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Universität Augsburg

Philologisch-Historische Fakultät

Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft

Hauptseminar: Sprachlos. Gesten und Gebärden

Dozentin: Franz Fromholzer

Wintersemester 2017/18

„ Ich-Dissoziation in Kafkas Beschreibung eines Kampfes anhand


der Phänomene der Depersonalisation und Derealisation“
Fabian Mohrweiß

Matrikelnummer: 1438632

Modul: GER-1007

Schillstraße 98

86169 Augsburg

015734666370

fabian.mohrweiss@gmx.de

Lehramt Realschule Deutsch und Musik, 5. Semester

Abgabedatum: 21.09.2017

Leistungspunkte: 8
Hausarbeit: „ Ich-Dissoziation in Kafkas Beschreibung eines Kampfes anhand der Phänomene der
Depersonalisation und Derealisation“

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung.........................................................................................................................................3
2. Das Phänomen Depersonalisation/Derealisation..............................................................................3
2.1 Definition und Merkmale...........................................................................................................3
2.2 Ursachen und Funktion .............................................................................................................5
3. Textinterpretation..............................................................................................................................7
3.1 Rahmenerzählung – Das Trauma und die Spaltung des Ich .....................................................7
3.2 Depersonalisationserfahrungen in der Rahmenhandlung........................................................11
Literaturverzeichnis............................................................................................................................13

I.
II. Belustigungen oder Beweis dessen, dass es unmöglich ist zu leben
1. Ritt
2. Spaziergang
3. Textinterpretation
3.1 Rahmenhandlung - Entstehung des Traumas und Spaltung des Ichs
3.2 ErsteEntfremdungenin der Rahmenhandlung
3.3 Binnenerzählung - Depersonalisation in der Figur des Dicken
3.4 Binnenerzählung - Entfremdungen in der Figur des Beters
1. Einleitung
Kafkas erste Erzählung „Beschreibung eines Kampfes“ stellt eine Figurenkonstellation vor, die in
seinen folgenden Werken weiterentwickelt wird, womit diese Erzählung eine Art Prototyp darstellt.
Kern der Erzählung stellt eine gespaltenes Ich dar, dessen Teile auf unterschiedliche Figuren
aufgeteilt werden. Ziel dieser Arbeit ist, das Erstlingswerk unter dem Phänomen der
Depersonalisation/Derealisation zu betrachten. Damit soll der Augenmerk auf die psychische
Dynamik der einzelnen Figuren gelegt sowie eine Grund für die Spaltung des Subjekts
herausgearbeitet werden. Desweiteren weisen alle Figuren starke Übereinstimmungen mit Patienten
auf, die unter dem Symptomen einer Entfremdung leiden.
Für die Analyse wird die Fassung A der Erzählung gewählt, da diese wesentlich plastischer ist und
die Entfremdungssymptome mehr in den Vordergrund stellt.

2. Das Phänomen
Depersonalisation/Derealisation
2.1 Definition und Merkmale
Depersonalisation und Derealisation gehören beide zu den psychischen Phänomenen der
Dissoziation. Dissoziation kann „als eine mehr oder weniger strukturierte Separation mentaler
Prozesse aufgefasst werden, die zuvor in die ganzheitliche Wahrnehmung integriert waren“.1 Daher
kann es als ein Vorgang verstanden werden „der es ermöglicht verschiedene mentale Prozesse und
Inhalte voneinander getrennt zu halten“.2 Übergreifend kann für diese Phänomene der Begriff
'Entfremdungserlebnisse' verwendet werden, da sie „Störungen unserer Erfahrungen mit der Realität
des Ich und der Außenwelt“3 darstellen.
Als solcher ist dieser Vorgang grundlegend für den Menschen und nicht per se pathologisch, da er
unter nicht krankhaften Bedingungen das gleichzeitige oder automatische Ausführen von
Handlungen ermöglicht.4 Viele Vorgänge wie beispielsweise das Erlernen eines Instrumentes oder
einer anderen Tätigkeit, die das gezielte Erlernen eines Bewegungsablaufes erfordert, streben die
Automatisierung einer Handlung an. Durch diesen Automatisierungsprozess wird der Einfluss der
bewussten Kontrolle verringert. Dieses Abspalten einer Handlung von der bewussten Kontrolle
stellt schon einen dissoziativen Prozess dar.
Eine dissoziative Störung im pathologischen Sinne liegt dann vor, wenn „ein deutlicher Verlust der

1 Fiedler, Peter: Dissoziative Störungen und Konversion. Trauma und Traumabehandlung, Weinheim 2001, S. 54
2 Ebd. S. 1.
3 Vgl. Mayer, Joachim-Ernst (Hrsg.): Depersonalisation, Darmstadt 1968, S. VII.
4 Fiedler, Peter: Dissoziative Störungen und Konversion. Trauma und Traumabehandlung, Weinheim 2001, S. 1.

3
psychischen Integration des Erlebens und Handelns“ 5 sowie ein Leidensdruck der betroffenen
Person feststellbar ist. Es können unterschiedliche Konstanten des Erlebens abgespalten werde.
Beispielsweise können Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Bewegungsabläufe Handlungsimpulse
oder Körperempfindungen betroffen sein.6 Dadurch entsteht eine große Bandbreite an
Abspaltungsmöglichkeiten und somit an dissoziativen Befunden.7
Depersonalisation stellt dabei eine Abspaltung von sich selbst dar; Derealisation eine Abspaltung
von dem Erleben der Umwelt. Beide Phänomene treten meist gleichzeitig auf und werden daher
unter dem Begriff des Depersonalisations-Derealisationsstörung (DDS) zusammengefasst. Das
Entfremdungsgefühl ist beiden zu eigenen. Allerdings unterscheiden sie sich in ihren
Bezugspunkten und werden daher in dieser Arbeit auch getrennt voneinander betrachtet, da sowohl
auf die Entfremdung von sich selbst als auch auf die Entfremdung von der Umwelt eingegangen
wird. Diese Entfremdung erfolgt auch bei den Derealisation/Depersoanalisationsphänomenen auf
mannigfaltige Weise. Beispielsweise treten sie auf als „[...] Minderung des Bewusstseins von der
Lebendigkeit des eigenen Ich […] oder des Zeitsinnes, der gelebten Zeit.“ 8 Ebenso kann es zu dem
Verlust der Wahrnehmung kommen, dass Handeln, Denken und Fühlen zu einem selbst gehören. 9
Diese Entfremdung kann sich bis zu einem Verlust der Einheit des Ich steigern.10
Die Erforschung der Depersonalisations-Derealisationsstörung beschränkt sich nicht erst auf die
jüngste Vergangenheit. Erste wissenschaftliche Darstellungen gehen bereits auf die Mitte des 19.
Jahrhunderts zurück. So schrieb der deutsche Psychiater Wilhelm Griesinger (1817-1868) im 19.
Jhr. folgendes:
„[...] die Außenwelt, lebendig oder unbelebt, erscheint uns plötzlich kalt und fremd geworden, es ist
uns, als ob auch unsere Lieblingsgegenstände gar nicht mehr zu uns gehörten, und indem wir von
nichts mehr einen lebendigen Eindruck erhalten, finden wir uns noch mehr zur Entfremdung von den
Außendingen und zur inneren Vereinsamung bestimmt“11

Ähnlich ließt sich eine Beschreibung von Paul Schilder aus dem Jahre 1914:
„Zunächst eine kurze Definition dessen, was wir als Depersonalisation bezeichnen. Ich verstehe
darunter einen Zustand, indem das Individuum sich gegenüber seinem früheren Sein durchgreifend
verändert fühlt. Diese Veränderung erstreckt sich sowohl auf das Ich als auch auf die Außenwelt und
führt dazu, dass das Individuum sich als Persönlichkeit nicht anerkennt. Seine Handlungen erscheinen
ihm automatisch. Er beobachtet als Zuschauer sein Handeln und Tun. Die Außenwelt erscheint ihm
fremd und hat ihren Realitätscharakter verloren. […] Verändert ist nicht das zentrale Ich, das Ich im

5 Ebd. S. 2.
6 Vgl. Ebd. S. 54.
7 Hier sei erwähnt, dass Dissoziation als pathologisches Phänomen sich bei weitem nicht auf das Depersonalisations-,
Derealisationssyndrom beschränkt. Der DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder) verzeichnet
vier grundlegende Störungen: Dissoziative Amnesie, dissoziative Fuge, dissoziative Identitätsstörung,
Depersonalisationsstörung.
8 Mayer, Joachim-Ernst (Hrsg.): Depersonalisation, Darmstadt 1968, S. VIII.
9 Vgl. Ebd. S. IX.
10 Vgl. Ebd. S. IX.
11 Grießinger, Wilhelm: Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte (sic!) und Studirende (sic!),
Stuttgart 1867, S. 68.

4
eigentlichen Sinne, verändert ist vielmehr das Selbst, die Persönlichkeit und das zentrale Ich nimmt
diese Veränderung im Selbst wahr.“12

Daher dürften solche Beschreibungen zu Kafkas Zeit bekannt gewesen sein. Diese beiden Aussagen
beschreiben sehr treffend die Erfahrungen von Patienten mit Depersonalisation/Deralisation. In dem
ersten Zitat wird die Derealisation (Entfremdung zur Umgebung) thematisiert. In dem zweiten wird
die Depersonalisation (Selbstentfremdung) deutlicher hervorgehoben. Dabei hat sich die
Darstellung der psychischen Disposition bis heute kaum verändert. Eine heutige psychologische
Definition ist damit äußerst deckungsgleich. So wird Depersonalisation aktuell als eine Erfahrung
beschrieben, bei der es zu einem „[...] subjektiven Gefühl von Fremdheit, Irrealität, Abtrennung und
Ungewohntheit (sic!) dem eigenen Selbst, seinen Handlungen und seiner Umgebung gegenüber
kommen kann.“13 Derealisation wird definiert als „[...] die subjektive Erfahrung von Veränderungen
in den räumlichen und zeitlichen Beziehungen seiner Umgebung gegenüber, sodass z.B. eine bis
dahin neutrale Umgebung plötzlich sehr bekannt („déjà vu“), befremdlich unbekannt oder aber in
anderer Weise verändert erscheinen kann.“14 Für eine konkretere Illustration der Erfahrungen mit
DDS seien hier auszugsweise Items der Cambridge Depersonalization Scale aufgeführt:
– „Aus heiterem Himmel fühle ich mich fremd, als ob ich nicht wirklich wäre oder als ob ich
von der Welt abgeschnitten wäre.“15
– „Was ich sehe, sieht 'flach' oder 'leblos' aus, so als ob ich ein Bild anschaue.“ 16
– „Ich muss mich selbst anfassen, um mich zu vergewissern, dass ich einen Körper habe und
wirklich existiere.“17
Es bleibt zu betonen, dass das Phänomen der Depersonalisation/Derealisation in der
Grundausprägung ein natürliches ist und zu dem Menschen dazu gehört, wie das Erleben
grundlegender Emotionen.18 Als solches ist es nicht zwingend krankhaft, sondern stellt eine
Schutzfunktion darstellen.19

2.2 Ursachen und Funktion


Die Entfremdung durch eine Dissoziation zu der auch die das Phänomen der
Depersonalisation/Derealisation zählt, stellt eine Schutzfunktion des Bewusstseins vor
schmerzhaften Dingen dar.20 Das können Gefühle, Gedanken oder Erfahrungen sein. So stellt die

12 Schilder, Paul: Selbstbewusstsein und Persönlichkeitsbewusstsein. Eine psychopathologische Studie, Berlin 1914, S.
54.
13 Fiedler, Peter: Dissoziative Störungen und Konversion. Trauma und Traumabehandlung, Weinheim 2001, S. 58.
14 Ebd. S. 58.
15
16
17
18 Vgl. Michal, Matthias: Depersonalisation und Derealisation. Die Entfremdung überwinden, Stuttgart 2015, S. 14
19 Vgl. Fiedler, Peter: Dissoziative Störungen und Konversion. Trauma und Traumabehandlung, Weinheim 2001, S. 61
20 Ein Extremfall der Dissoziation als Schutz stellt die sogenannte Nahtoderfahrung dar. Bei dieser berichten

5
Abspaltung eines Wahrnehmungsbereiches bei Traumata eine Strategie der Psyche dar, sich vor dem
21
Erlebnis zu schützen. Als eine Schutzfunktion ermöglicht sie es einer Person „[...] sich von der
Wirklichkeit eines psychischen und somatischen Unerträglichkeitserlebens abzulösen.“22 Resultat
dieses Ablösevorgangs ist die Selbstentfremdungserfahrung, wie sie bei einer Depersonalisation
bzw. Derealisation erlebt wird. Ob man sich von der Außenwelt abspaltet oder von dem eigenen Ich
bzw. Wahrnehmungs- oder Persönlichkeitsanteilen hängt davon ab, auf welcher dieser Ebenen das
Ereignis sich befindet, welchem man entfliehen will. Allerdings treten bei Traumaerfahrungen meist
beide Dimension der Entfremdung auf.
Der aktuelle Forschungsstand nimmt für die Entstehung des dissoziativen Phänomens der
Depersonalisation/Derealisation genauso wie bei anderen psychischen Erkrankungen, ein
multidimensionales Modell an, welches biologische, psychologische und soziale Faktoren
berücksichtigt.23 Dabei deuten wissenschaftliche Ergebnisse darauf hin, dass DDS vermehrt bei
Personen mit einer genetisch bedingten Ängstlichkeit/Sensibilität auftritt. 24 Ebenso spielen
25
Ereignisse in der frühen Kindheit, wie auch in der Beziehung zu den Eltern eine erhebliche Rolle.
Eine äußerst begünstigenden Faktor stellen Persönlichkeitseigenschaften dar. Studien ergaben bei
der Untersuchung von DDS Patienten, dass diese eine ausgeprägte Tendenz zur Vermeidung von
Schädigungen der eigenen Person aufweisen, sowie eine geringe Kompetenz besitzen
26
Unsicherheiten zu ertragen und dadurch schüchtern agieren. . Diese starke Verunsicherung der
Identität resultiert in einer einer grundsätzlichen Angst. Symptomatisch für diese sind „chronische
Gefühlen von Todesangst, Isolation, Verlorenheit und durchdringende Schamgefühle“.27 Dies zeigt
sich darin, dass sich DDS Patienten stark in folgenden Äußerungen wiederfinden:
„1) Ich fühle mich angespannt, wenn ich mit einer Person alleine bin […] 2) Ich mache mir Sorgen,
dass andere Leute mein Verhalten seltsam finden könnten; [...] 4) Ich kann es nicht ausstehen, wenn
mich jemand direkt anschaut; […] 6) Ich weiß nicht wer ich bin; und 7) Es gibt verschiedene Teile in
mir, die ich vor anderen verborgen halte.“28
Im Mechanismus des DDS nimmt eine übersteigerte Selbstbeobachtung eine zentrale Rolle ein.
Diese ist Folge und Merkmal derselben. Im Angesicht des bevorstehenden Kontrollverlustes,
welcher im Zuge der Entfremdungserfahrung befürchtet wird, versuchen Betroffene sich möglichst
normal zu verhalten. Dies erfolgt durch Reflexionen, wie sie von außen betrachtet auf andere

Betroffene über sich zu schweben oder einem hellen Licht entgegen zu gehen. Dies legt die Theorie nahe, dass in
dieser Dissoziation ein evolutionärer Mechanismus liegt, der das Sterben erleichtern soll.
21 Vgl. Fiedler, Peter: Dissoziative Störungen und Konversion. Trauma und Traumabehandlung, Weinheim 2001, S. 61.
22 Vgl. Ebd. S. 61.
23 Vgl. Michal, Matthias: Depersonalisation und Derealisation. Die Entfremdung überwinden, Stuttgart 2015, S. 53.
24 Vgl. Ebd. S. 53.
25 Vgl. Ebd. S. 53.
26 Vgl. Ebd. S. 57.
27 Vgl. Ebd. S. 63.
28 Ebd. S. 58.

6
Personen wirken könnten.29 Die veräußerlichte Selbstbeobachtung führt aber zu einer Vertiefung der
Entfremdung und setzt zusammen mit dem ausgeprägten Schamempfinden einen Teufelskreis in
Gang.30 Die betroffene Person empfindet in einer Situation Scham, welche eine Depersonalisation
oder Derealisation zur Folge hat. Nun setzen Katastrophengedanken ein wie „Ich drohe verrückt zu
werden, welche bei Personen mit starker Orientierung an gesellschaftlichen Normen wieder zu
einem Schamgefühl führen können, insbesondere wenn die Person sich unfähig fühlt, die Situation
zu bewältigen. Wurmser sieht genau diesen Mechanismus der Scham als den Kern der DDS an.
Man ist nie bewusst da oder alles andere ist nicht wirklich da und man kann deshalb nicht verletzt
werden. Andererseits schämt sich der Betroffen für seine Wahrnehmung, da er sich so als weniger
menschlich und nicht zugehörig zu den Anderen empfindet.31 Die übertriebene Selbstbeobachtung
ist ein wesentliches Merkmal der DDS. Sie stellt sowohl Ursache als auch Folge derselben dar. Paul
Schilder formulierte dies äußerst prägnant: „Die Tendenz zur Selbstbeobachtung widerspricht
fortwährend der Tendenz zu leben und man kann gerade zu sagen, dass die Tendenz zur
Selbstbeobachtung den inneren Widerspruch vertritt.“ 32

3. Textinterpretation
3.1 Rahmenerzählung – Das Trauma und die Spaltung des Ich
Die Erzählung Beschreibung eines Kampfes stellt in mehreren Episoden die Variation einer Zwei-
Figuren Konstellation dar. In der Rahmenerzählung tritt ein Ich Erzähler und eine Figur die
Bekannter genannt wird auf. Dieser dualistische Antagonismus wird in der Binnenerzählung
variiert und fungiert als „[...] Darstellung einer Persönlichkeitsspaltung [...]“33. Dort tritt der Ich
Erzähler mit der Figur des Dicken, der Figur des Betenden und der Figur des Betrunkenen in
Kontakt. Es zeigt sich die gleiche Gegebenheit in mehrfacher Variation. Diese Multiplikation der
Figuren wird in der Kafka-Forschung als Ausdruck einer Aufspaltung des Subjekts in mehrere Teile,
die nun als weitere Figuren dargestellt werden.34 Die Protagonisten weisen über mehrere Merkmale
eine Einheit auf. Dies geschieht am deutlichsten über die Knieverletzung des Ich-Erzählers „[...]
und ich verspürte einen Schmerz im Knie.“35, welche später bei dem Bekannten erneut auftaucht,

29 Vgl. Ebd. S. 60.


30 Vgl. Ebd. S. 60.
31 Wurmser, Leon: Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Berlin 1990 noch
nachschauen!!!
32 Schilder, Paul: Medizinische Psychologie für Ärzte und Psychologen, Berlin 1924, S. 258-259
33 Engel & Auerochs (Hrsg.): Kafka-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Göttingen 2008, S. 92.
34 Vgl. Ebd. S. 92.
35 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, S. 67.

7
nachdem dieser von dem Ich-Erzähler zum Reittier degradiert wurde. „[...] und als ich ihn
untersuchte fand ich, dass er am Knie schwer verwundet war.“36 Diese Verletzung tritt erneut bei
dem Beter auf. „ Dabei machte mir mein rechtes Bein viel Ärger. Denn Anfangs schien es ganz
auseinander gefallen zu sein [...]“ Folgende Textstelle verdeutlicht, dass hier etwas gespalten ist, das
eigentlich zusammengehört: „Wir kennen ja einander nicht. […] Und da ich sonst keine Bekannten
hier habe, denen ich vertraue - “37. Diese Worte des Bekannten drücken in sich einen Widerspruch
aus. Sie kennen sich nicht, sind aber miteinander bekannt, was dadurch gezeigt wird, dass er „sonst
keine Bekannten“ hier habe und als Figur den Titel 'Bekannter' trägt. Der Bekannte ist das Bekannte
des Ichs, welches ihm fremd geworden ist.38 Diese Spaltung des Ichs in Ich-Erzähler und Bekannter
lässt sich als Spaltung in die Dualität von Körper und Geist interpretieren.39 Es entsteht ein
Verhältnis

„zwischen einer Ich Figur, die tendenziell der Sphäre der Innerlichkeit zugewandt, zugleich aber dem
Leben entfremdet isoliert und unglücklich ist, und dem Bekannten, der sich als realitätsbezogen,
erotisch erfolgreich und glücklich präsentiert.“ 40
In einer weiteren Textstelle heißt es: „Wir waren nahe beisammen, trotzdem wir einander gar nicht
gerne hatten, aber wir konnten uns nicht weit voneinander entfernen, denn die Wände waren
förmlich und fest gezogen.“41 Mit den fest gezogenen Wänden könnten hier die festen Wände des
Subjekts gemeint sein, von dem beide Teile eines Ganzen sind. Weitere Indizien, die eine Einheit
der Figuren nahelegt, kommt in den weiblichen Bezugspersonen zum Ausdruck. Der Bekannte
schwärmt zu Beginn von seinen erotischen Erfolgen mit einem Mädchen, mit dem er sich zugleich
verloben will. Ebenso bemerkt der Ich Erzähler gegen Ende der Erzählung: „Ich bin verlobt, ich
gestehe es“.42, obwohl es dafür kein Indiz gibt. Außerdem fällt ihm ein, dass „ich geliebt werde von
einem Mädchen in einem schönen weißen Kleid.“43 Dieses Mädchen taucht ebenso in der Erzählung
des Dicken auf. Dieser geht in die Kirche um dort ein Mädchen zu treffen, in das er sich verliebt
hatte. „[...] denn ein Mädchen in das ich mich verliebt hatte betete dort kniend eine halbe Stunde am
Abend,[...]“.44 Eine weitere Frauengestalt taucht in der Episode des Beters auf. „Die Hausfrau

36 Ebd. S. 74.
37 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, S. 55.
38 Wasihun, Betiel: Gewollt – Nicht Gewollt: Wettkampf bei Kafka, Heidelberg 2010, S. 31.
39 Vgl. Zimmer, Christina: Leerkörper: Untersuchung zu Franz Kafka. Entwurf einer medialen Lebensform, Würzburg
2006, S. 46.
40 Neymeyr, Barbara: Konstruktion des Phantastischen: die Krise der Identität in Kafkas Beschreibung eines Kampfes,
Heidelberg, S. 10.
41 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, Zitat suchen!!
42 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, S. 117.
43 Ebd.S. 69.
44 Ebd.

8
reichte mir Schaumgebäck und ein Mädchen mit weißem Kleid steckte es mir in den Mund.“45 Die
Parallele zu dem Mädchen des Ich-Erzählers, welches ebenfalls ein weißes Kleid trägt, ist
frappierend. Die Tatsache, dass allen Hauptfiguren eine Frauenfigur gegenüber gestellt ist, weißt auf
ihr Wichtigkeit hin, obwohl alle weiblichen Figuren anonym bleiben. Als gemeinsames Element,
die alle Teilfiguren – und damit, wie wir gesehen haben, alle Teile des gespaltenen Subjekts –
verbindet, stellt die weibliche Figur einen wichtigen Faktor in der Erzählung dar. Wasihun sieht die
weibliche Figur als Trophäe, die dem Sieger des beschriebenen Kampfes zukommt.46 Dies ist aber
eher abwegig, da in dem gesamten Verlauf der Erzählung, niemand dieses Ziel erreicht und jede
Figur bei dem Versuch scheitert. Dem Ich Erzähler scheint als „schwimme ich von der Verliebten
[…] weg.“47 Dem Bekannten ergeht es nur scheinbar besser und das auch nur zu Beginn. Gegen
Ende überkommen ihn Zweifel ob er diese Liebe wagen soll und verfällt in Resigation und gibt auf.
„[...] ich kann noch immer diese beginnende Liebe gleich beenden […]. Denn wirklich, ich bin
schwer im Zweifel, ob ich mich in diese Aufregung begeben soll.“48 In der Episode des Beters will
nicht nur das Mädchen ihm nicht zuhören, sondern der Beter möchte selbst, dass er von dem
Mädchen ignoriert werden soll. „Sie sollen […] auch nicht fünf Minuten dazu aufwenden, mit mir
zu reden.49
Diese Befundlage macht die Theorie der Frau als Preis für den Sieger im Kampf eher zweifelhaft
und rückt eine andere Idee in den Vordergrund, die die Ausgangslage für die weitere Interpretation
bilden wird. Diese Idee besteht darin, die scheiternde/gescheiterte Beziehung des Protagonisten als
Ursache für die dargestellte Spaltung des Ich zu betrachten. Das bedeutet, die dysfunktionale
Beziehung zur weiblichen Figur setzt bei dem gespaltenen Protagonist eine psychische Dynamik in
Gang, die in dem Erleben von Depersonalisation- und Derealisationszuständen kulminiert. Die
Frauenfigur wird zum Auslöser von Selbstzweifeln und setzt somit den folgenden Kampf der
Subjektanteile in Gang.
Das wird bereits in der Anfangsszene angedeutet. Das Verhalten von Menschen, die sich verbeugen
und die Hände schütteln verweist auf das rituelle Verhalten am Anfang oder Ende eines
Wettkampfes.50 Jedoch lässt der Ausdruck „es wäre sehr schön gewesen“51 darauf schließen, dass
auf ein Ergebnis in der Vergangenheit Bezug genommen wird.52 Welches Ereignis verbunden mit

45 Ebd. S. 100.
46 Vgl. Wasihun, Betiel: Gewollt – Nicht Gewollt: Wettkampf bei Kafka, Heidelberg 2010, Zitat suchen!!
47 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, S. 70.
48 Ebd. S. 116.
49 Ebd. Zitat suchen!!
50 Vgl. Wasihun, Betiel: Gewollt – Nicht Gewollt: Wettkampf bei Kafka, Heidelberg 2010, S. 29.
51 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, Zitat suchen!!
52 Vgl. Wasihun, Betiel: Gewollt – Nicht Gewollt: Wettkampf bei Kafka, Heidelberg 2010, S. 29.

9
einem Kampf könnte damit gemeint sein? Und deutet nicht der Titel auf die Beschreibung eines
gegenwärtig sich abspielenden Kampfes hin?
Die zentrale Position der Frauenfigur(en) wurde bereits deutlich gemacht. Jedoch ist nicht die
Frauenfigur als solche von großem Belang, weshalb auch alle anonym bleiben.53 Größere
Bedeutung kommt ihr zu, indem was sie für die männlichen Figurenpaare symbolisiert. Und zwar
stellt sie für die männlichen Hauptpersonen eine Liebe dar, die nie erreicht wird. Sei es aus eigenem
Versagen oder mangelnder Reaktion des Mädchen. Diese nicht zustande kommende Liebe und die
daraus folgenden, immerwährend bekundeten Zweifeln an der Welt stellt das Trauma dar, welches
für die folgende Spaltung des Ichs und die daraus resultierende Depersonalisation verantwortlich
ist.
Wie bereits dargestellt wurde, resultiert eine Depersonalisation/Derealisation meist aus Situationen
in den sich das Individuum als zutiefst verunsichert fühlt. Diese Unsicherheit der Person zeigt sich
auch häufig in einer mangelnden Kompetenz zur Deutung der eigenen Emotionen.54 Zu dieser
Verunsicherung tritt eine ständige Angst vor Beschämung, welche die Dynamik der Entfremdung in
Gang setzt und aufrecht erhält.
Die Verunsicherung des Ich-Erzählers beginnt mit dem Auftritt des Bekannten, welcher von seinem
erlebten Liebesglück berichtet. Die Zurschaustellung des Glücks seines Alter Egos verursacht in
ihm eine Traurigkeit. „Ich aber sah ihn traurig an, - denn das Stück Fruchtkuchen, das ich im Mund
hatte, schmeckte nicht gut [...]“.55 Mit dieser Bezugnahme auf das Mädchen wird der Ich-Erzähler
auf einmal traurig, was auf eine negative Konnotation des Themas für ihn schließen lässt.
Gleichzeitig deutet sich bereits hier schon subtil eine Entfremdung in der Wahrnehmung an. Das
Backwerk, welches zuvor nämlich beschrieben wird einen „feinem Geschmack“56 zu
besitzen,schmeckt nun nicht mehr gut. Hier macht sich eine bereits eine Veränderung in der
Wahrnehmung bemerkbar, die mit der Person des Mädchen einhergeht.
Diese emotionale Reaktion bestätigt sich im Verlauf, als der Ich Erzähler auf die weiteren
Schilderungen des Bekannten mit einem Gegenangriff reagiert, indem er diesen im Prinzip zu
einem Spaziergang nötigt. „Gut, wenn sie wollen, so gehe ich, aber es ist thöricht (sic!), jetzt auf
den Laurenziberg zu gehe, denn das Wetter ist noch kühl und da ein wenig Schnee gefallen ist, sind
die Wege wie Schlittschuhbahnen.“57 Der Ich-Erzähler unterbricht den Vortrag des Bekannten aus

53 Abgesehen von dem Mädchen des Beters, welchess „Anna“ und „Annerl genannt. In diesem Zusammenhang ist auf
die unglückliche Liebe Kafkas zu Anna Pouzarová hinzuweisen.
54 Vgl. Michal, Matthias: Depersonalisation und Derealisation. Die Entfremdung überwinden, Stuttgart 2015, S. 62.
55 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, S. 55.
56 Ebd. S.54.
57 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, S. 56.

10
Angst vor öffentlicher Beschämung, angedeutet durch die „Einigen Herren, die in der Nähe standen
[...]“58 und auf die Beiden zukommen. Aus Furcht die Herren könnten die Schilderung des
Bekannten mitbekommen, was unmittelbar mehr Schmerz für den Ich Erzähler zur Folge hätte,
flieht dieser die Gesellschaft. Die Entfremdungsdynamik wird hier fortgeführt, wenn auch recht
subtil. Neymayr weist hier auf „[...] eine Verfremdung der Wirklichkeit ins Diffus-Surreale […]“59
einer Schneelandschaft hin. Das Bild des Schnee steht für die voranschreitende Entfremdung,
welche zur Folge hat, dass alles Verhalten unsicher wird, da „die Wege wie Schlittschuhbahnen“
sind. Ein ähnliches Bild taucht am Ende der Erzählung auf.
„Wir sind nämlich so wie Baumstämme im Schnee. Sie liegen doch scheinbar nur glatt auf und man
sollte sie mit kleinem Anstoß wegschieben können. Aber nein, das kann man nicht, denn sie sind fest
mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist bloß scheinbar.“60
Dieser Abschnitt steht im Zusammenhang mit einem Gespräch zwischen Ich-Erzähler und
Bekannter über „die Schwierigkeit des Lebens“61. Er zeigt die Auseinandersetzung im
Angesicht der Selbstentfremdung. Weil sobald diese einsetzt ist alles nur scheinbar. Das Bild
der Baumstämme verbindet die Schwere der Baumstämme mit ihrer scheinbaren
Leichtigkeit und Instabilität. Dieses Bild wird auf ein wir bezogen. Auf die
Entfremdungsproblematik übertragen ergibt sich hier eine Darstellung des entfremdeten
Ichs, welches als einzigen Fixpunkt in seiner Existenz die Scheinbarkeit besitzt. Es liegt
scheinbar glatt auf und sollte daher beweglich sein, dennoch ist es in seiner Entfremdung
gefangen und daher unbeweglich, also fest mit dem Boden verbunden. Aber selbst dieser
Zustand ist nur scheinbar. Diese Deutung erinnert an eine Definition der
Depersonalisation/Derealisation Paul Schilders in der er schreibt, dass bei Betroffenen die
Außenwelt fremd und neu erscheint und ihren Realitätscharakter verloren hat.62

3.2 Depersonalisationserfahrungen in der Rahmenhandlung


Nachdem der Ich-Erzähler und der Bekannte die Gesellschaft verlassen tritt ein Stimmungswechsel
ein.
„Kaum waren wir ins Freie getreten, als ich offenbar in große Munterkeit gerieth (sic!). Ich hob die
Beine übermüthig (sic!) und ließ die Gelenke lustig knacken. Ich rief über die Gasse einen Namen, als
sei mir eine Freund um die Ecke entwischt, ich warf den Hut im Sprunge hoch und fing ihn
prahlerisch auf.“63

58 Ebd. S.56.
59 Neymeyr, Barbara: Konstruktion des Phantastischen: die Krise der Identität in Kafkas Beschreibung eines Kampfes,
Heidelberg, S. 48.
60 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, S. 110.
61 Ebd. S. 109.
62 Vgl. Schilder, Paul: Selbstbewusstsein und Persönlichkeitsbewusstsein. Eine psychopathologische Studie, Berlin
1914, S. 46.
63 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New

11
Das Verlassen der Gesellschaft bedeutet eine enorme Erleichterung für den Ich-Erzähler. Diese zeigt
sich in großer Munterkeit und einer körperlichen enthusiastischen Aktivität, welche in dem
übermütigen Heben der Beine und dem lustigen Knacken der Gelenke zum Ausdruck kommt. Der
Bekannte lässt sich davon nicht beeindrucken. Ebenso hat das Fehlen der Gesellschaft auf ihn nicht
den gleichen Effekt. Er bleibt „unbekümmert“64 und „redete auch nicht“65. Dies lässt darauf
schließen, dass die Gesellschaft oder viel eher die Gesellschaft des Mädchens für ihn eine anderen
Stellenwert hat als für den Ich Erzähler. Als Repräsentant der weltlichen, aktiven Seite des Ich ist
der Bekannte viel eher negativ von dem Verlassen der Gesellschaft betroffen. Wohingegen der
geistige, reflektierende Teil, durch den Ich-Erzähler dargestellt, erleichtert ist, da er nicht mehr so
viel Grund zur Selbstreflexion hat. Allerdings ist dieser Drang zum Beobachten Teil der Natur des
geistigen Ich, obwohl es ihm in dieser Situation schadet. So verfällt der Ich-Erzähler darauf das
Verhalten in Bezug zu sich, zu analysieren. „Das wunderte mich, denn ich hatte erwartet, seine
Freude würde ihn toll machen, wenn die Gesellschaft nicht mehr um ihn wäre [...]“.66 Und später
beginnt er die Schritte des Anderen zu beobachten und zu analysieren „Ich achtete darauf, wie
unsere Schritte klangen und konnte nicht begreifen, daß (sic!) es mir unmöglich war in gleichem
Schritt mit meinem Bekannten zu bleiben.“67 Dadurch bestätigt sich die Tendenz des Ich-Erzählers
zur (Selbst-) Beobachtung. Im weiteren Verlauf versucht der Ich Erzähler die Stimmung des
Bekannten aufzuhellen durch einen „aufmunternden Schlag“68. Dies scheitert jedoch und resultiert
in einem Schamgefühl. Mit diesem setzt der Erzähler sich jedoch nicht auseinander sondern verfällt
wieder auf das Beobachten. „Wir gingen also schweigend. Ich achtete darauf, wie unsere Schritte
klangen und konnte nicht begreifen, daß (sic!) es mir unmöglich war in gleichem Schritt mit
meinem Bekannten zu bleiben.“ Die Scham und die daraus wieder resultierende Selbstbeobachtung
(es handelt sich um eine Selbstbeobachtung da, der Ich Erzähler einen bekannten Teil seiner
Identität beobachtet) vertiefen das Entfremdungserleben da „der zentrale Teil bei der Unterdrückung
des emotionalen Erlebens [...] die Selbstbeobachtung“69 ist.

Im Verlaufe der weiteren Dynamik entfremdet sich er geistige Teil immer mehr von dem weltlichen
Teil des Bekannten. Der Ich Erzähler beginnt nämlich zu überlegen „in eine Seitengasse

York 1993, S. 57.


64 Ebd. S. 57.
65 Ebd. S. 57.
66 Ebd. S. 58.
67 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, S. 57.
68 Ebd. S. 58.
69 Michal, Matthias: Depersonalisation und Derealisation. Die Entfremdung überwinden, Stuttgart 2015, S. 61.

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einzubiegen“70 da er „zu einem gemeinsamen Spaziergang nicht verpflichtet war.“71 Das
Autonomiebestreben des Ich Erzählers sich von dem Bekannten abzusetzen, stellt das Bestreben
einer Ablösung des Geistes vom weltlichen Teil des Körpers dar und liefert somit die Definition
einer Depersonalisation par Excellence. Allerdings überfällt das Ich eine Schwäche bei dem
Gedanken „[...] wieder in meine Wohnung zu gehen und wieder und wieder Stunden allein
zwischen den bemalten Wänden zu verbringen und auf dem Fußboden, welcher in dem an der
Rückwand aufgehängten Goldrahmenspiegel schräg abfallend erscheint.“72 Die Isolation und das
Mit-sich-allein Sein machen dem Ich Erzähler Angst, beutet es doch weitere Stunden die mit
schmerzvoller Selbstbeobachtung im „Goldrahmenspiegel“ zwischen den Wänden seines Ichs
einhergehen, wodurch alles „schräg abfallend erscheint“. Dieses „schräg abfallend“ stellt nicht nur
Wahrnehmungsverzerrung gegenüber der Umwelt dar, über die sich das Ich bewusst ist, sondern
auch das durch Entfremdung in Schieflage geratene Selbstkonzept. Eine kompletter Rückzug ins
rein Geistige hätte jedoch die Auflösung des Subjekts zur Folge und ist somit nicht möglich.73 Das
spürt der Ich Erzähler, denn er ist „[...] zu furchtsam, um ohne Gruß wegzugehn [...]“74 und er
wartet lieber bis der Bekannte ihn wieder eingeholt hat.

70 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, S. 59.
71 Ebd. S. 59.
72 Ebd. S. 59.
73 In dem stark phantastischen Teil der Binnenerzählung, indem es zu Omnipotenzgesten des Ich Erzählers kommt
scheint zwar eine solche Flucht in das reine Geistige verwirklicht, der Bezug zur leiblichen Existenz, dem
Bekannten ist aber nie ganz gekappt.
74 Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und Fragmente. New
York 1993, S. 59.

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Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Pasley, Malcolm: „Beschreibung eines Kampfes“ in Franz Kafka. Nachgelassene Schriften und
Fragmente. New York 1993.

Sekundärliteratur
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2001.

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GRIESSINGER, WILHELM: Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte (sic!) und
Studirende (sic!), Stuttgart 1867.

MAYER, JOACHIM-ERNST (HRSG.): Depersonalisation, Darmstadt 1968

MICHAL, MATTHIAS: Depersonalisation und Derealisation. Die Entfremdung überwinden, Stuttgart


2015.

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2008, S. 79.

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NEYMEYR, BARBARA: Konstruktion des Phantastischen: die Krise der Identität in Kafkas Beschreibung
eines Kampfes, Heidelberg

SCHILDER, PAUL: Selbstbewusstsein und Persönlichkeitsbewusstsein. Eine psychopathologische


Studie, Berlin 1914.

WASIHUN, BETIEL: Gewollt – Nicht Gewollt: Wettkampf bei Kafka, Heidelberg 2010,

WURMSER, LEON: Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten,
Berlin 1990

ZIMMER, CHRISTINA: Leerkörper: Untersuchung zu Franz Kafka. Entwurf einer medialen Lebensform,
Würzburg 2006.

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