Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
RIHM
REQUIEM
STROPHEN
CHor und SyMphonieorchester
des bayerischen Rundfunks
JANSONS
Wolfgang Rihm [*1952]
REQUIEM-STROPHEN [2015/2016]
for soli, mixed chorus and orchestra
commissioned by musica viva / Bayerischer Rundfunk
[World Premiere]
1. Teil 3. Teil
[01] I. Initial 03:03 [09] VIII. 06:15
[02] II. 07:13 [10] IX. Lacrimosa I 04:28
[03] III. Kyrie 03:15 [11 ] X. Sanctus 04:56
[12] XI. 02:52
2. Teil
[04] IV. Sonett I 03:50 4. Teil
[05] V.a Psalm 08:03 [13] XII. Lacrimosa II 08:41
[06] XI. Sonett II 03:51 [14] XIII. Agnus Dei 04:34
[07] V.b Psalm 06:40 [15] XIV. Epilog (Strophen) 06:57
[08] VII. Sonett III 04:17
Jan Brachmann zu den Requiem-Strophen von Rihms Requiem-Strophen beginnen mit einem
Wolfgang Rihm mehrfachen Gleichnis. »Omnis caro faenum –
Alles Fleisch ist wie Gras und all seine Herr-
Gleichnis ist all unser Reden über Gott, den Tod lichkeit ist wie die Feldblume«, sagt der Prophet
und die Musik. Unsere Sprache überträgt etwas Jesaja. Doch bevor noch der Text zu hören ist,
aus der Welt des Bekannten und Sichtbaren in nimmt Rihm dieses Gleichnis klingend vorweg:
eine Welt des Unbekannten und Unsichtbaren. Die Solo-Oboe, unbegleitet, eröffnet das Werk
Für die Rechtmäßigkeit dieser Übertragungen mit den Tönen e–h–d–fis. Ein einsames Rohr im
– Metaphern – gibt es keine Beweise im wissen- Wind. Auch dies ein berühmtes Gleichnis: »Der
schaftlichen Sinn. Es gibt nur Übereinkünfte, Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste
Traditionen, die aus Demut und Dringlichkeit der Natur; aber er ist ein denkendes Schilfrohr.
erwachsen sind; und es gibt die Ermunterung Es ist nicht nötig, dass das ganze Weltall sich
durch die Bibel selbst, in der sich auf die Gleich- waffne, ihn zu zermalmen: Ein Dampf, ein Was-
nisrede Vieles gründet. Wo das Wort Fleisch sertropfen genügen, um ihn zu töten«, schreibt
ward, kann auch die Wahrheit Wort werden. Das Blaise Pascal in seinen Gedanken.
Inkarnationsereignis der Weihnachtsnacht, das Das einsam klingende Rohrblatt der Oboe ist
im Prolog des Johannesevangeliums erkenntnis- als Vox humana und Symbolum humanum promi-
theologisch ausgemessen wird, ist auch verbun- nent. Im Kopfsatz von Ludwig van Beethovens
den mit der Zusicherung, dass unser Sprechen 5. Symphonie ist das Oboensolo flehentlicher
einen Inhalt hat. Diese Zusage steht im Zentrum Einspruch gegen das Unabänderliche. Am Anfang
des Buches Von realer Gegenwart (Real Presences), von Rihms Requiem-Strophen dürfte das kaum
das George Steiner 1989 schrieb und das für Wolf- anders sein. Die Oboe beginnt gar nicht, sie ant-
gang Rihm zu einem geistigen Gefährten wurde. wortet bereits, so wie jedes Requiem Antwort ist
auf Unabänderliches: Ein Mensch, mit dem wir Nach Gott und dem Tod fragen schon die Kinder.
unser Leben teilten, ist nicht mehr. Deshalb kann es keine angemessene Antwort da-
Als Wolfgang Rihm im Sommer 2004 in der Ber- rauf geben, wann die beste Zeit sei, ein Requiem
liner Akademie der Künste mit George Steiner zu schreiben. Seit dem ersten Verlust – Robert
über dessen Buch Von realer Gegenwart sprach Schumann verschaffte ihm Raum in seinem
und über die Dimensionen des Menschlichen Album für die Jugend – ist unser Leben Vorlau-
– auch des Unmenschlichen – in der Musik, fen zum Tode, Entwurf auf die Möglichkeit hin,
da erklangen im Anschluss an das Gespräch nicht mehr zu sein. Das Sterben der Anderen
Rihms Studien zu einem Klarinettenquintett, und nötigt uns, ein Bild zu machen, wovon wir niemals
der Komponist, gebeten, etwas zu sagen, erläu- ein Bild haben werden: dem eigenen Tod. Seit
terte den zögernden, vorbehaltlichen Titel: Es das Requiem aus der Kirche ausgetreten ist und
seien nur Studien, denn ein Klarinettenquintett Kunst wurde, beschränkt es sich nicht mehr dar-
schreibe man allenfalls am Ende seines Lebens. auf, Fürbitte für die Toten – Missa pro defunctis –
Wolfgang Amadeus Mozart und Max Reger aller zu sein. Es ist nun auch – wie bei Brahms – Trost
dings dachten nicht, dass sie bald nach ihren für die Lebenden oder Entwurf von Bildern des
Klarinettenquintetten sterben würden. Johannes Todes: wild und schrecklich bei Giuseppe Verdi;
Brahms schon. Sein Quintett ist von der Motivik sanft, behutsam, auf freundliche Weise skeptisch
bis zur Großform hin ein Werk des Abschlusses, bei Gabriel Fauré.
der Rekapitulation, ein Werk, in dem ein Kreis Wolfgang Rihms Requiem-Strophen rücken so-
sich schließt. Ist es der Lebenskreis? Ist unser fort in dieses Überlieferungsgeschehen ein, mit 08,09
Leben überhaupt ein Kreis? Ist die Daumen- einem gewissen Zutrauen, vielleicht auch Dank-
furche im Innern unserer Hand, die von den barkeit. Denn natürlich verweist der Text des
Wahrsagern »Lebenslinie« genannt wird, nur das Initials auf Ein deutsches Requiem von Johannes
sichtbare Viertel eines Kreises? Und hat dieses Brahms. Das höre doch, sagte Rihm kürzlich
Viertel Aussicht auf Vollendung, oder muss es auf in einem Interview, jeder dumme Esel gleich,
immer Fragment bleiben? dass er Brahms liebe. Und natürlich zittert im
Sechsachteltakt des ersten Lacrimosa bei Rihm die Blume des Feldes hineinfällt, gehört dazu,
der Zwölfachteltakt des Lachrymosa von Mozart die Fermate auf der zweiten Silbe des Wortes
nach. Wenn das Requiem aeternam bei Rihm an- »aeternam«, der langsame Aufstieg des Chor
fangs nur mit Chor, Posaunen, Tuba und Großer soprans vom eingestrichenen b zum zweigestri-
Trommel auskommt, so reicht der instrumen- chenen a zu den Worten »et lux perpetua luceat
tatorische Anker dieser Musik bis in die Tiefen eis«. Wer will, mag sogar die Instrumentation als
des 17. Jahrhunderts zurück, wie der mehrfache Metapher nehmen, wenn »ein bisher noch nicht
Verzicht auf die Violinen in der Orchestration betretnes Land« besungen wird und die Streicher
sowohl auf das Requiem von Brahms wie das unisono es–d–cis spielen: sul ponticello, nah am
von Fauré verweist. Zudem gibt es einen Dialog Steg, an der Brücke, am Übergang.
mit Dmitri Schostakowitsch, der in den Todes- All diese Traditionsbezüge zielen auf Teilen und
bildern seiner 14. Symphonie genau wie Rihm Mitteilen, was gerade im Angesicht des Todes
– und doch ganz anders – auf Rainer Maria lebenserleichternd sein kann. Von der Weisheit
Rilkes Gedicht Der Tod ist groß zugreift, wie er in und Erleichterung, die darin liegen, sprach die
seiner Michelangelo-Suite an zehnter Stelle dem Berliner Dompredigerin Petra Zimmermann
Bariton das Sonett »Di morte certo, ma non già vor zehn Jahren in einem Interview: »Wir entwi-
dell’ora« anvertraut, mit dem Rihm seinen Rei- ckeln ja unsere Glaubenstraditionen nicht in je-
gen der Michelangelo-Sonette in den Requiem- der Generation neu, sondern wir kommen schon
Strophen eröffnet. von weither. Wir haben Mütter und Väter in vie-
Rihm reiht sich ein in die, die vor ihm waren. len Generationen vor uns, die mit diesen Worten,
Und er fasst auch ein Zutrauen zur Sprache in diesen Liedern und Gebeten gelebt haben. Wenn
einer alten, rhetorischen Weise, die wieder auf Sie an Paul Gerhardt denken: Das Größte dieser
Gleichnissen, auf Ähnlichkeiten, auf Übertra- Dichtung ist ja dem Leben abgerungen. Das ist
gungen beruht: »Hypotyposis« nannte die Figu- keine zufällige Form von Dichtung, die wir – nur
renlehre diese Klasse musikalischer Gestalten. weil uns gerade nichts Neues einfiel – einfach
Die Pause zwischen »cecedit« und »flos«, in welche beibehalten haben. Das sind verdichtete Lebens-
und Glaubenserfahrungen, in denen ich mich Der Dialog zwischen Liturgie und Dichtung,
bis heute bergen kann«. zwischen Kunst und Religion, bestimmt die
Für Wolfgang Rihm gehören die Sprache der Requiem-Strophen im Material wie in der Form.
Bibel und die Sprache der Messe seit der Kind- Rihms Werk vereint vierzehn Nummern in vier
heit zu seinem Leben. Doch auch er kann sich Teilen. Es überträgt die Form des Sonetts – das
der »repressiven Säkularität der Moderne«, dem ja dem Namen nach ein »Klingstück« ist – auf
»häretischen Imperativ«, wie der Religionssozio- das Requiem: vierzehn Zeilen, unterteilt in vier
loge Peter Ludwig Berger das genannt hat, nicht Strophen. In der Dichtung ist die Unterteilung
entziehen. Religion rechtfertigt sich heutzutage variabel. Es können zwei Quartette und zwei
nicht allein durch ihr Herkommen. Jeder, der Terzette sein oder, wie bei einem der von Rihm
Anspruch erhebt, selbst zu denken, muss auch verwendeten Michelangelo-Sonette in der Nach-
seinen Glauben selbst verantworten. Die bibli- dichtung Rilkes, auch einmal ein Quintett und
schen und liturgischen Texte, die Rihm ausge- drei Terzette. Rihms Requiem-Strophen fügen sich
wählt hat, treten in Dialog zur Dichtung, die zwar zu einem großformalen Sonett in der Abfolge
religiös keineswegs unbehaust ist, aber – im Fall Terzett – Quartett – Quartett – Terzett. Symmetrie
von Michelangelo – den göttlichen Seligkeitszu- stellt sich her. Wer will, mag darin eine Kreuz-
sagen mit Ungeduld und Empörung begegnet. form erblicken. Durch die Wiederkehr der Texte
Man hört es bei Rihm deutlich. Das Zutrauen – Rilke, Bobrowski, Psalm 129, Lacrimosa – und
zum Überkommenen ist ohne den individuellen die motivischen Verknüpfungen in der Musik,
Zweifel nicht zu haben. So war es bei Brahms, die mit dieser Wiederkehr verbunden sind, die 10,11
bei Fauré; so war es seit jeher im Dialog zwischen sich aber auch zwischen dem »Requiem« und
Liturgie und Dichtung, der im zwanzigsten Jahr- dem »De profundis« finden, spielt Rihm zu-
hundert nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte, bei gleich mit der freien Reimstruktur des Sonetts.
John Foulds und Ralph Vaughan Williams, und Das Sonett lebt gedanklich von These, Antithese
fortgeführt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und Synthese, wie auch die Requiem-Strophen sich
durch Benjamin Britten. zwischen der Geborgenheit und dem Alleinsein
angesichts des Todes hin und her bewegen. Die und Religion, Liturgie und Dichtung verstanden
altmeisterliche Ruhe des Chorsatzes in den latei- werden, ein Durchlass zwischen zwei lieblichen
nischen Texten trifft auf die erregte Deklamation Wohnungen. Können wir uns eine von beiden
des Solo-Baritons in den Sonetten. Die lyrische aussuchen? Vielleicht nur, solange wir leben.
Verdichtung der zwei Solo-Soprane im ersten »Dona nobis pacem« singt der Chor am Ende des
Lacrimosa steht dem dramatischen Ausbruch von »Agnus dei«, nicht »Dona eis requiem«, also »Gib
Chor und Orchester im zweiten Lacrimosa gegen- uns Frieden«, statt »Gib ihnen Ruhe«. Geht es
über. An Kontrasten sind diese Requiem-Strophen bei Rihm wie bei Brahms eher um die, die übrig
keineswegs arm. Doch was mag die Synthese bleiben, als um die, die gegangen sind?
sein? Richard Sennett hat einmal beschrieben, dass Er-
Wolfgang Rihm hat sein Werk Requiem-Strophen zählungen heilen können »durch Struktur, nicht
genannt, als sei damit nur die Abfolge beschrie- durch die Vermittlung direkter Ratschläge«. Die
ben: erst ein Requiem, dann die Strophen von Form selbst kann schon Trost spenden, ohne
Hans Sahl, die als »Epilog« überschrieben wur- dass die Erzählung am Ende gut ausgeht. Der
den. Doch zugleich ist auch die Gesamtform des Kreis-Schluss in Moll von Brahms’ Klarinetten
Werks strophisch – im metaphorischen Sinne – quintett ist dafür ein Beispiel. Die Form der
nach Art des Sonetts. »Strophe« bedeutet »Wen- Requiem-Strophen bei Rihm schließt sich der Idee
dung«, nämlich des Chores beim Reigen. Die nach und schließt sich doch nicht. Der schöne
Vorstellung, dass die Toten im Himmel tanzen, Text von Hans Sahl nimmt seinen Weg durch
finden wir noch bei Brahms: »Wie lieblich sind das karge Gezweig der zwei Bratschen hindurch
deine Wohnungen, Herr Zebaoth« könnte einer in eine Welt jenseits dessen, was das Requiem
seiner Liebeslieder-Walzer sein. Bei Rihm aller- zuvor betrachtet hat. Die Sprache reißt ab auf
dings bleibt der Walzer – sostenuto zwar – im einem »oder«. Jeder formale Entwurf, so schön
zweiten Sonett der Tanz eines sündigen Lebens. und schlüssig wir ihn uns denken, wird uns am
Die Strophen- oder Sonettform darf gewisser- Ende aus der Hand genommen. »Menschenwerk
maßen wie eine Verbindungstür zwischen Kunst ist, was wir tun« schrieb Johannes Brahms einst
voller Skepsis gegen alle Kunstreligion an Clara
Schumann. Ein offenes Ende wie in den Requiem-
Strophen, kann eine Verheißung sein. Zugleich
aber ist das absichtsvoll gestaltete Fragment, wie
die Ruinen in romantischen Parks, auch nur ein
Gleichnis.
12,13
S e a r c hing f or G o d a n d d e a th
Von Sünden voll, mit Jahren überladen, Schon angelangt ist meines Lebens Fahrt
Verwurzelt in des tristen Brauches Boden, Im schlechten Schiff durch Stürme übers Meer
Seh ich mich nahe neben beiden Toden Am Hafen Aller, wo die Wiederkehr
Und nähre doch mein Herz mit giftigem Schaden. Nicht Einem harte Rechenschaft erspart.
Eigene Kräfte hab ich nicht genügend, Da seh ich nun die Phantasie, die oft
Zu ändern Leben, Liebe, Los und Sitte, Als Abgott thronte durch der Künste Gnaden,
Ohne den Wink, der, nicht aus unsrer Mitte, Wie falsch sie war, von Irrtum überladen,
Herüberwirkt, uns leitend und uns rügend. und was ein jeder, sich zum Nachteil, hofft.
Verliebtes Denken, einstens froh und leer, IX. Lacrimosa I
Was ist mirs jetzt vor zweien Toden wert?
Des einen bin ich sicher, einer droht. Lacrimosa dies illa
qua resurget ex favilla …
Malen und Bilden stillt jetzt längst nicht mehr … dies irae …
Die Seele, jener Liebe zugekehrt, qua resurget ex favilla
Die offen uns am Kreuz die Arme bot. homo reus [Missa pro defunctis]
X. Sanctus
3. TEIL
Sanctus Dominus Deus Sabaoth
pleni sunt coeli et terra gloria tua
VIII. Hosanna in excelsis
Benedictus qui venit in nomine Domini
Der Tod ist groß. Hosanna in excelsis
Wir sind die Seinen [Missa pro defunctis]
lachenden Munds. XI.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen Der Tod ist groß.
mitten in uns. Wir sind die Seinen 28,29
[Rainer Maria Rilke: lachenden Munds.
Schlussstück aus Das Buch der Bilder] Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
Libera me de morte aeterna mitten in uns.
in die illa tremenda [Rainer Maria Rilke:
[Missa pro defunctis] Schlussstück aus Das Buch der Bilder]
4. TEIL tremens factus sum ego et timeo
dies illa
dies magna et amara valde
XII. Lacrimosa II Libera me
Einmal, als eine Frucht, Agnus dei qui tollis peccata mundi
reif, miserere nobis
wird er dich nähren. Agnus dei qui tollis peccata mundi
Dona nobis pacem
[Johannes Bobrowski: Der Tod]
[Missa pro defunctis]
Lacrimosa dies illa
solvet saeclum in favilla
Lacrimosa dies illa
qua resurget ex favilla XIV. Epilog (Strophen)
homo reus
Ich gehe langsam aus der Welt heraus
De profundis clamabo: in eine Landschaft jenseits aller Ferne,
Libera me de morte aeterna und was ich war und bin und was ich bleibe,
in die illa tremenda geht mit mir ohne Ungeduld und Eile
quando coeli movendi sunt et terra in ein bisher noch nicht betretenes Land.
Ich gehe langsam aus der Zeit heraus
in eine Zukunft jenseits aller Sterne,
und was ich war und bin und immer bleiben werde,
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile,
als wär ich nie gewesen oder kaum.