedeckt werden soll.
Dank der neuen Richtlinie wird es für Unternehmen
interessanter, Forschungs- und Innovationstätigkeiten zu
entwickeln, da ihr Wissenserwerb und -austausch ein- Polizeiliche und
heitlicher und besser geschützt wird. Die Mitgliedstaaten
der EU haben bis zum 9. Juni 2018 Zeit, die neuen Bestim- ­justizielle
mungen in ihr nationales Recht zu implementieren.
­Zusammenarbeit
ABl. L 157/1
vom 15. Juni 2016, S. 1. (CR)
Aktionsplan Cybersicherheit

In einer Mitteilung schlägt die Kommission einen Ak-


Beschluss der EU-Kommission zum tionsplan vor, um die Abwehrfähigkeit Europas im Be-
EU–US Datenschutzschild reich der Cybersicherheit weiter zu stärken und die eu-
ropäische Cybersicherheitsbranche zu fördern. Gemäss
Die Kommission hat am 12. Juli per Beschluss festge- einer externen Studie hatten mehr als 80% der europäi-
stellt, dass die USA die Anforderungen an den Austausch schen Unternehmen 2015 zumindest einmal mit einem
personenbezogener Daten erfüllen. Wurde im EuGH- Cybervorfall zu tun. Diese Vorfälle können laut der
Urteil Schrems (C-362/14) im Jahr 2015 festgehalten, Kommission nicht nur den digitalen Binnenmarkt, son-
dass die USA unter dem Eindruck der NSA-Affäre die dern das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben in
Datenschutzanforderungen der EU an den Austausch der EU ins Wanken bringen.
personenbezogener Daten nicht erfüllen und der trans- Der Aktionsplan der Kommission baut auf der EU-
atlantische Datenaustausch personenbezogener Daten Cybersicherheitsstrategie von 2013, auf der Strategie für
in die USA auf der damaligen Rechtsgrundlage («Safe einen digitalen Binnenmarkt von 2015 und der kürzlich
Harbor») untersagt ist, so ist der neuerliche Beschluss verabschiedeten Richtlinie über Netz- und Informati-
ein Versuch, den transatlantischen Datenverkehr auf eine onssicherheit (EU) 2016/1148 (NIS-Richtlinie) auf. Er
neue, bessere Rechtsgrundlage zu stellen. Das sogenann­te umfasst folgende drei Dimensionen: (1) Die europaweite

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Zusammenarbeit zur Abwehr und Bewältigung von Cy- heitsgebiet eines Mitgliedstaates über eine Binnengrenze
bervorfällen, (2) die Herausforderungen für den europä- des Schengen-Raums eingereist ist. Dies gilt auch für
ischen Binnenmarkt im Bereich Cybersicherheit und (3) Fälle, in denen sich die Person im entsprechenden Ho-
Investitionsförderung für die Cybersicherheitsbranche. heitsgebiet nur auf der Durchreise befindet oder erst
Im Rahmen der Strategie für einen digitalen Binnen- beim Verlassen des Schengen-Raums aufgegriffen wird.
markt schlägt die Kommission in ihrem Aktionsplan Für die Anwendbarkeit der Richtlinie ist lediglich der il-
verschiedene Massnahmen vor, die der Fragmentierung legale Aufenthalt relevant, unabhängig von der Dauer
des Cybersicherheitsmarkts in der EU entgegenwirken der Anwesenheit oder der Absicht zum Verbleib.
sollen. Gegenwärtig muss ein Unternehmen, das im Be- Im vorliegenden Fall wurde eine ghanaische Staats-
reich der Informations- und Kommunikationstechnolo- angehörige, die von Belgien aus in Richtung Vereinigtes
gie (IKT) tätig ist, unterschiedliche Zertifizierungsver- Königreich unterwegs war, an der Einfahrt des Ärmel-
fahren durchlaufen, um seine Produkte und Dienste in kanal-Tunnels von der französischen Polizei aufgegrif-
mehreren Mitgliedstaaten anbieten zu können. Die Kom- fen und umgehend in Polizeigewahrsam genommen,
mission wird daher die Möglichkeit der Schaffung eines bevor das Rückkehrverfahren eingeleitet worden war.
europäischen Zertifizierungsrahmens für IKT-Sicher- Dieses focht sie in der Folge als rechtswidrig an, worauf
heitsprodukte prüfen. der französische Kassationsgerichtshof sich an den
Diese Massnahmen werden im Aktionsplan der Kom­ EuGH wandte.
mission mit dem Startschuss für eine neue öffentlich-pri- Das in der Rückführungsrichtlinie geregelte Rück-
vate Partnerschaft für Cybersicherheit ergänzt. Diese soll kehrverfahren sieht nach dem Rückkehrentscheid eine
bis 2020 Investitionen in Höhe von 1,8 Mrd. Euro mobili- Frist zur freiwilligen Rückkehr vor. Erst danach werden
sieren. Die EU selbst wird 450 Mio. Euro im Rahmen ihres Massnahmen zu einer zwangsweisen Abschiebung ge-
Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 in troffen, die so milde wie möglich ausfallen sollen. Nur
diese Partnerschaft investieren. Damit soll der Ausbau der wenn die Abschiebung gefährdet ist, kann eine Abschie-
Kapazitäten der Cybersicherheitsbranche und die Innova- behaft angeordnet werden, deren Dauer 18 Monate nicht
tion im IKT-Bereich in der EU gefördert werden. überschreiten darf.
Zur Stärkung der europaweiten Zusammenarbeit bei Der Gerichtshof stützte sich bei seinem Urteil auf
Cyberbedrohungen schuf die NIS-Richtlinie bereits Ko- seine Rechtsprechung aus dem Urteil Achughbabian (C-
operationsmechanismen für die Mitgliedstaaten (u.a. ein 329/11 vom 6. Dezember 2011), wonach eine Inhaftie-
Netzwerk von IT-Noteinsatzteams, die schnell auf Cyber- rung infolge illegaler Einreise nur gestattet ist, wenn das
vorfälle reagieren können). Der Aktionsplan sieht darü- von der Richtlinie vorgesehene Verfahren bereits auf die
ber hinaus die Einrichtung einer ständigen hochrangigen Person angewandt wurde und sie sich ohne Rechtferti-
Beratungsgruppe zum Thema Cybersicherheit auf EU- gungsgrund weiterhin illegal aufhält oder wenn es sich
Ebene vor, in der Sachverständige und Entscheidungs- dabei um eine Verwaltungshaft zur Ermittlung der
träger aus Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Rechtmässigkeit des Aufenthalts handelt.
anderen einschlägigen Organisationen vertreten sind.
Schliesslich kündigt der Aktionsplan bis Ende 2017 eine Urteil in der Rechtssache C-47/15
Bewertung der Agentur der Europäischen Union für Netz- vom 7. Juni 2016. (CR)
und Informationssicherheit (ENISA) in Hinblick auf eine
allfällige Erweiterung deren Mandates an.
Einigung über den Europäischen ­
KOM (2016) 410 endg.
vom 5. Juli 2016. (TN) Grenz- und Küstenschutz

Das Europäische Parlament und der Rat konnten eine


Einigung über einen Kommissionsvorschlag zur Errich-
EUGH: Rückführungsrichtlinie verbietet tung einer europäischen Grenz- und Küstenwache er-
Freiheitsstrafen bei illegaler Einreise zielen. Die Errichtung des gemeinsamen Grenz- und
Küstenschutzes ist Teil der europäischen Migrationsa-
Der EuGH stellte mit Urteil vom 7. Juni 2016 fest, genda und soll ein starkes Management der EU-Aussen-
dass die Richtlinie über die Rückführung illegal aufhäl- grenzen gewährleisten. Die Bestrebungen zielen darauf
tiger Drittstaatsangehöriger («Rückführungsrichtlinie») ab, die Schwächen von Frontex, welche in der aktuellen
es verbietet, einer Drittstaatsangehörigen vor der Ein­ Flüchtlingskrise zutage traten, zu überwinden. Der
leitung eines Rückkehrverfahrens allein deshalb eine Grenz- und Küstenschutz wird aus einer aus Frontex
Freiheitsstrafe zu verhängen, weil sie illegal in das Ho- hervorgehenden europäischen Agentur und den für das

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Grenzmanagement zuständigen Behörden der Mitglied- Eine unterstützende Rolle kann die EU gemäss der
staaten bestehen. Mitteilung der Kommission übernehmen, indem sie ihre
Die Grenzschutzbehörden der Mitgliedstaaten sollen Politikbereiche, ihre Koordinierungskapazität und ihre
ihre Zuständigkeiten für den Grenzschutz beibehalten Finanzinstrumente mobilisiert, um Aktionen in den Mit­
und die Verwaltung der Grenzen im Alltag sicherstellen. gliedstaaten zu stärken. Das vorgeschlagene Massnah-
Die Agentur soll die Mitgliedstaaten als Expertenorgani- menpaket der Kommission erstreckt sich über sieben
sation bei der Vorauserkennung und Beseitigung von spezifische Bereiche: Forschung, terroristische Propaganda
Schwachstellen unterstützen. Ferner soll sie, wie bisher, im Internet, Radikalisierung in Strafanstalten, Bildung,
im Krisenfall den nationalen Behörden unterstützend widerstandsfähige Gesellschaft (insbesondere junge
beistehen und intervenieren. Weiter wird die Agentur Menschen), Sicherheit sowie internationale Zusammen-
mit einem Mandat für die Zusammenarbeit mit Dritt- arbeit.
staaten ausgestattet – dies beinhaltet auch Einsätze aus- Zu den in der Mitteilung definierten Leitaktionen für
serhalb der EU. Sie soll eine stärkere Rolle bei der Rück- die sieben Bereiche gehören beispielsweise ein Vorschlag
führung von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zur Änderung des Schengener Informationssystems bis
bekommen und schliesslich auch Risikobewertungen Ende 2016, um dessen Mehrwert für Zwecke der Terroris-
vor- und Überwachungsaufgaben wahrnehmen, wobei musbekämpfung zu erhöhen, die Verbesserung der Wirk-
dies auch Terrorismusprävention beinhaltet. samkeit und Durchsetzbarkeit von Verhaltenskodizes
Die Agentur kann einerseits auf Bestreben der je- von Videoplattformen zur Bekämpfung illegaler Hassre-
weiligen Mitgliedstaaten aktiv werden. In dringlichen den im Internet oder die Entwicklung einer gemeinsamen
Fällen — wenn der Mitgliedstaat nicht aktiv werden kann Meldeplattform im Rahmen des gegen terroristische Web­
oder will — kann die Agentur andererseits als ultima inhalte eingerichteten EU-Internetforums. Zudem soll
ratio aber auch von sich aus tätig werden. Ihr steht dazu das europäische Exzellenzzentrum des Aufklärungs-
ein Reservepool an rasch mobilisierbaren Grenzschutz- netzwerks gegen Radikalisierung (RAN) die Mitglied-
beamten und technischer Ausrüstung zur Verfügung, staaten bei der Konzeption und Umsetzung wirksamer
auf welchem die Agentur bei Bedarf zugreifen kann. Die Präventivarbeit unterstützen.
Agentur soll auf mindestens 1500 Experten zurückgrei-
fen können, die in weniger als 3 Tagen einsatzbereit sein KOM (2016) 379 endg.
sollen. Bis 2020 sollen ferner mindestens 1000 ständige Vom 14. Juni 2016. (TN)
Mitarbeiter für die Agentur arbeiten.
Vorgesehen ist, dass die neue Agentur bereits im
Sommer 2016 ihre Arbeit aufnimmt. Nach der Zustim-
mung im Europäischen Parlament steht noch die An-
Vorschlag zur Reform der
nahme des finalen Textes durch den Rat aus. ­Geldwäscherichtlinie

IP/16/2292 vom 22. Juni 2016; KOM (2015) 671, endg. Die Kommission hat einen Vorschlag angenommen,
vom 15. Dezember 2015. (DI) um die vierte Geldwäscherichtlinie (EU) 2015/849 und
deren Vorschriften zur Bekämpfung von Geldwäsche
und Terrorismusfinanzierung weiter zu stärken und die
Transparenz in Bezug auf die tatsächlichen Eigentümer
von Gesellschaften und Trusts zu steigern. Dieser Vor-
Weiteres Massnahmenpaket zur schlag ist die erste Initiative zur Umsetzung des Akti-
­Prävention von Radikalisierung onsplans für ein intensiveres Vorgehen gegen Terroris-
musfinanzierung, eine der Prioritäten der Kommission
In einer Mitteilung schlägt die Kommission weitere Juncker, und ebenso Teil der umfassenden Bemühungen
Massnahmen vor, wie die EU den Mitgliedstaaten bei der zur Förderung von Transparenz im Steuerbereich.
Prävention von Radikalisierung und extremistisch moti- Im Gebiet der Bekämpfung von Terrorismusfinan-
vierter Gewalt zur Seite stehen kann. Für das Vorgehen zierung und Geldwäsche umfasst der Kommissionsvor-
gegen Radikalisierung und Gewaltbereitschaft, die zu schlag Massnahmen zur Stärkung der Befugnisse der
Terrorismus führen, sind vor allem die Mitgliedstaaten Zentralstellen für Geldwäsche-Verdachtsanzeigen (Fi-
zuständig. Terrorismus stellt aber ein grenzüberschrei- nancial Intelligence Units) der EU, zur Verhinderung des
tendes Problem dar. Deswegen unterstützt die EU seit Missbrauchs virtueller Währungen, zur Einschränkung
2005 im Rahmen ihrer Strategie zur Bekämpfung von anonymer Zahlungen mittels Zahlungsinstrumenten auf
Radikalisierung und Anwerbung für den Terrorismus die Guthabenbasis (wie Prepaid-Karten) sowie zur Harmo-
Arbeit der Mitgliedstaaten in diesem Bereich. nisierung der Kontrollen bei Ländern, deren Systeme

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zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfi- ren), die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder
nanzierung Mängel aufweisen. beschuldigt werden, vorgesehen. Diese gehen über die-
Banken und Zahlungsinstitute fallen bereits in den jenigen Garantien, die bereits für verdächtige und be-
Geltungsbereich der vierten Geldwäscherichtlinie. Um schuldigte Erwachsene gelten, hinaus.
den Missbrauch virtueller Währungen zur Geldwäsche Eine Kernbestimmung der Richtlinie betrifft die Un-
und Terrorismusfinanzierung zu verhindern, schlägt die terstützung durch einen Rechtsbeistand. Die Mitglied-
Kommission vor, Umtausch-Plattformen für virtuelle staaten werden dazu angehalten, sicherzustellen, dass
Währungen und Anbieter von elektronischen Geldbör- verdächtige oder beschuldigte Kinder von einem Rechts-
sen ebenfalls in den Geltungsbereich der Richtlinie ein- beistand unterstützt werden, indem ihnen erforderli-
zubeziehen. Damit müssten diese Einrichtungen künftig chenfalls Prozesskostenhilfe gewährt wird. Dies gilt
ihre Kunden im Zuge der ihnen auferlegten Sorgfalts- nicht, wenn die Unterstützung durch einen Rechtsbei-
pflichten kontrollieren. So würde der Anonymität dieser stand unter Berücksichtigung der Umstände als nicht
Transaktionen ein Ende gesetzt. verhältnismässig erscheint.
Weiter schlägt die Kommission eine Senkung der Weitere wichtige Bestimmungen betreffen die Be-
Schwellenbeträge für anonyme Zahlungen mittels Prepaid- lehrung über die Rechte sowie das Recht auf eine indivi-
Karten (und ähnlichen Zahlungsinstrumenten) von 250 duelle Begutachtung, eine medizinische Untersuchung
auf 150 Euro und strengere Anforderungen an die Über- und die audiovisuelle Aufzeichnung der Befragung. Fer-
prüfung der Kunden solcher Zahlungsinstrumente vor. ner sind spezielle Garantien für Kinder während des
Laut Kommission würde dabei der Grundsatz der Verhält- Freiheitsentzugs, insbesondere während einer Inhaftie-
nismässigkeit berücksichtigt, was insbesondere in Hin- rung, vorgesehen.
blick auf die Verwendung dieser Karten durch finanz- Die Mitgliedstaaten haben drei Jahre Zeit, um die
schwache Personen wichtig ist. Bestimmungen der Richtlinie in ihr nationales Recht
Im Gebiet der Steuervermeidung umfasst der Kom- umzusetzen. Dänemark, das Vereinigte Königreich und
missionsvorschlag Massnahmen zur Veröffentlichung von Irland beteiligen sich nicht an der Richtlinie und werden
Registern wirtschaftlicher Eigentümer in den Mitglied- daher nicht von den neuen Bestimmungen gebunden
staaten, zur Verknüpfung dieser Register zwischen den sein.
Mitgliedstaaten sowie zur Ausweitung der Kontrollen Der Erlass der Richtlinie erfolgt im Rahmen eines
auf passive Gesellschaften und Trusts. Die Panama Pa- Stufenplans für die Einführung eines umfassenden Ka-
pers zeigten klar auf, dass zur Steuervermeidung kom- talogs von Verfahrensrechten für Verdächtige oder Be-
plexe Eigentumsverhältnisse konstruiert werden. Die schuldigte in Strafverfahren, den der Rat am 30. No-
genannten Massnahmen stellen Massnahmen zur Lö- vember 2009 verabschiedet hat.
sung dieser Probleme dar.
ABl. L 132
KOM (2016) 450 endg. vom 21. Mai 2016, S. 1. (CR)
vom 5. Juli 2016. (TN)

Bericht zur Umsetzung


des ­Rahmenbeschlusses zur
Strafrecht organisierten ­Kriminalität

Am 7. Juli 2016 hat die Europäische Kommission einen


Neue Richtlinie stärkt die Rechte von Bericht über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses
­Kindern im Strafverfahren (2008/841/JI) zur Bekämpfung der organisierten Krimi-
nalität veröffentlicht. Zweck des Rahmenbeschlusses
Das Europäische Parlament und der Rat haben die war es, die Gesetzgebung zur organisierten Kriminalität
Richtlinie 2016/800 vom 11. Mai 2016 über Verfahrensga- in den Mitgliedstaaten zu harmonisieren, um Straftaten
rantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige in Verbindung mit kriminellen Vereinigungen zu krimi-
oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, er- nalisieren, Sanktionen festzulegen und den Kampf
lassen. Die Richtlinie wurde am 21. Mai 2016 im Amts- gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität
blatt veröffentlicht und trat am 11. Juni 2016 in Kraft. zu verbessern. Der Rahmenbeschluss ist Teil der von der
In der neuen Richtlinie sind eine Reihe von Verfah- Kommission beschlossenen europäischen Sicherheitsa-
rensgarantien für Kinder (d.h. Personen unter 18 Jah- genda, welche das Vertrauen unter den Mitgliedstaaten

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stärken, die vorhandenen Instrumente für den Informa- (1103) und der güterrechtlicher Wirkungen eingetrage-
tionsaustausch besser ausschöpfen und die Zusammen- ner Partnerschaften (1104), erlassen. Die Verordnungen
arbeit der Behörden verbessern soll. wurden am 8. Juli 2016 im Amtsblatt veröffentlicht.
Bei der Umsetzung hat sich die Mehrheit der Mitglied- Die Verordnungen finden Anwendung auf Güter-
staaten für die Einführung eines eigenständigen Straftat- stände mit grenzüberschreitendem Bezug und sollen
bestandes entschlossen. Das Vereinigte Königreich, das verhindern, dass in verschiedenen Mitgliedstaaten bei
sich für ein opt-out entschieden hat, hat den Beschluss Scheidungen oder Trennungen parallele und möglicher-
nicht umgesetzt; Dänemark und Schweden sehen bei weise konkurrierende Gerichtsverfahren zu güterrecht-
Taten, die von mehreren Personen begangen werden, er- lichen Fragen, beispielsweise über die Aufteilung von
schwerende Umstände vor, aber keinen eigenständigen Immobilien oder Bankkonten, geführt werden. Es wird
Tatbestand. In den übrigen Mitgliedstaaten bestehen bei festgelegt, welches nationale Gericht dafür zuständig ist,
der Umsetzung Unterschiede, welche auf die jeweiligen Ehegatten und Lebenspartnern mit internationalem
Rechtstraditionen zurückzuführen sind. Insgesamt stellt Hintergrund zu helfen, ihr Vermögen zu verwalten oder
die Kommission fest, dass eine Vielzahl der Mitglied- im Falle von Scheidung, Trennung oder Tod aufzuteilen.
staaten bei der Umsetzung über die Mindestanforde­ Zudem klären die Verordnungen, welches Recht anzu-
rungen hinausgegangen ist: beispielsweise sind Mass- wenden ist, wenn in einer Sache das Recht mehrerer
nahmen gegen Straftaten vorgesehen, die nicht Teil Länder in Betracht kommt. Schliesslich sollen die neuen
des Rahmenbeschlusses sind, oder Tatbestände, die Vorschriften die Anerkennung und Vollstreckung eines
­kei­ne Vorteilnahme voraussetzen. Obwohl der Rahmen­ in einem Mitgliedstaat ergangenen Urteils in Fragen des
beschluss dazu keine Pflicht vorsah, haben sämtliche Güterrechts in einem anderen Mitgliedstaat erleichtern.
Mitgliedstaaten Möglichkeiten der Strafmilderung ein- Da es den 28 Mitgliedstaaten nicht gelungen war, die
geführt. für die Annahme der erstmals 2011 vorgelegten Vor-
Die Kommission ist der Ansicht, dass keine genügende schläge erforderliche Einstimmigkeit im Rat zu erzielen,
Mindestangleichung erreicht wurde, was zu Unterschie- haben 18 Mitgliedstaaten eine Verstärkte Zusammenar-
den in der Praxis führen kann. Als nächster Schritt wird beit gemäss Art. 331 AEUV zum Erlass dieser Rechtsvor-
die Kommission daher auf bilateraler Ebene die Mitglied- schriften beantragt, zu der sie mit Ratsbeschluss (EU)
staaten im Rahmen der europäischen Sicherheitsagenda 2016/954 vom 9. Juni 2016 ermächtigt wurden.
dabei unterstützen, ihre Gesetzgebung mit dem Rah- Die nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten werden in
menbeschluss in Einklang zu bringen. Dabei wird sie, grenzüberschreitenden Güterrechtssachen weiterhin ihr
sofern notwendig, auch von den im Rahmen der Ver- nationales Recht (einschliesslich des internationalen
träge vorgesehenen Durchsetzungsbefugnissen Gebrauch Privatrechts) anwenden. Sie können sich der Verstärk-
­machen. ten Zusammenarbeit jedoch jederzeit anschliessen.

KOM (2016) 448 endg. ABl. L 183


von 7. Juli 2016. vom 8. Juli 2016, S. 1 und S. 30. (CR)

Internationales Privat- Europäisches


und Verfahrensrecht ­Zivilprozessrecht
Neue Verordnungen zur Stärkung Verordnungsvorschlag zur Verbesserung
der ­Zusammenarbeit bei der Klärung des des Schutzes von Kindern in
­Güterrechts internationaler Paare ­grenzüberschreitenden Familiensachen

Das Europäische Parlament und der Rat haben am Die Kommission hat am 30. Juni 2016 einen Vorschlag
24. Juni 2016 die beiden Verordnungen (EU) 2016/1103 zur Verbesserungen der EU-Vorschriften zum Schutz
und 2016/1104 zur Durchführung einer verstärkten Zu- von Kindern im Zusammenhang mit grenzüberschrei-
sammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzu- tenden Verfahren betreffend die elterliche Verantwor-
wenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung tung in Bezug auf Sorgerecht, Umgangsrecht und Kin-
von Entscheidungen in Fragen des ehelichen Güterstands desentführung vorgelegt. Der Vorschlag ist eine Folge

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der 2014 durch die Kommission vorgenommenen Be-
wertung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates
Grundrechte
vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in EUGH/Generalanwältin Kokott:
Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche
Verantwortung («Brüssel-IIa-Verordnung»), welche
­Kopftuchverbot
den Eckpfeiler der justiziellen Zusammenarbeit der EU in Unternehmen zulässig
in Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche
Verantwortung bildet. Die Generalanwältin Juliane Kokott vertritt in ihren
Die neuen Vorschriften sehen Vereinfachungen und Schlussanträgen die Ansicht, dass ein Kopftuchverbot in
Beschleunigungen der Rechts- und Verwaltungsverfah- einem Unternehmen mit EU-Recht vereinbar ist. Im
ren in grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten in Ausgangsfall hatte eine muslimische Mitarbeiterin in der
Familiensachen vor. Zudem legen sie mehr Gewicht auf Rezeption eines Unternehmens ihren Arbeitgeber auf
die Berücksichtigung des Kindeswohls. Schadenersatz verklagt. Dieser hatte ihr gekündigt, als
Die wichtigsten Änderungen können wie folgt zu- die Mitarbeiterin darauf bestand, mit einem Kopf-
sammengefasst werden: Steigerung der Effizienz bei tuch zur Arbeit erscheinen zu dürfen. Die belgischen
Verfahren in Fällen grenzüberschreitender elterlicher Gerichte, die mit dem Fall befasst wurden, lehnten ihr
Kindsentführung (Verkürzung der Fristen bei der Kinds- Begehren ab, ehe der Kassationshof den EuGH um Kon­
rückgabe auf eine maximale Gesamtdauer von 18 Wochen, kretisierung des unionsrechtlichen Verbots der Dis­kri­
Limitierung der Rechtsmittel bei Entscheiden über die minierung aufgrund Religion oder Weltanschauung bat.
Kindsrückgabe, Begrenzung der Zuständigkeit auf Ge- Die Generalanwältin kam in ihren Schlussanträgen nun
richte, die die nötige Fachkompetenz aufweisen kön- zum Schluss, dass in casu keine unmittelbare Diskrimi-
nen); Ausweitung der Kindsanhörung (insbesondere auf nierung vorliege. So sei das Verbot auf eine allgemeine
Verfahren über das Sorge- und Umgangsrecht und über Betriebsregelung gestützt, die das Tragen sichtbarer,
die Kindsrückgabe bei Fällen elterlicher Kindsent­ politischer und religiöser Zeichen am Arbeitsplatz ver-
führung); Beschleunigung der Vollstreckung von Ent- biete, und nicht etwa auf Vorurteilen gegenüber einer
scheidungen in anderen Mitgliedstaaten (u.a. durch Ab- bestimmten religiösen Gruppe. Kokott hält fest, dass
schaffung des Exequaturverfahrens); Verbesserung der eine mittelbare Diskriminierung der Frau aufgrund der
Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitglied- Religion vorliegen könnte, weil faktisch muslimische
staaten; Verminderung der Verfahrenskosten (u.a. durch Frauen durch ein solches Verbot besonders betroffen
Ermunterung, Mediation in Anspruch zu nehmen). sind, doch sei diese Einschränkung erforderlich, um eine
Die Vorschläge der Kommission werden nun dem vom Arbeitgeber gewollte und legitime Politik der reli-
Rat vorgelegt. Der Beschluss wird gemäss dem besonde- giösen und weltanschaulichen Neutralität durchzuset-
ren Gesetzgebungsverfahren für justizielle Zusammen- zen. Dabei gelte es jedoch, die Verhältnismässigkeit zu
arbeit in Familiensachen (Art. 81 Abs. 3 AEUV) einstim- berücksichtigen. Die Interpretation des besagten Prin-
mig im Rat gefasst, und das Europäische Parlament wird zips im Einzelfall soll gemäss Kokott von der belgischen
zu den Vorschlägen angehört werden. Instanz vorgenommen werde, die hierbei über einen ge-
wissen Spielraum verfüge. Insoweit machte die General-
KOM (2016) 411/2 endg. anwältin klar, dass der Einhaltung der Verhältnismäs-
vom 30. Juni 2016. (CR) sigkeit in diesem Fall genügend Rechnung getragen
worden sei. So sei das Verbot geeignet, um das vom Ar-
beitgeber genannte Ziel der religiösen und weltanschau-
lichen Neutralität zu wahren. Auch sei das Verbot erfor-
derlich, um diesen Zweck zu erreichen, wobei eine
mildere Massnahme nicht ersichtlich sei. Im Resultat
beeinträchtige das Verbot gemäss Kokott die Frau nicht
übermässig, weshalb es mit EU-Recht vereinbar sei.

Schlussanträge der Generalanwältin


in der Rechtssache C-157/15,
vom 31. Mai 2016. (JR)

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