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Sozialstruktur
und soziale Lagen
Auszug aus dem
Datenreport 2021

Die Inhalte des Datenreports werden unter der Creative Commons Lizenz
»CC BY-NC-ND 4.0 – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 4.0« veröffentlicht.
Sozialstruktur und
soziale Lagen
Probleme der sozialen Ungleichheit und men« fühlen. Vor diesem Hintergrund
8.1 der Verteilung des gesellschaftlichen wird in diesem Kapitel die ungleiche Ver-
Soziale Lagen Wohlstands sind regelmäßig Thema in der
­öffentlichen Debatte. Während sich die
teilung der Lebenschancen zwischen ver-
schiedenen Bevölkerungsgruppen in der
und soziale wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik gesellschaftlichen Statushierarchie be-
Schichtung* insgesamt positiv entwickelt hat, kommt
dies nicht allen Menschen gleichermaßen
trachtet. Dabei steht die Frage im Mittel-
punkt, inwieweit sich die Sozialstruktur
* Überarbeitung der Version, die 2013 von
Roland Habich erstellt wurde. zugute. Die soziale Ungleichheit nimmt und die damit einhergehenden Lebensbe-
zu. Die Zahl der Menschen, die armutsge- dingungen in West- und Ostdeutschland
fährdet sind, stieg in den vergangenen 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung
Mareike Bünning
Jahren tendenziell an (siehe Kapitel 6.2.2, immer noch unterscheiden. u Info 1
Wissenschaftszentrum Berlin
Seite 224, und 6.3.2, Seite 232) und die
für Sozialforschung (WZB)
Schere zwischen Arm und Reich geht weiter 8.1.1 Soziale Lagen in Deutschland
auseinander. Im öffentlichen ­Diskurs wird Im Folgenden wird ein übergreifendes
WZB / SOEP vielfach die Sorge geäußert, dass damit Bild der Sozialstruktur der Bundesrepu­
auch eine emotionale Komponente einher- blik präsentiert, das auf die Konzepte der
geht und sich insbesondere in Ostdeutsch- sozialen Lagen und der subjektiven
land immer mehr Menschen abgehängt Schichteinstufung zurückgreift. Für die
beziehungsweise nicht mehr »mitgenom- Unterscheidung von sozialen Lagen wird

u Info 1
Soziale Lagen und soziale Schichten
Konzepte wie soziale Lagen und soziale Schichtung beziehen sich auf die vertikale Gliederung der
­ esellschaft und werden zur Analyse von Strukturen sozialer Ungleichheit verwendet. Damit können die
G
Positionen von Personen in einer Statushierarchie erfasst werden. Demnach ergeben sich aufgrund
materieller Lebensbedingungen verschiedene typische Erwerbs- und Lebenschancen, die sich in einer
sozialen Lage oder sozialen Schicht verdichten. Unterschiedliche soziale Lagen und soziale Schichten
bieten also unterschiedliche und ungleich verteilte Lebensgestaltungschancen.

Soziale Schichtung bezeichnet generell eine strukturelle Ungleichheit zwischen sozialen Positionen,
die sich zum Beispiel in Einkommens-, Prestige- und Einflussdifferenzen ausdrückt. Das Konzept der
sozialen Lagen bezieht neben klassischen Ungleichheitsdimensionen wie dem Erwerbsstatus weitere
Indikatoren objektiver und subjektiv wahrgenommener Lebensbedingungen mit in eine multidimen­
sionale Analyse sozialer Ungleichheit ein. Zunächst werden soziale Lagen nach dem Erwerbsstatus
­beziehungsweise Status der Nichterwerbstätigkeit unterschieden. Anschließend werden die sozialen
Lagen in Bezug auf objektive Merkmale wie dem Einkommen und subjektive Merkmale wie der Lebens-
zufriedenheit verglichen.

271
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.1 / Soziale Lagen und soziale Schichtung

u Abb 1 Soziale Lagen in Ost- und Westdeutschland 2018 — in Prozent

Frauen Männer

2 leitende Angestellte, 3
2 höhere Beamtenschaft 3

hoch qualifizierte
14 18
Angestellte, gehobene
11 10
Beamtenschaft

19 qualifizierte Angestellte, 11
18 mittlere Beamtenschaft 9

5 einfache Angestellte, 2
6 Beamtenschaft 2

0 Meister/-innen, 3
0 Vorarbeiter/-innen 4

1 7
Facharbeiter/-innen
5 15

3 un-, angelernte 4
2 Arbeiter/-innen 3

4 Selbstständige, 8
2 freie Berufe 6

2 2
Arbeitslose
3 3

6 Hausfrauen / 0
1 -männer 0

7 7
Studium, Lehre
4 5

1 1
Vorruhestand
2 2

6 3
nicht erwerbstätig
5 2 bis 60 Jahre

5 noch ab 61 Jahren
5
5 erwerbstätig 5

0 noch nie 0
0 erwerbstätig 0

Rentner/-innen
5 6
(ehemalige
9 Arbeiter/-innen) 14

Rentner/-innen
18 15
(ehemalige Angestellte,
24 Beamte) 15

Rentner/-innen
3 4
(ehemalige
2 Selbstständige) 2

Frauen West Männer West


Frauen Ost Männer Ost

Datenbasis: ALLBUS 2018

272
Soziale Lagen und soziale Schichtung / 8.1 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

u Tab 1 Soziale Lagen in Ost- und Westdeutschland 1990 / 1991 und 2018 — in Prozent
West Ost West Ost
Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen
1990 1991 2018

bis 60 Jahre
Leitende Angestellte , höhere Beamtenschaft 3 1 2 1 3 2 3 2
Hoch qualifizierte Angestellte ,
16 7 13 14 18 14 10 11
gehobene Beamtenschaft
Qualifizierte Angestellte , mittlere Beamtenschaft 11 14 5 22 11 19 9 18
Einfache Angestellte , Beamtenschaft 3 8 4 9 2 5 2 6
Meister /-innen, Vorarbeiter /-innen 4 0 10 2 3 0 4 0
Facharbeiter /-innen 15 1 28 10 7 1 15 5
Un-, angelernte Arbeiter /-innen 4 2 3 2 4 3 3 2
Selbstständige, freie Berufe 8 4 7 5 8 4 6 2
Arbeitslose 2 2 7 10 2 2 3 3
Hausfrauen / -männer 0 25 0 3 0 6 0 1
Studium, Lehre 11 5 3 1 7 7 5 4
Vorruhestand 2 2 4 7 1 1 2 2
Nicht erwerbstätig 1 5 0 0 3 6 2 5
ab 61 Jahren
Noch erwerbstätig 3 1 3 1 5 5 5 5
Noch nie erwerbstätig 0 6 0 1 0 0 0 0
Rentner /-innen (ehemalige Arbeiter /-innen) 3 5 2 4 6 5 14 9
Rentner /-innen (ehemalige Angestellte, Beamte) 10 11 8 10 15 18 15 24
Rentner /-innen (ehemalige Selbstständige) 4 2 2 2 4 3 2 2

Datenbasis: ALLBUS 1980–2012 kumuliert; ALLBUS 2018

die erwachsene Bevölkerung nach Alter stattfanden, brachten weitreichende Kon- land weiter verbreitet als in Ostdeutsch-
(bis 60 Jahre, ab 61 Jahren) sowie nach sequenzen für die Sozialstruktur mit sich. land. Angesichts des demografischen
ihrer Stellung zum und im Erwerbsleben Während sich die DDR als vollbeschäftigte Wandels nahm der Anteil an Rentnerin-
aufgegliedert. Daraus ergeben sich insge- Arbeitsgesellschaft charakterisieren ließ, nen und Rentnern im Vergleich zu 1990
samt 18 soziale Lagen von Erwerbstätigen folgten für einen erheblichen Teil der deutlich zu.
und Nichterwerbstätigen, die zunächst ehemals Erwerbstätigen im Verlauf der In beiden Landesteilen dominieren
für Männer und Frauen getrennt dar­ gesellschaftlichen Transformation nach unter den Erwerbstätigen die Angestellten
gestellt werden. Im Blickpunkt dieses der deutschen Vereinigung ungewollte sowie Beamtinnen und Beamten. Wäh-
­K apitels steht die Sozialstruktur im Jahr Lebensphasen in Arbeitslosigkeit, Vor­ rend die alte Bundesrepublik bereits über
2018 in West- und Ostdeutschland. ruhestand und Hausfrauenrolle. Im Zeit- einen längeren Zeitraum als eine »Ange-
Durch den Vergleich mit dem Jahr 1990 verlauf näherten sich die Beschäftigungs- stelltengesellschaft« bezeichnet wurde,
können zudem die Richtung des sozialen strukturen in Ostdeutschland denen in löste sich die ausgeprägte »Facharbeiter­
Wandels insgesamt sowie insbesondere Westdeutschland an. gesellschaft« der damaligen DDR weit­
die sozialstrukturellen Veränderungen in Die Sozialstruktur Westdeutschlands gehend auf, wenngleich bei den Männern
Ostdeutschland in der Zeit seit der deut- veränderte sich im Vergleich dazu seit Facharbeiterpositionen immer noch stär-
schen Vereinigung betrachtet werden. 1990 nur leicht. Die größte Ausnahme ker und Angestellten­positionen weniger
Dabei richtet sich das Interesse vor allem stellt die gestiegene Beteiligung von verbreitet sind als in Westdeutschland.
darauf, inwieweit soziale Lagen einerseits ­Frauen am Erwerbsleben dar: Der Anteil Je nach sozialer Lage bieten sich unter-
mit objektiven Lebensbedingungen ein- der Hausfrauen ging seit 1990 um drei schiedliche Chancen zur Lebensgestal-
hergehen und andererseits mit subjekti- Viertel zurück. Parallel dazu stieg der tung. Die Ungleichheit in den objektiven
ven Wahrnehmungen und Bewertungen Anteil von Frauen in qualifizierten und Lebensbedingungen, die sich aus der Zu-
verbunden sind. u Abb 1, Tab 1 hoch qualifizierten Angestelltenpositio- gehörigkeit zu den hier unterschiedenen
Die massiven Umwälzungen, die nach nen deutlich an. Die Hausfrauenrolle ist sozialen Lagen ergibt, äußert sich unter
1990 auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt aber auch heute noch in Westdeutsch- anderem in Einkommensunterschieden,

273
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.1 / Soziale Lagen und soziale Schichtung

u Tab 2 Indikatoren der objektiven Lebensbedingungen in Ost- und Westdeutschland nach sozialen Lagen 2018 — in Prozent
Eigene wirtschaft-
Quintile des Haushaltseinkommens pro Kopf ¹ Wohneigentum ²
liche Lage
West Ost ist sehr gut / gut
West Ost
unterstes mittleres oberstes unterstes mittleres obestes West Ost

bis 60 Jahre
Leitende Angestellte, höhere Beamtenschaft 0 12 56 0 24 19 57 69 88 81
Hoch qualifizierte Angestellte,
3 13 42 3 18 35 59 61 86 89
gehobene Beamtenschaft
Qualifizierte Angestellte, mittlere Beamtenschaft 8 25 20 14 29 11 59 61 77 79
Einfache Angestellte, Beamtenschaft 27 18 10 33 33 5 44 44 58 53
Meister /-innen, Vorarbeiter /-innen 8 21 15 0 41 9 65 75 85 83
Facharbeiter /-innen 6 30 9 19 34 2 60 53 58 62
Un-, angelernte Arbeiter /-innen 31 24 1 32 27 5 35 42 50 46
Selbstständige, freie Berufe 10 12 39 18 15 44 65 66 65 84
Arbeitslose 77 15 0 90 3 0 27 19 18 9
Hausfrauen / -männer 24 18 6 / / / 52 / 59,7 /
Studium, Lehre 49 15 4 47 23 0 42 33 60 65
Vorruhestand 18 23 18 43 29 5 70 52 43 19
Nicht erwerbstätig 61 12 2 60 9 0 41 32 48 53

ab 61 Jahren
Noch erwerbstätig 12 17 40 13 19 25 76 76 75 66
Rentner /-innen (ehemalige Arbeiter /-innen) 36 16 1 43 12 0 60 52 72 54
Rentner /-innen (ehemalige Angestellte, Beamte) 14 22 23 16 31 5 73 53 83 80
Rentner /-innen (ehemalige Selbstständige) 30 11 11 44 28 0 81 64 70 64

1 Bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen pro Kopf. Zu Quintilen siehe Kapitel 6.2, Seite 223, Info 4.
2 Anteil der Personen, die angaben, dass sie im eigenen Haus / in der eigenen Wohnung (auch Familienbesitz) wohnen.
/ Fallzahl zu gering.
Datenbasis: ALLBUS 2018

im allgemeinen Lebensstandard – zum in Ost- und Westdeutschland, zeigt sich, Die ungleichen materiellen Verhältnis-
Beispiel gemessen am Wohneigentum – dass Ostdeutsche in nahezu allen sozia- se, die mit diesen sozialen Lagen verbun-
sowie in der Bewertung der eigenen wirt- len Lagen gegenüber Westdeutschen den sind, spiegeln sich auch in der subjek-
schaftlichen Lage. Dabei zeigt sich, dass deutlich schlechter gestellt waren. Ledig- tiven Beurteilung der eigenen wirtschaftli-
mit einer höheren Position in der hierar- lich bei un- und angelernten Arbeiterin- chen Situation wider. Während Personen
chischen Gesellschaftsstruktur erwar- nen und Arbeitern, Selbstständigen und in privilegierten sozialen Lagen ihre wirt-
tungsgemäß auch eine vorteilhaftere Nichterwerbstätigen gab es nur geringe schaftliche Situation vorwiegend als »sehr
­materielle Situation verbunden ist. Hoch Unterschiede zwischen den beiden Landes- gut« oder »gut« bewerteten, fiel die Bewer-
qualifizierte oder leitende Angestellte teilen. u Tab 2 tung bei Personen in schlechteren sozialen
und Beamte sowie Selbstständige befan- Wohneigentum verdeutlicht als re­ Lagen erwartungsgemäß weniger günstig
den sich überdurchschnittlich oft im obe- levanter Indikator für den allgemeinen aus. Erneut besteht zwischen Arbeitslosen
ren Segment der Einkommensverteilung, Lebensstandard, dass mit den differen- und allen anderen sozialen Lagen eine
während die Zugehörigkeit zu Arbeiter- zierten sozialen Lagen auch Unterschiede deutliche Kluft. In Ostdeutschland be-
positionen eher mit einem mittleren oder in den Möglichkeiten der Ressourcen­ werteten darüber hinaus auch Personen
niedrigen Einkommen verbunden war. verwendung einhergehen: In Ost- und im Vorruhestand ihre wirtschaftliche
Am schlechtesten war es um die Einkom- Westdeutschland fanden sich unterdurch- Lage nur selten als »sehr gut« oder »gut«.
menssituation von Arbeitslosen bestellt; schnittliche Eigentümerquoten bei wenig Die subjektive Beurteilung des eigenen
diese fanden sich insbesondere in Ost- qualifizierten Arbeiterinnen und Arbei- Anteils am allgemeinen Lebensstandard
deutschland nahezu ausschließlich im tern, Angestellten und Beamten, bei Stu- als »gerecht« (beziehungsweise »unge-
untersten Einkommensquintil wieder. dierenden, Nichterwerbstätigen und vor recht«) variiert ebenfalls nach sozialer
Vergleicht man die finanzielle Situation allem bei Arbeitslosen. Lage. Es zeigt sich, dass vor allem Arbeits-

274
Soziale Lagen und soziale Schichtung / 8.1 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

u Tab 3 Indikatoren der subjektiven Wohlfahrt in Ost- und Westdeutschland nach sozialen Lagen 2018
Einstufung Allgemeine Bei dieser
Gerechter Anteil
auf der Oben- Lebens- Zukunft keine
am Lebensstandard ¹
Unten-Skala ² zufriedenheit ³ Kinder mehr ⁴
West Ost West Ost West Ost West Ost
in % Durchschnittswert Durchschnittswert in %

bis 60 Jahre
Leitende Angestellte, höhere Beamtenschaft 84 76 7,4 6,8 8,4 8,1 12,3 28,0
Hoch qualifizierte Angestellte,
80 72 7,1 7,1 8,2 8,4 18,8 24,8
gehobene Beamtenschaft
Qualifizierte Angestellte, mittlere Beamtenschaft 70 53 6,5 6,5 7,9 7,8 29,1 32,4
Einfache Angestellte, Beamtenschaft 47 30 5,9 5,8 7,5 7,1 49,4 48,9
Meister /-innen, Vorarbeiter /-innen 59 58 6,3 6,9 7,6 7,9 43,9 47,8
Facharbeiter /-innen 55 19 5,8 5,8 7,6 7,3 45,7 58,3
Un-, angelernte Arbeiter /-innen 42 31 5,7 5,4 7,6 6,5 51,3 52,0
Selbstständige, freie Berufe 75 70 6,8 6,9 7,7 8,3 19,1 27,3
Arbeitslose 44 16 4,6 4,5 6,2 5,1 62,2 70,0
Hausfrauen / -männer 56 / 6,1 / 7,9 / 37,7 /
Studium, Lehre 76 75 6,5 6,5 8,0 7,9 26,1 20,0
Vorruhestand 54 33 5,5 4,4 5,9 5,6 44,4 42,9
Noch nie / nicht erwerbstätig 54 41 5,5 5,3 7,0 7,2 40,9 41,7
ab 61 Jahren
Noch erwerbstätig 70 32 6,8 6,3 7,9 7,6 17,2 39,2
Rentner /-innen (ehemalige Arbeiter /-innen) 61 30 5,7 5,8 7,9 7,2 51,2 56,5
Rentner /-innen (ehemalige Angestellte, Beamte) 73 58 6,6 6,2 8,2 7,9 21,3 37,9
Rentner /-innen (ehemalige Selbstständige) 74 36 6,6 5,6 8,4 7,1 16,7 47,6

1 Anteil »gerecht /mehr als gerecht«.


2 Mittelwerte auf der Oben-Unten-Skala von 1 bis 10.
3 Mittelwerte auf Zufriedenheitsskala von 0 bis 10.
4 Zustimmung zur Aussage »So wie die Zukunft aussieht, kann man es kaum noch verantworten, Kinder auf die Welt zu bringen.«
/ Fallzahl zu gering.
Datenbasis: ALLBUS 2018

lose, aber auch Personen in einfachen Ar- schaft, wie an der Selbsteinstufung auf drei Skalenpunkte. In den meisten sozia-
beiter- oder Angestelltenpositionen sowie der »Unten-oben-Skala« (1 bis 10) abzu­ len Lagen stuften sich Ostdeutsche und
Facharbeiterinnen und Facharbeiter in lesen ist. Am höchsten ordneten sich er- Westdeutsche ähnlich ein. Insbesondere
Ostdeutschland seltener als andere einen wartungsgemäß leitende und höhere Personen im Vorruhestand und ehema­
gerechten Anteil am gesellschaftlichen ­A ngestellte und Beamte, Selbstständige lige Selbstständige, aber auch leitende
Wohlstand zu erhalten glaubten. Nur 44 % sowie Meisterinnen und Meister ein, aber Angestellte und noch erwerbstätige ältere
der Arbeitslosen in Westdeutschland und auch diejenigen, die in ihrem zurück­ Menschen stuften sich im Westen deut-
16 % in Ostdeutschland betrachteten ihren liegenden Erwerbsleben eine solche Posi- lich höher ein als im Osten. Meisterinnen
Anteil am Lebensstandard als gerecht. In tion ausgeübt hatten (Rentnerinnen und und Meister sowie Vorarbeiterinnen und
Ostdeutschland betrachteten auch ältere Rentner) oder den Aufstieg in eine ent- Vorarbeiter hingegen stuften sich in Ost-
Menschen mit Ausnahme der ehemaligen sprechende Position für die Zukunft er- deutschland höher ein.
Angestellten und Beamten ihren Anteil warteten (noch in Ausbildung). Am unte- Die allgemeine Lebenszufriedenheit
am Lebensstandard vergleichsweise selten ren Ende ordneten sich dagegen einfache ist das bilanzierende Maß der Bewertung
als gerecht. Grundsätzlich sahen Ost- Angestellte, (ehemalige) un- und ange- aller Lebensumstände. Hier wird noch
deutsche über fast alle Lagen hinweg ihren lernte Arbeiterinnen und Arbeiter sowie deutlicher als bei der wahrgenommenen
Lebensstandard im Vergleich zu West- Arbeitslose, Nichterwerbstätige und Per- sozialen Position in der gesellschaftlichen
deutschen seltener als gerecht an. u Tab 3 sonen im Vorruhestand, aber auch Fach- Hierarchie, dass mit den verschiedenen
Die einzelnen sozialen Lagen reprä- arbeiterinnen und Facharbeiter ein. Die sozialen Lagen auch ein unterschiedlich
sentieren auch unterschiedliche soziale Differenz zwischen den sozialen Lagen hohes Niveau an Lebensqualität verbun-
Positionen in der subjektiv wahrgenom- mit der höchsten und niedrigsten Einstu- den ist. Auch hier betrug die Differenz
menen vertikalen Gliederung der Gesell- fung betrug in beiden Landesteilen fast zwischen den sozialen Lagen mit der

275
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.1 / Soziale Lagen und soziale Schichtung

höchsten und niedrigsten Einstufung 2,5 fache Angestellte, (ehemalige) Arbeite- Lagen hinweg weiter verbreitet als in West-
Skalenpunkte in Westdeutschland und rinnen und Arbeiter, Facharbeiterinnen deutschland. Nur Studierende und Aus-
sogar mehr als 3 Skalenpunkte in Ost- und Facharbeiter sowie Meisterinnen zubildende im Osten schätzten die Zu-
deutschland. Tendenziell ist die Lebens- und Meister blickten pessimistisch in die kunft optimistischer ein als im Westen.
zufriedenheit in Ostdeutschland etwas Zukunft. Sie waren zu großen Teilen der
geringer als in Westdeutschland. Selbst- Ansicht, so wie die Zukunft aussehe, könne 8.1.2 Subjektive
ständige hingegen gaben in Ostdeutsch- man es kaum noch verantworten, Kinder Schichtzugehörigkeit
land deutlich höhere Zufriedenheitswerte auf die Welt zu bringen. Personen in Eine relevante Ergänzung des im Wesent-
an als in Westdeutschland. ­leitenden und hoch qualifizierten Ange- lichen auf objektiven Informationen zur
Auch bezüglich der Erwartungen an stelltenpositionen sowie Selbstständige Stellung zum und im Erwerbsleben beru-
zukünftige Entwicklungen zeigen sich teilten diese Ansicht hingegen eher selten. henden Bildes der sozialen Lagen liefern
deutliche Unterschiede nach sozialer Zudem war Zukunftspessimismus in Ost- Informationen über die subjektive
­Position. Insbesondere Arbeitslose, ein- deutschland über nahezu alle sozialen Schichteinstufung. Angaben darüber, wie
sich Personen in eine vorgegebene Rang-
ordnung sozialer Schichten einstufen,
bieten vor allem Aufschlüsse darüber,
wie verschiedene Bevölkerungsgruppen
u Abb 2 Subjektive Schichtzugehörigkeit 1990 / 1991 und 2018 — in Prozent innerhalb der Gesellschaft ihren eigenen
Status und ihre Chancen auf gesellschaft-
liche Teilhabe im Vergleich zu anderen
Westdeutschland Ostdeutschland
wahrnehmen und bewerten und welchem
11 obere Mittel-, 2 sozialen Milieu sie sich zuordnen.
14 Oberschicht 5 In Westdeutschland ordnete sich im
Jahr 2018 knapp ein Viertel der erwachse-
60 37
Mittelschicht nen B­ evölkerung der Unter- oder Arbeiter-
61 56
schicht zu, knapp zwei Drittel der Mittel-
27
Arbeiterschicht
57 schicht und ein Siebtel der oberen Mittel-
23 36
oder Oberschicht. Im Vergleich zu 1990
2 3 stuften sich etwas mehr Personen in die
Unterschicht
2 3 obere Mittel- und Oberschicht ein, etwas
weniger Personen in die Arbeiterschicht.
1990 1991 Die Veränderungen in Ostdeutschland
2018 2018
sind deutlich stärker. 1991 ordnete sich
noch über die Hälfte der Bevölkerung der
Datenbasis: ALLBUS 1980 − 2012 kumuliert, ALLBUS 2018
Arbeiterschicht zu, nur ein gutes Drittel
fühlte sich der Mittelschicht zugehörig.
Inzwischen hat sich dieses Verhältnis um-
u Tab 4 Subjektive Schichtzugehörigkeit in Deutschland 1980 – 2018 — in Prozent gekehrt. Mit 5 % identifizierten sich 2018
obere Mittel-/ zudem etwas mehr Ostdeutsche mit der
Unterschicht Arbeiterschicht Mittelschicht
Oberschicht oberen Mittel- und Oberschicht als noch
Westdeutschland
1991. Der Unterschicht im engeren Sinne
1980 1 30 59 10
ordnete sich in West- wie Ostdeutschland
1991 1 24 62 13 2018 mit 2 beziehungsweise 3 % nur ein
2000 1 30 59 10 sehr kleiner Teil der Bevölkerung zu. u Abb 2
2010 3 23 62 13 Die Unterschiede in der Struktur der
2018 2 23 61 14 sozialen Schichtung, die sich auf Basis der
Ostdeutschland subjektiven Einstufung der Befragten im
1991 3 57 37 2 Vergleich von West- und Ostdeutschland
2000 2 49 45 3 ergeben, sind damit auch heute noch be-
2010 4 38 51 6 merkenswert, obwohl sie sich deutlich ver-
2018 3 36 56 5 ringert haben. Die in den früheren Jahren
Datenbasis: ALLBUS 1980–2012 kumuliert; ALLBUS 2018 in Ostdeutschland zu beobachtende pyra-

276
Soziale Lagen und soziale Schichtung / 8.1 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

midenförmige Schichtstruktur einer Arbei- Die subjektive Schichtzugehörigkeit stuften sich insbesondere leitende und
tergesellschaft näherte sich allmählich wird nicht nur von objektiven Faktoren höhere Angestellte und Beamte sowie
der zwiebelförmigen – für Mittelschicht- bestimmt, sondern hängt darüber hinaus Selbstständige ein. u Tab 5
gesellschaften charakteristischen – Ver- von dem jeweils zugrunde liegenden Be- Ostdeutsche identifizierten sich im
teilung in Westdeutschland an. Diese zugsrahmen und den verwendeten Ver- Vergleich zu Westdeutschen auch im Jahr
Entwicklung deutet für Ostdeutschland gleichs- und Bewertungsmaßstäben ab. 2018 noch über nahezu alle sozialen Lagen
somit auf einen signifikanten Wandel in Dennoch bestimmt der faktische sozio- hinweg zu größeren Anteilen mit der
der Wahrnehmung der eigenen Position in ökonomische Status beziehungsweise die ­A rbeiterschicht und zu geringeren Teilen
der hierarchischen Struktur der Gesell- soziale Lage maßgeblich die subjektive mit der Mittel- oder gar der Oberschicht.
schaft hin. u Tab 4 Schichteinstufung. Personen, die eine Dieser Befund deutet darauf hin, dass
Betrachtet man die Entwicklung in ­A rbeiterposition einnehmen oder früher sich die weiterhin bestehenden auffälli-
Westdeutschland seit 1980, zeigt sich eingenommen haben (Rentnerinnen und gen Ost-West-Differenzen in der subjek-
­h ingegen, dass die subjektive Schicht­ Rentner), identifizierten sich – insbeson- tiven Schichteinstufung nur partiell
einstufung hier über die vergangenen dere in Ostdeutschland – auch subjektiv durch Unterschiede in der Verteilung auf
36 Jahre weitgehend unverändert blieb tendenziell mit der Arbeiterschicht. die verschiedenen Statuslagen erklären
und außer zyklischen Schwankungen kein ­Personen mit einem Angestellten- oder lassen. Es ist vielmehr davon auszugehen,
Trend zu beobachten ist. Aktuelle Thesen ­B eamtenstatus sowie Selbstständige ord- dass sich die ostdeutsche Bevölkerung
über das Entstehen einer »neuen Unter- neten sich dagegen mit überwiegender ­innerhalb des gesamtgesellschaftlichen
schicht« und ein erhebliches Schrumpfen Mehrheit der Mittelschicht zu. Eine Aus- Schichtungsgefüges deshalb tendenziell
der Mittelschicht finden somit zumindest nahme bilden lediglich die einfachen niedriger einstuft, weil sie sich nach wie
auf Grundlage der subjektiven Schicht­ ­A n­gestellten, die sich in Ostdeutschland vor mit der westdeutschen vergleicht
identifikation ­weder für Ost- noch für eher der Arbeiterschicht zugehörig fühl- und aus dieser Perspektive Statusdefizite
Westdeutschland empirische Bestätigung. ten. In die obere Mittel- und Oberschicht wahrnimmt.

u Tab 5 Subjektive Schichtzugehörigkeit nach sozialen Lagen 2018 — in Prozent


Westdeutschland Ostdeutschland
Unter- / Unter- /
obere Mittel- / obere Mittel- /
Arbeiter- Mittelschicht Arbeiter- Mittelschicht
Oberschicht Oberschicht
schicht schicht

bis 60 Jahre
Leitende Angestellte, höhere Beamtenschaft 7 60 33 8 77 15
Hoch qualifizierte Angestellte,
9 60 30 10 75 15
gehobene Beamtenschaft
Qualifizierte Angestellte, mittlere Beamtenschaft 20 72 8 26 66 8
Einfache Angestellte, Beamtenschaft 47 51 1 64 36 0
Meister /-innen, Vorarbeiter /-innen 44 51 5 42 58 0
Facharbeiter /-innen 54 45 1 69 31 0
Un-, angelernte Arbeiter /-innen 76 24 0 77 23 0
Selbstständige, freie Berufe 15 59 27 19 67 14
Arbeitslose 59 41 0 66 34 0
Hausfrauen / -männer 33 62 5 / / /
Studium, Lehre 22 58 20 21 69 10
Vorruhestand 33 59 7 52 43 5
Noch nie / nicht erwerbstätig 49 49 2 62 32 6

ab 61 Jahren
Noch erwerbstätig 20 59 21 40 54 6
Rentner /-innen (ehemalige Arbeiter /-innen) 58 42 0 74 26 0
Rentner /-innen (ehemalige Angestellte, Beamte) 12 75 14 21 77 2
Rentner /-innen (ehemalige Selbstständige) 11 70 19 30 70 0

/ Fallzahl zu gering.
Datenbasis: ALLBUS 2018

277
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.2 / Einkommensgerechtigkeit in Deutschland und Europa

8.2 Die Entwicklung der Einkommensunter­


schiede in Deutschland ist regelmäßig
gleich zu verteilen. Stark ausgeprägte
Einkommensungleichheiten laufen die­
Einkommens­ Gegenstand öffentlicher Debatten: Die ei­ sem Prinzip zuwider. Das Bedarfsprinzip
gerechtigkeit nen brandmarken jegliche noch so kleine
Zunahme an Einkommensungleichheit
setzt auf eine Verteilung, die individuell
unterschiedliche Bedarfe anerkennt. Das
in Deutschland und sehen darin einen weiteren Beweis Leistungsprinzip hingegen fordert, dass
und Europa für die Ungerechtigkeit der Gesellschaft.
Andere verweisen darauf, dass das Un­
­d iejenigen in einer Gesellschaft mehr
­erhalten sollten, die höhere Leistungen
gleichheitsniveau in Deutschland gegen­ erbringen. Ungleichheiten, die auf Leis­
Jule Adriaans, Stefan Liebig über anderen Ländern eher moderat sei tungsunterschiede zurückzuführen sind,
Deutsches Institut für Wirtschafts­ und angesichts dessen kein Grund zur können demnach durchaus als gerecht
forschung (DIW Berlin) Besorgnis bestehe. Es finden sich aber bewertet werden. Gemäß des Anrechts­
auch Stimmen, die Einkommensungleich­ prinzips sollten Güter und Lasten auf Ba­
heiten als notwendigen Bestandteil einer sis von Statusmerkmalen wie Familienan­
WZB / SOEP
(sozialen) Marktwirtschaft sehen, weil sehen, Herkunft oder in der Vergangen­
Unterschiede in den individuellen Talen­ heit Erreichtem verteilt werden.
ten, den getätigten Investitionen in die ei­ In der 2018 / 2019 durchgeführten
gene Ausbildung oder auch der Leistungs­ 9. Welle des European Social Survey (ESS)
bereitschaft honoriert werden müssten. wurden Personen aus 27 europäischen
Antworten auf die Frage, ob Einkommens­ Ländern auch zu ihren Gerechtigkeitsein­
ungleichheiten groß oder klein, gut oder stellungen befragt. Auf einer Skala von
schlecht, gerecht oder ungerecht sind, 1 »stimme stark zu«, 2 »stimme etwas zu«,
hängen dabei immer auch von der 3 »weder noch«, 4 »lehne etwas ab« und
­normativen Perspektive ab, aus der diese 5 »lehne ganz ab« konnten die Befragten
beleuchtet werden. Die empirische Ge­ ihre Ablehnung oder Zustimmung zu den
rechtigkeitsforschung zeigt: Menschen vier Verteilungsprinzipien angeben. In
unterscheiden sich in ihrer Präferenz für Abbildung 1 ist dargestellt, wie hoch der
bestimmte Verteilungen und Verteilungs­ Anteil derjenigen ist, die den jeweiligen
regeln und damit letztendlich auch in Prinzipien entweder etwas oder stark zu­
­ihrer Bewertung der Einkommensver­ stimmten. Für das Gleichheitsprinzip gab
teilung. Diese subjektiven normativen es im europäischen Durchschnitt mit
Präferenzen und Gerechtigkeitsbewer­ rund 54 % Zustimmung eine knappe
tungen stehen im Fokus dieses Beitrags. Mehrheit, allerdings unterschieden sich
die Länder hier deutlich. Während in
8.2.1 Unterschiedliche Bewer­ Norwegen nur rund ein Viertel (23 %) der
tungsmaßstäbe für eine gerechte Befragten die Verteilung von Gütern und
Einkommensverteilung Lasten nach dem Prinzip der Gleichheit
Ob Ungleichheiten als gerecht oder unge­ unterstützte, waren es in Portugal mehr
recht bewertet werden, hängt davon ab, als drei Viertel (78 %). In Deutschland
ob die Verteilungsergebnisse den norma­ unterstützten rund 42 % der Befragten
tiven Vorstellungen, nach welchen Prin­ das Gleichheitsprinzip und lagen damit
zipien Güter und Lasten in einer Gesell­ deutlich unter dem europäischen Durch­
schaft verteilt werden sollten, zuwider­ schnitt. u Abb 1
laufen oder damit übereinstimmen. Auch Beim Bedarfsprinzip hingegen gehört
wenn individuelle Vorstellungen von Deutschland mit 83 % zu den Ländern, in
­G erechtigkeit durchaus heterogen sind, denen sich die im europäischen Vergleich
­können vier grundlegende Verteilungs­ stärkste Zustimmung zur Verteilung der
prinzipien unterschieden werden: Gleich­ Güter nach individuellem Bedarf fand.
heit, Bedarf, Leistung und Anrecht. Insgesamt zeigt sich für das Bedarfs­
Das Gleichheitsprinzip verlangt, prinzip auch im europäischen Durch­
­Güter und Lasten in einer Gesellschaft schnitt eine breite Zustimmung (76 %).

278
Einkommensgerechtigkeit in Deutschland und Europa / 8.2 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

u Abb 1 Zustimmung zu verschiedenen Verteilungsprinzipien im europäischen Vergleich 2018 / 2019 — in Prozent

Gleichheitsprinzip Bedarfsprinzip
Durchschnitt Durchschnitt
Norwegen 22,8 54,3 Tschechien 46,6 76,4

Estland 23,5 Ungarn 52,7

Schweden 27,9 Slowakei 53,2

Litauen 29,3 Polen 58,7

Niederlande 29,4 Litauen 59,7

Finnland 37,3 Bulgarien 59,8

Tschechien 37,4 Großbritannien 72,4

Deutschland 42,2 Montenegro 72,5

Lettland 45,2 Estland 72,8

Großbritannien 45,3 Niederlande 74,0

Ungarn 46,4 Lettland 74,3

Polen 47,7 Finnland 75,1

Schweiz 47,7 Belgien 75,4

Bulgarien 50,7 Serbien 75,6

Montenegro 53,5 Kroatien 78,4

Österreich 55,2 Irland 78,5

Slowakei 56,6 Italien 79,4

Serbien 58,3 Frankreich 81,5

Irland 59,2 Österreich 81,8

Belgien 59,5 Schweiz 82,1

Spanien 63,0 Zypern 82,4

Zypern 64,3 Norwegen 82,6

Frankreich 69,9 Schweden 82,8

Kroatien 70,8 Deutschland 83,1

Slowenien 72,3 Portugal 84,1

Italien 76,0 Spanien 84,6

Portugal 77,9 Slowenien 86,6

»Eine Gesellschaft ist gerecht, wenn Einkommen und Vermögen »Eine Gesellschaft ist gerecht, wenn sie sich um Arme und Bedürftige
gleichmäßig auf alle Menschen verteilt sind.« kümmert, unabhängig davon, was diese der Gesellschaft zurückgeben.«

Dargestellt ist der Anteil der Befragten, die dieser Aussage etwas oder stark zustimmten.
Datenbasis: ESS Round 9, gewichtet

279
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.2 / Einkommensgerechtigkeit in Deutschland und Europa

u Abb 1 (Fortsetzung) Zustimmung zu verschiedenen Verteilungsprinzipien im europäischen Vergleich 2018 / 2019 — in Prozent

Leistungsprinzip Anrechtsprinzip
Durchschnitt Durchschnitt
Tschechien 69,7 80,5 Finnland 4,6 12,5

Slowakei 72,8 Litauen 5,7

Ungarn 73,2 Schweden 6,2

Montenegro 73,8 Niederlande 6,3

Litauen 74,8 Frankreich 7,3

Finnland 75,3 Italien 7,9

Spanien 76,1 Slowenien 9,8

Großbritannien 76,3 Zypern 10,4

Portugal 77,4 Schweiz 10,5

Schweiz 78,4 Spanien 11,3

Niederlande 78,4 Kroatien 12,4

Irland 78,5 Deutschland 12,9

Schweden 79,3 Ungarn 13,4

Polen 80,1 Bulgarien 13,9

Bulgarien 80,3 Portugal 14,6

Kroatien 81,0 Norwegen 14,8

Norwegen 81,4 Großbritannien 16,3

Italien 81,8 Belgien 16,4

Belgien 82,2 Polen 16,5

Serbien 82,8 Estland 18,6

Frankreich 82,8 Österreich 19,1

Zypern 83,6 Montenegro 19,3

Lettland 84,5 Tschechien 21,1

Deutschland 86,2 Serbien 21,4

Slowenien 87,2 Lettland 22,0

Estland 88,4 Irland 28,0

Österreich 90,3 Slowakei 30,3

»Eine Gesellschaft ist gerecht, wenn hart arbeitende Menschen »Eine Gesellschaft ist gerecht, wenn Menschen aus Familien mit
mehr verdienen als andere.« hoher gesellschaftlicher Stellung Privilegien in ihrem Leben genießen.«

Dargestellt ist der Anteil der Befragten, die dieser Aussage etwas oder stark zustimmten.
Datenbasis: ESS Round 9, gewichtet

Lediglich in Tschechien fand sich mit gerechten Gesellschaft in ganz Europa ­genoss, fand eine Verteilung nach dem
47 % keine mehrheitliche Zustimmung. eine breite Zustimmung. Deutschland ­ nrechtsprinzip – also auf Basis zuge­
A
Das Leistungsprinzip ist ein zentraler liegt mit einer Zustimmungsrate von schriebener oder erworbener Status­
normativer Pfeiler moderner Gesellschaf­ 86 % deutlich über dem europäischen merkmale – kaum Unterstützung in Euro­
ten. Wer mehr leistet, sollte auch mehr Durschnitt von 81 %. pa. Im europäischen Durchschnitt stimm­
bekommen. Wenig überraschend fand Während Leistung als gerechtes Ver­ te lediglich jede / jeder Achte (13 %) dem
das Leistungsprinzip als Grundlage einer teilungskriterium hohe Anerkennung Anrechtsprinzip zu. Deutschland liegt

280
Einkommensgerechtigkeit in Deutschland und Europa / 8.2 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

u Info 1 u Abb 2 Anteil der Erwerbstätigen in


Datengrundlage Deutschland, die ihr Brutto- und
Der European Social Survey (ESS) ist eine länderübergreifende Befragung, die seit 2002
Nettoeinkommen als gerecht ansehen
alle zwei Jahre in vielen europäischen Ländern durchgeführt wird. In der 2018 / 2019 durch­ 2017 und 2019 — in Prozent
geführten 9. Welle des ESS, wurden Personen aus 27 europäischen Ländern zu ihren
­Gerechtigkeitseinstellungen b ­ efragt. Im Fokus stand unter anderem die Gerechtigkeitsbewertung
von Einkommen. Die Bewertung erfolgte dabei jeweils über eine 9-stufige Skala, die zwischen
ungerechterweise zu niedrigen, ­g erechten und ungerechterweise zu hohen Einkommen
­u nterscheidet. Die Skala verläuft von –­ 4 bis + 4, wobei negative Werte ungerechte Unter­ 48,8 50,0
bezahlung und positive un­g erechte Überbezahlung anzeigen. Der Skalenmittelpunkt 0 gibt an, 43,8 43,4
dass ein Einkommen als gerecht bewertet wird. In Deutschland wurden dafür 2 358 Personen
befragt; in ganz Europa waren es insgesamt rund 47 000 Menschen, die an der Befragung
teilgenommen haben. Die 9. Welle des ESS stellt damit r­ epräsentative Befragungsdaten zur
Verfügung, die einen einmaligen, vergleichenden Einblick in die Wahrnehmung von Gerechtig­
keit in Europa erlauben.

Als zweite Datenquelle dient das Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Das SOEP ist eine
­jährlich am DIW Berlin durchgeführte repräsentative Wiederholungsbefragung privater Haus­
halte und Personen in Deutschland. Das SOEP deckt eine Vielzahl von Themen ab: 2017
und 2019 wurden die Per­sonen dazu befragt, als wie gerecht oder ungerecht sie ihr eigenes
Einkommen bewerten. Die hier berichteten Ergebnisse beruhen auf rund 30 000 Angaben. 2017 2019
Ähnlich wie beim ESS konnten die e ­ rwerbstätigen Befragten abstufen, ob sie ihr Einkommen
als ungerecht zu niedrig, gerecht oder ungerecht zu hoch bewerten. Zusätzlich dazu wurden Brutto Netto
sie gebeten a­ nzugeben, wie hoch ihr tatsächliches Einkommen ausfällt und wie hoch ein
­g erechtes Einkommen für sie persönlich aus­sehen sollte. Dargestellt ist der Anteil derjenigen Erwerbstätigen,
die ihr eigenes Einkommen auf einer 11-stufigen Skala
von – 5 (ungerechterweise zu niedrig) bis + 5 (ungerechter-
weise zu hoch) mit 0 (gerecht) bewerteten.
Datenbasis: SOEP v35 (2017); SOEP-Vorabdaten (2019),
gewichtet

hier genau im europäischen Mittelfeld. 8.2.2 Wahrnehmung des eigenen wenn das Nettoeinkommen – also das
Auch wenn in der Slowakei und in Irland Einkommens als gerecht Einkommen nach Abzügen und Steuern –
die Zustimmungsraten fast ein Drittel Bei den Gerechtigkeitsprinzipien Gleich­ beurteilt wird. Hier lag der Anteil der Er­
(30 %) erreichten, spielte das Anrechts­ heit, Bedarf, Leistung und Anrecht werbstätigen, die ihr Nettoeinkommen
prinzip für die Bürgerinnen und Bürger ­handelt es sich um abstrakte normative als gerecht empfinden, 2017 bei rund 44 %
in Europa eher eine geringere Rolle für Verteilungsprinzipien, also um Vorstel­ und im Jahr 2019 bei etwa 43 %. Damit
eine gerechte Verteilung von Gütern lungen darüber, wie eine gerechte Gesell­ empfand zwar fast jede / jeder Zweite in
und Lasten. schaft ihre Güter und Lasten idealerweise Deutschland die Höhe des eigenen Ein­
Insgesamt zeigt der Vergleich der 27 verteilen sollte. Wie jedoch steht es um kommens als gerecht; im Umkehrschluss
europäischen Länder, dass sowohl das die Gerechtigkeitswahrnehmung in bedeutet dies aber auch, dass die andere
Leistungs- als auch das Bedarfsprinzip Deutschland, wenn es ganz konkret um Hälfte der Erwerbstätigen Ungerechtig­
die Vorstellungen der Menschen von das eigene Einkommen geht? Wird dieses keit in Bezug auf das eigene Einkommen
­einer gerechten Verteilung der Güter und als gerecht empfunden? Um sich dieser wahrnimmt. Dabei gilt, dass der Abzug
Lasten in einer Gesellschaft mehrheitlich Frage zu nähern, werden hier neben den von Steuern und Sozialversicherungs­
prägt. Beide Prinzipien schließen sich Ergebnissen des European Social Survey beiträgen den Anteil derjenigen, die ihr
also keineswegs aus. Vielmehr geht die Daten des Sozio-oekonomischen Panels Einkommen als ungerecht empfinden, er­
Erwartung, dass individuelle Leistungen (SOEP) aus den Jahren 2017 und 2019 höht. u Abb 2
belohnt werden sollten, mit einer breiten verwendet. u Info 1 In den repräsentativen Befragungs­
Befürwortung des Prinzips einher, dass In den Jahren 2017 und 2019 empfand daten des European Social Survey (ESS)
eine grundlegende Bedarfsabsicherung knapp die Hälfte der Beschäftigten in zeigt sich, dass Deutschland bei der
Teil einer gerechten Gesellschaft ist. Deutschland das eigene Bruttoeinkom­ wahrgenommenen Einkommensgerech­
In Deutschland finden das Leistungs- men – also das Einkommen, das sie ohne tigkeit im europäischen Mittelfeld liegt.
und Bedarfsprinzip besonders hohe und Abzüge von Steuern oder Sozialversiche­ Während laut Daten des ESS 47 % der
mehrheitliche Zustimmung, das Gleich­ rungsbeiträgen bekommen – als gerecht. Erwerbstätigen in Deutschland ihr Brut­
heitsprinzip hingegen nicht. Dieser Anteil fällt deutlich niedriger aus, toeinkommen als gerecht bewerteten,

281
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.2 / Einkommensgerechtigkeit in Deutschland und Europa

u Abb 3 Anteil der Erwerbstätigen in verschiedenen europäischen Ländern, 8.2.3 Gerechtigkeitsbewertung der
die ihr Bruttoeinkommen als gerecht ansehen 2018 / 2019 — in Prozent Einkommensverteilung
Wie würde die Einkommensverteilung in
Durchschnitt
Deutschland aussehen, wenn alle das
Bulgarien 18,7 43,5 Bruttoeinkommen erhalten würden, wel­
Serbien 19,9
ches sie als gerecht erachten? In der Be­
fragung des Sozio-oekonomischen Panels
Ungarn 20,1
(SOEP) wurde nicht nur danach gefragt,
Montenegro 24,1
ob das eigene Einkommen als gerecht
Litauen 26,2 wahrgenommen wird, sondern auch nach
Polen 29,9 der Höhe, die das eigene Einkommen
Slowakei 30,2 ­h aben müsste, um gerecht zu sein. Für
Kroatien 32,4
Personen, die ihr Einkommen als gerecht
bewerten, sind tatsächliches und gerech­
Zypern 32,7
tes Einkommen identisch, für alle ande­
Portugal 33,9
ren unterscheidet sich der gerechte vom
Tschechien 33,9 tatsächlichen Einkommensbetrag. Be­
Frankreich 35,8 rechnet man aus diesen Angaben eine aus
Spanien 36,3 Perspektive der Befragten »gerechte« Ein­
Italien 36,7
kommensverteilung, kann diese mit der
tatsächlichen Einkommensverteilung
Lettland 37,1
verglichen werden. Der Vergleich in Ab­
Slowenien 37,1
bildung 4 zeigt, dass eine solche »gerech­
Estland 38,5 te« Einkommensverteilung gegenüber
Deutschland 47,0 der realen Verteilung leicht nach rechts
Finnland 49,7 verschoben ist, die Beschäftigten in
Schweden 55,1 Deutschland in einer »gerechten« Welt
Schweiz
also mehr Gehalt für ihre Arbeit bekom­
56,0
men würden. Besonders deutlich ist diese
Österreich 56,3
Verschiebung bei Personen mit niedrigen
Belgien 57,7
und mittleren Einkommen. In ihrem
Irland 58,4 Verlauf sind die beiden Einkommens­
Großbritannien 59,4 verteilungen dagegen weitestgehend
Norwegen 62,1 identisch. u Abb 4
Niederlande 65,5
Die Verteilung auf Basis »gerechter«
persönlicher Einkommen folgt offenbar
keinem Gleichheitsideal. Auch wenn alle
Dargestellt ist der Anteil derjenigen Erwerbstätigen, die ihr eigenes Bruttoeinkommen auf einer 9-stufigen Skala befragten Beschäftigten das Einkommen
von – 4 (Einkommen ist zu niedrig, äußerst ungerecht) bis + 4 (Einkommen ist zu hoch, äußerst ungerecht)
mit 0 (Einkommen ist gerecht) bewerteten. bekämen, das sie für sich persönlich als
Datenbasis: ESS Round 9, gewichtet.
gerecht bewerten, würde es nach wie vor
deutliche Einkommensungleichheiten in
Deutschland geben. Dies spiegelt sich
auch in der vergleichsweise geringen Zu­
stimmung für das Gleichheitsprinzip
liegen diese Anteile in vielen süd- und Anteil der Erwerbstätigen, die sich als ge­ und der hohen Zustimmung zum Leis­
osteuropäischen Ländern deutlich unter recht entlohnt empfinden, deutlich höher tungsprinzip wider, die in den europä­
40 %. Die deutschen Nachbarländer als in Deutschland. Im europä­ischen Ver­ isch vergleichenden Daten sichtbar wur­
Schweiz, Österreich, die Niederlande gleich lässt sich damit für Deutschland den. Hier sei jedoch angemerkt, dass für
und Belgien schnitten hingegen mit durchaus Nachholbedarf beim Thema die Berechnung der »gerechten« Einkom­
Werten zwischen 56 % und 65 % deutlich Einkommensgerechtigkeit konstatieren. mensverteilung nur berücksichtigt wur­
besser ab. Auch in Schweden, ­Irland, Das gilt besonders im Vergleich zu den de, welches Einkommen Erwerbs­tätigte
Großbritannien und Norwegen war der westeuropäischen Nachbarn. u Abb 3 in Deutschland für sich selbst als gerecht

282
Einkommensgerechtigkeit in Deutschland und Europa / 8.2 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

betrachten würden. Bei der Frage, wie ge­ u Abb 4 Tatsächliche und gerechte Verteilung der Bruttoerwerbseinkommen
recht die Einkommensverteilung in in Deutschland 2017 / 2019
Deutschland ist, geht es hingegen nicht
nur um das eigene Einkommen, sondern 0,00030
auch um die Einkommen anderer. Auch
wenn ich mich selbst gerecht entlohnt 0,00025
fühle, kann ich ungerecht finden, was
andere Menschen um mich herum ver­
0,00020
dienen.
In der 2018 / 2019 erhobenen 9. Welle
0,00015
des European Social Survey (ESS) wurden
alle Befragten gebeten, jeweils anzugeben,
0,00010
wie sie niedrige und hohe Einkommen in
ihrem Land bewerten. Dazu sollten die
0,00005
Befragten an die untersten und obersten
10 % der höchstverdienenden Vollzeitbe­
0,00000
schäftigten denken. Zusätzlich wurden 0 1 000 2 000 3 000 4 000 5 000 6 000 7 000 8 000 9 000 10 000
ihnen Informationen zu den tatsächli­ Bruttoerwerbseinkommen in Euro
chen Bruttoeinkommen dieser Gruppe
präsentiert. In Deutschland waren die tatsächliches Einkommen gerechtes Einkommen

entsprechenden Einkommensgrenzen
Dargestellt ist die geglättete Einkommensverteilung (Kerndichteschätzung). Aus Darstellungsgründen wurden
»über 5 800 Euro« für hohe Einkommen Einkommen über 10 000 Euro monatlich aus der Berechnung der Dichtefunktion ausgeschlossen.
Datenbasis: SOEP v35 (2017); SOEP-Vorabdaten (2019), gewichtet. Nur abhängig Beschäftige in Vollzeit.
und »unter 1 700 Euro« für niedrige Ein­ Gepoolte Angaben aus 2017 und 2019

kommen. Zur Bewertung verwendeten

283
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.2 / Einkommensgerechtigkeit in Deutschland und Europa

u Abb 5 Durchschnittliche Gerechtigkeitsbewertung u Abb 6 Durchschnittliche Gerechtigkeitsbewertung


niedriger Einkommen in Europa 2018 / 2019 hoher Einkommen in Europa 2018 / 2019

Durchschnitt Durchschnitt
– 2,3 0,7

Schweden – 1,2 Bulgarien 0,0

Finnland – 1,7 Polen 0,3

Tschechien – 1,7 Lettland 0,3

Niederlande – 1,7 Tschechien 0,4

Norwegen – 1,8 Ungarn 0,4

Irland – 1,9 Schweden 0,4

Großbritannien – 1,9 Litauen 0,4

Belgien – 1,9 Estland 0,5

Frankreich – 2,0 Deutschland 0,5

Schweiz – 2,1 Irland 0,5

Litauen – 2,2 Serbien 0,6

Deutschland – 2,2 Großbritannien 0,6

Polen – 2,3 Frankreich 0,6

Ungarn – 2,6 Norwegen 0,7

Österreich – 2,7 Finnland 0,7

Italien – 2,8 Spanien 0,7

Spanien – 2,8 Slowakei 0,9

Slowakei – 2,8 Schweiz 0,9

Lettland – 2,8 Kroatien 1,0

Slowenien – 2,9 Belgien 1,1

Estland – 2,9 Portugal 1,1

Montenegro – 2,9 Niederlande 1,1

Kroatien – 3,0 Slowenien 1,2

Serbien – 3,1 Montenegro 1,3

Portugal – 3,2 Österreich 1,3

Bulgarien – 3,3 Italien 1,5

Zypern – 3,3 Zypern 1,9

Dargestellt ist die durchschnittliche Bewertung von niedrigen Bruttoeinkommen im eigenen Land. Dargestellt ist die durchschnittliche Bewertung von hohen Bruttoeinkommen im eigenen Land.
Mittelwerte auf einer 9-stufigen Skala von – 4 (Einkommen sind zu niedrig, äußerst ungerecht) Mittelwerte auf einer 9-stufigen Skala von – 4 (Einkommen sind zu niedrig, äußerst ungerecht)
über 0 (Einkommen sind gerecht) bis + 4 (Einkommen sind zu hoch, äußerst ungerecht). über 0 (Einkommen sind gerecht) bis + 4 (Einkommen sind zu hoch, äußerst ungerecht).
Datenbasis: ESS Round 9, gewichtet Datenbasis: ESS Round 9, gewichtet

die Befragten eine 9-stufige Skala, die positive Werte anzeigen, dass die Einkom­ als ungerecht und zu niedrig bewertet,
von – 4 »niedrige Einkommen, äußerst un­ men als ungerechterweise zu hoch bewer­ hohe Einkommen als ungerecht und zu
gerecht« über 0 »gerechtes Einkommen« tet werden. hoch. Allerdings ist das Ausmaß der
bis + 4 »hohe Einkommen, äußerst un­ In den Abbildungen 5 und 6 ist die empfundenen Ungerechtigkeit in Bezug
gerecht« verläuft. Negative Werte zeigen durchschnittliche Bewertung für verschie­ auf niedrige Einkommen deutlich stärker.
an, dass die Einkommen als ungerechter­ dene Länder dargestellt. In ganz Europa Deutschland liegt hier mit einem Wert
weise zu gering bewertet werden, während wurden niedrige Einkommen im Schnitt von – 2,2 im europäischen Mittelfeld. Am

284
Einkommensgerechtigkeit in Deutschland und Europa / 8.2 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

geringsten wurden niedrige Einkommen Niveau des europäischen Durchschnitts.


in Tschechien und Finnland als unge­ Bei der Zustimmung zum Gleichheits­
recht eingestuft. Am stärksten wurde die prinzip, also einer gleichmäßigen Vertei­
Ungerechtigkeit dagegen in Bulgarien lung von Gütern und Lasten, zeigen sich
und Zypern empfunden. Hohe Einkom­ zum Teil deut­liche Länderunterschiede.
men wurden in Deutschland mit einem Dabei findet eine Verteilung nach dem
Durchschnitt von 0,5 nur in geringem Prinzip der Gleichheit in Deutschland
Maße als ungerecht bewertet. Hier gehört eine vergleichsweise niedrige Zustim­
Deutschland im europäischen Vergleich mung. Nimmt man individuelle Ein­
eher zu den Ländern, die wenig Unge­ kommen in den Blick, so waren 2017 und
rechtigkeit bezüglich des oberen Endes 2019 knapp die Hälfte der Erwerbstäti­
der Einkommensverteilung äußern. In gen in Deutschland der Meinung, dass
Italien und Österreich war die Ungerech­ ihre Bruttoeinkommen gerecht sind. Mit
tigkeitswahrnehmung hoher Einkommen diesen Werten liegt Deutschland im Be­
fast dreimal, in Zypern fast viermal so reich des europäischen Durchschnitts.
hoch wie in Deutschland. Übereinstim­ Nachbarländer wie die Schweiz, Öster­
mend findet sich in diesen drei Ländern reich, die Niederlande und Belgien
eine im Vergleich zu Deutschland deut­ schneiden jedoch deutlich besser ab. Ob­
lich höhere Präferenz für das Gleichheits­ wohl viele Menschen in Deutschland ihr
prinzip. u Abb 5, Abb 6 Einkommen als ungerecht bewerten,
würde eine Einkommensverteilung, die
8.2.4 Zusammenfassung und Fazit sich daran orientiert, welches Einkom­
Eine Grundannahme der empirischen men Erwerbstätige für sich selbst als ge­
Gerechtigkeitsforschung lautet, dass Un­ recht ansehen, nach wie vor große Unter­
gleichheit vor allem dann mit negativen schiede aufweisen. Allerdings würden in
gesellschaftlichen Konsequenzen ver­ einer solchen »gerechten« Welt vor allem
bunden ist, wenn die Ungleichheit als diejenigen mit niedrigen und mittleren
ungerecht bewertet wird. Ein Blick auf Einkommen mehr verdienen. Auch in
die normativen Vorstellungen in Bezug Bezug auf die Frage, wie gerecht oder un­
auf eine gerechte Verteilung in Europa gerecht die Einkommen am oberen und
zeigt: Die individuelle Leistung und der unteren Ende der Einkommensvertei­
individuelle Bedarf sind anerkannte lung wahrgenommen werden, zeigt sich,
Prinzipien für eine gerechte Einkom­ dass vor allem die niedrigen Einkommen
mensverteilung. Die Zustimmung in als ungerecht eingestuft werden. Demge­
Deutschland für diese beiden Vertei­ genüber fällt die Ungerechtigkeitswahr­
lungsprinzipien liegt noch einmal deut­ nehmung in Bezug auf hohe Einkommen
lich über dem insgesamt schon hohen nur schwach aus.

285
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.3 / Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen

8.3 Im Jahr 2018 lebten rund 20,8 Millionen


Menschen mit Migrationshintergrund in
Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, Irak,
Eritrea, Somalia, Iran, Pakistan und den
Lebenssituation Deutschland, was etwa 20 % der Gesamt­ Nachfolgestaaten Jugoslawiens.
von Migrantinnen bevölkerung ausmachte (siehe dazu Kapi­
tel 1.2, Seite 30). Bei der Bevölkerung mit
In Kapitel 1.2 wurden bereits Grund­
daten zur Bevölkerung mit Migrations­
und Migranten, Migrationshintergrund handelt es sich hintergrund auf Basis des Mikrozensus
deren Nach- im Hinblick auf Herkunft und Migrati­
onsbiografie um eine äußerst heterogene
präsentiert. In diesem Kapitel wird die
Lebenssituation von Migrantinnen und
kommen und Bevölkerungsgruppe. Nach dem Zweiten Migranten und deren Nachkommen so­
Geflüchteten in Weltkrieg verlagerten zahlreiche Migran­
tinnen und Migranten aus den sogenann­
wie von Geflüchteten mit den Daten des
Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für
Deutschland ten Gastarbeiterländern, zu denen auch 2018 beschrieben. Dabei werden unter­
das frühere Jugoslawien sowie die Türkei schiedliche Lebensbereiche genauer be­
zählten, ihren Lebensmittelpunkt in die trachtet, etwa der Bildungsstand, die Be­
Maria Metzing
Bundesrepublik Deutschland und holten schäftigungsstruktur und das Einkom­
Deutsches Institut für Wirtschafts­
anschließend ihre Familien nach. Nach men, die gesundheitliche Situation, die
forschung (DIW Berlin)
der deutschen Vereinigung siedelten viele soziale sowie sprachliche Integration und
Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler kulturelle Orientierungen. Darüber hin­
WZB/SOEP aus Rumänien, Polen und den Gebieten aus werden ausgewählte Bereiche des
der ehemaligen Sowjetunion in das ver­ ­Lebens von Migrantinnen und Migranten
einigte Deutschland über. Darüber hin­ und deren Nachkommen mit der Situation
aus stellten zu Beginn der 1990er-Jahre von Geflüchteten verglichen. u Info 1
zahlreiche Geflüchtete aus den Balkange­
bieten Asylanträge in Deutschland. Seit 8.3.1 Bildungsabschlüsse
den EU-Osterweiterungen (ab 2004) Mit Blick auf den höchsten Bildungsab­
kommt ein großer Anteil von Migrantin­ schluss (nach ISCED »International Stan­
nen und Migranten aus osteuropäischen dard Classification of Education«, siehe
EU-Ländern nach Deutschland, etwa aus Kapitel 2.1, Seite 53, Info 2) lassen sich
Polen und der Slowakei. Zudem stieg seit große Unterschiede zwischen der Bevölke­
2011 auch die Zahl der Asylanträge. Hier­ rung mit und ohne Migrationshintergrund
bei handelte es sich hauptsächlich um feststellen. Personen mit Migrations­

u Info 1
Definitionen
Personen mit Migrationshintergrund sind entweder selbst zugewandert oder haben mindestens einen
zugewanderten Elternteil. Um die Heterogenität der Personen mit Migrationshintergrund zu beschreiben,
werden Migrantinnen und Migranten, einschließlich Geflüchteter und Migrantennachkommen, folgender
fünf Herkunftsgruppen betrachtet: aus der Türkei, aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, aus den
ehemaligen Anwerbestaaten Südwesteuropas (Italien, Spanien, Griechenland, Portugal), (Spät-)Aus­
siedlerinnen und (Spät-)Aussiedler sowie Personen aus osteuropäischen Ländern. Die Zugehörigkeit zu
einer Herkunftsgruppe wurde von dem Geburtsland der Befragten oder deren Eltern abhängig gemacht.
Falls keine eindeutige Zuordnung zu einer Herkunftsgruppe möglich war, wurden die Befragten nur der
Gesamtgruppe der Migrantinnen und Migranten zugeordnet, etwa wenn die Mutter in Griechenland und
der Vater in der Türkei geboren wurde. Insofern umfasst die Gruppe der Personen mit Migrationshinter­
grund nicht nur die fünf differenzierten Herkunftsgruppen.

Gesondert betrachtet werden Geflüchtete, die ab 2013 in Deutschland eingereist sind. Als Geflüchtete
werden in diesem Kapitel alle Personen bezeichnet, die nach ihrer Ankunft in Deutschland einen Asyl­
antrag gestellt haben. Hierbei handelte es sich hauptsächlich um Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan,
Irak, den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, Eritrea, Somalia, Iran sowie Pakistan. Ebenfalls gesondert
ausgeführt werden die 17- bis 45-jährigen Migrantennachkommen, die entweder schon in Deutschland
geboren wurden oder vor dem siebten Lebensjahr nach Deutschland zugewandert sind und dement­
sprechend in Deutschland die Schule besucht haben. Personen, die 2018 jünger als 17 Jahre alt waren,
bleiben in diesem Kapitel unberücksichtigt. Insgesamt wurden rund 19 800 Personen ohne und rund
11 000 Personen mit Migrationshintergrund befragt. Je nach Item kann die Zahl der Personen variieren.

286
Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen / 8.3 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

u Tab 1 Bildungsniveau nach ISCED 2018 — in Prozent

Personen Personen mit Migrationshintergrund 17- bis 45-Jährige


ohne
Nachfolge­ (Spät-) ohne Migranten-
Migrations- Südwest- Ost- Geflüch-
Gesamt Türkei staaten Aussiedler/- Migrations- nach-
hintergrund europa europa tete
Jugoslawiens innen hintergrund kommen
ISCED 0 weniger als
2 2 3 3 1 0 2 1 5 6
­Primarbereich
ISCED 1 Primarbereich 1 7 11 8 7 1 3 35 1 3
ISCED 2 Sekundarbereich I 9 16 31 22 19 15 12 22 9 17
ISCED 3 Sekundarbereich II 50 35 34 40 40 43 31 16 39 39
ISCED 4 postsekundärer
7 11 5 10 8 16 16 2 11 8
nicht tertiärer Bereich
ISCED 5 kurzes tertiäres
5 2 1 2 2 3 3 0 4 2
­B ildungsprogramm
ISCED 6 und 7 Bachelor
oder Master beziehungs­
23 21 7 9 20 20 27 16 23 19
weise gleichwertiges
Bildungsprogramm

ISCED 8 Promotion 1 1 0 1 2 0 2 1 1 1
ISCED fehlende Angaben 3 4 8 1 2 1 4 6 7 7

ISCED: International Standard Classification of Education.


Datenbasis: SOEP v35, gewichtet

hintergrund verfügten 2018 deutlich häu­ mehr als ein Viertel der Personen aus nach Deutschland noch in der Ausbil­
figer über einen Abschluss der Sekundar­ Osteuropa über einen tertiären Bildungs­ dung. Solche unterbrochenen Bildungs­
stufe I als höchsten Bildungsabschluss. abschluss. Unter den Geflüchteten besaß wege sind in den dargestellten Unter­
Während fast jede sechste Person (16 %) etwa jede / jeder Sechste (17 %) einen ter­ schieden nicht berücksichtigt.
mit Migrationshintergrund nur solch tiären Bildungsabschluss. Dieser Anteil Auch die zweite Generation von Mig­
einen niedrigen Bildungsabschluss hatte, ist im Vergleich zu allen Personen mit rantinnen und Migranten verfügte im
traf dies nur auf rund jede zehnte Person Migrationshintergrund (22 %) niedriger, Durchschnitt weniger häufig über tertiäre
(9 %) ohne Migrations­h intergrund zu. aber deutlich höher als bei Personen Bildungsabschlüsse und wesentlich häu­
Bei den Personen, deren höchster ­t ürkischer Herkunft (7 %) und Personen figer über niedrigere Bildungs­abschlüsse
Abschluss im Sekundar­b ereich II liegt, aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens im Sekundarbereich I als die gleichaltrige
waren Personen mit Migrationshinter­ (10 %). Rund jede zehnte Person tür­ Population ohne Migrationshintergrund.
grund hingegen deutlich unterrepräsen­ kischer Herkunft besaß nur einen Dieser Vergleich der Bildungslagen ist je­
tiert. So verfügte die Hälfte der Menschen Grundschul­a bschluss (Primarbereich). doch verzerrt, solange nicht der sozio­
ohne Migrationshintergrund (50 %) über Bei Personen osteuropäischer Herkunft ökonomische Hintergrund der 17 – bis
einen Abschluss im Sekundar­b ereich II, betrug dieser Anteil 3 %. Unter den Ge­ 45-Jährigen sowie institutionelle Diskri­
während dies nur auf 35 % der Personen flüchteten, die nach 2013 nach Deutsch­ minierung, soziale und ethnische Segre­
mit Migrationshintergrund zutraf. Ge­ land eingereist waren, gab jede / jeder gation oder auch familiäre Verhältnisse
ringe Unterschiede zwischen Personen Dritte als höchsten Bildungsabschluss mit in die Betrachtung einbezogen werden.
mit und ohne Migrations­h intergrund den Grundschul­abschluss an und rund In Deutschland hängen die Bildungs­
fanden sich hingegen bei den tertiären jede / jeder Fünfte hatte nur den Sekund­ chancen von Kindern stark vom Bildungs­
Bildungsabschlüssen (ISCED 6 / 7 / 8) arbereich I (mittlere Schulbildung wie niveau des Elternhauses ab (siehe Kapi­
(24 % ohne gegenüber 22 % mit Migrati­ Real­s chulabschluss) abgeschlossen. Ins­ tel 3.1.2, Seite 107). Da ihre ­E ltern ver­
onshintergrund). u Tab 1 gesamt wies damit mehr als jede / jeder gleichsweise niedrige Bildungsabschlüsse
Bei einer Betrachtung der Bildungs­ zweite Gef lüchtete einen geringen Bil­ erzielten, ist es nicht überraschend, dass
abschlüsse nach den Herkunftsgruppen dungsabschluss auf (ISCED 1 oder 2). die Migrantennachkommen durchschnitt­
fallen die durchschnittlich höheren Bil­ Viele der in den letzten Jahren nach lich niedrigere Bildungs­abschlüsse er­
dungsabschlüsse bei Personen aus Ost­ Deutschland eingewanderten Geflüchte­ reichten als Gleichaltrige ohne Migrations­
europa auf. Beispielsweise verfügte 2018 ten befanden sich vor ihrer Zu­wanderung hintergrund.

287
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.3 / Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen

u Abb 1 Erwerbsstatus nach Migrationshintergrund und Geschlecht 2018 — in Prozent

Gesamt
Personen ohne
54 22 1 6 3 4 9
Migrationshintergrund
Personen mit
46 20 3 12 4 5 11
Migrationshintergrund (gesamt)
Türkei 39 19 2 14 8 8 11
Nachfolgestaaten
48 22 2 11 3 4 10
Jugoslawiens
Südwesteuropa 56 22 1 7 2 5 7

(Spät­)Aussiedler/­innen 58 21 4 6 11 9

Osteuropa 46 23 4 10 3 5 10

Geflüchtete 16 9 3 30 7 5 29
17­ bis 45­Jährige ohne
51 20 3 6 6 9 5
Migrationshintergrund
17­ bis 45­jährige
41 20 3 10 8 12 6
Migrantennachkommen

Frauen
Personen ohne
37 36 3 5 3 5 11
Migrationshintergrund
Personen mit
30 31 5 10 4 5 15
Migrationshintergrund (gesamt)
Türkei 23 30 3 11 9 7 17
Nachfolgestaaten
31 34 4 14 11 15
Jugoslawiens
Südwesteuropa 33 42 3 5 2 5 10

(Spät­)Aussiedler/­innen 40 34 7 6 1 12

Osteuropa 31 32 6 9 3 5 14

Geflüchtete 2 6 10 33 3 6 39
17­ bis 45­Jährige ohne
37 31 6 6 5 9 6
Migrationshintergrund
17­ bis 45­jährige
30 28 5 7 9 13 9
Migrantennachkommen

Männer
Personen ohne
70 9 6 3 4 7
Migrationshintergrund
Personen mit
62 8 13 4 5 7
Migrationshintergrund (gesamt)
Türkei 54 9 17 6 8 5
Nachfolgestaaten
67 9 6 5 8 4
Jugoslawiens
Südwesteuropa 74 5 9 3 5 4

(Spät­)Aussiedler/­innen 82 2 7 2 2 5

Osteuropa 66 11 10 4 6 4

Geflüchtete 22 10 29 9 5 25
17­ bis 45­Jährige ohne
65 11 6 7 8 4
Migrationshintergrund
17­ bis 45­jährige
53 12 1 12 7 12 3
Migrantennachkommen

Vollzeit erwerbstätig Teilzeit erwerbstätig temporär nicht erwerbstätig ¹ arbeitslos


Lehre /Ausbildung Schule / Studium nicht erwerbstätig

Soweit nicht anders angewiesen: Bevölkerung zwischen 17 und 64 Jahren.


1 Temporär nicht Erwerbstätige umfassen unter anderem Personen in Elternzeit, Mutterschutz.
Datenbasis: SOEP v35, gewichtet

288
Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen / 8.3 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

8.3.2 Erwerbsstatus sowie hintergrund wiesen einen höheren Anteil terschiede zeigt der Vergleich der 17- bis
b
­ erufliche Stellungen an Nichterwerbstätigen auf, insbesondere 45-Jährigen mit und ohne Migrationshin­
Dem Arbeitsmarkt kommt eine zentrale unter den Frauen aus den Nachfolge­ tergrund. Im Vergleich zur gleichaltrigen
Rolle für die gesellschaftliche Integration staaten Jugoslawiens (15 %) und aus der Population ohne Migrationshintergrund
a ller Bevölkerungsgruppen zu. Ein Türkei (17 %). Der Anteil der Frauen, die besuchten Migrantennachkommen im
Vergleich des Erwerbsstatus nach Migra­ als Geflüchtete nach Deutschland kamen Jahr 2018 häufiger eine Schule oder stu­
tionshintergrund zeigt auf, dass sich und nicht erwerbstätig waren, fiel noch dierten (12 gegenüber 9 %). Zudem waren
diesbezüglich starke Unterschiede zwi­ höher aus und lag bei 39 %. Allerdings sie seltener Vollzeit erwerbstätig (41 gegen­
schen der Bevölkerung mit und ohne besuchte etwa ein Drittel der nicht über 51 %).
Migrationshintergrund ergeben. In erwerbstätigen Frauen einen Integrations­ Hinsichtlich der beruflichen Stellung
Abbildung 1 ist zunächst der Erwerbs­ kurs des Bundesamts für Migration und waren Personen mit Migrationshinter­
status für die Gesamtbevölkerung im er­ Flüchtlinge oder auch Kurse zum Sprach­ grund vergleichsweise häufiger als un-
werbsfähigen Alter abgebildet. Etwas erwerb sowie zur Förderung der Arbeits­ oder an­gelernte Arbeiterinnen und Arbei­
mehr als die Hälfte (54 %) der Personen marktintegration. u Abb 1 ter tätig als Personen ohne Migrationshin­
ohne Migrationshintergrund war 2018 Insgesamt waren Personen mit Migra­ tergrund (20 gegenüber 10 %). Besonders
Vollzeit erwerbstätig, während dies nur tionshintergrund häufiger von Arbeits­ häufig galt dies für Personen aus der Tür­
auf 46 % der Personen mit Migrations­ losigkeit betroffen als Personen ohne kei (29 %). Unter den Geflüchteten betrug
hintergrund zutraf. Bei den Männern Migrationshintergrund (12 gegenüber 6 %). der Anteil der Erwerbstätigen, die als
waren 70 % ohne Migrationshintergrund Dies traf 2018 besonders auf Mi­grantinnen ­A rbeiterinnen und Arbeiter tätig waren,
und 62 % mit Mi­g rationshintergrund in und Migranten aus der Türkei zu, von de­ sogar deutlich mehr als die Hälfte (59 %).
Vollzeit beschäftigt, bei den Frauen war nen 14 % arbeitslos waren. Unter den Ge­ Personen ohne Migrationshintergrund
ein ähnlicher Unterschied festzustellen flüchteten waren 30 % arbeitslos. Fast ein waren hingegen häufiger in mittleren oder
(37 % ohne und 30 % mit Migrations­ Drittel von ihnen befand sich in Sprach- höheren Angestellten­berufen beschäftigt
hintergrund). Frauen mit Migrations­ oder Inte­grationskursen. Interessante Un­ als Personen mit Migrationshintergrund

289
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.3 / Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen

u Tab 2 Berufliche Stellung nach Migrationshintergrund und Geschlecht 2018 — in Prozent

Personen Personen mit Migrationshintergrund ¹ 17- bis 45-Jährige


ohne Nachfolge­ (Spät-) ohne Migranten­
Berufliche Stellung Südwest­ Ost­- Geflüch-
Migrations- Gesamt Türkei staaten Aussiedler/- Migrations­ nach-
hintergrund ¹ europa europa tete
Jugoslawiens innen hintergrund kommen
Gesamt
Arbeiter /-innen 10 20 29 23 17 21 22 59 11 14
Facharbeiter /-innen,
11 9 11 16 10 11 6 3 8 8
Meister /-innen
Einfache Angestellte 16 25 33 25 23 20 27 31 19 30
Mittlere Angestellte 30 23 15 24 29 24 23 4 29 25
Höhere Angestellte 18 14 5 9 13 14 13 1 20 16
Selbstständige 8 7 5 2 6 7 7 1 5 4
Beamtinnen / Beamte 7 2 2 1 1 2 3 0 7 4
Frauen
Arbeiterinnen 8 18 27 18 20 18 19 51 7 11
Facharbeiterinnen,
3 2 1 7 3 2 1 0 3 2
Meisterinnen
Einfache Angestellte 23 32 43 30 27 27 34 36 26 35
Mittlere Angestellte 40 28 18 32 30 31 26 10 37 29
Höhere Angestellte 13 12 7 10 13 13 11 0 15 16
Selbstständige 6 5 2 2 7 8 5 3 4 2
Beamtinnen 7 2 2 0 1 1 3 0 8 4
Männer
Arbeiter 11 22 31 26 14 26 24 60 13 16
Facharbeiter, Meister 17 14 18 24 16 22 12 3 13 13
Einfache Angestellte 11 19 25 20 20 12 19 31 14 26
Mittlere Angestellte 21 18 13 18 28 16 19 3 23 21
Höhere Angestellte 23 17 4 8 14 16 15 2 24 16
Selbstständige 9 8 7 2 6 7 9 1 6 4
Beamte 7 2 1 2 2 2 2 0 6 4

1 Erwerbstätige Bevölkerung zwischen 17 und 64 Jahren.


Datenbasis: SOEP v35, gewichtet

(48 gegenüber 37 %). Dabei besetzten vor und Meister beschäftigt (14 beziehungs­ die im Besonderen auf Frauen zutraf.
allem Menschen aus Südwesteuropa und weise 17 % der Männer gegenüber 2 be­ Von diesen waren 2018 nur noch 11 % als
Osteuropa sowie (Spät-)Aussiedlerinnen ziehungsweise 3 % der Frauen), während Arbeiterinnen beschäftigt, 16 % hatten
und (Spät-)Aussiedler höhere und mittlere Frauen mit und ohne Migrationshinter­ eine Funktion als höhere Angestellte.
Angestelltenpositionen. Bei den Geflüchte­ grund häufiger eine Stellung als einfache
ten war dieser Anteil hingegen besonders Angestellte aufwiesen (32 beziehungsweise 8.3.3 Erwerbs-, Haushaltseinkom-
gering: Nur 5 % arbeiteten als mittlere und 23 % der Frauen gegenüber 19 beziehungs­ men und Armutsrisikoquote
höhere Angestellte. Personen mit Migra­ weise 11 % der Männer). Die geschlechts­ Ein zentraler Faktor für die Qualität
tionshintergrund waren nur selten in den spezifischen Unterschiede fielen bei den eines Arbeitsplatzes ist neben der beruf­
Beamtenberufen vorzufinden, da diese Migrantennachkommen geringfügig lichen Stellung die Höhe des erzielten
die deutsche Staatsbürgerschaft voraus­ kleiner aus als bei den Personen mit Erwerbseinkommens. Das monatliche
setzen. u Tab 2 ­M igrationshintergrund. Im Vergleich zu Netto­erwerbseinkommen (Median, siehe
Hinsichtlich der beruflichen Stellung Letzteren waren die 17- bis 45-jährigen dazu Kapitel 3.1, Seite 115, Info 3) von
zeigen sich bei Personen mit und ohne Migrantennachkommen seltener als Ar­ Personen mit Migrationshintergrund lag
Migrationshintergrund ähnliche Unter­ beiter oder Arbeiterinnen beschäftigt mit 1 500 Euro rund 300 Euro unterhalb
schiede zwischen Männern und Frauen. und besetzten dafür häufiger höhere be­ des Durchschnitts der Erwerbstätigen
So waren Männer mit und ohne Migrati­ ruf liche Stellungen. Insofern ist eine ohne Migrationshintergrund (1 790 Euro).
onshintergrund häufiger als Facharbeiter leichte Aufstiegstendenz zu beobachten, Innerhalb der Gruppe der Migrantinnen

290
Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen / 8.3 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

u Tab 3 Monatliches Nettoerwerbseinkommen, Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen und Armutsrisikoquote nach


Migrationshintergrund und Geschlecht 2018

Individuelles Individuelles Haushaltsnetto­


Armuts­
Nettoerwerbs­einkommen Nettoerwerbs­einkommen äquivalenz­
risikoquote ¹
pro Monat pro Stunde einkommen
in Euro (Median) in %
gesamt Frauen Männer gesamt Frauen Männer gesamt gesamt
Personen ohne Migrationshintergrund ² 1 790 1 400 2 100 13 12 14 1 800 14
Personen mit Migrationshintergrund ² 1 500 1 180 1 900 11 11 13 1 500 26
Türkei 1 400 900 1 800 10 9 11 1 330 32
Nachfolgestaaten Jugoslawiens 1 380 1 100 2 000 11 10 13 1 430 30
Südwesteuropa 1 600 950 2 000 11 11 13 1 400 32
(Spät-)Aussiedler/-innen 1 800 1 470 2 100 13 12 13 1 480 26
Osteuropa 1 400 1 100 1 700 11 10 12 1 270 33
Geflüchtete 920 540 1 000 8 7 8 630 81
17- bis 45-Jährige
ohne Migrationshintergrund 1 640 1 360 1 860 12 13 11 x x
Migrantennachkommen 1 500 1 200 1 800 11 13 10 x x

1 Weniger als 60 % des Medians des Haushaltsäquivalenznettoeinkommens.


2 Erwerbstätige Bevölkerung zwischen 17 und 64 Jahren.
x Tabellenfach gesperrt, weil ein Teil der Nachkommen noch bei der Familie lebt.
Datenbasis: SOEP v35, gewichtet

und Migranten wiesen Personen aus Süd­ gleichaltrigen Frauen ohne Migrations­ stehen Türkischstämmige, südwest- und
westeuropa (1 600 Euro) und die Gruppe hintergrund sind die Einkommensunter­ osteuropäische Personen waren 2018
der (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-) schiede hingegen deutlich geringer mit einer Armutsrisikoquote von 32
Aussiedler (1 800 Euro) die höchsten mo­ (1 200 beziehungsweise 1 360 Euro). Der beziehungsweise 33 % unter den hier
natlichen Nettoerwerbs einkommen auf. Stundenlohn beträgt bei beiden Gruppen betrachteten Herkunftsgruppen beson­
Geflüchtete verfügten hingegen über die im Durchschnitt 13 Euro pro Stunde. ders stark vom Armutsrisiko betroffen.
geringsten monatlichen Nettoerwerbsein­ Während Menschen ohne Migrations­ Die Gruppe der Geflüchteten war mit 81 %
kommen (920 Euro). Werden die monatli­ hintergrund im Jahr 2018 über ein durch­ am stärksten von Armut gefährdet.
chen Nettoerwerbseinkommen in entspre­ schnittliches Haushaltsnettoäquivalenz­
chende Stundenlöhne umgerechnet, so einkommen (Berechnung siehe Kapitel 6.3, 8.3.4 Deutsche Sprachkenntnisse
beträgt die Differenz zwischen Geflüchte­ Seite 230, Info 1) von 1 800 Euro verfüg­ Neben der Integration in den Arbeits­
ten und Personen mit Migrationshinter­ ten, betrug dieser Wert bei Menschen mit markt ist insbesondere der Erwerb deut­
grund 3 Euro pro Stunde. Vergleichsweise ­M igrationshintergrund nur 1 500 Euro. scher Sprachkenntnisse ein wichtiger
viele dieser Geflüchteten arbeiteten als Insbesondere Personen türk ischer Schritt für eine gelingende Integration in
Arbeiterinnen und Arbeiter sowie einfache (1 330 Euro) und osteuropäischer Her­ die Gesellschaft. Die Sprachkenntnisse
Angestellte, absolvierten Praktika oder kunft (1 270 Euro) erzielten im Vergleich wurden differenziert nach Sprech-, Lese-
befanden sich in einer Ausbildung, wo­ zur Bevölkerung ohne Migrationshinter­ und Schreibfähigkeiten erfasst. Rund
durch das niedrigere Einkommen begrün­ grund unterdurchschnittliche Haushalts­ drei Viertel der Personen mit Migrations­
det werden könnte. u Tab 3 nettoäquivalenzeinkommen. Geflüchtete hintergrund schätzten ihre deutschen
Geschlechterspezifische Unterschiede verfügten im Jahr 2018 mit rund 630 Euro Sprechfähigkeiten nach eigenen Anga­
lassen sich sowohl beim Erwerbseinkom­ über ein noch geringeres Haushaltsnetto­ ben als »gut« oder »sehr gut« ein (74 %).
men als auch bei den Stundenlöhnen äquivalenzeinkommen. Besonders häufig war das bei Migrantin­
feststellen. In allen Herkunftsgruppen Bei den untersuchten Herkunftsgrup­ nen und Migranten aus den Nachfolge­
sind die Nettoerwerbseinkommen sowie pen variierte die Einkommenssituation staaten Jugoslawiens (82 %), Südwesteu­
die Stundenlöhne der Frauen niedriger auch im Hinblick auf das Armutsrisiko ropa (83 %) sowie bei (Spät-)Aussiedle­
als die der Männer. Frauen aus der Türkei (siehe Kapitel 6.2, Seite 222). Als arm rinnen und (Spät-)Aussiedlern (81 %) der
und weibliche Geflüchtete erzielten be­ gelten Haushalte, denen weniger als 60 % Fall. In Bezug auf die deutsche Lesefä­
sonders niedrige Stundenlöhne (9 bezie­ des Medians der Haushaltsnettoäquiva­ higkeit gaben mehr als drei Viertel (77 %)
hungsweise 7 Euro). Beim Vergleich von lenzeinkommen in der gesamten Bevöl­ der Personen mit Migrationshintergrund
weiblichen Migrantennachkommen mit kerung in Deutschland zur Verfügung an, dass ihre Fähigkeiten »gut« bis »sehr

291
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.3 / Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen

gut« seien. In Bezug auf die Schreibfähig­ fähigkeit war der Anteil noch geringer 8.3.5 Erfahrung von Benachteili-
keit betrug dieser Anteil zwei Drittel (42 %). Dies ist größtenteils auf die kurze gung, Sorgen, Bleibeabsicht und
(66 %). u Tab 4 Aufenthaltsdauer zurückzuführen. Ge­ Überweisungen
Fast alle Migrantennachkommen genüber dem Jahr 2016 hat sich die durch­ In Bezug auf Erfahrungen von Benachtei­
gaben an, die deutsche Sprache »gut« bis schnittliche Sprachkompetenz der Ge­ ligung gaben 6 % der Personen mit Mig­
»sehr gut« sprechen, schreiben und lesen flüchteten jedoch wesentlich verbessert. rationshintergrund, 6 % der Migranten­
zu können. Geflüchtete verfügten hinge­ Damals gaben nur 17 % an, dass ihre nachkommen und 7 % der Geflüchteten
gen deutlich seltener über gute deutsche Sprechfähigkeit »gut« oder »sehr gut« sei. an, häufig Situationen erlebt zu haben, in
Sprachkenntnisse. Im Jahr 2018 schätzte Bei der Schreibkompetenz betrug der denen sie aufgrund ihrer Herkunft ab­
weniger als die Hälfte der Geflüchteten Anteil 20 % und bei der Lesekompetenz gewiesen beziehungsweise benachteiligt
ihr Leseniveau als »gut« oder »sehr gut« 25 %. Hier zeigen sich also erhebliche wurden. Über solche Erfahrungen be­
ein (46 %). Bei der Sprech- und Schreib­ Fortschritte. richteten die Herkunftsgruppen in unter­
schiedlichem Ausmaß. Dabei gaben Per­
sonen türkischer Herkunft am häufigsten
an, dass sie bereits Situationen erlebt
u Tab 4 Deutsche Sprachkenntnisse 2018 — in Prozent
hätten, in denen sie sich benach­teiligt
Sprechen Schreiben Lesen fühlten (14 %), während dies nur 2 % der
Bevölkerung mit Migrationshintergrund 74 66 77 Personen aus Südwesteuropa und 2 % der
Türkei 71 67 72
(Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aus­
Nachfolgestaaten Jugoslawiens 82 68 83
siedler angaben. u Tab 5
Südwesteuropa 83 71 79
Personen mit Migrationshintergrund
machten sich 2018 insgesamt etwas seltener
(Spät-)Aussiedler/-innen 81 78 85
große Sorgen wegen Ausländerfeindlich­
Osteuropa 67 58 72
keit als Personen ohne Migrationshinter­
Geflüchtete
grund (31 gegenüber 34 %) und Migranten­
  2016 17 20 25
nachkommen (36 %). Am seltensten mach­
  2018 42 42 46
ten sich Geflüchtete Sorgen wegen dieses
Migrantennachkommen (17- bis 45-Jährige) 98 97 97
Themas (12 %). Am weitesten waren diese
Einschätzung der eigenen Kenntnisse als »gut« oder »sehr gut«. Sprachkenntnisse wurden 2018
nicht in allen Samples erhoben. Dementsprechend werden Informationen von 2017 ausgegeben.
Datenbasis: SOEP v35, gewichtet

u Tab 5 Erfahrung von Benachteiligung aufgrund der Herkunft, Ausmaß der Sorgen wegen Ausländerfeindlichkeit,
Freunde mit Migrationshintergrund, Bleibeabsicht und Überweisungen ins Ausland 2018

Wahrgenommene Sorgen wegen Sorgen um Größtenteils In


Über- Durchschnitt-
Benachteiligung Ausländer­ ­wirtschaftliche Freunde mit Deutschland
weisungen licher Betrag
wegen der feindlichkeit Situation Migrations­ für immer
ins Ausland der Zahlungen
Herkunft (Anteil »große (Anteil »große hintergrund bleiben
(Anteil »ja«) ins Ausland
(Anteil »häufig«) ¹ Sorgen«) Sorgen«) (Anteil »ja«) (Anteil »ja«) ¹

in % in Euro

Bevölkerung ohne Migrationshintergrund X 34 8 1 X 1 3 980


Bevölkerung mit Migrationshintergrund 6 31 16 36 85 13 1 590
Türkei 14 46 19 58 71 11 1 010
Nachfolgestaaten Jugoslawiens 4 26 20 36 88 20 830
Südwesteuropa 2 30 13 30 78 4 1 860
(Spät-)Aussiedler/-innen 2 30 12 38 98 11 2 660
Osteuropa 5 26 16 37 86 19 1 400
Geflüchtete 7 12 31 62 96 10 890
17- bis 45-Jährige
ohne Migrationshintergrund X 33 10 2 X 1 2 090
Migrantennachkommen 6 36 12 29 86 2 690

1 Benachteiligung wegen der Herkunft und die Bleibeabsicht wurden 2018 nicht für alle Samples erhoben. Dementsprechend werden Informationen für 2017 ausgegeben.
X Tabellenfach gesperrt, weil Aussage nicht sinnvoll.
Datenbasis: SOEP v35, gewichtet

292
Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen / 8.3 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

Sorgen hingegen unter Personen mit tür­ Freunde einen Migrationshintergrund Mehr als ein Zehntel (13 %) der Be­
kischer Herkunft verbreitet. Hier machte hätten (1 %). Unter den Jüngeren (17- bis völkerung mit Migrationshintergrund
sich fast jeder Zweite (46 %) große Sorgen 45-Jährige) betrug der Anteil 2 %. Bei hatte im Jahr 2018 Geld ins Ausland, also
wegen Ausländerfeindlichkeit. Personen mit Migrationshintergrund war in der Regel in das jeweilige Herkunfts­
Unterschiede zwischen den Herkunfts­ das hingegen bei mehr als einem Drittel land, überwiesen. Dies gaben vor allem
gruppen lassen sich auch in Bezug auf die der Fall (36 %). Türkischstämmige Perso­ Personen aus den Nachfolgestaaten Jugo­
Sorgen um die wirtschaftliche Situation nen gaben dabei am häufigsten an (58 %), slawiens und aus Osteuropa (20 % und
feststellen. Unter den Personen türkischer dass ihr Freundeskreis größtenteils aus 19 %) an. Am seltensten hatten Südwest­
Herkunft und aus den Nach­folgestaaten Personen mit Migrationshintergrund be­ europäerinnen und Südwesteuropäer
Jugoslawiens waren diese Sorgen am stehe. Unter den Geflüchteten war der Geld überwiesen (4 %). Auch die Migran­
stärksten verbreitet. Hier machte sich Anteil hingegen mit Abstand am höchs­ tennachkommen hatten vergleichsweise
rund jede / jeder Fünfte große Sorgen. ten. Hier berichteten 62 %, dass die meis­ seltener Zahlungen ins Ausland getätigt
Insgesamt machten sich jedoch weniger ten ihrer Freundinnen und Freunde ei­ (2 %). Konkret handelte es sich dabei
Personen große Sorgen um die wirtschaftli­ nen Migrationshintergrund hätten. auch um höchst unterschiedliche Sum­
che Situation als wegen Ausländerfeind­ Hinsichtlich der Bleibeperspektiven men. Personen mit Migrationshinter­
lichkeit – dies gilt sowohl für Personen mit in Deutschland äußerten im Jahr 2017 grund hatten während des vorherigen
als auch ohne Migrationshintergrund (16 85 % der Personen mit Migrationshinter­ Jahres durchschnittlich 1 590 Euro an
beziehungsweise 8 %) und für Migranten­ grund den Wunsch, für immer in Verwandte und Freunde ins Ausland
nachkommen (12 %). Anders sah dieses Deutschland bleiben zu wollen. Die größ­ überwiesen, Migrantennachkommen
Bild unter Geflüchteten aus. Sorgen um die ten Anteile wiesen (Spät-)Aussiedlerin­ durchschnittlich 690 Euro.
wirtschaftliche Situation waren unter Ge­ nen und (Spät-)Aussiedler (98 %) sowie
flüchteten besonders hoch und deutlich Geflüchtete (96 %) auf. Die Absicht, in 8.3.6 Gesundheit
weiter verbreitet als Sorgen wegen Auslän­ Deutschland zu bleiben, war bei Personen Die gesundheitliche Situation von Mig­
derfeindlichkeit (31 beziehungsweise 12 %). türkischer Herkunft (71 %) am niedrigs­ rantinnen und Migranten kann als wich­
Bei der Zusammensetzung des Freun­ ten. Die schwierigere soziale Situation tiger Faktor für die Integration verstan­
deskreises gaben Personen ohne Migrati­ dieser Gruppe und die stärker verbreitete den werden, da die Gesundheit bedeu­
onshintergrund nur sehr selten an, dass subjektive Erfahrung von Benachteili­ tende Auswirkungen auf individuelle
die meisten ihrer Freundinnen und gung könnten dieses Ergebnis erklären. Bildungskarrieren, ökonomische Integra­
tion und soziale Teilhabe hat. Personen
mit Migrationshintergrund berichteten
häufiger als Personen ohne Migrations­
hintergrund von einem »guten« bis »sehr
guten« Gesundheits­z ustand (55 gegen­
u Tab 6 Gesundheitsindikatoren 2018 — in Prozent
über 46 %). Nur (Spät-)Aussiedlerinnen
Guter bis Wegen Wegen und (Spät-)Aussiedler gaben seltener an,
sehr guter körperlicher seelischer dass sie einen guten bis sehr guten
Gesundheits­ Einschränkungen Einschränkungen
zustand weniger geschafft weniger geschafft Gesundheitszustand hätten. Bei den
Geflüchteten ist der Anteil der Personen,
Bevölkerung ohne Migrationshintergrund 46 15 6
die von einem guten bis sehr guten
Bevölkerung mit Migrationshintergrund 55 14 7
Gesundheitszustand berichteten, mit
Türkei 54 16 6 75 % mit Abstand am größten. u Tab 6
Nachfolgestaaten Jugoslawiens 57 10 7 In Bezug auf körperliche und seeli­
Südwesteuropa 51 15 9 sche Einschränkungen lassen sich nur
(Spät-)Aussiedler/-innen 42 20 5 geringfügige Unterschiede im Vergleich
Osteuropa 58 13 5 von Personen mit und ohne Migrations­
Geflüchtete 75 10 10
hintergrund feststellen. Personen mit
und ohne Migrationshintergrund berich­
17- bis 45-Jährige
teten zu ähnlichen Teilen, dass sie auf­
ohne Migrationshintergrund 65 8 6
grund von körperlichen (14 beziehungs­
Migrantennachkommen 67 8 6
weise 15 %) oder seelischen Einschrän­
Datenbasis: SOEP v35, gewichtet kungen (7 beziehungsweise 6 %) weniger
geschafft hätten. (Spät-)Aussiedlerinnen

293
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.3 / Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen

u Tab 7 Lebens- und Bereichszufriedenheit 2018 — Mittelwerte

Personen Personen mit Migrationshintergrund 17- bis 45-Jährige


ohne
Zufriedenheit … Nachfolge­ (Spät-) ohne Migranten-
Migrations- Südwest­ Ost- Geflüch-­
hintergrund Gesamt Türkei staaten Aussiedler/ Migrations­ nach-
europa europa tete
Jugoslawiens -innen hintergrund kommen

… mit dem Leben heute 7,3 7,4 7,2 7,5 7,1 7,5 7,5 7,0 7,4 7,4

… mit dem persönlichen


6,5 5,9 5,6 5,9 6,1 6,2 5,7 5,3 6,3 6,1
Einkommen

… mit der Gesundheit 6,5 6,9 6,6 7,2 6,7 6,5 6,9 7,9 7,2 7,4

Gemessen auf einer Skala von 0 (niedrig) bis 10 (hoch).


Datenbasis: SOEP v35, gewichtet

und (Spät-)Aussiedler gaben am häufigs­ Skala von 0 bis 10). Dabei waren (Spät-) (6,5), Personen türkischer Herkunft (6,6)
ten an, dass körperliche Einschränkun­ Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedler sowie Südwesteuropäerinnen und Süd­
gen eine Rolle gespielt hätten (20 %), sowie Personen aus Osteuropa und aus europäer (6,7) eine etwas niedrigere Zu­
während Personen aus den Nachfolge­ den Nachfolgestaaten Jugoslawiens 2018 friedenheit mit der eigenen Gesundheit,
staaten Jugoslawiens und Gef lüchtete geringfügig zufriedener mit ihrem Leben, während Geflüchtete die höchste Zufrie­
dies vergleichsweise selten berichteten während Personen aus der Türkei und denheit in Bezug auf ihre Gesundheit
(jeweils 10 %). Unter den 17- bis 45-Jährigen Südwesteuropa sowie Geflüchtete gering­ angaben (7,9). Auch dieses Muster deckt
mit und ohne Migrationshintergrund fügig unzufriedener waren. u Tab 7 sich mit den Ergebnissen zur Selbstein­
werden körperliche Einschränkungen Mit dem persönlichen Einkommen schätzung der körperlichen Einschrän­
noch seltener genannt (jeweils 8 %). Ver­ waren Personen mit Migrationshinter­ kungen (Tabelle 6). Die vergleichsweise
gleichsweise hoch ist hingegen der Anteil grund durchschnittlich weniger zufrie­ hohe Verbreitung seelischer Einschrän­
der Geflüchteten, die von Einschränkun­ den als Personen ohne Migrationshinter­ kungen bei der Gruppe der Geflüchteten
gen ihrer seelischen Gesundheit berich­ grund (5,9 gegenüber 6,5). Besonders scheint sich hingegen kaum in der Zu­
teten (10 %). Die schlechtere psychische Geflüchtete waren mit ihrem persönli­ friedenheit mit der eigenen Gesundheit
Gesundheit von Geflüchteten könnte im chen Einkommen unzufrieden. Dies ist widerzuspiegeln. Die 17- bis 45-jährigen
Zusammenhang mit den Erfahrungen angesichts der Tatsache, dass sie über ein Personen mit und ohne Migrationshin­
von Flucht, Verfolgung und Krieg sowie deutlich niedrigeres Erwerbseinkommen tergrund waren im Durchschnitt zufrie­
Trennung von Familienmitgliedern oder verfügen, nicht verwunderlich. dener mit ihrer Gesundheit (7,4 bezie­
ungewissen Zukunftsaussichten stehen. Die durchschnittliche Zufriedenheit hungsweise 7,2) als alle Personen mit
mit der eigenen Gesundheit war im Jahr und ohne Migrationshintergrund.
8.3.7 Zufriedenheit 2018 für Personen ohne Migrations­
Mit Blick auf die Zufriedenheit mit dem hintergrund niedriger als für Personen
Leben zeigen sich kaum Unterschiede mit Migrationshintergrund (6,5 gegen­
zwischen Personen mit und ohne Migra­ über 6,9). Dieses Muster deckt sich mit
tionshintergrund. Die durchschnittliche den Ergebnissen bezüglich der Einschät­
Lebenszufriedenheit war bei Personen zung des Gesundheitszustands (Tabelle
mit Migrationshintergrund unwesentlich 6). Unter den Personen mit Migrations­
höher als bei Personen ohne Migrations­ hintergrund berichteten vor allem (Spät-)
hintergrund (7,4 gegenüber 7,3 auf einer Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedler

294
Regionale Disparitäten / 8.4 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

8.4 Für die Sicherung von Lebensstandard


und Lebensqualität spielen Regionen eine
schen Angleichungsprozess der Regionen
geführt, sondern umgekehrt durch Un-
Regionale zunehmende Rolle. Deutschland weist im gleichheiten bei den Anschluss- und
Disparitäten* Unterschied zu anderen europäischen
Ländern (zum Beispiel Großbritannien
Übertragungsraten sowie neuen Arbeits-
plätzen in der Wissens-, Dienstleistungs-
* Überarbeitung und Erweiterung der Version,
die 2013 unter Mitarbeit von Roland Habich und Frankreich) eine ausgesprochen und Kulturökonomie zur Stärkung der
erstellt wurde.
­d ezentrale Siedlungs- und Wirtschafts- Ballungsräume beigetragen. Wachsende
struktur auf. Das Zentrale-Orte-Konzept regionale Ungleichheiten beinhalten die
Annette Spellerberg, Jonas Kirch als Steuerungsinstrument für die ver- Gefahr, Räume zu schaffen, in denen die
Technische Universität Kaiserslautern gleichsweise gleichmäßige lokale Ausstat- Menschen schlechtere Lebenschancen vor-
tung mit sozialen und kulturellen Infra- finden und von der allgemeinen Entwick-
strukturen und der Föderalismus bringen lung abgekoppelt werden.
WZB/SOEP
neben historischen Prägungen die vielfäl- In politischer Hinsicht wird auf EU-
tigen Räume hervor, in denen die Men- und Bundesebene das Leitbild der Herstel-
schen leben, die diese aktiv mitgestalten. lung gleichwertiger Lebensverhältnisse
Demografische, ökonomische und so- aktiv durch vielfältige monetäre Transfer-
ziale Faktoren haben jedoch zu starken leistungen verfolgt, die jedoch die Ausein-
räumlichen Disparitäten geführt. Wäh- anderentwicklung von Lebensbedingun-
rend viele Ballungsräume sich wirtschaft- gen und Lebenschancen nicht haben auf-
lich gut entwickeln und durch die Zu- halten können. In Anbetracht steigender
nahme von Arbeitsplätzen und Bevölke- regionaler Disparitäten hat daher die Bun-
rung prosperieren und teilweise unter desregierung im Jahr 2018 die Kommissi-
Druck geraten, entleeren sich andere, on »Gleichwertige Lebensverhältnisse«
strukturschwache Räume. Eine Abnah- eingesetzt, die 2020 ihren Abschlussbe-
me und Alterung der Bevölkerung in richt präsentiert hat. Hier wird festgestellt,
Kombination mit ökonomischer Schwä- dass die Gleichwertigkeit der Lebensver-
che in peripheren und strukturschwa- hältnisse nicht gegeben ist, die großen
chen Regionen haben dazu geführt, dass räumlichen Disparitäten den gesellschaft-
sich die Bewohnerinnen und Bewohner lichen Zusammenhalt in Deutschland in-
»abgehängt« fühlen. In einigen struktur- frage stellen und gegensteuerndes politi-
schwachen Regionen sind bereits heute sches Handeln auf den verschiedenen
technische und kulturelle Infrastruktu- räumlichen Ebenen (EU, Bund, Länder,
ren kaum noch tragfähig und grundle- Kommunen) erforderlich ist.
gende Dienstleistungen kaum aufrecht- Regionen versuchen, sich unter den
zuerhalten. Umgekehrt sind die Bewohne- veränderten Rahmenbedingungen neu
rinnen und Bewohner in Städten großer aufzustellen, Potenziale zu ermitteln, die-
Zuwanderung, steigenden Preisen auf dem se gezielt zu fördern und eine zukunftsfä-
Wohnungsmarkt und überlasteten Infra- hige Entwicklung anzustoßen. Akteure
strukturen ausgesetzt. aus Wirtschaft und Wirtschaftspolitik
Aufgrund der zunehmenden Zuwan- orientieren sich an einer Stärkung regio-
derung durch die allgemeine Internatio- naler Cluster, der Koppelung von For-
nalisierung und Globalisierung, die EU- schung, Existenzgründung und Verwer-
Osterweiterung ab dem Jahr 2004 und tungsketten oder Regionalmarketing.
die Bewegung von Geflüchteten vor allem Vorhandenes Humanvermögen, ziviles
in den Jahren 2014 bis 2016 wuchs zwi- Engagement, Infrastruktur und politi-
schenzeitlich auch die Bevölkerung in sche Akteure beeinflussen maßgeblich
kleineren Orten. Dieser Trend setzt sich die regionalen Entwicklungen.
jedoch nicht länger fort. Großstädte und Um die Lebensverhältnisse in den Re-
Universitätsstädte wachsen hingegen wei- gionen zu ermitteln, werden im Folgen-
ter. Auch die Digitalisierung hat nicht zu den Bevölkerung und Bevölkerungsent-
einem demografischen und ökonomi- wicklung, Wirtschaftskraft, Haushalts-

295
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.4 / Regionale Disparitäten

einkommen sowie die Wohnverhältnisse uTab 1 Siedlungsstrukturelle Typisierung der Kreise,


untersucht. Ein Ziel der empirisch orien- Anteil der Kreise 2017 — in Prozent
tierten Bestandsaufnahme regionaler Siedlungsstrukturelle Typisierung Fläche Einwohner /-innen
Disparitäten besteht darin, zu überprü-
sehr peripher 12 3
fen, inwieweit sich die Lebensbedingun-
peripher 42 20
gen in den Regionen West- und Ost-
zentral 33 30
deutschlands immer noch voneinander
sehr zentral 13 47
unterscheiden.
darunter
Ländlich, insgesamt 46 21
8.4.1 Siedlungsstruktur und
sehr peripher 11 3
Bevölkerungsdichte
peripher 25 11
Regionen werden unterschiedlich defi- zentral 9 7
niert. Sie beziehen sich in verwaltungspo- sehr zentral 0 1
litischer Hinsicht auf eine mittlere Ebene Mit Verstädterungsansätzen, insgesamt 37 31
zwischen der Gemeinde und dem Bun- sehr peripher 0 0
desland, das heißt auf Länder, Bezirke peripher 15 8
und Kreise. Zugleich wird mit »Region« zentral 19 18
ein Verf lechtungsraum bezeichnet, der sehr zentral 2 5
wirtschaftlich, geografisch und kulturell Städtisch, insgesamt 18 48
bestimmt ist. Bislang liegen jedoch nur sehr peripher 0 0
f ür ver wa ltungsmä ßig abgegrenzte peripher 2 1
Raumeinheiten ausreichend statistische zentral 5 5
Informationen zu Lebensbedingungen sehr zentral 11 42
und Lebensstandard vor.
Quelle: BBSR: INKAR Online 2020
Die Daten in Tabelle 1 dokumentieren
eine der vielfältigen regionalen Gliede-
rungsmöglichkeiten. Bereits hier wird
­ersichtlich, dass in den unterscheidbaren gart (3 052 E / km²), Herne (3 006 E / km²) Anteil an ländlichen Regionen. In west-
Räumen unterschiedliche Lebensbedin- und Frankfurt am Main (3 008 E / km²) mit deutschen Bundesländern wiesen Bayern,
gungen vorzufinden sind. Städtische jeweils mehr als 3 000 Einwohnerinnen Niedersachsen und Schleswig-Holstein
Kreise machten 2017 zwar nur 18 % der und Einwohnern je Quadratkilometer. einen beachtlichen Anteil ländlicher Ge-
Gesamtfläche Deutschlands aus; hier leb- Wie Daten des Bundesamts für Bauwesen biete auf.
ten aber fast die Hälfte (48 %) der Ein- und Raumordnung (BBSR) zeigen, haben Abbildung 1 stellt dar, wie sich die
wohnerinnen und Einwohner. Im Gegen- die dünn besiedelten Kreise seit 2011 an Bundesrepublik Deutschland gegenwär-
satz dazu nahm der ländliche Raum zwar Bevölkerung verloren, während die dicht tig von metropolitanen Stadtregionen bis
über 46 % der Fläche ein; dort lebte aller- besiedelten Großstädte an Bevölkerung hin zu peripheren ländlichen Regionen
dings nur gut ein Fünftel (21 %) der Be- gewonnen haben. strukturiert. Um differenzierte Mobili-
völkerung. Drei Viertel der Bürgerinnen Neben einer dünnen Besiedlung ist tätsanalysen vornehmen zu können, hat
und Bürger (77 %) lebte in zentralen oder ein durch Land- und Forstwirtschaft ge- das Bundesministerium für Verkehr und
sehr zentralen ­Orten, knapp ein Viertel prägter Siedlungs- und Landschaftsraum Infrastruktur mit dem BBSR 2018 eine
(23 %) in peripheren oder sehr peripheren der entscheidende Indikator für länd­ neue siedlungsstrukturelle Typologie
Orten. u Tab 1 liche Regionen. Der Anteil der in der mit insgesamt 17 Kategorien entwickelt.
Einige Kreise im ostdeutschen Norden Landw ir tschaf t Beschäf tig ten war ­»Regionalstatistische Raumtypen« (Regi-
und in Niedersachsen wiesen eine Bevöl- deutschlandweit mit 0,8 % im Jahr 2017 oStaR) bilden die Größe und Funktion
kerungsdichte von weniger als 40 Einwoh- sehr gering. In keinem Landkreis ging von Städten, die Lage einer Kommune im
nerinnen und Einwohnern je Quadrat­ der Anteil über die 10-Prozent-Marke hi- Hinblick auf ihr Einzugsgebiet sowie
kilometer auf (Prignitz 36 E/km², Altmark- naus; die höchsten Anteile der Beschäf- siedlungsstrukturelle Merkmale ab. In ei-
kreis Salzwedel 37 E / km², Ostprignitz- tigten im primären Sektor gab es im nem ersten Schritt wird hierzu der Ein-
Ruppin 39 E / km², Uckermark 39 E / km², Rhein-Pfalz-Kreis mit 9,4 % und in Am- zugsbereich der Großstädte anhand der
Lüchow-Dannenberg 39 E / km²). Am dich- merland in Niedersachsen mit 6,3 %. Ost- Pkw-Fahrzeit zwischen einer Kommu-
testen besiedelt waren die Städte München deutsche Länder hatten mit Ausnahme ne / einem Gemeindeverband und der
(4 686 E / km²), Berlin (3 055 E / km²), Stutt- von Sachsen einen vergleichsweise hohen nächsten Großstadt von unter 30 Minuten

296
Regionale Disparitäten / 8.4 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

u Abb 1 Regionalstatistische Raumtypen 2018 (RegioStaR)

DK

Kiel

Rostock

Hamburg Schwerin

Szczecin

Bremen

PL

NL
Berlin
Enschede Hannover
Potsdam
Magdeburg
Arnhem
Bielefeld
Nijmegen
Cottbus
Essen Dortmund Halle/S.
Venlo

Düsseldorf Leipzig
Kassel
Erfurt Dresden
Köln
Chemnitz
Bonn

BE

Frankfurt/M. CZ
Wiesbaden
LU
Mainz
Luxembourg

Nürnberg
Mannheim
Saarbrücken

FR Stuttgart

Strasbourg
Ulm

München AT
Mulhouse Freiburg i.Br.
Salzburg

CH
Basel

Metropolitane Regiopolitane Stadtregionsnahe Periphere ländliche


Stadtregion Stadtregion ländliche Region Region

Metropole

Großstadt Regiopole zentrale Stadt zentrale Stadt grenznahe Großstadt mit stadtregionaler
Verflechtung zu Deutschland
Mittelstadt Mittelstadt Mittelstadt Mittelstadt

städtischer Raum städtischer Raum städtischer Raum städtischer Raum Geometrische Grundlage:
Einheitsgemeinden und Gemeindeverbände (generalisiert),
31.12.2018 © GeoBasis-DE/BKG
kleinstädtischer, kleinstädtischer, kleinstädtischer, kleinstädtischer, Bearbeitung: BBSR, A. Milbert
dörflicher Raum dörflicher Raum dörflicher Raum dörflicher Raum Grundkonzeption: BMVI

Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR


Quelle: BBSR Bonn 2020

297
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.4 / Regionale Disparitäten

oder eines Auspendleranteils in die Groß- uAbb 2 Durchschnittliche Pkw-Fahrzeit zum nächsten
stadt von mindestens 25 % festgestellt. Be- Oberzentrum 2018 — in Minuten
stehen enge Pendlerverflechtungen, wer-
den in einem zweiten Schritt Kommunen
zu Stadtregionen zusammengefasst. Die Brandenburg 46
übrigen Gemeinden zählen zu den ländli- Elbe-Elster 66
chen Regionen, differenziert in stadtregi-
Prignitz 65
onsnahe und periphere ländliche Regio-
Sachsen-Anhalt 39
nen (Fahrzeit mehr als 45 Minuten zur
Stendal 69
nächsten Großstadt oder als Gemeinde-
verband weniger als 300 000 Personen Ta- Altmarkkreis 54

gesbevölkerung). Im dritten Schritt erfolgt Niedersachsen 36

eine weitere Differenzierung der Gemein- Lüchow-Dannenberg 69


den und Gemeindeverbände innerhalb der Aurich 59
Stadt- beziehungsweise ländlichen Regio- Thüringen 35
nen, jeweils in Mittelstädte, städtische
Nordhausen 54
Räume und kleinstädtische /dörfliche Räu-
Unstrut-Hainich-Kreis 49
me sowie verschiedene Großstadttypen
Mecklenburg-Vorpommern 35
nach ihrer Lage im Raum. u Abb 1
Ludwigslust-Parchim 42
Durch die Darstellung werden genau-
ere Beschreibungen ländlicher Räume Vorpommern-Greifswald 41

möglich und Probleme insbesondere Schleswig-Holstein 35


­peripherer Gebiete erkennbar. Es ist ab- Dithmarschen 65
lesbar, dass der kleinstädtische und dörf­ Nordfriesland 55
liche Raum in ländlichen Regionen in Rheinland-Pfalz 33
größeren Abständen zu den nächstgele-
Birkenfeld 52
genen Städten liegt als in verstädterten
Vulkaneifel 52
Regionen. Am städtischen Raum in
Sachsen 28
Nordrhein-Westfalen wird deutlich, dass
hier Dörfer vergleichsweise nah an grö- Nordsachsen 44

ßeren Städten liegen. Insbesondere in den Meißen 36

Bundesländern Mecklenburg-Vorpom- Baden-Württemberg 27


mern und Brandenburg herrschen große Waldshut 46
Distanzen vor. Ostalbkreis 33
Überdurchschnittliche Distanzen zum 27
Nordrhein-Westfalen
nächsten Oberzentrum oder zur nächsten
Borken 49
Autobahn wirken sich negativ auf die
Hochsauerlandkreis 47
­L ebensbedingungen aus. Sie behindern
Hessen 25
wirtschaftliche Ansiedlungen, Absatz-
märkte und Zugangschancen der Bevöl- Hersfeld-Rotenburg 39

kerung zu Infrastrukturen. In ländlichen Waldeck-Frankenberg 39


Räumen hat der Pkw eine höhere Bedeu- Saarland 25
tung, um die Einrichtungen von Oberzen- Merzig-Wadern 37
tren (zum Beispiel Theater, Museen, Fach- St. Wendel 34
kliniken, Hochschulen oder Regional­
Bayern 20
behörden) zu erreichen als in dichter
Pfarrkirchen 37
besiedelten Regionen, in denen der öffent-
Ebersberg 29
liche Nahverkehr ausgebaut ist und zu-
dem kurze Taktzeiten vorherrschen.
In Abbildung 2 sind für jedes Bundes-
Quelle: BBSR, INKAR online 2020
land die Kreise mit den längsten Fahr­
zeiten zum nächsten Oberzentrum aufge-

298
Regionale Disparitäten / 8.4 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

führt. Dünne Besiedlung und landschaft- u Tab 2 Breitbandverfügbarkeit von mindestens 50 Megabit pro Sekunde

liche Besonderheiten (beispielsweise in in Privathaushalten 2017 — in Prozent


den Mittelgebirgen und den Alpen) erhö- Größere Kleine Land-
Großstädte Mittelstädte
hen die Fahrzeiten. In ostdeutschen länd- Kleinstädte Kleinstädte gemeinden
lichen Kreisen ist die Distanz zu einem Westdeutschland 94 89 78 66 57
Oberzentrum im Mittel höher als in Ostdeutschland 90 81 60 42 33
ländlichen Kreisen Westdeutschlands.
Quelle: BBSR: INKAR Online 2020
Insbesondere Brandenburg ist im Mittel
durch lange Fahrzeiten geprägt. In den
nördlichen Bundesländern wird im Mit-
tel mehr Zeit benötigt, zum nächsten
Oberzentrum zu fahren, als zum Beispiel wie das Onlineshopping und Online­ ten werden: Die Bevölkerung Ostdeutsch-
im Saarland, in Hessen oder in Bayern. banking, andere Dienste sind noch nicht lands nahm von 2012 bis 2017 um 1,8 %
In manchen Kreisen beträgt die durch- ­fl ächendeckend verfügbar, zum Beispiel zu. Es zogen vermehrt junge Menschen
schnittliche Fahrzeit zum nächsten Ober- Online-Bürgerdienste der Verwaltung in Großstädte, sodass unter anderem in
zentrum länger als eine Stunde, zum oder die Online-Sprechstunde bei der Erfurt, Leipzig und Dresden ein Bevölke-
­B eispiel in den Landkreisen Stendal, Ärztin beziehungsweise beim Arzt. rungswachstum beobachtet wurde. Zu
­Lüchow-Dannenberg und Prignitz. u Abb 2 Die verschiedenen Siedlungsräume konstatieren ist dabei jedoch, dass mit
Eine noch kleinräumigere Betrachtung sind in unterschiedlicher Qualität mit Ausnahme der kreisfreien Großstädte, die
nach Gemeinden ergibt im Maximum ­Internetanschlüssen ausgestattet. Auch im genannten Zeitraum ein Bevölke-
eine Fahrzeit von 84 Minuten (Seehausen wenn die kleinräumlich verfügbaren Da- rungswachstum von insgesamt 6,6 % ver-
in Sachsen-Anhalt). Die Wirtschaftskraft, ten aus dem Jahr 2017 stammen und der zeichneten, alle anderen Siedlungstypen
gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) Ausbau mit Glasfaserkabeln und Funkver- weiterhin an Bevölkerung verloren. u Abb 3
2017, ist in 22 der 26 schwer erreichbaren bindungen voranschreitet, werden doch Auch in Westdeutschland war in peri-
Kreise niedriger als im jeweiligen Landes- die Stadt-Land-Unterschiede in Tabelle 2 pheren und vom ökonomischen Wandel
durchschnitt. Somit besteht ein fast durch- deutlich (für aktuelle Werte siehe den negativ betroffenen Regionen von 1990
gehender Zusammenhang zwischen peri- Breitbandatlas des Bundes). Für die Bevöl- bis 2017 ein Bevölkerungsverlust zu ver-
pheren Lagen und eigener Wirtschaftskraft. kerung ist die Qualität der Breitbandan- zeichnen. Aufgrund des Zuzugs von Ge-
Ein bedeutendes Problem stellt der schlüsse mittlerweile eine entscheidende flüchteten vor allem in den Jahren von
Ärztemangel dar. In dünn besiedelten Größe bei der Wohnortwahl. u Tab 2 2014 bis 2016 und ihrer regionalen Ver-
ländlichen Kreisen musste im Jahr 2017 teilung sowie der EU-Zuwanderung ist in
eine Ärztin oder ein Arzt in Ostdeutsch- 8.4.2 Bevölkerungsentwicklung der kürzeren Betrachtung von 2012 bis
land etwa 754 Einwohnerinnen und Ein- Die Bevölkerungsentwicklung verlief in 2017 eine Bevölkerungszunahme in allen
wohner versorgen, gegenüber 547 Perso- den verschiedenen Siedlungsräumen und Siedlungsräumen zu beobachten.
nen in kreisfreien Großstädten. In West- Regionen im letzten Jahrzehnt sehr un- Auf Basis der aktuell verfügbaren
deutschland war der Unterschied mit terschiedlich. In Ostdeutschland (ohne Raumordnungsprognose des Bundes­
755 Patientinnen und Patienten in dünn Berlin) ist durch die geringe Geburtenra- instituts für Bau-, Stadt- und Raumfor-
besiedelten ländlichen Kreisen gegenüber te und die Ost-West-Wanderung seit 1990 schung, die die zwischenzeitliche, hohe
541 in kreisfreien Großstädten ähnlich. Je- ein erheblicher Bevölkerungsverlust zu Zuwanderung durch Gef lüchtete aller-
doch lag die Einwohnerdichte mit 148 Per- konstatieren. Einige Städte und Land- dings noch nicht berücksichtigt, ergibt
sonen je Quadratkilometer in Ostdeutsch- kreise verloren mehr als ein Drittel ihrer sich, dass weiterhin mit deutlichen regio-
land 2017 deutlich niedriger als in West- Einwohnerinnen und Einwohner. Hohe nalen Schrumpfungsprozessen zu rech-
deutschland (267), was längere Fahrzeiten Werte für den Zeitraum von 1990 bis 2017 nen ist. Der Bevölkerungsverlust in Ost-
zu den Patientinnen und Patienten be- galten insbesondere für die Stadt Suhl deutschland betrifft dabei wiederum vor
deutet. Der in den 2000er-Jahren konsta- (– 39 %), den Landkreis Oberspreewald- allem die städtischen und ländlichen
tierte Rückgang der Versorgungsgrade ist Lausitz (– 33 %), Frankfurt / Oder (– 32 %) Kreise, während Großstädte kaum be-
dabei nicht länger festzustellen. Im medi- sowie die Landkreise Görlitz, Mansfeld- troffen sind. Nach den Prognosen wird
zinischen Bereich, aber auch in anderen Südharz und das Altenburger Land (je- sich die Schrumpfung in vielen ostdeut-
Bereichen der öffentlichen Versorgung, weils – 30 %). Durch die Suburbanisierung schen Regionen in den nächsten 20 Jah-
führt zudem die Digitalisierung zu neuen rund um Berlin und die Attraktivität von ren sogar noch weiter beschleunigen. In
Angeboten und Dienstleistungen. Einige Großstädten konnte der Trend des Bevöl- Westdeutschland wird ebenfalls ein Be-
Dienste sind f lächendeckend bekannt, kerungsrückgangs phasenweise aufgehal- völkerungsrückgang vorausberechnet,

299
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.4 / Regionale Disparitäten

u Abb 3 Bevölkerungsentwicklung 2012 – 2017 und Prognose 2009 – 2030 — in Prozent stark schrumpfenden Räumen wird sich
die Zahl der älteren Personen ab 60 Jah-
ren bis zum Jahr 2035 deutlich erhöhen.
4,3
– 2,0 kreisfreie Dies trifft gleichermaßen auf west- wie
6,6 Großstädte ostdeutsche Städte und Kreise zu. Eine
– 2,6
starke Alterung ist nur in solchen Räumen
2,8
der Fall, in denen eine Zunahme der älte-
– 0,1 städtische ren Bevölkerung zeitgleich mit einer deut-
– 2,8 Kreise
lichen Unterjüngung einhergeht, also mit
– 21,1
einer rapiden Abnahme jüngerer Bevölke-
2,7 rungs-gruppen durch Geburtenrückgang
– 0,5 ländliche Kreise mit und /oder durch massive Abwanderungen
– 1,2 Verdichtungsansätzen
– 15,8 in a­ ttraktivere Regionen und Städte.
Unter den Kreisen, in denen laut Pro-
1,8 gnosen im Jahr 2040 mehr als 30 % der
– 3,6 dünn besiedelte
– 0,5 ländliche Kreise Bevölkerung über 65 Jahre alt sein wer-
– 15,1 den, sind nahezu ausschließlich ostdeut-
sche Kreise zu finden sowie einige ehe-
Bevölkerungsentwicklung West Bevölkerungsentwicklung Ost malige westdeutsche »Zonenrandgebiete«
Prognose West Prognose Ost
entlang der damaligen innerdeutschen
Quelle: INKAR 2020; BBSR (Hrsg): Raumordnungsprognose, 2015 Grenze. Die »ältesten« Kreise Deutsch-
lands werden demnach die kreisfreien
Städte Suhl in Thüringen und Dessau-
Roßlau in Sachsen-Anhalt (jeweils 31 %)
sein, ­gefolgt von dem eher peripheren
der jedoch deutlich geringer und gleich- dem BBSR beschreiben ein Entwick- Kreis Altenburger Land (30 %).
mäßiger ausfällt als in Ostdeutschland. lungsszenario, das in einem vergleichs- Vom BBSR wird vorhergesagt, dass
Seit der deutschen Vereinigung ist eine weise kurzen Zeitraum bis 2030 von die Altersgruppe der Personen unter
regionale Polarisierung der demografi- rückläufigen Bevölkerungszahlen über 20 Jahren in den ostdeutschen Großstäd-
schen Entwicklung zu konstatieren. Seit – 30 %, etwa im brandenburgischen Kreis ten bis 2040 deutlich zunehmen wird
etwa 2005 wird eine Reurbanisierung be- Oberspreewald-Lausitz, bis zu einem (Dresden 24 %, Jena 25 %, Potsdam 27 %,
obachtet, die auf die wachsende ökonomi- ­regionalen Bevölkerungswachstum von Leipzig 29 %). In den übrigen Kreisen ist
sche, soziale und kulturelle Bedeutung von 22 % in München und jeweils um die 20 % der Anstieg etwas geringer: So stieg der
Städten und den relativen Bedeutungs­ in den umliegenden Landkreisen und Anteil der 6- bis 18-Jährigen von 2012 bis
verlust ländlicher Räume hinweist. Wirt- Städten reicht. Wegen des Zustroms von 2017 in den kreisfreien Großstädten um
schaftsstarke und / oder attraktive Städte Zuwandernden in die westdeutschen 17 % und in den übrigen Kreistypen zwi-
konnten somit bislang von überregionalen Städte verstärkt sich die sehr ungleiche schen 8 und 10 %. Die Verschiebungen
Wanderungsbewegungen profitieren. Wie Bevölkerungsentwicklung in den Regio- der Bevölkerungsstruktur werden enor-
in Westdeutschland wird in ostdeutschen nen Deutschlands. Die oben erwähnte me kommunale Anstrengungen im Be-
Ballungsräumen mit einer positiven wirt- Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse reich der Daseinsvorsorge und Infra-
schaftlichen und demografischen Entwick- in Deutschland erscheint vor diesem struktur erfordern.
lung gerechnet. In den nächsten zwei Jahr- Hintergrund kaum gegeben und ist auch In Westdeutschland ist wegen der
zehnten wird wegen der geburtenschwä- in Zukunft nicht zu erwarten, die regi- derzeitigen Zuwanderung und deren un­
cheren Jahrgänge junger Erwachsener und onsspezifischen und kommunalen Her- gleicher Verteilung über Länder und
bereits erkennbarer Suburbanisierungs- ausforderungen werden demnach an Be- Kommunen eine verlässliche Aussage
prozesse aber wieder ein Bevölkerungs- deutung zunehmen. über junge Menschen derzeit kaum mög-
rückgang in Kernstädten prognostiziert. Mit Schrumpfungsprozessen gehen in lich. Nach den Daten des BBSR werden
Unter konstanten Bedingungen – also zahlreichen Regionen zudem zwei Ver­ jedoch die bayerischen Kreise Freyung-
ohne große Wanderungsbewegungen – ste- änderungen der heute bestehenden Alters- Grafenau (– 15 %), Tirschenreuth (– 14 %),
hen erheblichen regionalen Schrump- struktur einher: zum einen die »Unter­ Amberg-Sulzbach und Neustadt an der
fungsprozessen wachsende Regionen ge- jüngung« und zum anderen die »Überalte- Waldnaab sowie die rheinland-pfälzi-
genüber. Entsprechende Prognosen aus rung« der Gesellschaft. Insbesondere in schen Kreise Vulkaneifel und die Süd-

300
Regionale Disparitäten / 8.4 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

westpfalz (jeweils – 13 %) mit dem größten alisierung Ostdeutschlands und der öko- höchsten Wohlstand gemessen am BIP, in
Rückgang an Kindern und Jugendlichen nomische Rückstand kommen nach wie kleinräumiger Betrachtung wiesen die
zu rechnen haben, während die Groß- vor in einem niedrigeren Bruttoinlands- westdeutschen Städte beziehungsweise
städte vergleichsweise »jung« bleiben. produkt zum Ausdruck. So variierte das Kreise Wolfsburg, Ingolstadt, München
BIP 2017 von 58 100 Euro je Erwerbstäti- und Ludwigshafen mit ihren großen
8.4.3 Wirtschaftskraft und gen in Mecklenburg-Vorpommern bis zu ­Unternehmen (Auto- und Chemieindus­
Beschäftigung 81 900 Euro je Erwerbstätigen in Hessen trie) das höchste BIP auf (jeweils über
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die und 93 500 Euro je Erwerbstätigen in 110 000 Euro). Die wirtschaftsschwächs-
­B eschäftigungsquote und die Arbeits­ Hamburg. u Tab 3 ten Landkreise waren Delmenhorst, Erz-
losigkeit geben Auskunft über die Wirt- Hessen, Bayern und Baden-Württem- gebirgskreis sowie Suhl mit jeweils unter
schaftskraft einer Region. Die Deindustri- berg waren die Flächenländer mit dem 53 000 Euro.

u Tab 3 Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen nach Bundesländern und ihren stärksten beziehungsweise


schwächsten Kreisen 2017 — in 1 000 Euro je Erwerbstätigen

Gebiet BIP Gebiet BIP


Bundesgebiet 74,0 Saarland 67,1
Hamburg 93,5 Merzig-Wadern Landkreis 63,5
Hessen 81,9 Neunkirchen Landkreis 63,5
Werra-Meißner-Kreis Landkreis 59,9 Saarlouis Landkreis 67,2
Vogelsbergkreis Landkreis 62,5 Regionalverband Saarbrücken Landkreis 68,9
Frankfurt am Main kreisfreie Stadt 98,7 Schleswig-Holstein 66,8
Main-Taunus-Kreis Landkreis 101,2 Ostholstein Landkreis 57,2
Bayern 80,4 Plön Landkreis 61,9
Hof kreisfreie Stadt 56,2 Dithmarschen Landkreis 72,3
Weiden in der Oberpfalz kreisfreie Stadt 56,5 Steinburg Landkreis 74,8
München Landkreis 133,3 Brandenburg 63,8
Ingolstadt kreisfreie Stadt 135,8 Ostprignitz-Ruppin Landkreis 54,8
Baden-Württemberg 79,2 Brandenburg / Havel kreisfreie Stadt 55,0
Breisgau-Hochschwarzwald Landkreis 65,4 Teltow-Fläming Landkreis 80,1
Main-Tauber-Kreis Landkreis 66,4 Spree-Neiße Landkreis 81,6
Stuttgart kreisfreie Stadt 101,2 Sachsen-Anhalt 61,1
Böblingen Landkreis 109,3 Halle (Saale) kreisfreie Stadt 55,8
Bremen 76,7 Harz Landkreis 55,4
Nordrhein-Westfalen 72,7 Börde Landkreis 68,0
Bottrop kreisfreie Stadt 53,8 Saalekreis Landkreis 75,4
Herne kreisfreie Stadt 58,5 Sachsen 59,5
Bonn kreisfreie Stadt 94,3 Erzgebirgskreis Landkreis 51,8
Leverkusen kreisfreie Stadt 100,1 Vogtland Landkreis 53,8
Berlin 71,4 Dresden kreisfreie Stadt 64,9
Rheinland-Pfalz 71,1 Leipzig Landkreis 65,0
Pirmasens kreisfreie Stadt 56,4 Thüringen 59,2
Neustadt / Weinstraße kreisfreie Stadt 58,5 Suhl kreisfreie Stadt 52,4
Mainz-Bingen Landkreis 92,3 Gera kreisfreie Stadt 55,5
Ludwigshafen am Rhein kreisfreie Stadt 112,7 Ilm-Kreis Landkreis 64,1
Niedersachsen 70,9 Jena kreisfreie Stadt 65,0
Delmenhorst kreisfreie Stadt 52,8 Mecklenburg-Vorpommern 58,1
Osterholz Landkreis 58,6 Vorpommern-Rügen Landkreis 53,3
Salzgitter kreisfreie Stadt 98,5 Vorpommern-Greifswald kreisfreie Stadt 54,2
Wolfsburg kreisfreie Stadt 163,6 Ludwigslust-Parchim Landkreis 58,9
Rostock kreisfreie Stadt 66,7
Quelle: BBSR: INKAR 2020

301
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.4 / Regionale Disparitäten

In Ländern mit einem hohen BIP ist u Tab 4 Beschäftigtenindikatoren

die Arbeitslosigkeit in der Regel niedri- im regionalen Vergleich 2017 — in Prozent


ger als in Ländern mit einem niedrigen
Anteil hoch
BIP, wobei die Arbeitslosigkeit in den Beschäftigten- Anteil weibliche
qualifizierte
quote ¹ Beschäftigte
Jahren vor der Coronapandemie deutlich Beschäftigte

gesunken war. In Bayern und Baden- Westdeutschland


Württemberg konnte von Vollbeschäfti- kreisfreie Großstädte 56 47 22
gung gesprochen werden (Arbeitslosen- städtische Kreise 60 45 13
quote von 3,2 und 3,5 % im Jahr 2017). In ländliche Kreise mit
61 45 9
den beiden Stadtstaaten Berlin und Bre- Verdichtungsansätzen

men betrugen die Quoten allerdings dünn besiedelte ländliche Kreise 60 46 9

noch 9 und 10 % (2017). Auch in den ost- Ostdeutschland

deutschen Ländern ging die Arbeits­ kreisfreie Großstädte 56 51 24

losigkeit deutlich zurück, die Werte städtische Kreise 66 49 12

­lagen 2017 zwischen 6,1 % (Thüringen) ländliche Kreise mit


64 48 12
Verdichtungsansätzen
und maximal 8,6 % (Mecklenburg-Vor-
dünn besiedelte ländliche Kreise 63 48 11
pommern).
Im Hinblick auf die Beschäftigten- 1 Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Wohnort je 100 Einwohner im erwerbsfähigen Alter.
Quelle: BBSR, INKAR Online 2020
quoten zeigt sich, dass in Westdeutsch-
land und Ostdeutschland die kreisfreien
Großstädte hinter den anderen Kreis­
typen liegen. Sie wiesen 2017 mit 56 % die
niedrigsten Werte auf. Ländliche Kreise für Westdeutschland (mit Ausnahme des zend Arbeitslosengeld II (Aufstocker).
mit Verdichtungsansätzen konnten in noch im Strukturwandel steckenden Die Erwerbstätigkeit, darunter auch Voll-
Ost- und Westdeutschland deutlich bes- Saarlandes). Wird der Zeitraum betrach- zeiterwerbstätigkeit, reichte bei diesen
sere Beschäftigungschancen bieten. u Tab 4 tet, für den die aktuellsten Zahlen zur Personen nicht für das Existenzmini-
Die Beschäftigungsquote von Frauen Verfügung stehen (2012 bis 2017), zeigen mum aus. u Tab 6
unterschied sich in Westdeutschland im sich die höchsten Zugewinne an Beschäf- Minijobs als Haupttätigkeit verloren
Jahr 2017 nicht stark nach Kreistypen tigung in Berlin (bei vergleichsweise ho- an Bedeutung. Im Nebenverdienst wiesen
und lag zwischen 45 und 47 %. In Ost- her Arbeitslosigkeit). Die niedrigsten Minijobs dagegen in Westdeutschland
deutschland war die Frauenerwerbstätig- Werte waren für Sachsen-Anhalt und Steigerungsraten von bis zu 12 % vor allem
keit immer noch weiter verbreitet als im Thüringen mit Werten von 4,7 und 5,6 % in ländlichen Kreisen auf. In Ostdeutsch-
Westen Deutschlands und wies daher ge- zu vermelden. Auf Kreisebene liegen land nahmen die Minijobs im Nebenver-
nerell ein höheres Niveau auf, zwischen Straubing-Bogen und Eichstätt in Bayern dienst in allen Siedlungstypen ab.
48 % in ländlichen Kreisen mit Verdich- und Heinsberg in Nordrhein-Westfalen
tungsansätzen und 51 % in Großstädten. mit einem Beschäftigungszuwachs von 8.4.4 Lebensstandard
Im Vergleich zu 2012 erhöhte sich der 20 % und mehr vorn. Zugleich büßten Für die Betrachtung des Lebensstandards
Anteil weiblicher Beschäftigter in den ­einige kreisfreie Städte an Beschäftigten werden die Indikatoren Haushaltsein-
Kreistypen beider Landesteile nicht. ein (unter anderem Baden-Baden und kommen und Arbeitnehmerentgelte her-
Großstädte zeichneten sich durch einen Frankfurt / Oder). u Tab 5 angezogen. Bezogen auf die Flächenstaa-
überdurchschnittlich hohen Anteil und Mit diesen Zuwächsen gehen auch ten liegen diese in Hessen, Baden-Würt-
ein starkes Wachstum an hoch qualifi- ­z unehmende Anteile von atypischer Be- temberg und Bayern über denjenigen in
zierten Beschäftigten aus (22 % in west- schäftigung in Form von Aufstocken, den norddeutschen Ländern. Die Arbeit-
deutschen und sogar 24 % in ostdeut- Kurzarbeiten und Minijobs einher. So nehmerentgelte (Bruttolöhne und -gehäl-
schen Großstädten). Bei diesem Indikator fanden sich 2017 in Ostdeutschland mit ter sowie Sozialbeiträge der Arbeitgeber)
lagen insbesondere die dünn besiedelten über 28 % generell höhere Anteile an differierten 2017 um etwa je 600 Euro
ländlichen Kreise deutlich zurück (9 % ­s ogenannten Aufstockerinnen und Auf- zwischen Schleswig-Holstein und Hessen
West und 11 % Ost). stockern. In den Kreisen Suhl, Lindau am und zwischen Großstädten und ländli-
Die Anzahl der Beschäftigten stieg Bodensee, in der Sächsischen Schweiz, chen Kreisen in Westdeutschland. In
seit der Jahrtausendwende in allen Bun- Weimar, im Saale-Holzland-Kreis und Ostdeutschland waren kaum länderspezi-
desländern. Dabei war der Zuwachs für in Kulmbach bezog jeweils mehr als ein fische Unterschiede festzustellen; die Ent-
Ostdeutschland niedriger als der Zuwachs Drittel der abhängig Beschäftigten ergän- gelte lagen dabei zwischen 2 391 Euro in

302
Regionale Disparitäten / 8.4 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

u Tab 5 Entwicklung der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach Ländern und
Kreisen mit niedrigsten und höchsten Werten 2012 – 2017 — in Prozent

Gebiet 2012 – 2017 Gebiet 2012 – 2017


Berlin 19,8 Bremen 9,7
Bayern 13,1 Bremerhaven kreisfreie Stadt 7,4
Aschaffenburg kreisfreie Stadt – 1,8 Bremen kreisfreie Stadt 10,2
Schweinfurt kreisfreie Stadt 1,5 Sachsen 8,7
Eichstätt Landkreis 21,7 Mittelsachsen Landkreis 3,0
Straubing-Bogen Landkreis 26,1 Zwickau Landkreis 4,0
Schleswig-Holstein 12,6 Dresden kreisfreie Stadt 10,8
Steinburg Landkreis 9,1 Leipzig kreisfreie Stadt 17,8
Pinneberg Landkreis 9,8 Brandenburg 8,3
Nordfriesland Landkreis 15,5 Frankfurt (Oder) kreisfreie Stadt – 1,5
Neumünster kreisfreie Stadt 16,8 Prignitz Landkreis 2,7
Baden-Württemberg 12,2 Teltow-Fläming Landkreis 12,2
Baden-Baden kreisfreie Stadt – 2,0 Potsdam-Mittelmark Landkreis 13,8
Heidenheim Landkreis 7,0 Mecklenburg-Vorpommern 6,7
Tübingen Landkreis 16,5 Vorpommern-Rügen Landkreis 3,0
Heilbronn Landkreis 17,5 Mecklenburger Seenplatte Landkreis 4,4
Hamburg 11,5 Vorpommern-Greifswald Landkreis 8,5
Niedersachsen 11,4 Rostock kreisfreie Stadt 9,3
Goslar Landkreis 5,0 Saarland 5,9
Salzgitter kreisfreie Stadt 5,4 Regionalverband Saarbrücken Landkreis 4,0
Aurich Landkreis 19,5 Saarlouis Landkreis 4,4
Harburg Landkreis 19,8 St. Wendel Landkreis 11,7
Hessen 11,1 Neunkirchen Landkreis 13,4
Werra-Meißner-Kreis Landkreis 5,1 Thüringen 5,6
Lahn-Dill-Kreis Landkreis 7,3 Saale-Orla-Kreis Landkreis 1,2
Mainz-Kinzig-Kreis Landkreis 15,0 Ilm-Kreis Landkreis 1,3
Hochtaunuskreis Landkreis 15,2 Erfurt kreisfreie Stadt 10,4
Nordrhein-Westfalen 10,7 Sömmerda Landkreis 12,4
Herne kreisfreie Stadt 2,4 Sachsen-Anhalt 4,7
Bochum kreisfreie Stadt 3,3 Dessau-Roßlau kreisfreie Stadt – 0,8
Kleve Landkreis 18,9 Jerichower Land Landkreis – 0,2
Heinsberg Landkreis 20,0 Börde Landkreis 6,7
Rheinland-Pfalz 9,7 Burgenland-Kreis Landkreis 10,2
Zweibrücken kreisfreie Stadt 3,1
Kusel Landkreis 3,7
Rhein-Hunsrück-Kreis Landkreis 16,6
Südliche Weinstraße Landkreis 18,4

Quelle: BBSR: INKAR Online 2020

303
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.4 / Regionale Disparitäten

u Tab 6 Atypische Beschäftigung im regionalen Vergleich 2012 – 2017 — in Prozent ostdeutsche zu finden. Erst an 190. Stelle
Entwicklung Entwicklung
folgte mit dem Kreis Potsdam-Mittelmark
Aufstocker/ Kurzarbeiter/
-innen -innen
Minijobs Minijobs ein ostdeutscher Kreis. Nach wie vor be-
(ausschließlich) (Nebenverdienst)
2017 2017
2012 – 2017 2012 – 2017 steht ein ausgeprägtes Einkommensgefälle
zwischen West- und Ostdeutschland.
Westdeutschland
Bei der Untersuchung der Haushalts-
kreisfreie Großstädte 25,0 0,8 – 0,1 2,1
einkommen in den einzelnen Kreisen fällt
städtische Kreise 26,3 0,8 – 0,2 6,1
auf, dass sich am oberen Ende der Rang-
ländliche Kreise mit
Verdichtungsansätzen
26,8 0,8 0,8 11,2 folge seit 15 Jahren dieselben Kreise befin-
dünn besiedelte den. Die höchsten Einkommen haben die
26,8 0,7 0,3 12,1
ländliche Kreise Haushalte in den Landkreisen Starnberg,
Ostdeutschland Hochtaunuskreis, Heilbronn, München
kreisfreie Großstädte 28,3 0,4 – 5,6 – 9,1 und Baden-Baden. Dabei sind besonders
städtische Kreise 29,5 0,9 – 4,3 – 4,7 hohe Zuwächse bei den Haushaltsein-
ländliche Kreise mit
28,9 1,0 – 4,0 – 5,4 kommen in den Kreisen zu verzeichnen,
Verdichtungsansätzen
die ohnehin die höchsten Haushaltsein-
dünn besiedelte
ländliche Kreise
27,5 0,8 – 7,1 – 8,4 kommen aufweisen. Bis auf einige Aus-
nahmen blieben auch die Strukturen am
Quelle: BBSR: INKAR Online 2020
unteren Ende der Rangfolge erhalten.
In Bezug auf den Wohnstandard hol-
ten die ostdeutschen Regionen mit einer
u Tab 7 Lebensstandard im regionalen Vergleich 2017
durchschnittlichen Wohnfläche von 40
Arbeit­- Ein- und
nehmerentgelt
Haushalts-
Zweifamilien-
Wohnfläche bis 46 Quadratmetern je Person deutlich
einkommen je Person
(brutto) häuser auf. Westdeutsche verfügten im Durch-
in Euro in Euro in % in m² schnitt über 47 Quadratmeter, wobei sich
die im Mittel größten Wohnungen erwar-
Westdeutschland
tungsgemäß in den ländlichen Kreisen
kreisfreie Großstädte 3 259 1 882 65 41
mit höherem Eigentümeranteil fanden.
städtische Kreise 2 821 1 980 86 48
Während sich die verfügbaren Wohnflä-
ländliche Kreise mit
2 616 1 937 90 51 chen in Großstädten angeglichen haben,
Verdichtungsansätzen
dünn besiedelte bestehen in ländlichen Regionen deut­
2 536 1 888 91 53
ländliche Kreise lichere Unterschiede. Der Anteil von Ein-
Ostdeutschland und Zweifamilienhäusern an allen Wohn-
kreisfreie Großstädte 2 762 1 638 58 40 gebäuden ist zudem in den jeweiligen
städtische Kreise 2 301 1 692 76 45 Kreistypen im Westen höher als in Ost-
ländliche Kreise mit
2322 1 689 83 46 deutschland. Dort wurden auch in kleine-
Verdichtungsansätzen
ren Kommunen etwas häufiger Geschoss-
dünn besiedelte
ländliche Kreise
2 301 1 647 87 46 wohnungen gebaut. Die Suburbanisierung
in Westdeutschland in den 1970er- und
Quelle: BBSR: INKAR Online 2020
1980er-Jahren, die in der DDR nicht statt-
gefunden hat, kommt weiterhin in großen
Wohnflächen zum Ausdruck.

Brandenburg (durch die Nähe zu Berlin Bezüglich des Haushaltseinkommens


bedingt) und 2 301 Euro in Mecklenburg- fanden sich 2017 unter den 50 »ärmsten«
Vorpommern. Nach Kreistypen waren von 401 Kreisen und Kreisregionen 32 ost-
­jedoch erhebliche Divergenzen festzu­ deutsche Regionen, wobei die Haushalte
stellen. Zu berücksichtigen ist, dass ange- mit geringstem Einkommen in West-
sichts geringerer Lebenshaltungskosten deutschland lagen (Gelsenkirchen und
auf dem Land die nominellen Unter- Duisburg, gefolgt von Halle / Saale und
schiede keine gleich starke Reduktion der Offenbach am Main). Unter den 100
Kaufkraft bedeuten. u Tab 7 »reichsten« Regionen war keine einzige

304
Soziale Mobilität / 8.5 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

8.5 In der Bevölkerung gibt es eine Vorstel-


lung von einem »Oben« und einem »Un-
generationen in einer anderen sozialen
Position befinden als ihre Elterngenera­
Soziale Mobilität ten« in der Gesellschaft. Die Menschen tion. Das heißt, diese soziale Mobilität
können einschätzen, wer in der gesell- zeigt an, wie gut es Kindern aus weniger
schaftlichen Hierarchie eher eine vorteil- vorteilhaften sozialen Positionen gelingt,
Reinhard Pollak
hafte Position einnimmt und wer nicht. für sich selbst vorteilhafte soziale Positio-
GESIS Mannheim
Und in der Tat sind diese unterschiedli- nen zu erreichen, oder umgekehrt, wie
chen Positionen in der Gesellschaft mit hoch das Risiko von Kindern mit vorteil-
WZB / SOEP bestimmten Vorteilen und Nachteilen hafter Familienherkunft ist, später eine
verbunden. Personen in einer eher höhe- weniger vorteilhafte soziale Position zu
ren Position haben meist ein höheres Ein- erreichen.
kommen, bessere Gesundheit, eine höhe- Zur Beschreibung der sozialen Positio-
re Lebenserwartung oder können häufi- nen können verschiedene Maße heran­
ger am gesellschaftlichen und politischen gezogen werden. Ein international ge-
Leben teilnehmen. Personen, die eher bräuchliches Maß für die Gliederung von
»unten« in der gesellschaftlichen Hierar- Lebenschancen ist die Klassenlage bezie-
chie sind, haben weniger Chancen auf ein hungsweise Klassenposition einer Person.
hohes Einkommen, weniger Chancen auf Die Klassenposition leitet sich aus der ak-
ein langes, gesundes Leben oder weniger tuellen beziehungsweise früheren berufli-
Möglichkeiten für gesellschaftliche und chen Position der Person ab. Sie wirkt
politische Teilhabe. Warum aber befin- sich nicht nur auf die eigene Lebensfüh-
den sich Menschen in unterschiedlichen rung aus, sondern beeinflusst – insbeson-
sozialen Positionen? Und wie kommen dere in Deutschland – in hohem Maße
sie in diese unterschiedlichen sozialen die Bildungs- und Berufschancen der ei-
Positionen? genen Kinder und damit die spätere Klas-
Für Deutschland gilt, dass die eigenen senposition dieser Kinder. Eltern mit ei-
Anstrengungen im Erwachsenenalter nur ner vorteilhaften Klassenposition gelingt
einen Teil dieser unterschiedlichen Posi- es viel häufiger, ihren Kindern durch
tionen in der Gesellschaft erklären. Es gute Bildung und durch zusätzliche Un-
sind zu einem wesentlichen Teil auch die terstützung den Zugang zu vorteilhaften
familienbedingten Startchancen von Klassenpositionen zu ermöglichen (siehe
Kindern und Jugendlichen, die aus- Kapitel 3.1.2, Seite 107). Eltern in eher
schlaggebend sind für die eigene soziale nachteiligen Klassenpositionen können
Position im späteren Leben. Entspre- ihren Kindern nicht so viele Ressourcen
chend wichtig ist es zu untersuchen, wie mit auf den Lebensweg geben. Ihre Kin-
es um diese Startchancen in unserer Ge- der nehmen später selbst eher benachtei-
sellschaft bestellt ist. Wie groß sind die ligte Klassenpositionen ein. Dadurch
Chancen, aus einem weniger vorteilhaf- kommt es zwischen den Generationen
ten Elternhaus aufzusteigen? Wie groß ist nur in begrenztem Umfang zu sozialen
das Risiko, im Vergleich zu den Eltern Auf- oder Abstiegen.
abzusteigen? Wie verändert sich dies in Im Folgenden werden vier Aspekte
unserer Gesellschaft über die Zeit? der sozialen Mobilität in Deutschland
Die gesellschaftspolitische Bedeutung näher untersucht: Hatten die Eltern be-
von sozialen Auf- und Abstiegen ist in reits die gleiche Klassenposition, die ihre
der öffentlichen Diskussion präsent – ins- Kinder heute einnehmen? In welchem
besondere die Auf- und Abstiege zwi- Ausmaß werden Klassenpositionen der
schen den Generationen. Sie sind Aus- Eltern an ihre Kinder weitervererbt? Wie
druck der intergenerationalen sozialen hoch ist das Ausmaß der Auf- und Ab-
Mobilität in einer Gesellschaft. Interge- stiege in Deutschland? Und was bedeuten
nerationale soziale Mobilität beschreibt diese Auf- und Abstiege für die Chancen-
somit das Ausmaß, in dem sich Kinder- gleichheit in der deutschen Gesellschaft?

305
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.5 / Soziale Mobilität

Bei der Beantwortung dieser Fragen wird Klasse umfasst Selbstständige mit bis zu rungsraten von etwa 36 %, so sank der
ein besonderes Augenmerk auf die zeitli- 49 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Anteil im jüngsten Jahrzehnt auf 19 %.
che Entwicklung der sozialen Mobilität, Handel und Handwerk. Die fünfte Klasse Bei allen anderen Klassen zeigen sich
auf den Vergleich zwischen Ost- und bilden Landwirtinnen und Landwirte. Die zwar leichte Schwankungen, ein deut­
Westdeutschland und auf die Unterschie- vorletzte Klasse umfasst Facharbeiterinnen licher Trend bezüglich der Selbstrekrutie-
de zwischen Männern und Frauen ge- und Facharbeiter (auch Meisterinnen und rungsraten ist jedoch für diese Klassen
richtet. Meister sowie Technikerinnen und Techni- nicht zu beobachten. Interessant ist, dass
ker). Und schließlich befinden sich unge- im jüngsten Jahrzehnt 37 % der ungelern-
8.5.1 Besetzung von Klassen­ lernte Arbeiterinnen und Arbeiter sowie ten Arbeiter und Angestellten ebenfalls
positionen nach sozialer Herkunft ungelernte Angestellte in der siebten Klasse. einen ungelernten Arbeiter oder Ange-
Die folgenden Ergebnisse basieren auf Am anschaulichsten kann das Ausmaß stellten als Vater hatten. Bei der oberen
verschiedenen repräsentativen Bevölke- an Selbstrekrutierung anhand der Be- Dienstklasse waren die Selbstrekrutie-
rungsumfragen aus den Jahren 1976 bis trachtung der Landwirte (Männer) in rungsraten dagegen mit 30 % deutlich ge-
2018. Die Befunde früherer Datenreport- Westdeutschland dargestellt werden: Bis ringer. Dies ist ein erster Hinweis darauf,
Beiträge werden durch neuere Daten er- zur Jahrtausendwende hatten über 90 % der dass es mehr Auf- als Abstiege bei west-
gänzt und fortgeschrieben. Die betrach- Landwirte einen Vater, der ebenfalls Land- deutschen Männern geben könnte. u Tab 1
teten Personen (die »Kindergeneration«) wirt war. Fast alle Landwirte kamen folg- Für Frauen in Westdeutschland sind
waren zum Zeitpunkt der Befragung zwi- lich aus einer Bauernfamilie. Dies änderte hohe Selbstrekrutierungsraten unter den
schen 18 und 64 Jahre alt und entweder sich jedoch im neuen Jahrtausend deut- Landwirtinnen, bei Facharbeiterinnen, in
berufstätig oder arbeitsuchend. Um einen lich. Im jüngsten Jahrzehnt (2010 – 2018) der oberen Dienstklasse und auch bei den
langen Zeitvergleich zu ermöglichen, waren nur noch 58 % der heutigen Land- ungelernten Arbeiterinnen zu finden.
werden in die Hauptanalysen nur Perso- wirte Söhne von Bauern. Bei Facharbeiter- Während diese Selbstrekrutierungsraten
nen mit deutscher Staatsangehörigkeit positionen findet man ebenfalls eine be- für westdeutsche Landwirtinnen, Fachar-
einbezogen. Für Ostdeutschland werden achtliche Selbstrekrutierungsrate. Gut die beiterinnen und ungelernte Arbeiterin-
Bevölkerungsumfragen ab 1990 berück- Hälfte der heutigen Facharbeiter in West- nen etwas geringer sind als bei westdeut-
sichtigt. Als Maß für die soziale Herkunft, deutschland (53 %) hatte auch einen Fach- schen Männern, rekrutierten sich west-
das heißt für die Position der Eltern­ arbeiter zum Vater. Dieser Anteil ist in deutsche Frauen in der oberen Dienst­k lasse
generation, wird die Klassenposition des der Tendenz eher höher als in früheren häufiger aus dieser Klasse als westdeut-
Vaters zu dem Zeitpunkt herangezogen, Jahrzehnten, das heißt, die Klasse der sche Männer, mit steigender Tendenz.
als die jeweiligen Befragten 15 Jahre alt heutigen Facharbeiter wird bezüglich Frauen in Selbstständigkeit in West-
waren. Angaben zur Klassenposition der ­i hrer sozialen Herkunft eher homogener. deutschland hatten in den 2000er-Jahren
Mutter wurden insbesondere in den älteren Die Gruppe der Selbstständigen ist da­ hingegen eher selten einen selbstständi-
Befragungen leider nicht oder nur lücken- gegen deutlich heterogener geworden: gen Vater. Auch bei der unteren Dienst-
haft erhoben. u Info 1 Hatten die Selbstständigen in den 1970er- klasse deutet sich ein Trend zu einer ge-
In Tabelle 1 wird der Anteil der Be- und 1980er-Jahren noch Selbstrekrutie- ringeren Selbstrekrutierung an. Bei den
fragten dargestellt, deren Väter bereits
eine identische Klassenposition innehat-
ten. Für dieses Ausmaß der Selbstrekru-
tierung der sozialen Klassen werden ins-
gesamt sieben Klassenpositionen unter-
schieden. Diese folgen dem international
u Info 1
häufig verwendeten Klassenschema nach
Erikson und Goldthorpe (1992). Die obe- Datenbasis

re Dienstklasse umfasst unter anderem Die Daten für diese Studie stammen aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Umfragepro-
grammen, die im Zeitraum von 1976 bis 2018 durchgeführt wurden. Es wurden Daten der
leitende Angestellte und freie Berufe. In ­Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) von 1980 bis 2018, des Sozio-
der unteren Dienstklasse sind insbeson- oekonomischen Panels (jeweils die Neuziehungen), der jeweiligen Neu­ziehung der Erwachsenen-
dere hoch qualifizierte Angestellte und kohorte des Nationalen Bildungspanels (NEPS), der ZUMA-Standarddemographie (1976 –1982)
­sowie des International Social Justice Programme (1991, 1996, 2000 und 2006) verwendet. In den
Beamtinnen und Beamte im gehobenen jeweiligen Datensätzen gibt es sehr ähnliche Abfragen zum Beruf und zu der beruflichen Stellung.
Dienst. Die dritte Klasse der qualifizier- Für die Befragten wurde der aktuelle oder letzte Beruf verwendet, für die ­Väter der Beruf zum Zeit-
ten Büroberufe bilden unter anderem Se- punkt, als die Befragten 15 Jahre alt waren. Diese Angaben wurden harmonisiert und in das
Goldthorpe-Klassenschema überführt. Daten für den Beruf oder die berufliche Stellung von Müttern
kretärinnen und Sekretäre sowie Buch- liegen insbesondere in den älteren Daten nicht vor. Aus Vergleichsgründen der jeweiligen Stich-
halterinnen und Buchhalter. Die vierte proben wurden nur Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit berücksichtigt.

306
Soziale Mobilität / 8.5 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

übrigen Klassenpositionen ergaben sich Bei den Männern in Ostdeutschland Ostdeutsche Frauen in der oberen
wenige Veränderungen über die Zeit. findet man für die obere Dienstklasse Dienstklasse hatten ähnliche Selbstrekru-
Die Ergebnisse für Ostdeutschland eine deutliche Zunahme der Selbstrekru- tierungsraten wie ostdeutsche Männer.
sind aufgrund der Fallzahlen und der be- tierungsrate: Während kurz nach der Diese Frauen kamen immer häufiger aus
sonderen Umbruchsituation in den ers- Vereinigung nur 19 % der Mitglieder die- einem Elternhaus, in dem bereits der Va-
ten Jahren nach der deutschen Vereini- ser Klasse auch aus einem solchen Eltern- ter in der oberen Dienstklasse war. Für
gung mit Vorsicht zu interpretieren. Es haus kamen, waren es in dem Zeitraum die untere Dienstklasse war die Selbstre-
werden daher in den Tabellen nur solche 2000 bis 2009 bereits 31 % und im jüngsten krutierungsrate ähnlich wie bei den
Werte ausgewiesen, die auf belastbaren Jahrzehnt 37 %. Diese Werte sind damit Männern und zeigte keine klare Entwick-
Fallzahlen basieren. Die meisten Beschäf- sogar höher als in Westdeutschland. Bei lung. Bei den Facharbeiterinnen war die
tigten in Ostdeutschland befinden sich in der unteren Dienstklasse blieben die Ra- Selbstrekrutierungsrate im neuen Jahr-
vier Klassenpositionen: in der oberen und ten für Männer weitgehend konstant und tausend höher als vor der Jahrtausend-
in der unteren Dienstklasse sowie in der auf gleichem Niveau wie in Westdeutsch- wende und im jüngsten Jahrzehnt auf
Facharbeiterklasse und der Klasse der land. Die Facharbeiterklasse ist in Ost- ähnlichem Niveau wie bei den ostdeut-
ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter deutschland sogar noch homogener als in schen Männern. Auffallend ist, dass ost-
sowie Angestellten. Dagegen sind ver- Westdeutschland und der Trend zur glei- deutsche Frauen in der Facharbeiter­
gleichsweise wenige Ostdeutsche in den chen Herkunft in dieser Klasse zeigt sich klasse eine deutlich stärkere Selbstrekru-
Klassenpositionen der Selbstständigen, auch für diesen Teil Deutschlands. Mehr tierung aufwiesen als westdeutsche
der Landwirtinnen und Landwirte sowie als jeder zweite ostdeutsche Facharbeiter Facharbeiterinnen (58 % im Vergleich zu
der qualifizierten Büroberufe zu finden. (59 %) hatte bereits einen Facharbeiter als 45 % im jüngsten Jahrzehnt).
Entsprechend können für diese Gruppen Vater. Bei ungelernten Arbeitern und An- Bei den ungelernten Arbeiterinnen
die Selbstrekrutierungsraten wegen zu gestellten war diese Rate nur etwa halb so und Angestellten in Ostdeutschland ist
geringer Fallzahlen nicht für jedes Beob- hoch und zeigte auch keinen robusten die Selbstrekrutierungsrate etwas niedri-
achtungsjahrzehnt ausgewiesen werden. Trend über die Zeit. ger als bei ostdeutschen Männern oder

u Tab 1 Selbstrekrutierungsraten 1976 – 2018 — in Prozent


Westdeutschland Ostdeutschland

1976–1980 1981–1990 1991–1999 2000–2009 2010–2018 1991–1999 2000–2009 2010–2018

Männer
Obere Dienstklasse 28 23 28 25 30 19 31 37

Untere Dienstklasse 18 17 16 16 18 20 19 18

Qualifizierte Büroberufe 12 17 14 14 11 – – –

Selbstständige 36 36 24 21 19 17 – –

Landwirte 91 92 92 79 58 – – –

Facharbeiter, Meister 46 48 54 49 53 55 58 59

Ungelernte Arbeiter, Angestellte 38 33 36 39 37 32 32 30

Frauen
Obere Dienstklasse 31 32 32 36 36 24 32 38

Untere Dienstklasse 18 17 16 15 15 16 19 18

Qualifizierte Büroberufe 13 15 12 13 11 – 7 6

Selbstständige 21 20 23 18 15 20 – –

Landwirtinnen 76 63 65 59 – – – –

Facharbeiterinnen, Meisterinnen 43 43 47 47 45 51 59 58

Ungelernte Arbeiterinnen, Angestellte 27 30 27 30 31 31 22 27

Anteil von Männern und Frauen, deren Väter bereits eine identische berufliche Position innehatten.
– Fallzahlen zu gering.
Datenbasis: ALLBUS; SOEP; ZUMA-Standarddemographie; ISJP; NEPS; 1976 – 2018

307
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.5 / Soziale Mobilität

westdeutschen Frauen. Die Rate stieg im Klasse der Facharbeiterinnen und der vier Fünftel der Arbeitslosen einem
jüngsten Jahrzehnt wieder an, nachdem Facharbeiter wurde in Ostdeutschland ­s olchen Haushalt. Vergleicht man diese
es einen massiven Rückgang im ersten zunehmend homogener. Zahlen mit dem Anteil an Menschen, de-
Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gegeben Nicht nur die eigene Klassenlage, son- ren Vater aus einer der beiden Arbeiter-
hatte. Bei den beiden Dienstklassen gibt dern auch das Risiko, arbeitslos zu wer- klassen kommt (53 % in Westdeutschland
es keine großen Unterschiede zwischen den, steht in Zusammenhang mit der so- beziehungsweise 64 % in Ostdeutsch-
Frauen in Ost und West. zialen Herkunft. Auch wenn die Arbeits- land), so wird klar, dass sich in beiden
Bei allen genannten Unterschieden losigkeit in Ost und West bis 2018 Landesteilen die Gruppe der arbeitslosen
im Detail zeigt sich für Ost- und West- merklich gesunken ist, gibt es anteilig Männer und Frauen überproportional
deutschland eine eher hohe Stabilität in nach wie vor mehr arbeitslose Menschen stark aus den beiden Arbeiterklassen re­
den Selbstrekrutierungsraten. Eine wich- in Ostdeutschland als in Westdeutsch- krutiert.
tige Ausnahme hiervon ist die zuneh- land. Aus welchen Herkunftsklassen
mende Selbstrekrutierung der oberen kommen die Arbeitslosen und zeigen sich 8.5.2 Vererbung von Klassen­
Dienstklasse insbesondere in Ostdeutsch- hier auch unterschiedliche Muster zwi- positionen nach sozialer Herkunft
land. Das bedeutet, dass die höchsten ge- schen Ost und West? Zusätzliche – hier In Tabelle 2 wird die Sichtweise auf sozia-
sellschaftlichen Positionen in zunehmen- nicht dargestellte – Analysen zeigen, le Mobilität verändert und aus der Pers-
dem Maße von Personen besetzt werden, dass von den arbeitslosen Männern und pektive der Väter dargestellt. Die Zahlen
deren Eltern bereits diese vorteilhaften Frauen im jüngsten Jahrzehnt in West- geben nun ausgehend von der Klassenpo-
Positionen innehatten. Die Gruppe wur- deutschland über zwei Drittel einen Vater sition der Väter an, wie viele Kinder wie-
de homogener und es gab anteilig weni- aus der Facharbeiterklasse oder der Klas- der in die gleiche Klassenposition gelan-
ger Personen, die es auch mit einem an- se der ungelernten Arbeiterinnen und gen. Bei diesen Vererbungsraten ist nun
deren familiären Hintergrund in die vor- Arbeiter und Angestellten hatten. In Ost- nicht mehr die Klassenposition der Be-
teilhafteste Klasse schafften. Auch die deutschland entstammten sogar knapp fragten die Prozentuierungsgrundlage

u Tab 2 Vererbungsraten nach sozialer Herkunft 1976 – 2018 — in Prozent


Westdeutschland Ostdeutschland

1976–1980 1981–1990 1991–1999 2000–2009 2010–2018 1991–1999 2000–2009 2010–2018

Männer
Obere Dienstklasse 44 49 46 41 46 26 29 35

Untere Dienstklasse 37 31 31 29 31 19 23 23

Qualifizierte Büroberufe 11 16 13 15 14 – – –

Selbstständige 21 26 21 20 18 22 – –

Landwirte 21 21 25 18 23 – – –

Facharbeiter, Meister 49 48 50 40 39 63 53 51

Ungelernte Arbeiter, Angestellte 25 22 24 30 24 18 29 25

Frauen
Obere Dienstklasse 15 26 28 31 32 21 26 28

Untere Dienstklasse 41 33 38 39 37 37 39 46

Qualifizierte Büroberufe 38 46 38 41 36 – 33 28

Selbstständige 12 11 15 13 10 24 – –

Landwirtinnen 12 10 – 10 – – – –

Facharbeiterinnen, Meisterinnen 9 8 11 8 7 22 17 13
Ungelernte Arbeiterinnen,
47 45 38 40 36 36 34 32
Angestellte

Anteil von Männern und Frauen, die die gleiche berufliche Position einnehmen wie ihr Vater.
– Fallzahlen zu gering.
Datenbasis: ALLBUS; SOEP; ZUMA-Standarddemographie; ISJP; NEPS; 1976 – 2018

308
Soziale Mobilität / 8.5 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

für die Ergebnisse, sondern die Klassen- der Klasse der Facharbeiterinnen und Für Ostdeutschland können aufgrund
position des Vaters. Deutlich wird dieser Facharbeiter, bei ungelernten Arbeiter- der Fallzahlen für einige Klassenpositio-
Unterschied bei den Landwirten: Wie und Angestelltenpositionen und vor al- nen keine gesicherten Aussagen getroffen
oben gezeigt, hatten die meisten heutigen lem in der Klasse der qualifizierten Büro- werden. Bei den Klassen, für die gesicher-
Landwirte auch einen Landwirt zum Va- berufe. Im Schnitt nahmen etwa 36 % der te Erkenntnisse vorliegen, fällt auf, dass
ter. Allerdings werden heute nicht alle Töchter eines Vaters aus dieser Klasse ostdeutsche Männer in den beiden
Kinder von Landwirten wieder Landwir- eine Position in der Klasse der qualifi- Dienstklassen deutlich geringere Verer-
te. Die Vererbungsrate ist deutlich gerin- zierten Bürotätigkeiten ein. Bei den Söh- bungsraten aufwiesen als westdeutsche
ger. Nur gut jeder fünfte Sohn eines nen waren es im jüngsten Jahrzehnt nur Männer. Insbesondere in der oberen
Landwirts in Westdeutschland ist später 14 %. Ähnlich hoch sind die Vererbungs- Dienstklasse gelang es ostdeutschen
ebenfalls Landwirt geworden (23 % im raten für westdeutsche Frauen in der un- Männern seltener, eine ebenso vorteilhaf-
jüngsten Jahrzehnt). Das bedeutet, die teren Dienstklasse und bei ungelernten te Position wie ihre Väter einzunehmen.
meisten Bauernsöhne haben heute eine Arbeiter- und Angestelltenpositionen. Etwa jeder dritte ostdeutsche Mann
andere Klassenposition als ihre Väter Knapp zwei Fünftel (37 beziehungsweise (35 %) vermochte in der jüngsten Zeit die
und sind damit sozial mobil. u Tab 2 36 %) der Töchter nahmen die gleiche oberste Klassenposition zu behaupten, im
Ähnliche Vererbungsraten findet man Klassenposition ein wie ihre Väter. Doch Westen war es dagegen fast jeder Zweite
in der Klasse der ungelernten Arbeiter während es bei der unteren Dienstklasse (46 %). Die Vererbungsrate in der unteren
und Angestellten und (etwas geringer) in und bei den qualifizierten Bürotätigkeiten Dienstklasse war in Ostdeutschland mit
der Klasse der Selbstständigen. Die nur Schwankungen über die Zeit gab, zuletzt etwa 23 % deutlich geringer als
höchsten Vererbungsraten gibt es in ­fi ndet man bei den ungelernten Arbeiter- die Vererbungsrate in der oberen Dienst-
Westdeutschland in der oberen Dienst- und Angestelltenpositionen eine merkli- klasse. Während die Väter in Ostdeutsch-
klasse und in der Klasse der Facharbeiter: che Abnahme der Vererbungsraten von land ihre obere Dienstklassenposition in
Fast die Hälfte (46 %) der Väter in der 47 auf 36 %. Genau entgegengesetzt ist zunehmendem Maße an ihre Söhne wei-
oberen Dienstklasse konnten im jüngsten der Trend in der oberen Dienstklasse. In tergeben konnten (Steigerung von rund
Beobachtungszeitraum ihre vorteilhafte den 1970er-Jahren gelang es nur 15 % der einem Viertel in den 1990er-Jahren auf
Position an ihre Söhne weitergeben; von Töchter aus dieser Klasse, ebenfalls eine mehr als ein Drittel im jüngsten Jahr-
den Facharbeitervätern waren es 39 %, die solche vorteilhafte Position zu erreichen. zehnt), pendelten die Vererbungsraten in
ihre Arbeiterposition an ihre Söhne »ver- Bis 2018 hat sich dieser Anteil mehr als der unteren Dienstklasse um ein Fünftel.
erbten«. Die niedrigste Vererbungsrate verdoppelt: Im jüngsten Beobachtungs- Deutliche Veränderungen sind in der
findet man bei westdeutschen Männern in zeitraum schaffte es knapp ein Drittel der Facharbeiterklasse und der Klasse der
der Klasse der qualifizierten Büroberufe Frauen (32 %), diese vorteilhafte Position ­u ngelernten Arbeiter- und Angestellten-
(14 %). Für die meisten Klassen haben sich aus dem Elternhaus zu behaupten. Aller- positionen zu verzeichnen. Während im
Vererbungsraten in den vergangenen Jahr- dings »erben« die Töchter aus der oberen ersten Jahrzehnt nach der Vereinigung
zehnten für westdeutsche Männer als Dienstklasse die vorteilhaften Positionen (1991 – 1999) knapp zwei Drittel der ost-
weitgehend stabil erwiesen. Nur in der nach wie vor deutlich seltener als die deutschen Facharbeitersöhne ebenfalls
Facharbeiterklasse zeigt sich nach der Söhne aus dieser Klasse. eine Position in der Facharbeiterklasse
Jahrtausendwende eine merkliche Abnah- Die übrigen Klassenpositionen der einnahmen, ist dieser Anteil auf 51 % im
me der Vererbungsraten. Selbstständigen, Landwirte und Fachar- jüngsten Jahrzehnt (2010 – 2018) gesunken.
Die Vererbungsraten von Vätern auf beiter wurden in Westdeutschland selten Die abnehmende Vererbungsrate bei
ihre Töchter sind in der Tendenz niedri- an die Töchter weitergegeben (knapp gleichzeitiger Zunahme der Selbstrekru-
ger als die Vererbungsraten von Vätern 10 %). Die Werte veränderten sich kaum tierungsrate deutet auf ein deutliches
auf ihre Söhne. Dies liegt vor allem an beziehungsweise sanken in der Tendenz Schrumpfen solcher Positionen in Ost-
geschlechtsbezogenen Ungleichheiten auf bei den Töchtern von Facharbeitern. Die deutschland hin. Bei den ungelernten
dem Arbeitsmarkt. Frauen und Männer entscheidenden Entwicklungen fanden ­Arbeiter- und Angestelltenpositionen hin-
besetzen typischerweise unterschiedliche am oberen und unteren Ende der Klas- gegen kam es zunächst zu einem erheb­
Berufsfelder (zum Beispiel Arzthelferin, senskala statt. Westdeutschen Frauen ge- lichen Anstieg der Vererbungsraten. Wäh-
KFZ-Mechatroniker) und finden sich so- lang es in zunehmendem Maße, ebenso rend in den 1990er-Jahren 18 % der Söhne
mit auch in unterschiedlichen Klassenpo- gute Positionen wie ihre Väter einzu­ aus der Klasse der ungelernten Arbeiter-
sitionen wieder. Unterschiede in den Ver- nehmen. Gleichzeitig haben sie häufiger und Angestelltenpositionen mit der glei-
erbungsmustern von Vater-Sohn und Va- die weniger vorteilhafte Klasse der unge- chen Position vorliebnehmen mussten,
ter-Tochter gibt es in Westdeutschland lernten Arbeiterinnen und Angestellten ist dieser Anteil zu Beginn des Jahrtau-
vor allem bei der oberen Dienstklasse, bei verlassen. sends (2000 – 2009) auf 29 % angestiegen.

309
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.5 / Soziale Mobilität

Im jüngsten Jahrzehnt (2010 – 2018) nahm wenn sie nicht in die Fußstapfen ihres Die oberste Zeile in Tabelle 3 be-
ein Viertel (25 %) der Söhne von ungelern- Vaters getreten sind. Es sollen daher im schreibt das Ausmaß der Gesamtmobili-
ten Arbeitern und Angestellten wiede­ Folgenden nicht einzelne Klassenpositio- tät, definiert als Anteil der Personen, die
rum eine solche Klassenposition ein. nen betrachtet werden, sondern es wird eine andere Position einnehmen als ihre
Die Befunde für ostdeutsche Frauen versucht, ein Gesamtbild der sozialen Väter. Es fällt auf, dass Töchter aufgrund
zeigen ein eigenständiges Muster. In der Mobilität aufzuzeigen. Eine solche Ge- spezifischer Berufspräferenzen und Er-
oberen Dienstklasse stieg ihre Verer- samtbetrachtung ermöglicht auch eine werbsmöglichkeiten im Vergleich zu
bungsrate zwar ähnlich wie bei den ost- Aussage darüber, ob diejenigen, die nicht ­ihren Vätern generell eine höhere Gesamt-
deutschen Männern über die Zeit an und die Klassenposition ihrer Väter überneh- mobilität aufwiesen als Söhne. In West-
erhöhte sich von 21 % in den 1990er-Jah- men, eher vorteilhaftere oder eher weni- deutschland blieben die Gesamtmobili-
ren auf 28 % im jüngsten Jahrzehnt. Al- ger vorteilhafte Klassenpositionen errei- tätsraten im Zeitvergleich weitgehend
lerdings gelang es Männern besser, die chen als ihre Väter. konstant, in Ostdeutschland stiegen sie
Positionen ihrer Väter zu übernehmen Um solche Auf- und Abstiege zu un- bei Frauen im Vergleich zu den 1990er-
(35 % im Vergleich zu 28 % der Frauen im tersuchen, ist es erforderlich, die einzelnen Jahren leicht an. Bei Frauen waren die
jüngsten Jahrzehnt). Bei der unteren Klassenpositionen in einer Rangfolge an- Gesamtmobilitätsraten in Ost und West
Dienstklasse gab es hingegen – anders als zuordnen. Die vorteilhafteste Klassenlage gleich hoch. Bei den Männern waren
bei Männern – für Frauen einen Trend zu erfahren diejenigen, die eine Position in sie in Ostdeutschland deutlich niedriger
höheren Vererbungsraten. Diese waren der oberen Dienstklasse einnehmen. Etwas als in Westdeutschland (zuletzt 62 % im
zuletzt (2010 – 2018) mit 46 % bei Frauen weniger gut, aber immer noch mit vielen Vergleich zu 67 %). Bei der Gesamtmobi-
deutlich höher als bei Männern (23 %) in Vorteilen ausgestattet (zum Beispiel bessere lität lassen sich vertikale und horizontale
dieser Klasse. Genau umgekehrt verhält Chance auf Arbeitsplatzsicherheit, gute Veränderungen der Klassenpositionen
es sich für die Klasse der Facharbeiterin- Einkommen und Karriereaussichten), sind unterscheiden. Vertikale Mobilität um-
nen: Die Vererbungsraten waren hier bei Positionen in der unteren Dienstklasse. Am fasst Auf- und Abstiege zwischen den
ostdeutschen Frauen deutlich geringer unteren Ende der Klassenhierarchie befin- Klassenpositionen. Horizontale Mobilität
als bei ostdeutschen Männern und nah- den sich ungelernte Arbeiter- und Ange- bezieht sich hingegen auf Veränderun-
men über die Zeit kontinuierlich ab. Zu- stelltenpositionen. In solchen Positionen gen der Klassenposition auf gleicher Hie-
letzt hatten nur 13 % der Facharbeiter- sind die Menschen eher schlecht gegen rarchieebene. Dies wäre der Fall, wenn
töchter wieder eine Facharbeiterposition. Arbeitsplatzverlust abgesichert und es wer- ein Wechsel innerhalb der Gruppe der
Bei den ungelernten Arbeiter- und Ange- den ihnen kaum Karrieremöglichkeiten mittleren Klassenpositionen stattfindet,
stelltenpositionen sank die Vererbungs­ geboten. Die verbleibenden Klassen­lagen etwa von Facharbeitern zu qualifizierten
rate leicht von 36 auf 32 %. Ostdeutsche der qualifizierten Büroberufe, Selbststän- Büroberufen. Bei beiden Formen der Mo-
Frauen konnten folglich – anders als digen (mit bis zu 49 Mitarbeiterinnen und bilität zeigen sich Unterschiede über die
Männer – diese Klassenposition zuneh- Mitarbeitern), Landwirtinnen und Land- Zeit. Bei den westdeutschen Männern
mend vermeiden. Jedoch ist die Verer- wirte sowie Facharbeiterinnen und Fach- stieg der Anteil an vertikaler Mobilität
bung bei den Frauen in dieser Klasse der arbeiter lassen sich nur sehr schwer in in den letzten 40 Jahren etwas an (von 51
ungelernten Arbeiterinnen und Angestell- eine Rangfolge bringen, auch wenn einzel- auf 55 %), während die horizontale Mo-
ten insgesamt höher als bei den ostdeut- ne detaillierte Differenzierungen möglich bilität um 3 Prozentpunkte abnahm. So-
schen Männern. Bei den beiden Dienst- sind. Für die vorliegende Analyse werden mit erhöhte sich das Verhältnis zwischen
klassen zeigen sich Unterschiede zwischen diese Klassen in einer großen heterogenen diesen beiden Größen von 3,3 auf 4,6
Frauen in Ost- und Westdeutschland: Gruppe zusammengefasst, die – und dies zugunsten der vertikalen Mobilität. Mit
Während bei ostdeutschen Frauen die Ver- ist hier wichtig – in der Mitte der Klassen- anderen Worten, vertikale Mobilität
erbungsraten bei der unteren Dienstklasse verteilung angesiedelt ist. Diese Klassen­ kam bei westdeutschen Männern zuletzt
höher waren, wiesen westdeutsche Frauen lagen sind weniger vorteilhaft als Positio- mehr als viermal so häufig vor wie hori-
bei der oberen Dienstklasse höhere Verer- nen in der unteren Dienstklasse, aber vor- zontale Mobilität. In Ostdeutschland fiel
bungsraten auf. teilhafter als ungelernte Arbeiter- oder die vertikale und horizontale Mobilität
Angestelltenpositionen. Es werden somit bei den Männern im Vergleich dazu etwas
8.5.3 Ausmaß von sozialen Auf- insgesamt vier verschiedene Hierarchie- niedriger aus. Das Verhältnis zwischen
und Abstiegen stufen unterschieden: obere Dienstklasse, den beiden Größen schwankte im Zeit-
Die Betrachtung von Vererbungs- und untere Dienstklasse, eine heterogene Grup- verlauf und war zuletzt mit 5,2 sogar etwas
Selbstrekrutierungsraten lässt keine pe mit mittleren Klassenpositionen und höher als in Westdeutschland (gut fünf-
Schlüsse darauf zu, welche Klassenpositio- die Klasse der ungelernten Arbeiterinnen, mal so viel vertikale wie horizontale Mo-
nen die Söhne und Töchter einnehmen, ­A rbeiter und Angestellten. bilität). u Tab 3

310
Soziale Mobilität / 8.5 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

u Tab 3 Gesamtmobilität, vertikale und horizontale Mobilität, Auf- und Abstiegsraten 1976 – 2018
Westdeutschland Ostdeutschland

1976–1980 1981–1990 1991–1999 2000–2009 2010–2018 1991–1999 2000–2009 2010–2018

Männer
Gesamtmobilität (%) 66 66 64 68 67 60 62 62

Gesamtmobilität umfasst:

vertikale Mobilität (%) 51 50 51 54 55 51 50 52

horizontale Mobilität (%) 15 16 13 13 12 10 12 10

Verhältnis vertikale /
3,3 3,1 4,0 4,0 4,6 5,2 4,0 5,2
horizontale Mobilität

Vertikale Mobilität umfasst:

Aufwärtsmobilität (%) 36 35 35 36 38 31 25 27

Abwärtsmobilität (%) 15 15 16 18 18 20 24 25

Verhältnis Aufstiege / Abstiege 2,4 2,4 2,2 2,0 2,2 1,5 1,1 1,1

Frauen
Gesamtmobilität (%) 77 77 78 77 78 74 77 77

Gesamtmobilität umfasst:

vertikale Mobilität (%) 59 55 58 59 61 63 59 61

horizontale Mobilität (%) 18 22 19 19 17 11 18 16

Verhältnis vertikale /
3,3 2,5 3,0 3,2 3,6 5,8 3,3 3,9
horizontale Mobilität

Vertikale Mobilität umfasst:

Aufwärtsmobilität (%) 26 26 31 31 34 36 30 33

Abwärtsmobilität (%) 33 28 27 27 27 28 29 28

Verhältnis Aufstiege / Abstiege 0,8 0,9 1,2 1,1 1,3 1,3 1,0 1,2

Datenbasis: ALLBUS; SOEP; ZUMA-Standarddemographie; ISJP; NEPS; 1976 – 2018

Bei den ostdeutschen Frauen ist die Bei westdeutschen Frauen hat die verti- westdeutsche Männer geringfügig un-
leichte Zunahme der Gesamtmobilität kale Mobilität zuletzt (2010 – 2018) etwas günstiger geworden. Bei westdeutschen
auf die Zunahme horizontaler Mobilität zugenommen (61 %), während die hori- Frauen ist ein durchweg positiver Trend
zurückzuführen. Nicht nur bei der Ge- zontale Mobilität im jüngsten Jahrzehnt zu beobachten. Den Frauen gelingt es
samtmobilität, auch bei dem Ausmaß leicht zurückgegangen ist (17 %). heute häufiger als früher, eine bessere
von vertikaler und horizontaler Mobilität Die jeweils unteren Hälften der Teil­ Klassenposition einzunehmen als ihre
gab es praktisch keine Unterschiede zwi- tabellen zeigen an, ob es sich bei den ver- Väter. Während in den 1970er-Jahren nur
schen ost- und westdeutschen Frauen. tikalen Bewegungen um Aufstiege oder etwa ein Viertel (26 %) der westdeutschen
Allerdings zeigt der Vergleich mit den um Abstiege im Klassengefüge gehandelt Frauen eine bessere Klassenposition hatte
Männern, dass ostdeutsche Frauen in bei- hat. Der zunehmende Anteil an vertikaler als ihre Väter, stieg dieser Anteil bis zum
den Teilbereichen deutlich mobiler waren Mobilität für westdeutsche Männer resul- jüngsten Jahrzehnt (2010 – 2018) auf rund
als ostdeutsche Männer. Die Zunahme der tiert sowohl aus einer leichten Zunahme ein Drittel (34 %) an. In gleichem Maße
horizontalen Mobilität in Ostdeutsch- von Aufstiegen als auch aus einer leichten sank die Häufigkeit von Abstiegen deut-
land hat ihre Ursachen vor allem in dem Zunahme der Abstiege, wobei sich der lich von 33 auf 27 %.
Schrumpfen der Facharbeiterpositionen. Trend bei den Abstiegen im Zeitraum von Für westdeutsche Frauen waren in den
Töchter von ostdeutschen Facharbeitern 2010 bis 2018 nicht fortsetzte. Es gab im 1970er-Jahren Abstiege im Klassengefüge
nahmen zuletzt verstärkt Positionen in jüngsten Jahrzehnt nach wie vor gut dop- stärker verbreitet als Aufstiege. Dies hat
qualifizierten Büroberufen an, die Söhne pelt so viele Aufstiege wie Abstiege (Ver- sich über die Zeit jedoch nachhaltig geän-
arbeiteten eher als Selbstständige oder hältnis 2,2 zu 1). Allerdings ist dieses Ver- dert. Im jüngsten Jahrzehnt (2010 – 2018)
tendierten zu qualifizierten Büroberufen. hältnis in den vergangenen 40 Jahren für kamen Aufstiege etwas häufiger vor als

311
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.5 / Soziale Mobilität

Abstiege. Setzt man die Auf- und Abstiege kommen mittlerweile im Osten ähnlich Frauen war wie bei den Männern nahezu
ins Verhältnis zueinander, so veränderte häufig vor. Der Quotient zwischen Auf- ausgeglichen (zuletzt 1,2 zu 1).
sich dieses Verhältnis von 0,8 (in den Jah- und Abstiegen sank von 1,5 in den Jahren Sowohl in Ostdeutschland als auch in
ren 1976 bis 1980) auf 1,3 (in den Jahren 1991 bis 1999 auf 1,1 in den Jahren 2010 Westdeutschland gab es somit mehr Auf-
2010 bis 2018). Frauen im Westen haben bis 2018. Die deutlichen Unterschiede re- stiege als Abstiege. Zwar haben bei ost-
sich bei der Zahl der Aufstiege allmählich sultierten allerdings vor allem aus den und westdeutschen Männern die Anteile
den Männern angenähert, der höhere An- Veränderungen zwischen dem ersten und an Abstiegen zugenommen, das heißt, für
teil an Abstiegen zeigt aber noch die deut- zweiten Jahrzehnt nach der Vereinigung einen merklichen Teil der Bevölkerung
lichen Unterschiede zwischen Männern (1991 – 1999 und 2000 – 2009). Der negative (18 – 25 %) verschlechterte sich die Klas-
und Frauen in Westdeutschland. Der Trend schwächte sich im jüngsten Jahr- senposition im Generationenvergleich. Er-
Trend deutet für Westdeutschland aller- zehnt zumindest ab. freulicherweise setzte sich dieser Trend zu
dings auf eine langsame Angleichung hin. Bei den ostdeutschen Frauen ging die mehr Abstiegen bei den Männern in den
Für Ostdeutschland ist der Befund Entwicklung im Zeitraum von 2000 bis jüngeren Jahren aber nicht mehr nennens-
weniger positiv. Während im Jahrzehnt 2009 in die gleiche Richtung wie bei ost- wert fort. Und gleichzeitig stieg ein gutes
nach der deutschen Vereinigung knapp deutschen Männern. Jedoch hat sich hier Viertel (27 %) bis ein gutes Drittel (38 %)
jeder dritte Sohn eine bessere Klassenpo- der negative Trend nahezu gedreht. Jede der Männer im Vergleich zur Klassenposi-
sition erreichte als der Vater, gelang dies dritte Frau in Ostdeutschland hatte zuletzt tion ihres Vaters auf. Bei den Frauen ist
im jüngsten Jahrzehnt (2010 – 2018) nur eine höhere Klassenposition als ihr Vater dieser Anteil mit 33 % beziehungsweise
noch rund jedem Vierten (27 %). Gleich- (bei ostdeutschen Männern war es nur gut 34 % ähnlich groß. Deutschland kann
zeitig nahmen Abstiege deutlich zu. In jeder Vierte). Das Ausmaß der Abstiege folglich nach wie vor eher als eine Auf-
den 1990er-Jahren nahm nur jeder fünfte war bei den ostdeutschen Frauen (28 %) et- stiegsgesellschaft bezeichnet werden. Es
Sohn (20 %) eine schlechtere Position ein was höher als bei den ostdeutschen Män- deutet sich auf der vorliegenden Daten-
als der Vater. Zuletzt betraf das jeden nern (25 %). Das Verhältnis zwischen sozi- grundlage auch kein Trend an, der einen
vierten Sohn (25 %). Auf- und Abstiege alen Auf- und Abstiegen bei ostdeutschen gegenteiligen Befund nahelegen würde.

312
Soziale Mobilität / 8.5 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

8.5.4 Chancengleichheit in weit sich diese Chancen über die Zeit sem Ausgangsniveau an, wobei negative
der Gesellschaft verändert haben. Es ist denkbar, dass sich Werte bedeuten, dass der Zusammenhang
Die bisher dargestellten Ergebnisse bezie- für beide die Chancen erhöht haben, eine schwächer wird. Die dargestellte Trendli-
hen sich auf die Mobilitätserfahrungen Position in der oberen Dienstklasse zu er- nie ist eine an die einzelnen Jahresbeob-
von Männern und Frauen seit Mitte der reichen, da die Zahl entsprechender Posi- achtungen angepasste Regressionskurve.
1970er-Jahre in Westdeutschland und tionen zugenommen hat. Wenn sich aber Die Trendkurve kann sich somit durch
seit der deutschen Vereinigung in Ost- die Chancen für Personen aus Facharbei- Hinzufügen neuer Daten jeweils leicht ver-
deutschland. Ein wesentlicher Faktor für terfamilien im genau gleichen Ausmaß ändern. Aufgrund der Fallzahlen wurden
die soziale Mobilität in dieser Zeit waren erhöhen wie die Chancen der Personen einige Jahresbeobachtungen zusammen-
die Veränderungen in der Beschäftigten- aus Familien der oberen Dienstklasse, gefasst, um die Befunde robuster darstel-
struktur. Die Anzahl der Facharbeiterpo- dann bleibt die Chancengleichheit bezie- len zu können.
sitionen ist in dieser Zeit gesunken, wäh- hungsweise Chancenungleichheit zwi- Für Männer in Westdeutschland sieht
rend zusätzliche Positionen vor allem bei schen den beiden Herkunftsklassen un- man, dass die Stärke des Zusammen-
qualifizierten Büroberufen und in der verändert. hangs über den gesamten Zeitraum hin-
oberen Dienstklasse geschaffen wurden. Abschließend werden daher die weg abnahm. Für die jüngste Zeit zeigt
Noch deutlicher wird der Wandel im Ge- Chancengleichheiten beziehungsweise die Trendkurve eine Abnahme des ur-
nerationenvergleich: Facharbeiterpositio- Chancenungleichheiten zwischen Perso- sprünglichen Zusammenhangs zwischen
nen und Positionen in der Landwirt- nen mit unterschiedlicher Klassenher- der Herkunftsklasse und der eigenen
schaft haben stark abgenommen. Gleich- kunft untersucht. Für die 1970er-Jahre in Klassenposition um 0,3, das heißt um
zeitig gab es zunehmend mehr Positionen Westdeutschland zeigt sich, dass Perso- knapp 30 %. Der Wert an sich ist mit Be-
in den beiden Dienstklassen und der nen aus der oberen Dienstklasse etwa 26- dacht zu interpretieren, da die Trendkur-
Klasse der qualifizierten Büroberufe. mal so große Chancen hatten, die obere ve die Entwicklung etwas überzeichnen
Dieser strukturell bedingte Wandel be- Dienstklasse statt die Facharbeiterklasse kann. Dennoch wird klar, dass sich der
einf lusst die individuellen Mobilitäts- zu erreichen, wie Personen aus der Fach- Einfluss der sozialen Herkunft auf die ei-
möglichkeiten. Wenn zum Beispiel Fach- arbeiterklasse. Diese enormen Chancen- gene Klassenposition seit 1976 deutlich
arbeitersöhne aufgrund der abnehmen- ungleichheiten sind charakteristisch für abgeschwächt hat. Die Ungleichheiten in
den Nachfrage nach Facharbeitern nicht Deutschland. Im Vergleich mit anderen den Mobilitätschancen haben für Männer
mehr die gleiche Position wie ihre Väter industrialisierten Ländern hat Deutsch- in Westdeutschland in diesem Zeitraum
einnehmen können, müssen sie zwangs- land mit die höchsten Chancenungleich- deutlich abgenommen. Für ostdeutsche
läufig in andere Positionen ausweichen. heiten aufgewiesen und tut dies auch im- Männer ist dagegen eine umgekehrte
Ein Teil der sozialen Mobilität – und da- mer noch. Entwicklung zu beobachten. Ausgehend
mit auch mancher Auf- und Abstieg – be- Doch wie haben sich die Chancen seit von einem deutlich geringeren Zusam-
ruht somit auf den Veränderungen in der den 1970er-Jahren verändert? Wie unter- menhang zwischen sozialer Herkunft
Beschäftigungsstruktur. schiedlich sind die Chancen in Ost und und eigener Klassenposition im Aus-
Wenn man nun die Aufstiegschancen West? Die folgende Analyse beschreibt gangsjahr 1990 hat sich der Zusammen-
oder Abstiegsrisiken von Kindern aus die Entwicklung der Chancenungleich- hang im Zeitverlauf verstärkt. Die Bedeu-
unterschiedlichen Klassenpositionen heiten in Deutschland in den vergange- tung der Herkunftsklasse für die eigene
über die Zeit vergleichen möchte, dann nen 40 Jahren. Hierzu wurden für sämt­ spätere Klassenposition hat im Osten
sollte man diese strukturell bedingte so- liche Kombinationen aus den sieben also zugenommen. Die beiden Kurven
ziale Mobilität herausrechnen. Dies ge- Klassenpositionen die oben dargestellten haben sich seit der Vereinigung aufeinan-
schieht, indem man die Auf- und Ab- Chancenverhältnisse berechnet und in der zubewegt. Im Jahr 2018 war der Zu-
stiegschancen einer Person aus einer be- einem Modell zusammengefasst. sammenhang zwischen Herkunft und ei-
stimmten Herkunftsklasse in Relation Die Abbildungen 1 und 2 zeigen die gener Klassenposition für Männer in Ost
mit den Auf- und Abstiegschancen einer Entwicklung der Stärke des Zusammen- und West ähnlich stark ausgeprägt. Die
Person aus einer anderen Herkunftsklas- hangs zwischen der sozialen Herkunft und höhere Chancengleichheit, die typisch
se vergleicht. Man kann zum Beispiel fra- der eigenen Klassenposition. Die Stärke für den ostdeutschen Landesteil war, ist
gen, um wie viel geringer die Chancen des Zusammenhangs ist auf der y-Achse verschwunden. u Abb 1
für Personen aus der Facharbeiterklasse dargestellt. Für das erste Jahr der Analyse, Bei den Frauen zeigen sich unmittel-
sind, eine Position in der oberen Dienst- 1976, wurde dieser Zusammenhang auf bar nach der Vereinigung ebenfalls deut-
klasse zu erreichen, im Vergleich zu Per- den Wert 0 als Ausgangsniveau festgesetzt. liche Unterschiede zwischen Ost und
sonen, die bereits in der oberen Dienst- Die Abweichung zu diesem Wert gibt West. Ähnlich wie bei den Männern
klasse groß geworden sind – und inwie- dann die prozentuale Veränderung zu die- nahm die Chancenungleichheit bei den

313
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.5 / Soziale Mobilität

u Abb 1 Relative Veränderung des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und


eigener Klassenposition für Männer 1976 – 2018

0,1

– 0,1

– 0,2

– 0,3

– 0,4

– 0,5

– 0,6
1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018

Westdeutschland Ostdeutschland

Datenbasis: ALLBUS; SOEP; ZUMA-Standarddemographie; ISJP; NEPS; 1976 – 2018

u Abb 2 Relative Veränderung des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und


eigener Klassenposition für Frauen 1976 – 2018

0,1

– 0,1

– 0,2

– 0,3

– 0,4

– 0,5

– 0,6
1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018

Westdeutschland Ostdeutschland

Datenbasis: ALLBUS; SOEP; ZUMA-Standarddemographie; ISJP; NEPS; 1976 – 2018

314
Soziale Mobilität / 8.5 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

Frauen in Ostdeutschland über die Zeit Dienstklasse nehmen zu. Das gilt für
deutlich zu. Gleichzeitig schwächte sich Männer und Frauen in Ost- und West-
bei westdeutschen Frauen der Zusam- deutschland. In der Klasse der ungelern-
menhang zwischen Herkunft und eigener ten Arbeiterinnen, Arbeiter und Ange-
Position über die Zeit hinweg ab. Die Fol- stellten nehmen die Vererbungsraten der
ge ist, dass sich auch die beiden Kurven Frauen ab, die der Männer dagegen ten-
für Frauen aufeinander zubewegt haben denziell zu. Auffällig sind zudem in Ost-
und im jüngsten Jahrzehnt praktisch deutschland die geringer werdenden Ver-
gleichauf waren mit einem Trend zu erbungsraten bei Facharbeiterpositionen.
­weniger Einfluss des Elternhauses auf die Insgesamt zeigt sich eine etwas stärkere
eigenen Mobilitätschancen. u Abb 2 Polarisierung für Männer in Ost- und
Die Trendkurven legen auch nahe, Westdeutschland, während Frauen zu-
dass zumindest für Frauen eher eine nehmend bessere Positionen erreichen
gleichförmige Entwicklung in Ost und können und seltener absteigen.
West zu erwarten ist. Die Kennzahlen aus Der Trend zu mehr Abstiegen und we-
den Tabellen 1, 2 und 3 unterstreichen niger Aufstiegen, wie er sich im ersten
diesen Befund eines ähnlichen Mobili- Jahrzehnt des neuen Jahrtausends andeu-
tätsraums in Ost und West für Frauen. tete, hat sich zwischen 2010 und 2018 nicht
Bei den Männern bleibt abzuwarten, ob fortgesetzt. Es gibt wieder mehr Aufstiege,
sich auch hier die Kurven zukünftig par- während sich der Anteil der Abstiege nur
allel weiterentwickeln werden. wenig geändert hat. Insgesamt überwiegen
weiterhin die Aufstiege, insbesondere für
8.5.5 Zusammenfassung westdeutsche Männer. Im Osten stellt sich
Die Herkunft aus einer bestimmten sozi- dieser Zusammenhang weniger deutlich
alen Klassenlage hat trotz der Betonung dar. Auch beim Ausmaß der sozialen Mo-
von Chancengleichheit im Bildungswesen bilität sind bei den Männern Unterschiede
und der Hervorhebung des Leistungsge- zwischen Ost und West deutlicher ausge-
dankens in der Berufswelt nach wie vor prägt. Bei den Frauen in Ost- und West-
einen starken Einf luss auf die spätere deutschland fällt die soziale Mobilität
Klassenposition von Männern und Frau- mittlerweile sehr ähnlich aus.
en in Deutschland. Viele Personen, die Die hier vorgestellte Betrachtung der
heute eine bestimmte Klassenposition in- tatsächlichen Mobilitätschancen – berei-
nehaben, kommen aus Familien, in de- nigt um Veränderungen in der Berufs-
nen bereits der Vater die gleiche Klassen- struktur – zeigt für westdeutsche Männer
position hatte. Dies trifft insbesondere einen klaren kontinuierlichen Trend hin
für Landwirtinnen und Landwirte sowie zu einem abnehmenden Einfluss der sozi-
Facharbeiterinnen und Facharbeiter zu, alen Herkunft auf die eigene Klassenposi-
aber auch abgeschwächt für Menschen in tion. Den gleichen Trend kann man für
der oberen Dienstklasse und aus der Klas- westdeutsche Frauen beobachten. Im Os-
se der ungelernten Arbeiterinnen, Arbei- ten dagegen nimmt der Einfluss der sozia-
ter und Angestellten. Über die Zeit gab es len Herkunft deutlich zu. Der zum Zeit-
hier nur wenige Veränderungen, die ins- punkt der deutschen Vereinigung deut-
besondere die Klassen der Facharbeite- lich geringere Einfluss des Elternhauses
rinnen und Facharbeiter, der Landwirtin- auf die Mobilitätschancen für Männer
nen und Landwirte und vor allem im Os- und Frauen in Ostdeutschland ist Ge-
ten die oberen Dienstklassenpositionen schichte. Es kommt bei beiden Geschlech-
betreffen. Die oberen Dienstklassen rek- tern zu einer Angleichung der Mobilitäts-
rutieren sich zunehmend aus sich selbst. chancen in Ost und West. Inwieweit die
Bei der Vererbung von Klassenpositi- Mobilitätschancen in Ost- und West-
onen zeigen sich eine Reihe von Trends: deutschland fortan ähnlich bleiben, wer-
Die Vererbungsraten in der oberen den die kommenden Jahre zeigen.

315
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.6 / Internationale Mobilität und Sozialstruktur

8.6 Deutschland ist nicht nur eines der wich­


tigsten Zielländer internationaler Migra­
rung ihrer Lebensumstände erwerben
und beispielsweise im Arbeitsmarkt ge­
Internationale tion, sondern mittlerweile auch ein be­ winnbringend einsetzen können.
Mobilität und deutendes Herkunftsland internationaler
Wanderungsbewegungen. Ganz allge­
Während die Zuwanderung und ihre
Konsequenzen für die Sozialstruktur in
Sozialstruktur mein entscheiden sich Menschen für Deutschland ein traditionelles Feld der
einen kurzfristigeren oder auch dauer­ Sozialberichterstattung darstellt, wissen
haften Aufenthalt im Ausland, um ihre in­ wir vergleichsweise wenig über die Men­
Andreas Ette, Andreas Genoni,
dividuellen Lebensumstände zu verbessern. schen aus Deutschland, die temporär
Nils Witte
So ziehen Menschen ins Ausland, um oder dauerhaft auswandern. Wer sind die
ihre beruflichen Perspektiven zu erweitern, Menschen aus Deutschland, die sich für
Bundesinstitut für um ihre Familienbeziehungen zu pflegen einen Umzug ins Ausland entscheiden?
Bevölkerungsforschung (BiB) oder auch einfach nur um ihren eigenen Wie wirkt sich die internationale Mobili­
Erfahrungshorizont zu erweitern. tät auf deren individuelle Lebenssituation
Vor dem Hintergrund der fortschrei­ aus? Im Folgenden werden diese Fragen
tenden Globalisierung können sich das unter anderem mit Daten der German
Leben in einem unbekannten Land und Emigration and Remigration Panel Study
der Kontakt mit der dort lebenden Bevöl­ (GERPS), einer mit dem Sozio-oekono­
kerung positiv auf interkulturelle Kompe­ mischen Panel (SOEP) verwandten Studie,
tenzen und Sprachkenntnisse auswirken. untersucht. u Info 1
Ferner erfordert die mit der Globalisie­ Ausgehend von der steigenden gesell­
rung einhergehende internationale Han­ schaftlichen Relevanz der internationalen
dels- und Produktionsvernetzung erhöhte Mobilität der Bevölkerung in Deutsch­
Mobilitäts­ b ereitschaft von Arbeitneh­ land wird im Kapitel die vor Kurzem ins
merinnen und Arbeitnehmern. Dies zeigt Ausland umgezogene Bevölkerung mit
sich etwa dadurch, dass in Staaten mit der in Deutschland lebenden, internatio­
stark international ausgerichteter Wirt­ nal nicht mobilen Bevölkerung vergli­
schaft wie Deutschland Auslandserfah­ chen. Die Ergebnisse zeigen nicht nur,
rungen immer häufiger zu den gängigen wer sich überhaupt für einen Umzug ins
beruf lichen Voraussetzungen gehören. Ausland entscheidet, sondern geben auch
Internationale Mobilität fungiert also Hinweise auf die hinter dieser Entschei­
auch als eine Art »transnationales Hu­ dung liegenden Wanderungsmotive.
mankapital«, das Personen zur Verbesse­ Die individuellen Konsequenzen dieser

u Info 1
Die zentralen Datenquellen
Dieses Kapitel basiert überwiegend auf Daten der ersten Befragungswelle der neuen German Emigration
and Remigration Panel Study (GERPS). Die Befragung richtet sich an deutsche Staatsangehörige im
Alter zwischen 20 und 70 Jahren, die innerhalb eines Jahres vor der Befragung international mobil waren
(sprich: aus- oder rückgewandert sind). Die erste Befragungswelle fand Ende 2018 statt und führte zu
11 010 vollständigen Interviews. GERPS liefert Daten zur internationalen Mobilität, die für die deutsche
Bevölkerung repräsentativ sind. Die Daten geben erstmals eine empirische Basis zur Untersuchung der
Frage, inwiefern sich internationale Mobilität auf die Lebenssituation und den Lebensverlauf von Menschen
auswirkt. In diesem Zusammenhang profitiert die Studie allgemein von der Vergleichbarkeit mit den
Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), das als Referenz für die international nicht mobile
deutsche Bevölkerung herangezogen wird. Der hier angestellte Vergleich zwischen GERPS und SOEP
erfolgt auf Basis der SOEP Version 35 aus dem Jahr 2018. Es werden dabei ausschließlich 20- bis
70-jährige Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit mit den kürzlich ausgewanderten Befragten aus
GERPS verglichen. Für die Analysen werden Informationen von insgesamt 3 768 Personen aus GERPS
und 15 939 Personen aus dem SOEP verwendet.

316
Internationale Mobilität und Sozialstruktur / 8.6 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

internationalen Migration werden durch nen deutsche Staatsangehörige ins Aus­ staaten auch ergibt sich ­d araus ein im
einen Vergleich der Lebenssituation in­ land umgezogen. In den vergangenen Durchschnitt leicht negativer Wande­
ternational mobiler Deutscher vor und Jahren stellten die Schweiz, die Vereinig­ rungssaldo von Deutschen im vergange­
nach ihrer Auswanderung dargestellt. ten Staaten, Österreich, das Vereinigte nen Jahrzehnt: Jährlich wanderten seit
Die angestellten Vergleiche basieren da­ Königreich und die Türkei die wichtigs­ 1991 etwa 24 000 mehr Deutsche aus als
bei zum einen auf objektiven Indikatoren ten Zielländer von ins Ausland umgezo­ ein. u Abb 1
zur Sozialstruktur, beispielsweise der genen Deutschen dar. Die internationale Der Anstieg der internationalen Wan­
Veränderung des Einkommens, zum Mobilität von Deutschen ist im Verlauf derungen von Deutschen bei relativ
anderen auf subjektiven Einschätzungen der vergangenen Jahrzehnte leicht, aber gleichbleibendem Wanderungssaldo zeigt
ausgewanderter Deutscher, zum Beispiel kontinuierlich gestiegen. Gleichzeitig ist die große Bedeutung zeitlich befristeter
zur Veränderung ihres Familienlebens die Zahl der Zuzüge von Deutschen nach Auslandsaufenthalte. Dies wird auch
oder ihres Lebensstandards. Deutschland kontinuierlich gestiegen. durch die Ergebnisse aus GERPS bestätigt.
Wenn die Wanderungen von (Spät-)Aus­ Danach plant nur etwa ein Viertel der vor
8.6.1 Entwicklung von Auslands­ siedlerinnen und (Spät-)Aussiedlern so­ Kurzem ins Ausland umgezogenen Deut­
aufenthalten und internationaler wie die verschiedenen Anpassungen und schen, dauerhaft im Ausland zu leben. Ein
Mobilität Korrekturen der Wanderungsstatistik Großteil der ins Ausland umziehenden
Internationale Mobilität und Auslandser­ unberücksichtigt bleiben, sind im vergan­ Deutschen kehrt innerhalb von fünf Jah­
fahrungen gewinnen für die Bevölkerung genen Jahrzehnt 1,3 Millionen deutsche ren wieder nach Deutschland zurück.
in Deutschland ebenso wie in anderen In­ Staatsangehörige aus dem Ausland nach Dies führt zu einer kontinuierlich wach­
dustriestaaten zunehmend an Bedeutung. Deutschland zugezogen (für einen Über­ senden Zahl von in Deutschland leben­
Allein in den anderen Mitgliedstaaten der blick über die internationalen Wan­ den Menschen mit Auslandserfahrungen.
OECD leben 3,8 Millionen in Deutsch­ derungen der Gesamtbevölkerung in Nach Informationen aus dem Mikro­
land geborene Personen und im vergan­ Deutschland siehe Kapitel 1.1.3, S. 19). zensus lebten bereits 3,5 % der deut­
genen Jahrzehnt sind knapp 1,8 Millio­ Wie für die meisten anderen Industrie­ schen Staatsangehörigen, die selbst in

u Abb 1 Entwicklung der Fortzüge, Zuzüge und des Wanderungssaldos von Deutschen im Zeitraum von 1991 – 2018 — in Tausend

200

100

– 100

– 200
1991 1995 2000 2005 2010 2015 2018

Zuzüge Fortzüge Wanderungssaldo

Ohne Zuzug von (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedlern und Fortzügen ins unbekannte Ausland,
um Anpassungen und Korrekturen der Wanderungsstatistik im Zeitvergleich zu berücksichtigen.
Datenbasis: Statistisches Bundesamt 2020

317
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.6 / Internationale Mobilität und Sozialstruktur

Deutschland geboren wurden, schon ein­ u Tab 1 Die Auslandserfahrungen von Deutschen nach
mal für ein Jahr oder auch länger im Aus­ Altersgruppen 2018 — in Prozent
land. Berücksichtigt man auch kürzere Haben Sie Ihren Aufenthalt in Haben Sie schon einmal länger als
Auslandsaufenthalte von unter einem Jahr, Deutschland schon einmal unter­ drei Monate im Ausland gelebt,
brochen und mindestens 1 Jahr im sei es aus beruflichen oder privaten
so ist der Anteil mit 10,7 % sogar deutlich Ausland gelebt? (Mikrozensus) Gründen? (SOEP)
höher. Die Zahlen beider Umfragen zei­
20 – 29 Jahre 3,5 13,2
gen jedoch, dass insbesondere die jünge­
30 – 39 Jahre 4,8 14,5
ren Geburtskohorten in größerem Um­
40 – 49 Jahre 4,1 11,0
fang international mobil sind, als das für
50 – 59 Jahre 3,0 8,1
frühere Geburtskohorten gilt. u Tab 1
60 – 70 Jahre 2,5 8,3
Insgesamt 3,5 10,7
8.6.2 Sozialstruktur der international
mobilen Bevölkerung Datenbasis: Mikrozensus 2018; SOEP 2018 (v35, gewichtet)

Auslandserfahrungen sind in der deut­


schen Bevölkerung ungleich verteilt. Bei
der international mobilen Bevölkerung
handelt es sich insgesamt um eine sozial
hoch selektive Gruppe. Dies zeigt ein
Vergleich sozialstruktureller Merkmale
zwischen vor Kurzem ausgewanderten
und in Deutschland lebenden Personen
mit deutscher Staatsangehörigkeit. Die
international mobile Bevölkerung ist
vergleichsweise jung. Die finanziellen
Anreize zur räumlichen Mobilität sind in
jüngeren Altersgruppen stärker und die
sozialen, insbesondere familiären Ver­
pflichtungen schwächer ausgeprägt. Ent­
sprechend war die Hälfte der kürzlich
ins Ausland gewanderten Deutschen
32 Jahre alt oder jünger, während dieser
Mittelwert bei den nicht mobilen Perso­
nen bei 49 Jahren lag. Nur 14 % der inter­
national mobilen Deutschen, aber fast
die Hälfte der nicht mobilen Deutschen
waren 50 bis 70 Jahre alt. Ein wichtiger
Grund dafür ist, dass die berufliche Kar­
riere als Anreiz internationaler Mobilität ­mobilen Deutschen (vor ihrer Auswande­ vor Auswanderung noch in Studium oder
mit zunehmendem Alter an Bedeutung rung). Bei den anderen Haushaltsformen Ausbildung waren.
verliert. Ein weiterer Grund sind die mit zeigt sich ein umgekehrtes Bild: Alleiner­ Männer sind häufiger international
dem steigenden Alter zunehmenden ziehende (1,9 % gegenüber 6,4 %), Paar­ mobil als Frauen. Der Frauenanteil war
partnerschaftlichen und familiären Ver­ haushalte ohne Kind (23,3 % gegenüber bei den international Mobilen mit 46,9 %
pflichtungen. u Tab 2 33,9 %), mit Kind(ern) unter 17 Jahren statistisch signifikant geringer als bei
Entsprechend spiegelt sich die jüngere (13,7 % gegenüber 16,8 %) sowie ab den nicht mobilen Personen (50,4 %). Die
Altersstruktur der international mobilen 17 Jahren (1,6 % gegenüber 14,7 %) waren Wanderungsmotive der Geschlechter wa­
Deutschen auch in der Haushaltsstruktur in der international mobilen Bevölkerung ren unterschiedlich gelagert. Männer ent­
wider. Personen in Einpersonenhaushal­ deutlich seltener vertreten. Ein ver­ schieden sich häufiger aufgrund ihrer
ten waren in der international mobilen gleichsweise hoher Anteil der internatio­ beruflichen Karriere für den Umzug ins
Bevölkerung überproportional vertreten. nal mobilen Bevölkerung (18,9 %) be­ Ausland, wohingegen Frauen häufiger aus
Während 22,6 % der nicht mobilen Deut­ stand aus »anderen« Haushaltstypen. familiären beziehungsweise partner­
schen in Einpersonenhaushalten lebten, Hierbei handelt es sich in erster Linie um schaftlichen sowie ausbildungstechni­
galt das für 40,5 % der international Wohngemeinschaften von Personen, die schen Gründen auswanderten.

318
Internationale Mobilität und Sozialstruktur / 8.6 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

u Tab 2 Vergleich der Sozialstruktur international mobiler und Auffällig ist der überdurchschnittliche
international nicht mobiler Deutscher 2018 — in Prozent Anteil Deutscher mit Migrationshinter­
International mobil? grund in der international mobilen Bevöl­
kerung. Dies traf sowohl auf Deutsche mit
ja nein
eigener Migrationserfahrung (11,9 %) als
(GERPS) (SOEP)
auch auf Deutsche mit zugezogenen
Altersgruppen Eltern(teilen) (12,9 %) zu. Beide Gruppen
20 – 29 Jahre 35,4 15,4 waren in der international mobilen Bevöl­
30 – 39 Jahre 36,7 17,8 kerung überrepräsentiert. Die Wahrschein­
40 – 49 Jahre 13,9 17,8 lichkeit internationaler Mobilität ist bei
50 – 59 Jahre 9,5 26,0 ihnen damit allgemein höher als bei Deut­
60 – 70 Jahre 4,5 23,0
schen ohne familiäre Migrationsgeschichte.
Das Herkunftsland der ­E ltern war dabei
Haushaltsstruktur
immerhin das Ziel jeder vierten deut­
Einpersonenhaushalt 40,5 22,6
schen Person mit Migrationshintergrund.
Paare ohne Kind 23,3 33,9
Auch bei der schulischen und berufli­
alleinerziehend 1,9 6,4 chen Ausbildung zeigen sich deutliche
Paare mit Kind(ern) unter 17 Jahren 13,7 16,8 Unterschiede zwischen international
Paare mit Kind(ern) ab 17 Jahren 1,6 14,7 mobilen und nicht mobilen Deutschen,
andere Kombination 18,9 5,5 die auch bei Berücksichtigung der Alters­
Geschlecht struktur zu beobachten sind. Während
Frauen 46,9 50,4
beinahe drei Viertel der international
mobilen Personen ein Studium absolviert
Männer 53,1 49,6
haben, galt das nur für ein Viertel der
Migrationshintergrund
Gesamtbevölkerung. Dazu passt auch,
kein Migrationshintergrund 75,2 87,0
dass 87,3 % der ausgewanderten Personen
direkter Migrationshintergrund 11,9 6,8 mindestens einen Realschulabschluss mit
indirekter Migrationshintergrund 12,9 6,2 Berufsausbildung vorweisen konnten,
Schul- und Berufsbildungsabschluss was nur 66,7 % der nicht mobilen Personen
kein Abschluss 0,1 0,9 von sich behaupten konnten. In beiden
Schulabschluss ohne Berufsausbildung 11,6 12,3
Gruppen gleich häufig vertreten waren
Hauptschule und Berufsausbildung 1,1 20,1
einzig Personen mit Schulabschluss ohne
Berufsausbildung (etwa 12 %). Allerdings
Realschule / (Fach-)Abitur und Berufsausbildung 15,5 40,5
umfasst diese Gruppe unter anderem
Fachhochschule / Universität 71,7 26,2
Deutsche, die aktuell noch in Studium
Haupttätigkeit
oder Ausbildung waren, sprich einen
abhängig Beschäftigte 54,9 61,0 Berufsabschluss anstrebten. Internatio­
Selbstständige 6,7 6,0 nale Mobilität hängt also stark mit der
Beamte / Beamtinnen 4,1 5,3 beruf lichen und schulischen Bildung
Arbeitslose 4,3 4,3 zusammen, wobei Hochschulabsolventen
Rentner /-innen 1,9 13,1
stark überrepräsentiert und Hauptschul­
absolventen mit Berufsausbildung deut­
Ausbildung und Studium 21,4 5,1
lich unterrepräsentiert sind.
Nichterwerbstätige 3,8 4,8
Die mit Abstand häufigste Haupt­
andere 2,9 0,3
tätigkeit bei international mobilen und
Sozioökonomischer Status (ISEI), Mittelwert 65,3 48,0 international nicht mobilen Deutschen
Universitätsabschluss Eltern war eine abhängige Beschäftigung. Der
keiner 46,5 85,1 Anteil abhängig Beschäftigter war bei
ein Elternteil 27,6 10,6 international mobilen Personen (54,9 %)
beide Elternteile 26,0 4,2 etwas geringer als bei der Vergleichs­
gruppe (61 %). Das erklärt sich unter ande­
Spaltenprozent: Prozentuale Anteile lassen sich in den Spalten aufsummieren, nicht pro Zeile.
Quelle: GERPS 2018 (Welle 1, gewichtet); SOEP 2018 (v35, gewichtet) rem durch den hohen Anteil international

319
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.6 / Internationale Mobilität und Sozialstruktur

mobiler Deutscher, die noch in Studium spiel Informationswissenschaftler und 8.6.3 Konsequenzen internationaler
oder Ausbildung waren, bevor sie ins -wissenschaftlerinnen, Finanzdienstleis­ ­ obilität für die individuelle
M
Ausland gegangen sind (21,4 %). Die An­ ter und -dienstleisterinnen), Berufe mit Lebenssituation
teile von Selbstständigen, Beamtinnen 48 Punkten umfassten Fachkräfte (zum Eine gesonderte Betrachtung der interna­
und Beamten, Arbeitslosen und Nichter­ Beispiel Reiseleiter und -leiterin, Kassierer tional mobilen Bevölkerung zeigt, dass
werbstätigen waren in beiden Vergleichs­ und Kassiererinnen). die Mehrheit dieser Personen ihre Situa­
gruppen etwa gleich hoch. Der Rentner­ Ein Vergleich der sozialen Herkunft tion im Ausland besser bewertet als un­
anteil war in der international mobilen verdeutlicht schließlich auch eine positi­ mittelbar vor der Auswanderung. Das
Gruppe deutlich niedriger (1,9 %) als in ve Selektion international mobiler Perso­ galt für den Lebensstandard (55,9 %), das
der international nicht mobilen deut­ nen im Generationenzusammenhang. So persönliche Einkommen (57,3 %), das
schen Bevölkerung (13,1 %). kam mehr als die Hälfte der ins Ausland Haushaltseinkommen (59,2 %) sowie die
Auch der Blick auf den »Internationa­ gewanderten Deutschen (53,6 %) aus Wohngegend (54,9 %). Durchgehend über
len Sozioökonomischen Index des be­ Elternhäusern, in denen mindestens ein El­ ein Viertel der Personen berichtete sogar
ruflichen Status« (ISEI) zeigt die positive ternteil einen Hochschulabschluss hatte. über »viel bessere« materielle Lebensbe­
Selektion der international mobilen Bei den international nicht mobilen Deut­ dingungen. International mobile Deut­
Erwerbstätigen. Der Index nimmt Werte schen stammten lediglich 14,8 % aus akade­ sche berichten auch über positive Ver­
zwischen 16 und 90 an und spiegelt mischen Elternhäusern. Noch deutlicher ist änderungen ihrer gesundheitlichen und
beruflichen Status und Einkommen wi­ der Unterschied in der sozialen Herkunft sozialen Lebensbedingungen. So gaben
der. Der Durchschnittswert dieser Skala bei Betrachtung von Elternhäusern, in de­ 34,7 % der ins Ausland gewanderten
lag bei international mobilen Erwerbs­ nen beide Elternteile Hochschulabschlüsse Deutschen eine Verbesserung ihrer Ge­
tätigen vor ihrer Auswanderung deutlich haben. Aus solchen rein akademischen sundheit im Vergleich zu vor der Aus­
höher (65,3) als bei der Vergleichsgruppe Elternhäusern kamen 26 % der ausgewan­ wanderung an. Von einer Verschlechte­
(48). Berufe mit 65 Punkten umfassten derten Personen, aber nur 4,2 % Personen rung berichtete mit 9,3 % eine deutliche
Aufsichts- und Führungskräfte (zum Bei­ in der nicht mobilen Vergleichsgruppe. Minderheit. Gesundheit bezieht sich hier

u Abb 2 Beurteilung der Lebenssituation im Ausland im Vergleich mit der Situation


vor der Auswanderung 2018 — in Prozent

Lebensstandard

persönliches Einkommen

Haushaltseinkommen

Wohngegend

Gesundheit

Familienleben

Freundes- / Bekanntenkreis

Nachbarkontakt

– 60 – 40 – 20 0 20 40 60

schlechter viel schlechter besser viel besser

Dargestellt sind die persönlichen Einschätzungen ausgewanderter Deutscher in acht Bereichen, die materielle Bedingungen (Lebensstandard, persönliches und Haushalts-
einkommen, Wohngegend), gesundheitliche Bedingungen (Gesundheit im Allgemeinen) und soziale Bedingungen (Familienleben, Freundes- / Bekanntenkreis und Kontakt
zu Nachbarn) des Lebens abdecken. Die Differenz zu 100 % bei allen betrachteten Kategorien entspricht dem Anteil jener Personen, die keinen Unterschied wahrnehmen.
Datenbasis: GERPS 2018 (Welle 1, gewichtet)

320
Internationale Mobilität und Sozialstruktur / 8.6 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

sowohl auf physische als auch psychische Im Gegensatz zur besseren Familien­ gungen zeigen sich in der Einkommens­
Aspekte und berücksichtigt daher ge­ situation im Ausland berichtete die Mehr­ mobilität im Rahmen der Auswanderung.
sundheitliche Veränderungen, die bei­ heit der international mobilen Deutschen Tabelle 3 liefert dazu Angaben in Form
spielsweise mit der individuellen Ernäh­ von einer schlechteren außerfamiliären des mittleren Nettoeinkommens von Er­
rung, mit dem Gesundheitsverhalten Situation. 35,9 % gaben eine schlechtere werbstätigen unmittelbar vor und nach
(Sport oder Alkoholkonsum) oder mit Situation innerhalb ihres Freundes- und ihrem Umzug ins Ausland. Betrug das
Stress zusammenhängen. Bei der Mehr­ Bekanntenkreises an, während lediglich mittlere Monatsnettoeinkommen von
heit der Deutschen verbesserte sich au­ 21,6 % von einer verbesserten Situation Deutschen vor ihrer Auswanderung noch
ßerdem die familiäre Situation. Dies berichteten. Ähnlich verhält es sich mit 2 700 Euro, so stieg es mit ihrem Umzug
hängt unter anderem damit zusammen, den Kontakten zur Nachbarschaft: 30,1 % um ein Drittel an und lag nach der Aus­
dass viele Paare separate Haushalte durch der ins Ausland umgezogenen Deutschen wanderung bei 3 600 Euro. Für rund 72 %
die Auswanderung zusammenführen. So berichteten von einer Verschlechterung, der deutschen Erwerbstätigen mit Ein­
gaben 38,7 % der ins Ausland gewanderten während nur 24,3 % eine Verbesserung kommensangaben war die internationale
Deutschen eine Verbesserung des Familien­ angaben. Mobilität mit einer Verbesserung des Mo-
lebens unmittelbar nach der Auswande­ Die persönlichen Einschätzungen in­ natsnettoeinkommens verbunden. Ähnlich
rung an, während lediglich 16,8 % von ei­ ternational mobiler Deutscher zur Verän­ verhält es sich beim Nettostundenlohn.
ner Verschlechterung berichteten. u Abb 2 derung ihrer materiellen Lebensbedin­ Dieser stieg im Mittel um über die Hälfte
an (von 14 Euro auf 21,50 Euro). u Tab 3
Insgesamt profitieren international
mobile Deutsche also auch unabhängig
von ihrer Wochenarbeitszeit, da diese
u Tab 3 Mittleres Nettoeinkommen durchgehend erwerbstätiger Deutscher bereits im Nettostundenlohn berücksich­
im Rahmen ihrer Auswanderung 2018 tigt ist. Ein tieferer Blick in die Daten zeigt
außerdem, dass die Mehrheit jener, die
Vor der Nach der
Anteil mit Anstieg einen Anstieg im persönlichen Einkom­
Auswanderung Auswanderung

in Euro in %
men verzeichneten, keinen Anstieg in der
wöchentlichen Arbeitszeit aufwiesen. Die
Monatslohn, Netto 2 700 3 600 71,6
Lohnsteigerungen im Zuge der Auswan­
Stundenlohn, Netto 14,00 21,50 78,0
derung sind im Durchschnitt also nicht
Der Nettostundenlohn basiert auf der tatsächlichen Wochenarbeitszeit. Aufgrund teilweise großer Einkommensunterschiede auf erhöhte Arbeitsstunden zurückzufüh­
zwischen Erwerbstätigen werden die mittleren Einkommensangaben (Medianwerte) berichtet. Zum Beispiel gibt ein mittlerer
Nettostundenlohn von 14 Euro an, dass der Anteil deutscher Erwerbstätiger, die vor ihrer Auswanderung unter 14 Euro ren. Die Anstiege sind auch dann höher,
pro Stunde verdienen, gleich groß ist wie der Anteil jener deutscher Erwerbstätiger, die über 14 Euro pro Stunde verdienen.
Zum Vergleich: Der durchschnittliche Nettostundenlohn deutscher Erwerbstätiger vor ihrer Auswanderung beträgt 29,50 Euro. wenn man sie mit den Lohnsteigerungen
Einige Erwerbstätige haben also auffällig hohe Nettostundenlöhne. Während der Median robust auf diese hohen Stundenlöhne
reagiert, fließen sie beim Mittelwert in die Berechnung ein. nicht mobiler Deutscher mit ähnlichen
Datenbasis: GERPS 2018 (Welle 1)
soziostrukturellen Merkmalen im glei­
chen Zeitraum vergleicht. u Info 2
Wenngleich die Auswanderung ge­
uInfo 2
messen an der Einkommensmobilität
Kausalität häufig mit deutlichen Aufstiegen verbun­
den ist, findet bei der großen Mehrheit
Im Kapitel werden einige Aussagen über Veränderungen im Rahmen internationaler Mobilität, zum
Beispiel beim Einkommen, getroffen. Es gilt zu berücksichtigen, dass Veränderungen im Leben von der ins Ausland umgezogenen, durch­
international mobilen Personen nicht ohne Weiteres auf ihre Auswanderung zurückgeführt werden gehend erwerbstätigen Deutschen kein
können. Zum einen unterscheidet sich die international mobile Bevölkerung von der international
sozialer Klassenwechsel statt. Dies lässt
nicht mobilen Bevölkerung hinsichtlich bestimmter Merkmale, die bereits vor der Auswanderung
unterschiedlich verteilt waren. Veränderungen im Leben von international mobilen Personen können sich durch die im vorherigen Abschnitt
auf solche Merkmale und nicht auf die Auswanderung selbst zurückzuführen sein. Dazu zählen dargestellten Befunde erklären, dass in­
­beispielsweise soziodemografische Merkmale, wie das Alter und der Beruf, oder auch motivationale
Merkmale, wie Ehrgeiz oder Produktivität. Zum anderen können Veränderungen im Leben von
ternational mobile Deutsche mehrheitlich
­international mobilen Personen durch Ereignisse ausgelöst werden, die auch bei international nicht aus gut gestellten Elternhäusern stammen
mobilen Personen vorkommen. Internationale Mobilität muss damit nicht zwingend alleiniger Aus­ und auch selbst überwiegend der hoch
löser für individuelle Veränderungen sein. Ein Beispiel dafür sind die mit der internationalen Mobilität
häufig verbundenen Arbeitsgeberwechsel, die jedoch auch innerhalb Deutschlands mit Einkom-
qualifizierten und beruflich erfolgreichen
mensgewinnen einhergehen. Die vorliegenden Ergebnisse berücksichtigen allein Unterschiede in Bevölkerungsgruppe angehören.
den soziodemografischen Merkmalen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen (Selektivität). Abbildung 3 zeigt die mit der Auswan­
Daher wird in diesem Kapitel nicht davon ausgegangen, dass die hier diskutierten Veränderungen
im Leben von international mobilen Personen ausschließlich auf deren Auswanderung zurückzu­ derung verbundenen Übergänge zwischen
führen sind (Kausalität). den sozialen Klassen von durchgehend

321
8 / Sozialstruktur und soziale Lagen 8.6 / Internationale Mobilität und Sozialstruktur

u Abb 3 Soziale Mobilität von durchgehend erwerbstätigen Deutschen Insgesamt waren mit der Auswande­
im Rahmen ihrer Auswanderung 2018 — in Prozent rung durchgehend erwerbstätiger Deut­
scher etwas mehr soziale Aufstiege
(13,2 %) als soziale Abstiege (11,5 %) ver­
soziale vor der nach der
Klasse Auswanderung Auswanderung bunden. Entsprechend gehören Personen
der Dienstklassen innerhalb der inter­
national mobilen Bevölkerungsgruppe
nicht nur international, sondern auch so­
zial gesehen zu den mobilsten durchge­
hend Erwerbstätigen. Die Mehrheit der
obere Dienstklasse 45,6 46,7 Personen (75,1 %) hatte ihre Klassenposi­
tion mit der Auswanderung allerdings
nicht verändert. Die überwiegend hoch
qualifizierten Erwerbstätigen besetzen
demnach auch im Ausland attraktive Be­
rufspositionen.

8.6.4 Zusammenfassung und


Diskussion
Über die vergangenen Jahrzehnte hat die
untere Dienstklasse 39,6 39,4
internationale Mobilität von Deutschen
kontinuierlich zugenommen. In der Be­
völkerung in Deutschland berichten im­
mer mehr Menschen, schon einmal für
längere Zeit im Ausland gelebt zu haben.
ausführende Angestellte 5,9 5,1 Diese ins Ausland gewanderten Deut­
schen unterscheiden sich wesentlich von
niedrigere Klassenposition 8,9 8,8 der international nicht mobilen Bevölke­
rung. Bedingt durch die Möglichkeiten
internationaler Mobilität und die gestie­
Insgesamt werden vier Personengruppen unterschieden: »Obere Dienstklasse«, »untere Dienstklasse« und genen Mobilitätserwartungen seitens der
»ausführende Angestellte« (zum Beispiel qualifizierte Bürokräfte, mittlere Beamtenschaft) bilden jeweils eine Gruppe.
Selbstständige, Facharbeiter und Facharbeiterinnen, Meister und Meisterinnen, ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen Arbeitgeber gehen insbesondere junge
sowie ungelernte Angestellte werden aufgrund der Konzentration international mobiler Personen in den oberen
Dienstklassen in einer Gruppe (»niedrigere Klassenposition«) zusammengefasst. Menschen immer häufiger ins Ausland.
Datenbasis: GERPS 2018 (Welle 1)
Erleichtert wird dies unter anderem durch
die geringeren sozialen Verpflichtungen
in dieser Lebensphase. Ins Ausland ge­
zogene Deutsche stammen häufiger aus
Migrantenfamilien, aus akademischen
erwerbstätigen Deutschen. Die linke Seite leitende Angestellte und höhere Beam­ ­E lternhäusern und sind überwiegend
der Abbildung zeigt den Anteil erwerbs­ tinnen und Beamte. In der unteren hoch qualifiziert. Die meisten haben ein
tätiger Deutscher je Klasse vor der Aus­ Dienstklasse finden sich hoch qualifi­ Studium absolviert oder studieren aktuell
wanderung. Die rechte Seite zeigt den zierte Angestellte und gehobene Beam­ noch. Allerdings machen abhängig Be­
Anteil erwerbstätiger Deutscher je Klasse tinnen und Beamte. 9,2 % der durchge­ schäftigte den mit Abstand größten An­
nach der Auswanderung. Die Verknüp­ hend Erwerbstätigen stiegen mit dem teil unter den international mobilen
fung der Anteile vor und nach dem Um­ Umzug ins Ausland in die obere Dienst­ ­Deutschen aus. Die deutliche soziale Se­
zug veranschaulicht, wie sich Erwerbs­ klasse und 3,5 % in die untere Dienst­ lektivität bei der Entscheidung für einen
tätige mit der Auswanderung zwischen klasse auf. Ferner stiegen mit der Aus­ Umzug ins Ausland zeigt sich auch im
den sozialen Klassen bewegen. Das Aus­ wanderung 8,2 % der durchgehend Qualifikationsprofil. Der berufliche Sta­
maß dieser sozialen Mobilität lässt sich ­E rwerbstätigen von der oberen Dienst­ tus und das Einkommen der internatio­
am besten mit Blick auf die beiden klasse in eine tiefere Klassenposition ab. nal mobilen Erwerbstätigen sind deutlich
Dienstk lassen ermitteln. Die obere Nur 2,7 % stiegen aus der unteren Dienst­ höher als bei den international nicht
Dienstklasse beinhaltet beispielsweise klasse ab. u Abb 3 ­mobilen Erwerbstätigen.

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Internationale Mobilität und Sozialstruktur / 8.6 Sozialstruktur und soziale Lagen / 8

Im Allgemeinen scheint sich die Le­ So berichten ins Ausland umgezogene


bensituation von Deutschen mit ihrer Deutsche über eine bessere Lebenssitua­
Auswanderung zu verbessern. Die meis­ tion – auch beim Vergleich von internati­
ten international mobilen Deutschen neh­ onal mobilen und nicht mobilen Deut­
men mit dem Umzug ins Ausland eine schen mit ähnlichen soziostrukturellen
Verbesserung ihrer Lebenssituation wahr. Merkmalen.
Dies bezieht sich neben der gesundheitli­ Zunehmend mehr Deutsche profitie­
chen und familiären Situation vor allem ren von Auslandserfahrungen, wenn­
auf die finanzielle Situation. Entspre­ gleich bisher vor allem Hochqualifizierte
chend ist der Umzug ins Ausland mit ei­ von dieser Möglichkeit Gebrauch machen.
ner deutlichen Besserstellung in Form Das Kapitel hat gezeigt, dass die Auswan­
von Einkommensmobilität verbunden, derung in den ersten Monaten nach dem
die sich auch bei Berücksichtigung sozia­ Umzug mit einem eindeutigen Anstieg
ler Selektivitätsmerkmale bestätigt. Den im Wohlbefinden und einer Verbesse­
materiellen, familiären und gesundheitli­ rung der beruflichen und ökonomischen
chen Gewinnen stehen jedoch auch nega­ Situation verbunden ist. Die (temporäre)
tive Auswirkungen entgegen. So berichten Auswanderung birgt somit das Potenzial,
international mobile Deutsche eher, dass die individuellen Lebensumstände von
ihr außerfamiliäres soziales Umfeld vor Personen in ihrem weiteren Lebenslauf
dem Umzug besser war. Die soziale Klas­ positiv zu beeinflussen. Inwiefern jedoch
senzugehörigkeit bleibt über den Umzug Deutsche mittel- bis langfristig von ihrer
ins Ausland hinaus relativ stabil. internationalen Mobilität profitieren und
Die überwiegend positiven Konse­ ob ein Auslandaufenthalt die Lebenssitu­
quenzen internationaler Mobilität bestä­ ation nachhaltig und substanziell beein­
tigen sich im Übrigen auch, wenn die flusst, müssen weitere Auswertungen zei­
allgemeine Lebenszufriedenheit als zu­ gen, die auf Grundlage der hier genutzten
sätzliches Maß zur Beurteilung der eige­ noch laufenden Studie in den kommen­
nen Lebenssituation herangezogen wird. den Jahren möglich sein werden.

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