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DEEP PLAY

Kokoro/Herz als Lebenswelt-Fabrik

Ono no Komachi soll am Anfang meines kleinen Streifzugs durch ja-


panische Herzens-Un-und-Angelegenheiten stehen.

iro miede
utsurou mono wa
yo no naka no
hito no kokoro no
hana ni zo arikeri

Ein Ding, das welkt,


ohne seine Farbe sehen
zu lassen, ist
in dieser Welt doch die
Menschen-Herzens-Blüte.

Friedrich von Matthisons Gedicht „Adelaide“ habe ich über seine Ver-
tonung durch Ludwig van Beethoven kennengelernt. Es endet mit fol-
gender Strophe, die ich unkommentiert Komachi’s waka zur Seite stel-
len möchte:

Einst, o Wunder! entblüht auf meinem Grabe,


Eine Blume der Asche meines Herzens.
Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen:
Adelaide!

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Wir reihen uns mit unserem Thema in eine lange, viele Kulturen über-
greifende Tradition ein. Das ist eine triviale Bemerkung. Das Faktum
aber muss uns auch bei der Beschäftigung mit dem Herzen und der
Metapher Herz in Japan bewusst sein. Nicht nur, um kontrastiv und
komparativ argumentieren zu können, sondern, vielleicht vor allem,
um der Tatsache Rechnung tragen zu können, dass gerade die japa-
nische Kultur eine geradezu exemplarische Hybrid-Kultur ist. Und das
ist sie seit ihren Anfängen. - Auch das scheint, vor allem hier und jetzt,
eine triviale, zudem überflüssige Bemerkung zu sein. Aber dass die
Dinge längst noch nicht ausgemacht sind, kann man im zum Beispiel
im sinologischen Kontext an der fundamentalen Kritik ablesen, die
Jean-Francois Billeter am bisherigen Lebenswerk des jüngeren Kol-
legen Francois Jullien geübt hat. - Dass das gerade erschienene Buch
Le Japon grec – Culture et possession von Michael Lucken zu einer
wissenschaftstheoretischen Debatte innerhalb der Japanologie führen
wird, das glaube ich zwar nicht, aber es beweist doch, wie „an-
ders“ man mit bekannten und erprobten Fragestellungen umgehen
kann.

Und grade das Thema kokoro/Herz verlangt eine große epistemolo-


gische Vorsicht. Weil wir gleichsam nach der Bedeutung von Wörtern
suchen, über deren Bedeutung auch die, die sie gebrauchten und ge-
brauchen, nur wenig Auskunft geben könnten. Sie könnten letztlich
nur über den Gebrauch reden, den sie von ihnen machen. Wittgen-
stein würde wohl sagen, das gilt doch für alle Wörter, aber für das
„Herz“, denke ich, gilt es doch auf eine besondere Weise. Obendrein
erweist es sich, dass die Metapher kokoro inhaltlich und funktional nur
sehr „tentativ“ bestimmbar ist.

Nicht nur bei Ikegami Yoshihiko kann man lesen, dass Gedanken und
Gefühle im Japanischen in der Regel als etwas konzipiert werden, das
spontan hervorgeht, weniger als etwas, das durch einen inneren oder
äußeren Stimulus bewirkt wird. Sprachlich schlägt sich das in der üb-
lichen Tendenz zu quasi subjektlosen oder intransitiven Konstruk-
tionen nieder. - In gewisser Weise parallel dazu werden Körperteile
eher als Orte, terminologischer gesagt: als loci konzeptualisiert, an de-

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nen Gefühle oder auch Gedanken hervorgehen, - eher denn als Entitä-
ten, die sie hervorbringen, generieren. Man könnte das, zum Beispiel,
an der grammatischen Kategorie des jihatsu demonstrieren, wie Lewin
sie beschreibt.

Lindsay Morrison verdeutlichte 2013 in einem Aufsatz über den Begriff


kokoro no furusato das Orthafte gerade der Metapher kokoro no furu-
sato (was freilich nicht überrascht): kokoro no furusato sei „often
linked to a healing oasis, a paradise set apart from the crowded city.“ –
Als könnte auch im (japanischen) kokoro noch ein Rest von Eden ent-
halten sein. - Das kokoro no furusato bedeute für die Japnerinnen und
Japaner ein tôki ni arite omou mono. „Etwas, von dem man denkt, dass
es fern ist.“

Ich übernehme die Überzeugung der Sprachhistoriker, die behaupten,


dass die ältesten bekannten Beispiele zeigen, dass das Wort kokoro
aus einer metonymischen Assoziation des Körperorgans mit den ihm
zugeschriebenen Funktionen hervorgegangen sei. Diese Annahme, die
ja fast eine Art Vorentscheidung ist, zu übernehmen, bringt, das ist mir
klar, hermeneutische Einschränkungen mit sich, die wir ab jetzt mitbe-
denken müssen, wenn wir uns der „Metapher“ kokoro oder kokoro
„als Metapher“ annähern wollen.

Ich wiederhole: Die Metapher kokoro ist in aus einer metonymischen


Verknüpfung entstandenes Polysem. Damit steht es sicher nicht allein,
es ist aber wichtig, daran zu erinnern, dass ein Polysem im Unterschied
zu einem Homonym häufig auf dieselbe etymologische Wurzel zurück-
zuführen ist. Und das soll bei kokoro der Fall sein.

kokoro soll auch von Anfang an, wenn wir diese uns vertraute Kom-
partimentalisierung übernehmen, die Funktionen des Denkens, Füh-
lens und Wollens umfasst haben. Insofern bietet kokoro viele An-
schlüsse (auch) an die abendländische Tradition an.

- Schon die Formulierung kokoro ni omou in dem oft zitierten und stra-
pazierten Vorwort des Ki no Tsurayuki zum Kokinshû scheint diese drei

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Funktionen, um sie der Kürze und Einfachheit halber so zu nennen, als
eine zu sehen, zu einer zusammenzufassen, oder auch, wenn man so
will, sie auf das Moment der Intention oder gar der Intentionalität zu
reduzieren; kokoro araba wäre hier die allgemeine Floskel für die Vor-
handenheit einer solchen Intentionalität, kokoro shirazu die für den
Mangel an Intentionalität. Wenn ein Sprecher sie sich herbeiwünscht,
sagt er vielleicht kokoro arubeki / hatsushigure kana. (tsuki wo matsu
/ takane no kumo wa / hare ni keri / kokoro arubeki / hatsushigure
kana) -

Ich übernehme auch die Auffassung (jener Sprachhistoriker, die be-


haupten), dass die japanische (nativistische) Tradition die Unterschei-
dung Geist(mind)/Herz(heart) nicht kannte, zumindest aber nicht als
solche thematisierte.

Diese einfachen Prämissen erlauben uns zu sagen, dass im Laufe der


Geschichte das Wort kokoro semantisch immer mehr, ja immer aus-
schließlicher, mit der Funktion, also der Arbeit des Herzens, Rilke hätte
es wohl Herz-Werk genannt, als mit dem Körperorgan selbst assoziiert
wurde, spätestens oder endgültig, seit die kango „shin no zô“ oder nur
„shinzô“ das Körperorgan bezeichnen. Und dem Herzen semantisch ei-
nen fixen Lager-Ort resp. ein stabiles Lager-Haus zuweisen. (Das es
freilich selbst sein soll.)

Schwieriger ist es, eine andere Entwicklung nachzuzeichnen. Nämlich


die allmähliche Verlagerung des Ortes/locus, an dem Denken, Fühlen
und Wollen entspringen resp. generiert werden, vom Herzen in Rich-
tung Brust/Busen, mune. Es scheint sich dabei, man müsste hier kimo,
die Leber, und hara, Bauch, noch einbeziehen, um der Tatsache Re-
chnung zu tragen, dass es sich um einen Wettstreit der Organe als loci,
also als Orte gewisser Performanzen handelt, und nicht um die
Körperorgane als solche. Anders scheint mir zum Beispiel die idioma-
tische Austauschbarkeit nicht recht erklärbar. Ob kokoro ga odoru
oder mune ga odoru, das scheint keinen Unterschied zu machen.

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Hara spielt eine besondere Rolle als ein pathos-generierender Ort. Mir
zumindest scheint er dem thymos bei Homer ähnlich. Es kommt mir
auch so vor, dass hara und auch mune einen irgendwie anderen orga-
nischen Status haben als kokoro oder kimo. – futoppara weist nicht auf
einen Menschen mit Falstaff-Umfang, sondern auf einen großzügigen,
generösen Menschen

- Aber was bedeutete das für das Verständnis, wenn man es so nennen
kann, des hara-kiri, auch genannt seppuku? – hara als ein imaginierter
Ort der Kraft und Lebenskraft, wie es ja auch der thymos bei Homer ist,
wird, quasi stellvertretend, als reales Organ zerstört, kitta, getötet.

Hara und mune scheinen wahrgenommen zu werden als etwas, das


etwas enthält, umschließt, kokoro und kimo tendenziell als etwas, das
umschlossen, folglich enthalten ist.

Es handelt sich hier offensichtlich auch um verschiedene Grenzvor-


stellungen. Ich sehe es so, dass das Herz als Organ natürlich auch durch
seine Grenzen definiert ist und wird. Als ein locus aber, als ein Ort, der
laufend nichts als Performanzen generiert, werden seine Grenzen
schwer bestimmbar. Das macht es als Metapher disponibler, sozusa-
gen. Aber das ist ja wohl immer so, dass das Unbestimmte disponibler
ist.

Matsui Mahito sagt es in einem Aufsatz mit dem Titel Nihon bunka ni
okeru „kokoro“ no gainen-metafuâ in gewisser Weise noch drastischer,
wenn er das Herz ein „ungreifbares Objekt“ nennt, auf das sich die
Metapher beziehe: toraedokoro no nai kokoro to iu taishô. Als wäre
kokoro die Metapher für ein Ineffabile, wie es in der abendländischen
Tradition genannt wird. Gleichzeitig verspricht er, in seinem Aufsatz
klar zu machen, wie japanische Sprecherinnen und Sprecher dieses
Ineffabile vorstellen und möglicherweise verstehen.

Matsui stützt und beruft sich dabei primär auf Lakoff und Johnson und
deren Konzept der conceptual metaphor, gainen-metafuâ, mit dem sie
den Begriff der Metapher sozusagen aus dem Bannkreis der Sprache

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resp. sprachwissenschaftlicher Fragestellungen herausgeführt und für
die Kognitionswissenschaften nutzbar gemacht hätten. Lakoff und
Johnson hätten auch klar gemacht, dass man über die Dinge praktisch
nur metaphorisch reden könne. Auf eine Formel gebracht: hito no gai-
nen-taikei no ôku no bubun ga metafuâ ni yotte naritatte iru. – Freilich
würde man über den tatsächlichen Umfang dieses ôku no bubun gerne
Genaueres wissen.

Ich stelle einige Gedanken und Argumente Matsui‘s (und seiner Ge-
währsleute, vor allem Sumi Yukimi) vor, Gedanken, von denen ich
glaube, dass es sich lohnte, sie weiterzudenken. Eine große Schwäche
des Aufsatzes ist in meinen Augen aber, dass er zwischen Synchronie
und Diachronie sozusagen nicht differenziert. Matsui synchronisiert
die Diachronie, das heißt, er lässt schlichtweg Sprachgeschichte und
Sprachentwicklung außer Acht. Er behandelt seine Spezimen alle
gleich, ob sie aus einer Studie über die „Konzeptualisierung (gainen-
ka) von kokoro in den utamakura“ oder aus einer vergleichenden
Studie über „das „Herz“ im Chinesischen und Japanischen“ stammen.
Er sagt uns ausgerechnet nichts über das, was uns mit am meisten
interessiert. Unsere Aufgabe ist also: zu versuchen, zu re-diachro-
nisieren, was Matsui bewusst formal darstellt.

Die Ergebnisse der beiden Studien, die Matsui – vornehmlich - zu sei-


nen Ausgangspunkten nimmt, klingen erst einmal dunkel genug:

Sowohl im Chinesischen als auch im Japanischen finden sich folgende


Konzeptualisierungen:
1 kokoro wa yôki de aru, das Herz ist ein Gefäß, ein Behälter, ein Etui
etc.,
2 kokoro wa suiheimen de aru, das Herz ist eine Horizontalebene,
3 kokoro wa mono de aru, das Herz ist ein Ding.

- Ich sollte hier ergänzen, dass die Autorin und der Autor der beiden
Studien, auf die Matsui sich bezieht, an der Unterscheidung von Entität
und locus anscheinend nicht interessiert sind. Ich komme darauf zu-
rück. -

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Das Herz wird hier also als Objekt gesehen (buttai to minashite): das
abstrakte, gestaltlose kokoro wird durch Metaphorisierung objekti-
viert, das heißt überhaupt erst vorstellbar. Lakoff und Johnson spre-
chen in diesem expliziten Fall daher von einer ontological metaphor:

Vielleicht sollte man unter diesem Aspekt Norinaga’s Aussage über-


denken, dass mono no aware das Wissen um das Herz der Dinge vo-
raussetze. – Wie er mit Bezug auf das Genji-monogatari schreibt. Und
das gemeinsam erlebte aware, wiederum, gleichsam hörbar im ge-
teilten A! und Hare! Ist das Element gelungener, zumindest intensiver
Intersubjektivität. Schwer zu sagen, wie? - aber kokoro, mono und
aware bilden eine eigentümliche Drei-Einheit, die Motoori als etwas
höchst Dynamisches zu denken scheint - und selbst in den Machtdis-
kurs einflicht. Motoori schreibt, ich zitiere die Übersetzung Shirane’s:
„Now I will speak about the benefits for people who are sensitive to
aware. First, those who govern the people and the country must have
a detailed knowledge of the condition of the hearts of the ordinary
people and know mono no aware.” - Doch zurück!

Die so genannte ontologische Metapher ermöglicht es also allererst,


Ereignisse, Gedanken, Gefühle (als seiend) vorstellbar zu machen. Ihr
japanischer Name, sonzai-metafuâ, scheint mir diese Bedeutung
unterstreichen zu wollen. Als sonzai-metafuâ kann das Herz, wie ein x-
beliebiges Ding, zittern, fureru, selbst – das ist ein auch uns vertrautes
Bild - brechen, oreru oder auch kowareru; es kann kalt, tsumetai, oder
schwer, omoi, sein, groß, ôkii, oder auch, wie die Sonne, versinken,
shizumu. Oder auch sogar wie in einem Titel Kirino’s rosten: Sabiru
kokoro. Es kann ein Haus sein mit Fenstern und Türen und Kammern.

– Das gilt übrigens fast alles auch, Sie werden es gemerkt haben, für ki.
Ich habe vor langer Zeit ein kleines ki-Lexikon mit ungefähr 400 Einträ-
gen zusammengestellt, und musste dann leider feststellen, dass es zu
großen Teilen sich mit einem Lexikon der ki-Idiome bei Ihara Saikaku
überschnitt. Aber das bewies wenigstens die Langlebigkeit der Idiome,
wenn sich die grammatischen Formen auch sehr verändert hatten.

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Wichtiger aber ist, dass ich erst später gemerkt habe, in wie überaus
vielen dieser Idiome ki und kokoro austauschbar sind. Es wäre also
vielleicht ergiebig, die metaphorischen Funktionen beider Begriffe mit
einander zu vergleichen, und zu sehen, was man aus den Stellen, wo
die sich nicht überlappen, lernen kann.

Ein schönes, vielleicht ein wenig konventionelles Klagegedicht über


einen ungetreuen Liebhaber, dessen Absenz das Herz der Verlassenen
frösteln lässt, ist uns von Inpu Mon’in no Daibu überliefert:

kokoro yori
musubi okikeru
shimo nareba
omoi toku hi wa
nokorazarikeri

In meinem Herzen / breitet sich / der Frost aus. / Kein Feuer ist mehr
/ geblieben, / das meine Gefühl zum Schmelzen brächte.

Als gainen-metafuâ erst wird kokoro den Sinnen, dann aber allen, zu-
gänglich. Jetzt kann es als gerade, massugu, oder verdreht, nejima-
gatta, sauber oder schmutzig erscheinen. As you like it.

Weil das Herzklopfen ja wirklich hörbar ist, sogar als Symptom gedeu-
tet werden kann, scheinen mir die auditiven Metaphern eine funktio-
nale Sonderrolle zu spielen: kokoro ga sawagu, kokoro ga shizumaru,
kokoro no soko wo tataku. – Japaner und Japanerinnen können offen-
sichtlich auf den Boden ihrer Herzen klopfen. - Angelsächsische Auto-
ren behaupten, dass es im Englischen kein Äquvialent für kokoro ga
sawagu gäbe. - Deutet das darauf hin, dass es im Japanischen mehr
um ein gefühltes und nicht gehörtes „Lärmen“ geht?

Die in einem weiten Sinne taktilen Metaphern, die vorgeben, dass man
das Herz spüren, sein Gewicht wiegen, dass man es überhaupt halten
kann, dass es kalt oder heiß, schwer oder leicht, hart oder weich ist
etc., diese taktilen oder haptischen Metaphern sind gleichsam doppelt

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oder auch mehrfach kodiert oder konnotiert, weil mit Temperatur,
Gewicht und Konsistenz des Herzens sehr verschiedene Deutungen
verbunden sind, zum Beispiel die des Liebenswerten, des Abstoßen-
den, des Verständigen, des Guten, des Bösen etc. -. Ein atatakai kokoro
ist als conceptional metaphor ein ganzer Bedeutungskomplex, ich
möchte sagen: höherer Ordnung. Dass im modernen Japanischen kein
Sinn ausgeschlossen ist, mögen Ausdrücke wie kokoro no amasa, se-
ken ni taishite karai kokoro wo idaku oder kokoro no kaori suru kaisha
demonstrieren. Schon im Imakagami finden sich Ausdrücke, die auf
geradezu handfeste Vorstellungen vom kokoro schließen lassen.
Denken wir an hito no kokoro wo yukasu, man kann Herzen also zum
Laufen bringen, oder an kuraki kokoro wo michibiku, man kann offen-
sichtlich wenigsten die dunkelen, verblendeten Herzen die Straßen
entlang ziehen oder gar zerren.

Aber auch die Vorstellung vom Herzen als Container, Futteral oder Etui
ist im Japanischen sehr aktiv. Hier werden Gedanken und Gefühle als
Inhalt, content, des als ein Gefäß oder Behältnis konzipierten kokoro
hingestellt, jap. mitaterareru, wie man besser sagen sollte. - Leider
harrt aber der Begriff mitate noch immer einer umfassenden und
gründlichen Aufarbeitung, die herausarbeitet, was mitate mit sich hier,
meine ich, für eine Probe aufs Exempel anbieten.

Die metonymische Assoziation, die ja schon für die Herausbildung des


Worts kokoro selbst verantwortlich gemacht wird, scheint in diesem
Kontext als Formprinzip sehr wirksam zu sein: der Container, kokoro,
einerseits als Organ, wir hatten oben von Entität gesprochen, und
andererseits als Ort, locus, der Performanzen. Weniger abstrakt und
kritikanfällig gesagt: in diesem als Container gedachten kokoro spielt
sich immer etwas ab. In gewisser Weise, auch wenn das nicht so leicht
zu verstehen sein mag, ist das, was sich da abspielt, der Container.

Ein Blick auf das japanische Körper-Lexikon, karada-kotoba oder shin-


tai-goi, zeigt, sozusagen rein quantitativ, dass die Japanerinnen und
Japaner, zumindest vom Reichtum der Idiomatik geschlossen, grö-
ßeres Interesse an der sichtbaren Seite des Körpers hatten und haben,

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als an seinen Innereien, nai-zô. – Wir werden freilich, das liegt an den
Textgenres, mit denen wir hier umgehen, freilich hauptsächlich von
den verborgenen Seiten des Körpers reden.

Kokoro soll sich etymologisch, auch das kolportiere ich hier nur, aus
kôru, fest oder hart werden entwickelt haben. Vielleicht liegt hier die
Vorstellung zugrunde, dass sich eine Flüssigkeit im Innern eines wie
auch immer gedachten corpus verdichtet. Dass sie granuliert.

Da das Manyôshû ja eines der wichtigsten Referenzwerke und Bei-


spiellieferant für die bisher vorgestellten Hypothesen ist, wundert es
nicht, dass kokoro hier auf das Körperorgan und seine Performanzen
verweist: Also, kokoro wie ich es hier übersetzen möchte zielt struk-
turell auf: auf Wünschen, Geneigtsein und Vorstellen. – Alles Formen
des dynamischen Auf-etwas-Gerichtetseins (selbst wenn es „ver-
sinkt“). – kokoro ist, so will es scheinen, vor allem anderen drive,
Begehren, Disposition. Jedes kokoro ist ein kokorozashi, sogar das
buddhistische Wunsch, Freude, raku, ein einem Ruhe-Ort, seisho, zu
finden: seisho ni raku o kokorozashi. –

Dieses Auf-etwas-hin-Gerichtetsein, hat natürlich auch den Sinn von


Offen-sein für Etwas oder schlichtweg „wahrnehmungsbereit“ zu sein.
Aber auch das bedeutet, aktiv zu sein, sozusagen auf eine rezeptive
Weise. In seinem Fukuro zôshi (um 1157) spricht Fujiwara no Kiyosuke,
der ausgewiesene Rivale Shunzei‘s an zentralen Stellen vom kokoro als
einem Vollzugsorgan des pratîtyasamutpâda, jap. en(gi). In Kiyosuke’s
Gebrauch fließen aber mehrere Bedeutungsstränge von en zusammen.
Was in unserem Kontext aber vor allem interessieren sollte, ist, dass
en, etwa im Nihon kokugo daijiten auch als hatarakikake definiert wird,
als eine aktive Intention, einen Impetus, der sich auf das Wahrge-
nommene, vulgo: die Dinge richtet.

Das hilft uns, folgende sehr prägnante Aussage Kiyosuke’s zu verste-


hen: en wa mono wo kiki mo shi, mi mo suru kokoro nari. – Das en ist
das Herz/kokoro, das (erlauben Sie mir diese Übersetzung wie mit dem
Zaunpfahl:) - das en ist das kokoro, das Hören und Sehen macht, das

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Hören und Sehen entstehen lässt. – Der weitere Kontext des Fukuro
zôshi verdeutlicht, dass für Kiyosuke, wie auch für seine Zeitgenossen,
das Herz der kreative Ort ist, aus dem Dichtung hervorgeht. Auch das
ist seit Ki no Tsurayuki, als terminus post quem, ein – umkämpfter -
Allgemeinplatz, gewinnt aber an Bedeutung und Deutlichkeit, wenn
wir kokoro in seiner Funktion als konzeptionelle Metapher ein wenig
beleuchten. - Das gilt auch, was ich hier aber nur erwähnen möchte,
für Shunzei, der sein komplexes Konzept vom Herzen ausgehend von
einem Zitat aus dem Fugen-Sutra entwickelt: waga kokoro onozukara
kû nari. – In dieser Formel sollen sich offensichtlich fünf völlig unbe-
stimmte Abstrakta (Ich, Herz, Selbst, Werden) Leere gegenseitig be-
stimmen.

Die Herz-Metapher spricht hier der Leere/kû jedenfalls eine kreative


Dynamik. Was besonders deutlich wird, in dem, was Shunzei das moto
no kokoro nennt, das gleichsam im Medium des waka geschaffen wird,
oder besser: aus diesem hervorgeht.

Vielleicht macht Shunzei dabei auch einen zweideutigen Gebrauch von


kokoro, der an die Unterscheidung von Geist und Herz erinnert, im
einen Begriff des kokoro aber metonymisch ineinander verschlungen
bleibt. Ki no Tsurayuki hatte das anders noch gesehen: bei ihm ging
aus dem Herzen, aber dem Herzen der Menschen, hito no kokoro,
bekanntermaßen, wie eine Pflanze aus einem Samenkorn, das yamato
uta hervor. – All das lässt die Metapher des kokoro qua locus zu.

Was Shunzei meint, was sein kokoro im Sinne von meaning ist, kann
man vielleicht einem waka von Jakuzen entnehmen, in dem Kosmos
und kokoro wie kurzgeschlossen erscheinen. Zu einem Gesamtort, wie
die Romantiker vielleicht gesagt hätten:

hito shirezu
kokoro hitotsu wo
kakekureba
munashiki sora ni
mitsu omoi kana

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Wenn wir mit andren, / die wir nicht kennen, / unsre Herzen vereinen,
/ wie unsere Gefühle dann / den leeren Himmel erfüllen!

Die Metapher kokoro kann umgekehrt, hier in einem, sagen wir hö-
fisch-lebensweltlichen Kontext als anklagende Klage eines Verlassenen
dienen.

Mibu no Tadamine

kaze fukeba
mine ni wakaruru
shirakumo no
taete tsurenaki
kimi ga kokoro ka

Eine weiße Wolke, / die der Wind vom / Berggipfel losriss - / hat so sich
dein fühlloses / Herz von mir abgewendet?

Mit Bezug auf en, innen und vielleicht auch pratîtyasamutpâda, also
engi erlaube ich mir noch, auf dem deutschen Begriff Bildungstrieb
hinzuweisen, wie Blumenbach ihn 1781 als erster in die Diskussion
gebracht hat. Blumenbachs Bildungstrieb wird in wikipedia so definert:
„lat. nisus formativus, bezeichnet eine bei Lebewesen angenommene,
die Vorgänge von „Generation, Nutrition und Reproduktion“ regelnde
Lebenskraft. Es handelt sich um ein dreistufiges biologisches Konzept
der Selbstorganisaton, welches 1780 durch den Naturforscher Johann
Friedrich Blumenbach als Begriff geprägt und in Über den Bildungs-
trieb und das Zeugungsgeschäft 1781 ausführlicher dargelegt wurde.
Die von Blumenbach angenommene treibende Kraft bedingt den bio-
logischen Zyklus von Zeugung, Ernährung und Reproduktion.“

Ohne Blumenbach, das sei noch ergänzt, wäre Goethe wohl weder auf
seinen Wilhelm Meister, das Urei des Biuldungsromans, noch auf die
Metamorphose der Pflanze gekommen. Und auch Hegels Idee der
Dialektik verdankt Blumenbach viel. Aber das gehört nicht hierher.

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Die Intentionen der Herzens können freilich auch verleitet und fehl-
gleitet werden. Im Vorwort zu seinem Sanbôe fordert Tamemori, Frau-
en keine Romane lesen zu lassen, - das ist eine auch im Abendland
wohlbekannte Forderung, aber Tamemori befürchtet, dass das Herz
der Frauen durch die Lektüre von Romanen, von der buddhistischen
Lehre gleichsam weggezogen werden können; denn die monogatari,
im Sinne romanhafter Erzählungen seien: onna no mikokoro wo yaru
mono.

Die Bedeutung von Wesen, Sinn, Zentralität scheint mehr vom kon-
kreten oder imaginierten Ort des Organs im Körper abgeleitet zu sein
als von der irgendwie unspezifischen Vorstellung, dass hier der Ort sei,
an dem sich eine Performanz ereignet. Dafür spricht auch die Beo-
bachtung, dass – tendenziell - die Organe umso höher bewertet wer-
den, je höher sie im Körper verortet sind. Das scheint verständlich.

Für mich ist es wieder waka-Dichter, der, wie sich’s versteht, die
subtilsten (oft) buddhistischen Nuancen, der kokoro-Metapher ins
Wort bringt.

Jien dichtet:

honobono to
ômi no umi wo
kogu fune no
ato naki kata ni
yuku kokoro kana

Kaum erkennbar / rudert ein Boot / über den See von Ômi. / - Ein Herz
auf dem Weg / In Richtung Spurlos.

In seinen Kikigakishû übermittelt Saigyô, als Teil eines renga:

kokoro wo zo
agate hasu ni

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sakase tsuru
ima miru hana no
chiru ni taguete

Schließlich ist / mein Herz zu einer Lotos- / Blüte aufgeblüht. / Jetzt


fallen die Blüten- / Blätter vereint.

Von Jakuzen stammt:

harukaze ni
kôri tokeyuku
tanimizu wo
kokoro no uchi no
sumashite zo miru

Das Wasser im Tal, / das der Frühlingswind / wegschmilzt, / klärt mein


Herz. / Das sehe ich jetzt.

Freilich dürfen hier, sozusagen als Zusammenfassung und Ausblick,


einige waka Saigyô’s nicht fehlen, in denen, meiner Empfindung nach,
kokoro die Welt ist.

toshi furedo
kokoro no haru wa
yoso nagara
nagamenarenuru
akebono no sora

sora ni naru
kokoro wa haru no
kasumi nite
yo ni araji to mo
omoitatsu kana

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