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Ruedi Weidmann (Text und Bilder)

Belgrad wächst nachts


Zuwanderung und informelle Bautätigkeit verändern die serbische Hauptstadt; es mangelt an Infrastruktur

Belgrad ist, wie alle serbischen Städte, in den Westeuropäern bietet Belgrad eine erstaunliche Lektion
letzten Jahren rasch gewachsen. Landflucht und in Sachen Stadtentwicklung, voller naiver Fragen und
Aha-Erlebnisse: Wie entstehen zum Beispiel die Tausen-
die Zuwanderung von Serben aus den Ländern
de von zweistöckigen, bewohnten Kioske, die die Aus-
Ex-Jugoslawiens sind die Gründe. Die Räume zwi- fallachsen in Strassendörfer verwandelt haben? Die Ein-
schen den sozialistischen Grosssiedlungen füllen heimischen nennen sie wegen ihrer Form und ihrer
sich mit Einfamilien- und Geschäftshäusern, die raschen Vermehrung «Pilzhäuser». Ein «Pilzhaus» wird in
ohne Baubewilligung über Nacht aus dem Boden einer einzigen Nacht auf öffentlichem Grund errichtet,
auf dem Grünstreifen entlang einer Strasse, auf einem
schiessen. Die Stadt verändert ihr Gesicht, die
Sportplatz oder in der Grünanlage einer Grosssiedlung.
Stadtplaner verzweifeln, die Politik kümmert sich Den Hinweis auf einen freien Platz mit der Möglichkeit,
(noch) nicht darum. irgendwo Strom und Wasser abzuzapfen, hat man von

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Am Stadtrand von Belgrad: Einfamilienhäuser ohne Baubewilligung auf besetzten
Agrarflächen. Wer sich kein ganzes leisten kann, kann vorerst ein halbes kaufen

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bereits niedergelassenen Verwandten erhalten, oder der Marke Eigenbau zu einem endlosen Flickentep-
gegen Geld von einem der informellen «Developper», pich. Das unentwirrbare Gewebe aus Ziegeldächern,
der die technischen und juristischen Verhältnisse und die unverputzten Backsteinmauern, krummen Schotterwe-
massgebenden Beamten kennt. Es geht darum, mit dem gen, ins Leere stossenden Gartenmauern und illegal
Bau möglichst weit zu kommen, bis der erste Beamte abgezweigten Stromkabeln breitet sich unaufhaltsam
auftaucht. Falls überhaupt einer kommt, wird ihm ein über Erholungsräume, Landwirtschaftsflächen und
Obolus für sein Wegschauen entrichtet. Der Kiosk wird Naturschutzgebiete aus. In der Innenstadt lässt der
sofort in Betrieb genommen; was er abwirft, unterstützt enorme Verdichtungsdruck überall Aufstockungen und
die Errichtung einer Wohnung im Obergeschoss. Den Anbauten aus Altbauten wachsen, auch sie ohne
Kiosk hält man klein, um möglichst wenig öffentlichen Genehmigung – oder mit einer gekauften.
Boden zu stehlen – man weiss ja nie, wie lang einen das
Bestechen vor Sanktionen schützen wird –, das Oberge- Gründe für den Bauboom
schoss erhält einen grösseren Grundriss. Daher rührt die Die Gründe für die intensive informelle Bautätigkeit
charakteristische Pilzform. Strom- und Wasseranschluss sind vielfältig. Schon seit Beginn der wirtschaftlichen
erhält man problemlos von den städtischen Werken, Schwierigkeiten Jugoslawiens in den 70er-Jahren zog die
denen egal ist, ob ein Kunde legal wohnt, solange er die Aussicht auf Arbeit die Menschen in die Städte. In den
Rechnungen bezahlt. Ist man einmal fest installiert, 90er-Jahren verstärkten das Auseinanderbrechen Jugo-
kann man den Bau sukzessive ausbauen, etwa den Kiosk slawiens, die Kriege zwischen den neuen Staaten, das
zu einem lukrativeren Café erweitern. Die Zonenord- internationale Embargo und die Nato-Bombardements
nung wird selbstredend nicht beachtet. Kiosk steht die Wirtschaftskrise. Die Verarmung ist am stärksten auf
neben Hotel, Villa neben Lumpenhändler, Autowasch- dem Land zu spüren; so hält die Landflucht an.
anlage neben Gemüseladen. Die ethnische Aufladung der Konflikte durch die natio-
1991 hatte Belgrad 1,6 Millionen Einwohner. Wie viele nalistische Propaganda führte in den Kriegen von 1991
es heute sind, weiss niemand genau, vermutlich etwa bis 1996 zu massiven Vertreibungen. Die ethnische
zwei Millionen. Ein gut informierter Planer schätzt, Segregation beschleunigte das Wachstum Belgrads. Ser-
dass mittlerweile die Mehrheit in illegalen Wohnungen ben verkauften ihre Häuser in Kroatien und Bosnien
lebt, solche vermietet oder an deren Bau mitverdient. und zogen in serbische Städte; 1998/99 wiederholte
In den nach modernen Leitbildern geplanten Gross- sich dies im Kosovo-Krieg.
siedlungen in Novi Beograd, dem Stolz sozialistischer In Serbien ist der Bau von Häusern und Wohnungen
Stadtplanung, füllen sich die Grünflächen zwischen die einzige Anlagemöglichkeit für Ersparnisse. Es gibt
den Wohntürmen mit Einfamilienhäusern. Weiter bis heute kein verlässliches Bankensystem, und die auf
draussen verdichten sich halbfertige Villen und Hütten tiefem Niveau stagnierende Produktion bietet kaum

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Privatinitiative auf öffentlichem Grund: Bewohnte Kioske entstehen illegal
über Nacht auf den Grünstreifen entlang von Belgrads Hauptstrassen

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Investitionsmöglichkeiten. Wer Bargeld ergattert, sei es staatlichen Siedlung abzweigt, gibt es viele Zwi-
durch den Verkauf des eigenen Hauses, sei es durch die schenstufen. Für die Mehrzahl der Neusiedler bedeutet
Unterstützung eines Familienmitglieds im Ausland, auf der illegale Zustand ihrer Häuser Unsicherheit für ihr
dem Schwarzmarkt, aus Schmiergeldern oder durch Vermögen. Manche schaffen es, im Dschungel der kor-
Vermietung und Verkauf bereits gebauter Wohnungen, rupten und überforderten Verwaltung zumindest einen
legt dieses sofort wieder in neuen Gebäuden an. Diese Teil der vielen nötigen Papiere zu ergattern; sie sind
«Anlagepolitik» verfolgen die neureichen Profiteure etwa im Besitz einer Baubewilligung, nicht aber einer
von Krieg und Korruption ebenso wie die Rückwande- Nutzungsbewilligung. Andere haben sich alle Bewilli-
rer, die für den Verkauf ihrer Häuser in einem anderen gungen beschafft, obwohl ihr Haus nicht den Baugeset-
Teil Ex-Jugoslawiens ein für serbische Verhältnisse zen entspricht. Bei manchen Neubauten ist immerhin
ansehnliches Notenbündel erhalten haben. eine Bewilligung für die unteren Stockwerke vorhan-
Während die reichen «Biznizmen» Mehrfamilien- und den. Wer gar nichts hat, sammelt die Quittungen für
Geschäftshäuser errichten, stellen die weniger Vermö- die bezahlten Stromrechnungen, um belegen zu kön-
genden in Eigenarbeit vorerst vier Wände und ein Dach nen, dass er kein Dieb ist, und in der Hoffnung, nach
auf, um dann Zimmer für Zimmer auszubauen, sobald einigen Jahren Gewohnheitsrecht für sein Gebäude gel-
wieder etwas Geld zusammengekommen ist. Die zahl- tend machen zu können. Obwohl es sich streng genom-
losen unverputzten Häuser mit Betonskelett, Back- men um illegale Praktiken handelt, wird die Bezeich-
steinausfachung, vernageltem Parterre, ausgebautem nung «informell» den vielen Varianten baulicher
ersten Stock und leeren Obergeschossen zeugen von «Selbsthilfe» besser gerecht. Völlig legal zu bauen ist
dieser – unter den gegebenen Umständen absolut ratio- heute wohl möglich, bedeutet aber, sich auf einen jah-
nalen – Anlagepolitik der kleinen Leute. Auch die Bret- relangen Ämter-Marathon mit ungewissem Ausgang
terverschläge der ärmsten Zuzüger, unter ihnen viele einzulassen.
Roma, belegen immer mehr öffentliche Grundstücke, Wer auf ein offizielles Verfahren angewiesen ist und
häufig am Ende der Schotterwege, die sich durch die nicht dringend Bargeld loswerden muss, wartet deshalb
illegalen Siedlungen winden. An den Zugängen zu sol- heute mit Bauen: Privatpersonen und die ehemals staat-
chen Vierteln warten Taglöhner auf einen Hausbesitzer, lichen, heute privatisierten Planungsbüros warten auf
der sie für die nächste Bauetappe anheuert. Investoren aus dem In- oder Ausland und halten Bau-
land und Baubewilligungen bereit. Mögliche Investo-
«Legal», «illegal», «informell» ren warten, bis neue Planungsgesetze die komplizierten
Zwischen der völlig legalen Wohnung und dem absolut Verhältnisse vereinfachen und bis die Besitzverhältnisse
illegal erbauten Haus auf gestohlenem Land, das ohne geklärt sind. Die Rückübertragung von Land und
zu zahlen Strom und Wasser von einer benachbarten Immobilien an die Besitzer aus vorkommunistischer

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Scharfer architektonischer Kontrast: moderne Siedlung aus sozialistischer Zeit und
im Eigenbau errichtete informelle Neubauten auf einem ehemaligen Sportplatz

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Zeit ist nämlich in Serbien noch nicht angegangen wor- tung von Erholungsräumen und Naturschutzgebieten
den. Der Boden ist offiziell nach wie vor im Besitz des denkt erst recht niemand.
Staates. Was grosse Bauprojekte anbelangt, etwa eine Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Neubauten
Überbauung des alten Hafens an der Sawe mit Hotel- keinerlei Baunormen erfüllen, weder was die Sicherheit
komplexen, verspricht man sich unrealistisch viel von noch was den Energiehaushalt betrifft. Die meisten
ausländischen Investoren. Häuser sind überhaupt nicht isoliert. Anfang 2002
wurde der traditionell stark subventionierte Strompreis
Wer kümmert sich um die Infrastruktur? der Regulierung durch Angebot und Nachfrage überlas-
Der gestalterische Kontrast zwischen den modernen sen. Bei manchen ist seither die Stromrechnung höher
Hochhäusern und den dazwischen wachsenden Selbst- als die Miete. Das ist wohl der einzige Weg, die Haus-
bau-Eigenheimen entbehrt nicht der Reize für den besitzer zur Nachisolation zu bewegen.
Architekturhistoriker. Bald wird aber die Faszination
abgelöst durch Bedenken über das soziale, technische Der Einzelne und der Staat
und wirtschaftliche Funktionieren dieser wilden Mi- Der Mangel an Infrastruktur drückt nicht nur auf die
schung. Lebensqualität. Dass in den Quartieren Schulen, Bib-
Das grösste Problem ist, dass sich niemand um den drin- liotheken, Poststellen usw. fehlen, mindert die Anbin-
gend nötigen Ausbau der technischen und der sozialen dung der neuen Stadtbürger an öffentliche Institutio-
Infrastruktur kümmert. Die neuen Siedlungen werden nen. Das ist umso schwer wiegender, als die Menschen
kaum mit Strassen erschlossen; man fährt über holprige in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien
Wege aus Ziegelsteinschutt in die Nähe des eigenen Hau- ohnehin ein gebrochenes Verhältnis zum Staat haben.
ses, wo man das Auto stehen lässt. Für Parkplätze gibt es Die Bereitstellung der Infrastruktur wird zwar allge-
zwischen den oft Wand an Wand stehenden Häusern mein vom Staat erwartet; die Einsicht jedoch, dass
keinen Platz. Strom-, Wasser- und Abwasserleitungen dieser dazu auch über Einnahmen verfügen muss, ist
werden bedenkenlos an die Netze der alten Siedlungen weit weniger vorhanden. Verbreitet ist die Praxis, den
angehängt, ohne dass zusätzliche Kapazitäten geschaf- Eintrag ins Grundbuch zu umgehen und so die
fen würden. Versorgungsengpässe und Verstopfungen Gebühren für die öffentliche Infrastruktur zu sparen.
sind die Folge. Informelle Wohnungen sind deshalb, obwohl von
Die Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfs ist höherem Standard, billiger als staatliche oder legale
zwar durch den privaten Einzelhandel – die vielen private. Auch eingesessene Belgrader profitieren
Kioske – einigermassen gewährleistet. Aber zusätzliche davon, ziehen in die Neubauten und vermieten ihre
Schulhäuser, Postämter, Polizeiposten oder Verlängerun- alte Wohnung mit Gewinn. Oft werden die Mietein-
gen von Buslinien werden nicht geplant; an die Freihal- nahmen aus neuen Häusern nicht versteuert. Die

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Einfamilienhäuser als «Sparkonti»: Die neue Schicht von Hausbesitzern verfügt zusammengenommen durch-
aus über beträchtliche Mittel; der Staat wird sie für den Bau von Infrastruktur heranziehen müssen

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Chance, dass man dafür belangt wird, ist klein, denn ten sich die Leute daran, ohne Bewilligung zu bauen,
wo es keine Strassen gibt, gibt es auch keine Adressen. und haben daraus die nötigen Tricks gelernt.
Ein grosser Teil der Zuzüger ist nicht registriert. So Das nach Titos Tod 1980 entstehende Machtvakuum
bleibt die Staatskasse leer. nutzten viele, um mit illegalen Bauten Geld zu verdie-
Welche Wirkung die massive Zuwanderung auf die nen. War die Korruption bis dahin vornehmlich ein
soziale Stabilität der ganzen Stadt hat, ist noch nicht Mittel zur Sicherung von Macht und Einfluss, ging es
abschätzbar. Die alteingesessenen Belgrader haben nun vermehrt auch um private Bereicherung. Korrup-
keine Freude an ihren neuen Mitbürgern, die in ihren tion wurde zur eigentlichen Funktionsweise der Bau-
Augen am System schmarotzen und die Stadt mit ihren branche und der Stadtentwicklung. Die staatliche
Bauten verunstalten. Bautätigkeit war praktisch zum Erliegen gekommen;
die schlecht bezahlten Beamten einer Baubehörde
Bauen, Macht und Geld ohne Budget wurden in Versuchung gebracht, Baube-
Informelle Praktiken im Bausektor gab es im sozialisti- willigungen zu verkaufen. (Auch mit guten Löhnen ist
schen Jugoslawien von Anfang an. Enteignete Woh- es heute in Serbien schwer, die Lebenshaltungskosten
nungen, Häuser und Bauland wurden an Partisanen, zu decken.) Einfache Bürger begannen, mit hohem Ge-
Parteimitglieder oder Kollegen vergeben. Mit ausländi- winn Räume zu vermieten oder zu verkaufen, die sie
schen Investoren wurden Deals gemacht, die die gel- durch illegale Aufstockungen und Grundrisserweite-
tenden Gesetze nicht vollumfänglich berücksichtigten. rungen auf öffentlichen Grund gewannen. Die grossen
Es gab immer Wege, zu einem der begehrten, aber vom Fische – wie man hört oft aus dem Dunstkreis des im
Regime nicht vorgesehenen Einfamilienhäuser zu kom- Herbst 2000 gestürzten Präsidenten Milosevic – berei-
men. Schon 1971, als es in Kroatien zu einem nationalis- cherten sich mit dem Bau von nicht gesetzeskonformen
tischen Aufstand kam, zogen Serben nach Belgrad und Geschäftshäusern und Siedlungen.
bauten sich Häuser ohne Bewilligung. Tito, der die
politischen Spannungen nicht an die grosse Glocke Die Planungsbehörde und die Realität
hängen wollte, liess sie gewähren; die illegalen Viertel Die neue Schicht von Hausbesitzern ist zwar nach west-
existierten offiziell gar nicht. Als in den späten 70er- europäischen Standards nicht reich, aber zusammenge-
Jahren der wirtschaftliche Niedergang die staatlichen nommen und für Belgrader Verhältnisse verfügt sie
Ressourcen zu schmälern begann, griff man zu pragma- durchaus über beträchtliche Mittel. Da der Staat kein
tischen, aber nicht ganz gesetzestreuen Lösungen, Geld für Planung und Bau hat, gewinnen die Neusied-
indem man etwa Privatleuten die Aufstockung staatli- ler im Kampf um das knapper werdende Bauland. Offi-
cher Wohnhäuser erlaubte, wenn sie dafür das baufälli- zielle Angaben über ihre Zahl und Zusammensetzung
ge Dach reparierten. Durch all diese Praktiken gewöhn- gibt es nicht. Auf jeden Fall sind es so viele, dass es

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In der Belgrader Innenstadt lässt der Verdichtungsdruck überall Anbauten aus bestehenden Häusern wach-
sen, im Selbstbau mit vertrauten Materialien und Techniken erstellt – meist zum Nachteil des Stadtbildes

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Verdichtung ohne Baugesetze: Die Varianten unbewilligter Aufstockungen im Zentrum Belgrads sind mehr
oder weniger feinfühlig, aber immer lukrativ

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Eigenheimbesitzer verkaufen den Luftraum über ihren Einfamilienhäusern. Diese werden statisch verstärkt
und zu Mehrfamilienhäusern aufgestockt. Das gelbe Häuschen links ist noch im ursprünglichen Zustand

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jeden Politiker sofort Kopf und Kragen kosten würde, Die Planung hinkt mit ihren alten Methoden hoff-
wollte er die illegalen Häuser und Quartiere abreissen nungslos hinter der Realität her. So existieren beispiels-
lassen. Ein solches Szenario wäre auch aus volkswirt- weise bis heute keine Zonen für Einfamilienhäuser.
schaftlichen Überlegungen absurd. Es kann in absehba- Den Planungsbehörden fehlt das Geld, um die Grund-
rer Zukunft nur darum gehen, die informellen Gebäude lagen für einen neuen Generalplan oder Stadtteil-Ent-
zu legalisieren und die Quartiere mit der nötigsten wicklungspläne zu erarbeiten. Kommt dazu, dass ein
technischen und sozialen Infrastruktur nachzurüsten. Teil der Beamten desinteressiert ist, von der korrupten
Für die Planungsbehörde existierten die informellen Praxis profitiert oder als Folge einer politisch motivier-
Siedlungen bis vor wenigen Jahren offiziell gar nicht. ten Beförderungspraxis fachlich nicht qualifiziert ist.
Aus sozialistischen Zeiten war sie gewohnt, vom Die Planung könnte heute im besten Fall die realen Ver-
Schreibtisch aus die Stadt mit Linien zu überziehen, änderungen aufnehmen. Die Arbeit an einem Stadtteil-
ohne die Kosten der Planung bedenken zu müssen und Entwicklungsplan würde mehrere Jahre dauern,
ohne sich je die Situation vor Ort anzusehen. Man während unterdessen die beplanten Flächen laufend
plante aufwändig Grosssiedlungen, und wenn sich von Neuzuzügern überbaut und verdichtet werden.
dann herausstellte, dass das betreffende Gebiet bereits Bereits ist es manchenorts schwierig, Platz für die nöti-
bebaut war, kehrte man resigniert ins Büro zurück. ge Infrastruktur zu finden.
Heute betrachten Winkeladvokaten und inoffizielle
Makler den städtischen Grund und Boden längst als ihr Es braucht eine neue Planer-Mentalität
Jagdgebiet. Sie wissen Bescheid über verfügbares Land Diese Situation erfordert ein Umdenken bei den Stadt-
und staatliche Planungsabsichten und pflegen Bezie- planern. Zunächst gilt es, die verantwortlichen Politiker
hungen zu Beamten und Politikern. Sie handeln mit davon zu überzeugen, dass das informelle Bauen ein
Land, Erschliessungs- und Bauarbeiten, Häusern und dringliches Problem darstellt. Dann müssen schnelle
Wohnungen. Sie haben sich darauf spezialisiert, gerade und flexible Planungsstrategien entwickelt werden, die
solche Gebiete illegal zu überbauen, auf denen die es erlauben, konkrete Entwicklungsziele für Quartiere
Behörde zu planen beginnt. So sind sie der öffentlichen zu definieren, gleichzeitig aber erste Sofortmassnah-
Hand immer einen Schritt voraus. Das geht so weit, men zu treffen und diese laufend an ihrem Erfolg mes-
dass die Behörde ihre Planungen zu verheimlichen sen und anpassen zu können. Über entsprechende
sucht, um sich noch unbebaute Flächen zu erhalten. Erfahrung verfügt hierzulande allerdings niemand.
Diese nicht transparenten Mechanismen der Stadtent- Zum ersten Mal werden sich zudem die Planer nach
wicklung sind selbstverständlich nicht dazu angetan, den Bedürfnissen der Hausbesitzer und Quartierbe-
Demokratieverständnis und öffentliches Interesse an wohner erkundigen müssen, denn sie sind schlicht auf
der Stadtplanung zu fördern. deren Geld angewiesen. Eine solche Zusammenarbeit

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Einfamilienhaus-Gärten werden zum Bauplatz für Mehrfamilienhäuser; deren
Strom- und Wasserleitungen werden an die Einfamilienhäuser angehängt

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bei der Infrastrukturplanung könnte sogar den positi- Programm aber ist unter den nach wie vor unstabilen
ven Nebeneffekt haben, bei den Neusiedlern die Iden- politischen Verhältnissen ein politisches Wagnis.
tifikation mit ihrem städtischen Umfeld zu fördern, ihr Diese anhaltende Wirkung der jüngsten Geschichte
Verantwortungsgefühl für das Quartier zu wecken und und die Blockierung von Investitionen durch ungenü-
so zu ihrer sozialen Integration beizutragen. gende Rechtsstaatlichkeit verdüstern heute im ganzen
Balkan die wirtschaftlichen Perspektiven und sind ein
Stadtplanung und Politik Hindernis für Entwicklung in allen Bereichen, nicht
Die Hoffnung, solche kollektive Planungen könnten nur in der Planung. Jeder sachliche Lösungsvorschlag
dereinst zur Demokratisierung der serbischen Gesell- stösst sofort auf komplexe Konstellationen, die durch
schaft beitragen, ist zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nationalistische Politik, Klientelwirtschaft und Kriege
verfrüht. Lazar Lukmanovic, ein 33-jähriger Architekt, geschaffen wurden. In dieser Situation ist es nach wie
ist seit kurzem Minister für Planung, Infrastruktur und vor einfacher, mit nationalistischen Parolen Stimmen
Wohnungsbau der autonomen Provinz Vojvodina im zu gewinnen als mit so kleinen komplexen Massnah-
Norden Belgrads. In den Städten der Vojvodina spielt men wie sorgfältig organisierten Quartierplanungspro-
sich in kleinerem Massstab das gleiche ab wie in Bel- jekten.
grad. Gefragt, ob er in der planerischen Zusammenar- Ob und wann Belgrad sein informelles Stadtwachstum
beit mit Neusiedlern ein Potenzial zur Förderung der und dessen Folgen in den Griff bekommen wird, ist
demokratischen Kultur sehe, lächelt Lukmanovic. Er schwer vorauszusagen. Die internationalen Geldgeber
sehe sich fürs Erste eher als Robin Hood denn als De- könnten mit politischem Druck – etwa in der Frage des
mokratieförderer. Zuallererst gehe es darum, die rei- Energiehaushalts – eine Lösung beschleunigen. Aber
chen Neusiedler zur Steuerdisziplin zu zwingen, um damit eine solche auch langfristig funktioniert, muss
Geld für den Bau der nötigsten Infrastruktur in den sie die politischen und sozialen Verhältnisse berück-
ärmeren Stadtteilen zu erhalten. sichtigen. Und eine solche Lösung kann nur vor Ort
Die neuen Regierungen, die serbische und die der Bun- entstehen.
desrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro),
bereiten die Klärung der Besitzverhältnisse und die
Rückübertragung von Grundstücken und Häusern an
ihre ursprünglichen Besitzer vor. Und sie sind dabei,
heutigen Bedürfnissen angepasste Planungs- und Bau-
gesetze zu erarbeiten. Die beiden Schritte sind Vorbe-
dingung für jede weitere Planung und legale Bautätig-
keit. Auch eine schlankere Planungsbürokratie und
eine Vereinfachung der Bewilligungspraxis sind drin-
gend notwendig. Die unter Milosevic auf nationaler
Ebene zentralisierte Planungshoheit soll an die Provin-
zen und Gemeinden zurückgegeben werden. In Belgrad
gibt es Vorstösse, das riesige eingemeindete Stadtgebiet
zu unterteilen und den Quartieren eine gewisse Pla-
nungsautonomie zu gewähren.
Zu einem Szenario «Legalisierung der Häuser gegen
Infrastrukturabgaben» wird ein grosser Teil der Hausbe-
sitzer vermutlich früher oder später Hand bieten, weil
die Legalisierung für sie eine grössere materielle Sicher-
heit bedeutet. Aber dieses Szenario, verbunden mit
Bürgerbeteiligungen bei der Infrastrukturplanung, be-
steht erst in den Köpfen einiger junger Planer. Unter
den Politikern gibt es nur wenige, die die Zusammen-
hänge zwischen Stadtentwicklung, infrastrukturellen
und sozialen Problemen und politischer Kultur über-
haupt erfassen. Für den schwachen und verschuldeten
Staat ist die informelle «Selbsthilfe» der Neusiedler im
Moment schlicht billiger als Obdachlosigkeit.
Auch die durch jahrelange nationalistische Politik ge-
schaffenen Verhältnisse stehen einer raschen Inangriff-
nahme des Problems im Weg. Mit der Wanderung von
ethnischen Gruppen – d. h. Wählern – wurde aktiv
Politik gemacht, und mancher Politiker profitiert nach
wie vor davon. Das Problem überhaupt einzugestehen
hiesse, die Klientelwirtschaft und die Verletzungen
rechtsstaatlicher Prinzipien in den letzten Jahren zuzu-
geben, anzuklagen und ändern zu wollen. Ein solches

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