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6/3/2019 Wir haben 2017 einen weitgehend erfundenen Gastbeitrag veröffentlicht. Wie konnte es dazu kommen?

- Glashaus

Glashaus
Das Transparenzblog von ZEIT ONLINE

Wir haben 2017 einen weitgehend erfundenen


Gastbeitrag veröffentlicht. Wie konnte es dazu
kommen?

Chefredaktion ZEIT ONLINE


(https://blog.zeit.de/glashaus/author/chefredaktionzeitonline/)
31. Mai 2019 um 18:46 Uhr

 
Die beschriebenen Szenen eines im Frühjahr 2017 auf ZEIT ONLINE veröffentlichten
Gastbeitrags sind wahrscheinlich weitgehend erfunden: Das Problem mit dem Penis
(h ps://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2017-02/sexuelle-aufklaerung-fluechtlinge-
deutschland), so der Titel des Beitrags, dreht sich um eine angebliche Aufklärungs-
Sprechstunde mit Geflüchteten in einer deutschen Kleinstadt.

Eine Anfrage des Spiegel hat uns auf die mögliche Fälschung aufmerksam gemacht und wir
haben diesen Beitrag in den vergangenen Tagen nochmals eingehend geprüft und mit der
Autorin, ihrem mittlerweile eingeschalteten Anwalt, ihrer Familie sowie weiteren
möglichen Zeugen gesprochen. Wir haben vor Ort Fakten des Textes und die Vita der
Autorin überprüft.

Wir gehen derzeit davon aus, dass die Autorin ihr Umfeld, uns und andere Medien
getäuscht hat. Wie konnte es zu der Veröffentlichung auf ZEIT ONLINE kommen?

Prüfung vor Veröffentlichung

Auf die Autorin des Gastbeitrags wurden wir durch einen vielbeachteten Tweet im Januar
2017 aufmerksam. Die Autorin hatte in ihrem Blog einen Text veröffentlicht, in dem sie

https://blog.zeit.de/glashaus/2019/05/31/gastbeitrag-2017-taeuschung-verdacht/ 1/7
6/3/2019 Wir haben 2017 einen weitgehend erfundenen Gastbeitrag veröffentlicht. Wie konnte es dazu kommen? - Glashaus

Aufklärungssprechstunden beschrieb, die sie mit Geflüchteten in einer deutschen Kleinstadt


abhalten würde.

Wir baten sie um ein persönliches Treffen. In dem Gespräch befragten eine Redakteurin und
ein Redakteur die Autorin sowohl zu dem Projekt als auch zu ihrer Vita, da der Blog-Text auf
vermeintlich autobiografischen Erlebnissen beruhte. Die Autorin beantwortete alle unsere
Fragen präzise und plausibel und machte insgesamt einen glaubwürdigen Eindruck auf uns.
Wir hatten die Vita der Autorin zuvor geprüft und unabhängige Belege für ihren
akademischen Werdegang, ihre Ausbildung und Arbeitsstelle, ihr soziales Engagement und
für einen von ihr beschriebenen Auslandsaufenthalt gesichtet.

Nach dem Gespräch prüften wir die Existenz jener Praxis, in der die Sprechstunde
stattfinden sollte. Wir überprüften die Beschreibungen der von ihr angegebenen Stadt, die
im Beitrag selbst nicht genannt wird. Wir überprüften persönliche Angaben aus dem
Gespräch, ebenso ihre behaupteten, ungewöhnlichen Sprachkenntnisse.

Unsere stichpunktartigen Überprüfungen ergaben keine Zweifel, dass die Aussagen der
Autorin sowohl zu ihrer Person als auch zu der beschriebenen Aufklärungsstunde auf der
Wahrheit beruhen.

Wir veröffentlichten den Text im Februar 2017 auf Wunsch der Autorin unter einem
Pseudonym, weil sie, wie sie uns erklärte, um ihre Sicherheit fürchtete. Wir haben am Ende
des Textes darauf hingewiesen, warum wir den Namen der Autorin und der Stadt nicht
nennen – allerdings entgegen unseren schon damals geltenden Regeln nicht explizit genug
gemacht, dass es sich beim angegebenen Autorennamen folglich um ein Pseudonym
handelt.

Erste Hinweise auf Falschinformationen

Nach Veröffentlichung erreichten uns im Jahr 2017 sukzessive einige Hinweise von Lesern
mit der Vermutung, dass Teile des Artikels und der Vita der Autorin nicht stimmten. Wir
überprüften daraufhin die Vorwürfe und unsere Recherche zur Autorin. Wir versuchten
auch mehrfach vergeblich, die Autorin auf verschiedenen Wegen zu erreichen, um sie mit
den Vorwürfen zu konfrontieren. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir die Zweifel weder
bestätigen noch ausräumen.

Erneute Prüfung

https://blog.zeit.de/glashaus/2019/05/31/gastbeitrag-2017-taeuschung-verdacht/ 2/7
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Am 27. Mai 2019 erreichte uns ein Hinweis des Spiegel, der nahelegt, dass die Geschichte
um die beschriebenen Aufklärungsstunden erfunden sei. Wir nahmen daraufhin erneut und
diesmal erfolgreich Kontakt mit der Autorin auf und baten sie um eine Stellungnahme.

In einem Telefonat versicherte sie erneut die Authentizität ihrer Geschichte. Sie nannte uns
Adressen, E-Mail-Adressen und Telefonnummern von Menschen, die sie bestätigen
könnten. Wir sind den Hinweisen der Autorin nachgegangen und haben darüber hinaus
weitere Personen, Institutionen und Behörden kontaktiert. Wir sind in die von ihr benannte
Kleinstadt gefahren und haben vor Ort die genannten Adressen und weitere Personen
überprüft.

Dabei haben wir festgestellt, dass die Autorin – wohl erneut – versuchte, uns mit
Scheinidentitäten, falschen Zeugen und vermeintlichen Belegen zu täuschen. Hierfür hat sie
etwa die Identität einer verstorbenen Person benutzt, um in deren Namen E-Mails an uns zu
schreiben. Zudem hat sie versucht, uns über die Existenz und die Lebensumstände von
Verwandten und ihre Familienverhältnisse zu täuschen.

Erst ein Besuch bei einer engen Verwandten schaffte Klarheit über das Ausmaß der
Legende, die sie offensichtlich seit vielen Jahren aufgebaut hat. Die Autorin hat Teile ihrer
Biografie erfunden, andere verfälscht, und mit großem Aufwand jahrelang öffentlich
vorgetäuscht, eine Person zu sein, die sie nicht ist. Selbst Teile ihres engeren Umfelds
scheinen ihren Schilderungen bis heute zu glauben. Wir haben die Autorin mit diesen
Recherchen konfrontiert, sie möchte sich derzeit nicht dazu äußern.

Fazit

Nach derzeitigem Stand müssen wir davon ausgehen, dass die in unserem Beitrag
geschilderten Ereignisse weitgehend falsch sind. Der Beitrag hätte nie erscheinen dürfen.
Wir bedauern dies sehr und entschuldigen uns bei unseren Leserinnen und Lesern.

Die Faktenchecks vor Veröffentlichung und nach Eingang der ersten Hinweise von Lesern
waren bei Weitem nicht ausreichend. Auch dieser für uns ausgesprochen ärgerliche Fall
zeigt, dass wir unsere Prüfmechanismen verschärfen müssen, wie es derzeit auch geschieht.

Aus Transparenzgründen lassen wir den ursprünglichen Beitrag noch einige Tage online,
werden ihn dann aber depublizieren und an der entsprechenden Stelle auf diesen Blog-
Beitrag verweisen.

74 Kommentare
https://blog.zeit.de/glashaus/2019/05/31/gastbeitrag-2017-taeuschung-verdacht/ 3/7
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Hapsch
#1  —  vor 3 Tagen

Besagte Dame hat auch ein Buch geschrieben, darin stimmte wohl auch
vieles nicht und sie hat einen Preis für ihren Blog bekommen, die Website des
Blogs ist mi lerweile nich mehr erreichbar.

Oke_Schumak
#2  —  vor 3 Tagen

Es ist zunächst einmal gut, dass ZON über diese erfundene Geschichte
aufklärt und sich dafür entschuldigt. Dennoch wird mit solchen Skandalen
der Vorwurf von Fake News oder Lügenpresse eher befeuert und das ist in
dieser angespannten Zeit sehr zum Nachteil der ´seriösen´ Presse. Der
Spiegel-Skandal war eine Sache und nun rückt auch ZON in ein sehr
schlechtes Licht. Der Vergleich mit RT oder Compact ist da auch durchaus
angebracht, denn offensichtlich geht es nicht mehr um Fakten, sondern nur
noch um Stimmungsmache. Es bleibt zu hoffen, dass nicht noch mehr
Leichen im Keller versteckt sind, aber dafür wird momentan wohl niemand
seine Hand ins Feuer legen. Man sieht, dass insbesondere das Thema
Flüchtlinge einen tiefen Spalt in die Gesellschaft geschlagen hat, der auf
Jahre nicht zu ki en sein wird. Aber verantwortlich will dafür am Ende
wieder einmal niemand sein – sehr bedauerlich!

n4n0lix
#3  —  vor 3 Tagen

Danke für die transparente Aufklärung! Ich finde ihr macht gute Arbeit, dass
es solche Ausnahmen gibt ist doch nur menschlich.

AdAstra
#4  —  vor 3 Tagen

https://blog.zeit.de/glashaus/2019/05/31/gastbeitrag-2017-taeuschung-verdacht/ 4/7
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So viel Arbeit nur um die Öffentlichkeit zu täuschen. Hä e die Energie die sie
dafür aufgebracht hat wo anders investieren sollen.

kinkata
#5  —  vor 3 Tagen

Es ehrt die Zeit das zu veröffentlichen und aufzuklären allerdings zeigt es


auch ein großes Problem auf. Medien finden vllt. raus das sie einem Fake
aufgesessen sind und so schlecht das ist,dass kann passieren. Das Problem
ist aber, dass diese Texte dann schon tausende gelesen haben, die Nachricht
das es ein Fake ist aber nur mehr einige wenige mitkriegen. Hier muss
dringend ein besserer Weg gefunden werden aufzuklären und solche
Täuscher zu strafen. Für mich sind derartige Vorfälle daher auch einer von
mehreren Gründen warum ich das Gerede von der „vierten Macht im Staat“
für Schwachsinn, ja sogar als gefährlich für die Demokratie ansehe.

Th.R.
#6  —  vor 3 Tagen

Ich schlage vor: Absolution für die ZEIT-Redaktion und für die Autorin mit der
falschen Identität. Der Inhalt des Beitrags ist durchweg vernünftig und
übrigens gut geschrieben. Nichts daran ist anstößig. Vielleicht sollte man
den Medien mit weniger Gutgläubigkeit begegnen. Heute melden sie von
Morden und Inhaftierungen in Nord-Korea, die von einer südkoreanischen
Zeitung behauptet, von niemandem jedoch bestätigt wurden. Wahrheit?
Fake? Der Bußgang der Chefredaktion von ZEIT ONLINE sieht nach einer
Relotius-Folge aus und könnte erklären, warum sich der SPIEGEL für den Fall
interessiert. Was Strache in Ibiza treibt, ist wohl kein Fake. Es beunruhigt
mich mehr als eine erfundene Aufklärungsstunde.

Gebhard Leberecht
#7  —  vor 3 Tagen

https://blog.zeit.de/glashaus/2019/05/31/gastbeitrag-2017-taeuschung-verdacht/ 5/7
6/3/2019 Wir haben 2017 einen weitgehend erfundenen Gastbeitrag veröffentlicht. Wie konnte es dazu kommen? - Glashaus

Chapeu! Gelinkt werden kann man immer. Trau, schau, wem. Gratulation zu
dem Mut, den Fehler hier öffentlich einzugestehen.

FollowTheWhiteRabbit
#8  —  vor 3 Tagen

Das ist der richtige Schri . Bevor irgendein Bashing losgeht: Ich finde, dass
das Zeit-Online Team insgesamt sehr gute Arbeit leistet. Ich lese diese
Zeitung seit Jahren regelmäßig und gerade die selbstkritische Reflexion wie
hier gefällt mir. Auch wenn die Täuschung evtl hä e verhindert werden
können: aus Fehlern lernt man.

selbstdenker16
#9  —  vor 3 Tagen

Entschuldigung angenommen. Bi e das Möglichste tun um Ähnliches künftig


zu vermeiden weil sonst die Reputation der Zeit darunter leidet.

Maneki Neko
#10  —  vor 3 Tagen

Nunja, damals sollte man einfach dem Bericht Glauben schenken, weil
mangels konkreter Angaben eine Überprüfung nicht möglich war, nun soll
man dieser Darstellung Glauben schenken.
Während der Spiegel bei seiner Affaire zumindest eingeräumt hat, daß er
gegenüber seinem Starreporter und den so gut ins eigene Weltbild
passenden Reportagen vielleicht etwas zu blauäugig war, haben wir es hier
offenbar mit einer Meisterfälscherin zu tun. Sozusagen dem Konrad Kujau
der Flüchtlingsaufklärung.
Hat die Zeit die Geschichte damals vielleicht nicht deshalb veröffentlicht, weil
sie mit dem eigenen Bild der Lage so schön übereinstimmte?

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6/3/2019 Sexuelle Aufklärung : Das Problem mit dem Penis | ZEITmagazin

© Bo Soremsky für ZEITmagazin ONLINE

Sexuelle Aufklärung

Das Problem mit dem Penis

Viele Geflüchtete haben in ihrer Heimat nie über Sex gesprochen. Das führt nicht
nur im Be zu Problemen. Nun lernen sie es bei dem "Fräulein, das immer über Sex
redet". Von Sophie Roznbla

13. FEBRUAR 2017, 14:03 UHR

Unsere Redaktion wurde am . Mai durch eine Anfrage des "Spiegel" darauf hingewiesen, dass
die in diesem Gastbeitrag geschilderten Begebenheiten weitgehend erfunden sein könnten. Wir
haben den Beitrag überprüft und gehen davon aus, dass wir von der Autorin tatsächlich getäuscht
wurden. Die Ergebnisse unserer Überprüfung finden Sie in unserem Transparenzblog Glashaus
[https://blog.zeit.de/glashaus/ / / /gastbeitrag- -taeuschung-verdacht/].

Read the English version of the article here [https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/ - /sex-


education-refugees-germany]

https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2017-02/sexuelle-aufklaerung-fluechtlinge-deutschland/komplettansicht 1/10
6/3/2019 Sexuelle Aufklärung : Das Problem mit dem Penis | ZEITmagazin

Diese Geschichte beginnt in einer kleinen deutschen Stadt. Ihr Zentrum ist der Marktplatz mit
seinen restaurierten, alten Bürgerhäusern. Zwei Kirchtürme ragen hoch über der Stadt. Eine
große Fabrik und zwei Gymnasien hat die kleine Stadt. Hinter den Fahrradständern küssen die
Stufenschönsten schon immer die Mädchen. Und immer gehen die Jungs des Physik-
Leistungskurses leer aus. Zum Trost bleibt ihnen der mögliche Nobelpreis.

Es gibt hier einen Heimatverein, ein Laientheater und eine Bläsergruppe. Die Menschen, die in
der kleinen Stadt leben, sind so glücklich und so traurig wie Menschen in Deutschland überall
sind. Als im Sommer Geflüchtete aus aller Welt kamen, zeigten sich die Bürger tatsächlich
besorgt und halfen, wo sie konnten. Ihnen ist zu verdanken, dass aus Unterkünften
Wohnungen wurden und aus den Fremden auch Nachbarn. Heute leben in der kleinen Stadt,
in der auch ich wohne, . Geflüchtete, vor allem aus Syrien, Eritrea und dem Maghreb.

© Bo Soremsky für ZEITmagazin ONLINE [h p://www.bosoremsky.de/]

Nach der Kölner Silvesternacht rief der Bürgermeister diejenigen zusammen, die mit
Flüchtlingen zu tun haben. "Wir wollen hier kein Köln" sagte der Bürgermeister. Alle nickten.
Es wurde diskutiert, ob mehr Videokameras auf dem Marktplatz vor Übergriffen schützen
würden oder ob ein privater Sicherheitsdienst nicht die Polizei unterstützen sollte. Mit
nachdenklichen Mienen ging man auseinander. Kurz danach klingelte bei mir das Telefon. Es
war die Ärztin der Stadt, die hier alle Frau Doktor nennen. "Kannst du dir vorstellen, bei mir in
der Praxis eine Aufklärungssprechstunde für Flüchtlinge zu machen?"

Seit diesem Anruf kommen einmal im Monat


SOPHIE ROZNBLATT Männer zwischen und in das helle
spricht seit Anfang 2016 in der kleinen Behandlungszimmer. "Herzlich willkommen", sage
Stadt über Sex. Sie arbeitet seit mehr ich jedes Mal, "lassen Sie uns über Sex reden." Und
als zehn Jahren in der jedes Mal starren Männer auf den Fußboden und
Entwicklungszusammenarbeit mit
werden rot. Das kenne ich schon. So ist das überall,
Schwerpunkt Frauengesundheit in
wo ich über Sex rede. 

https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2017-02/sexuelle-aufklaerung-fluechtlinge-deutschland/komplettansicht 2/10
6/3/2019 Sexuelle Aufklärung : Das Problem mit dem Penis | ZEITmagazin

Indien und Afrika, promoviert derzeit Ich habe in Kenia laufen gelernt und da meine
in Irland und schreibt nebenbei Mutter als Ärztin in verschiedenen Ländern
Geschichten aus vielen Welten auf.
arbeitete, viele Sprachen dazu. Auf den Straßen
Algiers lernte ich Arabisch – und in neun Ländern,
was Heimatlosigkeit ist. Als ich mich das erste Mal
verliebte, lernte ich in aller Heimlichkeit küssen, aber vor allem, dass man mit Sexualität in
verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich umgeht. Vor zehn Jahren beschloss ich,
Sexualaufklärung zu meinem Thema zu machen. Damals habe ich vor dem Spiegel das Wort
"Penis" in elf Sprachen geübt.

‫( ﻗﺿﯾب‬qa’dib) – pénis, िलं ग (limg) – firaha, pene – ஆண் (ankuri) – ‫( ﻋﺿو ﺗﻧﺎﺳل‬uzu-
i-tanasul) – ‫( آﻟت ﺗﻧﺎﺳﻠﯽ ﻣرد‬ālat-e tanāsoli-e mard) – ‫( ﻏﯾﻧړ‬g̠ ẖīṟṟṉ) – azzakari – biliti

Seither bin ich nie wieder rot geworden. 

An dieser Stelle, verlässt die Geschichte für einen Moment die kleine, deutsche Stadt und führt
weit über Europa hinaus, nach Indien. Vor zehn Jahren wollte ich wie viele -Jährige die Welt
retten und so gründeten mein bester Freund und ich eine kleine Klinik in einem großen Slum
von Neu-Delhi. Eine meiner ersten Patientinnen war eine Frau, Mutter von vier Kindern, die
vor mir auf einem Plastikstuhl saß und sagte, sie habe ein Problem mit ihrem Penis. Ich
glaubte, sie falsch verstanden zu haben und sagte: "Oh, Sie meinen ein Problem mit Ihrer
Vagina, nicht?" Die Frau schüttelte den Kopf. "Was ist eine Vagina?" fragte sie mich und zeigte
zwischen ihre Beine. "Ich habe ein Problem mit meinem Penis."

Ich verstand zum ersten Mal, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die ihre Körperteile,
auch nachdem sie vier Kinder geboren haben, nicht benennen können. Ich beschloss, die
Rettung der Welt ein wenig aufzuschieben, und Sexualaufklärung, Verhütung und
Familienplanung im Slum anzubieten.

Meine Kollegen damals verstanden das nicht. "Das bringt doch nichts", sagten sie und "Du
wirst schon sehen, was du davon hast." Bevor ich also begann, fragte ich meine Großmutter
um Rat. Sie, geboren , hatte mich schließlich aufgeklärt. Ich war damals dreizehn und las
Schillers Räuber. "Amalia für die Bande" heißt es dort und ich verstand das nicht. Meine
Großmutter erklärte mir anhand deutscher Klassik, dass das, was die Räuber vorhatten, nichts
anderes als eine Vergewaltigung war. Sie zog den Anatomieatlas aus dem Schrank und erklärte
mir, was der Unterschied zwischen Penis und Hoden, Vagina und Klitoris ist. Sie sprach ernst
und ohne rot zu werden über Sex, Verhütung und das Recht auf ein klares Ja, das ein lautes
Nein mit einschließt.

"Man muss tun, was getan werden muss", sagte meine Großmutter auf meine Frage, ob ich
Sexualkunde im Slum anbieten sollte. Also begann ich zuerst mit den Frauen dort über ihren
Körper, Verhütung und Geburt zu sprechen. Die Männer warfen Steine nach mir und drohten
damit, die kleine Klinik anzuzünden. Ich begann, Vorhängeschlösser an die Frauen zu
verteilen, mit denen sie sich in ihren Hütten erstaunlich widerstandsfähig gegen

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6/3/2019 Sexuelle Aufklärung : Das Problem mit dem Penis | ZEITmagazin

marodierende Männer schützen konnten. Die Männer, ob nun resigniert oder neugierig
geworden, kamen schließlich auch in Aufklärungskurse. Seit zehn Jahren bin ich in diesem
indischen Slum als "das Fräulein, das immer über Sex redet" bekannt. Fremde Besucher finden
mich immer unter diesem Namen – an einem Ort, der siebenmal so groß ist wie die kleine
Stadt, in die diese Geschichte nun zurückkehrt.

© Bo Soremsky für ZEITmagazin ONLINE [h p://www.bosoremsky.de/]

Bevor ich hier begann, mit den Männern über Sex zu reden, montierte der Schlosser einen
zweiten Briefkasten neben die Praxistür, einen Ort für alle Fragen zu Sex, Verhütung und
Familienplanung, die die Flüchtlinge haben. Als ich den Briefkasten zum ersten Mal öffnete,
fielen mir etliche gefaltete Zettel mit riesigen, gemalten Penissen entgegen. Wunderbar, dachte
ich mir, etwas Besseres kann dir gar nicht passieren. Alle Penismythen auf einmal, wie ein
Sechser im Lotto.

Kann man sich den Penis brechen?

Stimmt es, dass Frauen, die menstruieren, keine Jungfrauen mehr sind?

Wird mein Penis härter, wenn ich ihn in Eiswasser tauche?

Wenn wir alle im Kreis auf den bunten Stühlen sitzen, und die Männer verlegen auf den Boden
starren, beantworte ich die Fragen aus dem anonymen Zettelkasten. Mein Arabisch ist das des

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Maghreb. Für die Männer aus Tunesien, Algerien und Marokko klinge ich unangenehm nach
älterer Schwester. Für die Männer aus Syrien und dem Jemen nach der strengen Tante mit
Damenbart. Ihnen ist klar, dass in diesem Raum nicht locker gelassen wird.

Bevor aber auch nur die erste Frage beantwortet wird, erkläre ich wieder und wieder die
männliche wie die weibliche Anatomie. Penisbilder helfen enorm, denn man muss
grundlegendes Wissen vermitteln. Aufklärung beginnt mit der korrekten Bezeichnung aller
Körperteile. Es ist für viele Männer, nicht nur für Flüchtlinge, ein Schock, aber vor allem ein
befreiender Moment, ihre Geschlechtsorgane richtig benennen zu können. Das mütterliche
"Schniedelwutz" und das kumpelhafte "Fickkanone", das es in allen Sprachen gibt, ist nämlich
mehr als hinderlich, um Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren.

Anhand der Penisbilder lässt sich erklären, dass anders als von vielen Männern angenommen,
der Penis kein Knochen ist und auch im erigierten Zustand niemals zwei Meter misst. Von dort
aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Einsicht, dass ein Penis niemals stahlhart wird,
auch wenn dieser Mythos nur schwer weich zu kriegen ist. Auf einem großen weißen Blatt,
das in der Mitte des Raumes liegt, zeichne ich den Umriss eines Frauenkörpers. Ich lasse jeden
Mann einzeichnen, wo er die Vagina vermutet. Fast alle Männer markieren sie auf der Höhe
des Bauchnabels. 

Kann man vom Küssen schwanger werden?

Ist Menstruationsblut ein Aphrodisiakum?

Meine Mutter sagt, meine Frau soll während ihrer Tage nicht stillen. Stimmt das?

Manchmal hilft einem bei der Aufklärung auch der Zufall. Ein Mann in der Runde bekommt
zufällig heftiges Nasenbluten – und schon lässt sich Menstruation nicht mehr als etwas
Unsauberes und Unheimliches verklären, sondern wird zu einer sich monatlich
wiederholenden Körperfunktion. Der Mann, der mit einem Tampon in der Nase vor mir sitzt,
ist begeistert von dessen Saugkraft.

Ich setze nichts voraus und erkläre alles. Es gibt zwischen Algier und Kabul keine theoretische
Wissensvermittlung im Biologieunterricht und auch keine Fahrradständer hinter dem
Gymnasium, wo praktisches Wissen in Form von Küssen geteilt wird. Niemand in Damaskus
kann Dr. Sommer um Rat fragen. "Ficken kann doch jeder" höre ich immer wieder. Aber das
stimmt nicht. Sex ist eine Kulturtechnik, die nicht nur erlernt werden will, sondern über die
man immer wieder sprechen muss. Es geht um sexuelle Bedürfnisse, Verhütung,
Familienplanung und Hygiene. Wie stellt man Intimität her? Wie spreche ich eine Frau an?
Wann ziehe ich mich eigentlich aus? Ich beantworte ausnahmslos alle Fragen, die im
Briefkasten landen.

Wie oft kann man ein Kondom benutzen?

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Mein bester Freund sagt, Sex im Wasser


schützt vor Schwangerschaft. Stimmt das?

Ich habe unreine Haut / bin kurzsichtig /


habe starken Haarwuchs / esse gern Gurken
– masturbiere ich zu viel?

Alle Fragen erzählen von Unsicherheiten. Sexualität


ist noch immer vor allem Vergleich, der sich in dem
Moment erübrigt, in dem jeder Einzelne lernt, was
sein Penis kann – und mehr noch – was alles nicht.
Ich frage nie: nicht nach sexuellen Wünschen, nicht
nach Ausrichtungen, nicht nach Erfahrungen, mir
geht es um Enttabuisierung und zweckgerichtete
Aufklärung.

Es geht viel um Erlaubtes und Verbotenes.


Rollenspiele helfen da enorm. Wer sich als Mann im
hellen Praxisraum in der Rolle der Frau
wiederfindet, die von drei Männern bedrängt wird,
macht instinktiv das, was Frauen in Clubs,
Straßenbahnen und auf belebten Plätzen auch tun:
zurückweichen und sich der Hände erwehren. Das
hat gesessen, mancher verlässt die Praxis
türenschlagend. Der Blick in den Spiegel ist nicht
immer angenehm.

Aufklärung ist auch eine Frage der Geduld. Vor


© Bo Soremsky für ZEITmagazin ONLINE
allem in den ersten Stunden redet man gegen eine
[h p://www.bosoremsky.de/] Wand aus Gekicher, Zungenschnalzen und Zoten
wie "Warte, bis du meinen gesehen hast". Manche
setzen das auch in die Tat um. Ich verweise dann
freundlich auf die Gefahr von Keimen in Praxisräumen.

Beim Gemüsehändler der Stadt, Herrn Yilmaz, kaufe ich eine Kiste Bananen. "Was wollen Sie
mit der Menge an Bananen?", fragt er verwundert. "Die brauche ich für den
Aufklärungsunterricht." Herr Yilmaz beugt sich zu mir rüber: "Wenn wir das damals nur
gewusst hätten, das mit dem Sex. Meine Hochzeitsnacht war eine Katastrophe. Vier Wochen
hat Madame nicht mit mir gesprochen." Madame winkt mir zu.

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In unserer Aufklärungsstunde geht es immer wieder ums Hand anlegen. Denn Sex ist auch
eine Frage der Übung. Männer sitzen mit roten Köpfen und je einer Banane in der Hand im
Kreis. Jeder bekommt ein Kondom dazu. Ich mache ihnen vor, was zu tun ist:
Kondompackung öffnen. Kondom nicht zerreißen! Kondom mit dem Ring auf die Eichel, also
die Bananenspitze, setzen und mit nicht zu festem Druck nach unten streifen. Natürlich
zermatschen sieben die Bananen, zerstechen drei die Kondome, fordern zwei, dies sei doch
Frauensache. Aufklärung ist auch Wiederholung und irgendwann klappt das mit dem Kondom
und den Bananen und den jungen Männern.

Wie findet mein Penis die Vagina?

Woran erkennt man, dass eine Frau Sex will?

Mein Freund sagt, der Penis wächst jedes Jahr zwei Zentimeter, wenn man ihn mit
Schlangenöl bestreicht?

Natürlich rufen mir in der kleinen Stadt auf der Straße mittlerweile manche "Fräulein Ficki-
Ficki" hinterher. Man bezahlt immer einen Preis für das, was man tut. Viele Freunde fragen
mich auch, ob ich mich nicht schäme, mit fremden Männern über Sex zu sprechen? Nein, ich
schäme mich nicht.

Denn Aufklärung bedeutet auch, dass man lernen muss, über Sex zu reden. Sprache ist dabei
enorm wichtig. "Ich möchte mit dir schlafen" sagt etwas anderes als "Ich will dein dreckiges
Loch ficken". Und wenn der beste Sex im Kopf beginnt, muss man für den im Bett die richtigen
Worte finden. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, über seinen Körper Bescheid zu wissen und
seine sexuellen Bedürfnisse artikulieren zu können.

https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2017-02/sexuelle-aufklaerung-fluechtlinge-deutschland/komplettansicht 7/10
6/3/2019 Sexuelle Aufklärung : Das Problem mit dem Penis | ZEITmagazin

Sexuelles Unwissen wird häufig in hypersexuelles


Verhalten und Aggressivität übersetzt. Männer, die
sich souverän in ihrem Körper bewegen und ihre
Bedürfnisse kommunizieren können, fassen Frauen
viel seltener ungefragt zwischen die Beine.
Souveräne Männer können ein Nein aushalten,
ohne sich herabgesetzt zu fühlen. Das haben die
Jungs aus dem Physik-Leistungskurs den
Klassenlieblingen meist voraus. Wer den eigenen
Körper kennt, versteht, dass der Körper des
Anderen seine Grenzen hat. Ich bin für eindeutige Formulierungen: Vergewaltigung und
sexuelle Belästigung werden als das benannt, was sie sind: als Gewaltakt und Straftat. Keiner
kann sagen, er habe es nicht gewusst.

Kann ich mein Sperma essen?

Wenn mich eine Frau küsst, will sie dann auch Sex?

Wird mein Penis härter, wenn ich ihn mit Sperma/Kokosöl/Klebstoff einreibe?

Je eher die jungen Männer in die Aufklärungssprechstunde kommen, so zeigt die Erfahrung
bisher, desto besser sind die Erfolgsaussichten, jene Gruppendynamiken zu verhindern, in
denen sexuelles Imponiergehabe mit Alkohol zu Konflikten und Übergriffen führt. Denn auf
den bunten Stühlen mit der Banane in der Hand werden auch die größten Wortführer bald
leise und jeder im Raum stellt fest, dass die Unsicherheiten bei allen die Gleichen sind.

Meine Aufklärungsstunde richtet sich zwar an Geflüchtete, ist aber für alle Männer offen.
Manchmal sprechen mich auch deutsche Jungs an, die als Türsteher vor den Clubs arbeiten:
"Bist du nicht das Fräulein, das immer über Sex redet?" Ich nicke. "Der zweite Briefkasten
neben der Praxistür", sage ich, jeden dritten Montag im Monat, Uhr. Sie kommen fast immer.
Die Flüchtlinge lernen, dass auch Zwei-Meter-Männer aus Deutschland keinen stahlharten
Penis haben und die harten Jungs lernen, dass sie gar nicht so viel wussten, wie sie glaubten.

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© Bo Soremsky für ZEITmagazin ONLINE [h p://www.bosoremsky.de/]

Aufklärung braucht es überall: Gehe ich laufen, komme ich auch an den Fahrradständern des
Gymnasiums vorbei. Dort tönt Musik aus den Handys und die Jungs und Mädchen,
Flüchtlinge wie Einheimische betrachten sich über die Handybildschirme. "Alles gut Mädels
und Jungs?", frage ich und klinge nun wirklich wie die strenge Tante aus Damaskus, denn die
Sicherheit im öffentlichen Raum hängt auch davon ab, dass wir alle hinsehen oder wie man in
der Kleinstadt sagt, aufeinander acht geben. Die Flüchtlinge und die Einheimischen rollen mit
den Augen und ich höre auch über die Kopfhörer hinweg, wie sie sagen: Spießerin.

Ist Oralsex pervers?

Kann die Vagina zu eng für meinen Penis sein?

Verliert eine Frau beim ersten Mal mehr als einen Liter Blut?

Aufklärung ist kein Allheilmittel. Sexualkunde allein verhindert noch keine Übergriffe und
Vergewaltigungen. Wenn es aber in jeder Männergruppe einen Mann gibt, der souverän genug
ist zu sagen: "Nein, da mache ich nicht mit", dann ist das ein Anfang. Im Jahr hat es in
dem indischen Slum zwei dokumentierte Vergewaltigungen gegeben, vor zehn Jahren waren
es noch an die . .

Eigentlich sollte es in jeder Flüchtlingseinrichtung eine Aufklärungs-Task-Force geben.


Videokameras mögen bei der Aufklärung von Straftaten helfen, aber sie können im Kopf der
Männer keinen Schalter umlegen, der sie an ihre Grenzen erinnert und auch mal die Reißleine

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6/3/2019 Sexuelle Aufklärung : Das Problem mit dem Penis | ZEITmagazin

zieht. Sexuelle Gewalt will stumm machen und Vergewaltigung will immer auch Scham und
Schweigen über die Opfer bringen. Solange man über Sex spricht, beherrscht sexuelle Gewalt
das Feld nicht allein.

Nach zehn Jahren Reden über Sex weiß ich, diejenigen, die am lautesten "Ficki-Ficki"
schreien, schämen sich bald am meisten und bringen irgendwann Blumen. Sunita, die mir
damals in Indien vom Problem mit ihrem Penis erzählte, ist heute Hebamme und klärt selbst
auf. Der junge Mann, der in der kleinen Stadt am lautesten pöbelte, mit der Zunge schnalzte
und vor mir ausspuckte, hat inzwischen eine feste Freundin. Über die Ärztin hat er mir Grüße
bestellen lassen. Irgendwann, sagt er, will auch er den ganzen Tag nur über Sex reden.

Immer am Montag beginne ich aber von vorn: "Wer einen Penis hat", sage ich, "muss auch die
Vagina kennen." Vor mir starren zwanzig Männer auf den Boden, ich erkläre den Unterschied
zwischen Hoden und Prostata und schreibe Vagina auf Arabisch und Deutsch an die Tafel.
Natürlich schreit wieder jemand: "Fotze." "Oh", sage ich, "ein Experte!" Und drücke dem jungen
Mann einen Filzstift in die Hand und deute auf den Umriss des Frauenkörpers. "Wenn Sie so
freundlich wären, für uns die Vagina einzuzeichnen?" 

Anmerkung der Redaktion: Um die Autorin und ihre Klienten zu schützen, haben wir darauf
verzichtet, Namen und Details zur Sexualsprechstunde zu nennen.

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