10 Magazin  Reports 3.

2020  ∂

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enn wir Berliner jammern, muss man das
nicht so ernst nehmen; wir jammern ger-
ne. Wenn es jedoch um die ständig stei-
genden Wohnkosten in der Stadt geht, sind die Kla-
gen berechtigt: Um über 150 % sind die Preise für
Miet- und Eigentumswohnungen innerhalb von zehn
Jahren gestiegen. Gerade für Haushalte mit mittle-
ren und kleinen Einkommen ist das existenzbedro-
hend. Abgesehen von der hohen Nachfrage ist ein
Großteil der Probleme hausgemacht. 2001 riss der
Berliner Bankenskandal ein riesiges Finanzloch in
die sowieso schon leeren Stadtkassen. Zwar wurde
die hauptverantwortliche CDU wenig später abge-
wählt, jedoch saß die Stadt auf Risikokrediten in
hen Berliners complain, it’s not something to be
taken so seriously – we like to complain. But
when it comes to the steady rise in housing
costs in the city, our complaints are justified. Prices for
rented and owner-occupied apartments have risen by more
than 150 % in the last ten years. This is a threat to the exist-
ence of middle and low-income households in particular.
Apart from high demand, a big part of the problem is home-
made. In 2001, the Berlin banking scandal tore a huge fi-
nancial hole in the already empty city coffers. Although the
CDU, which was mainly responsible for the f­iasco, was soon
voted out of office, the city was left with unsecured loans in
the double-digit billion range. The following SPD/PDS sen-
ate sold off large chunks of public housing stock as a quick

Wohnen Living
in in
Berlin Berlin
Text: Florian Heilmeyer

Werner Huthmacher
Die Wohnungsfrage ist eine der drängendsten Probleme unserer Zeit. Wie ist die Situ-
ation in verschiedenen Städten weltweit? Unsere neue Essayserie beginnt mit Berlin.
Housing is one of the most urgent issues of our time. What is the housing situation like in
different cities around the world? Our new essay series launches with a look at Berlin.

Nicht nur farblich setzt Am Lokdepot not only

das Projekt Am Lok- sets a strong accent
depot einen starken in terms of colour.
zweistelliger Milliardenhöhe fest. Der folgende SPD/ Akzent. In drei Haus- Three building types
typen stapeln sich are stacked with un-
PDS-Senat verkaufte für die kurzfristige Kassensanie- ­unkonventionelle Woh- conventional apart-
rung städtische Wohnungen im großen Stil: Knapp nungen mit Indus­t rie­ ments with industrial
charme. charm.
100 000 Einheiten wurden innerhalb von zehn Jahren
privatisiert, dazu gehörte der Verkauf der GSW 2004
mit 65 000 und der Gehag 2005 mit 15 000 Wohnun- fix. Some 100,000 apartments were privatized within a dec-
gen. In diesen Paketen enthalten waren einige der ade, including the sale of housing companies GSW in 2004
architektonisch und sozial anspruchsvollsten Sied- with 65,000 units and Gehag in 2005 with 15,000 units.
lungen der öffent­lichen Hand: die Hufeisensiedlung, These were some of the most architecturally and socially
die Wohnstadt Carl Legien, die Waldsiedlung Zehlen- sophisticated public housing estates: ­Hufeisensiedlung,
dorf und weite Teile der Gropiusstadt. Zudem wurde Wohnstadt Carl Legien, Waldsiedlung Zehlendorf and large
der Verkauf städtischer Grundstücke energisch vor- parts of Gropiusstadt. The sale of municipal land was
angetrieben und der öffentliche Wohnungsbau fast ­vigorously ­pursued and public housing construction came
vollständig eingestellt. Die Folgen dieser Maßnah- to a near halt. The ­consequences of these measures are
men sind heute zu spüren. now being felt.
Wohnen in Berlin  Living in Berlin
In den letzten 15 Jahren blieb der Wohnungsneubau
weitgehend privaten Investoren überlassen. Die
Ergebnisse lassen sich heute rund um den Park am
Gleisdreieck, in den Gated Communities Marthashof
und Prenzlauer Gärten, im Diplomatenpark am Tier-
garten oder im Europaviertel nördlich des Haupt-
bahnhofs besichtigen: Leicht adipöse Häuser zeich-
nen die maximal möglichen Bauvolumen ihrer
Grundstücke nach. Kein Millimeter wird der Gestal-
tung geopfert, geschweige denn der Qualität des
öffentlichen Raums. Die Gebäude sind allesamt
monofunktional, steril, hochpreisig und meist in Pas-
tellfarben gestrichen. Vielleicht lässt sich einmal –
mit einigen Jahren Abstand – von einem spätkapita-
listischen Wohnungswirtschaftsfunktionalismus
sprechen, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts sei-
nen Höhepunkt in Berlin feierte.
Stadt selber machen
Interessante Wohnungsbauten hingegen muss man
suchen. Sie sind meist in Marktnischen entstanden,
wie etwa das Projekt Am Lokdepot (220 Wohnungen
in 16 Häusern von Robertneun Architekten, 2018).
Auf dem Grundstück an den Bahngleisen war
eigentlich ein Gewerbegebiet vorgesehen, doch die
Architekten erkannten das Potenzial zum Wohnen
und entwickelten ein kraftvolles Gebäudeensemble
aus modularen Wohnbauten auf einem gewerblich
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Over the last 15 years, residential construction has been
largely left to private investors. Today, the results can be
seen around at Gleisdreieck Park, in the gated communities
of Marthashof or Prenzlauer Gärten, in the Diplomats’ Park
at Tiergarten, or in Europaviertel north of the central station –
where bloated buildings fill the maximum volume their plots
allow. Not a millimetre is sacrificed to design, let alone the
quality of public space. The structures are monofunctional,
sterile, expensive and mostly painted in pastel colours. Per-
haps in a few years’ time, these structures will be seen as
examples of late-capitalist functionalism in housing, which
celebrated its peak in Berlin in the early 21st century.
Make your own city
Interesting residential buildings are hard to find; most were
created in market niches, such as Am Lokdepot (220 units in
16 buildings by Robertneun Architekten, 2018). The site by
the railway tracks was originally intended as a commercial
area, but the architects saw its housing potential and devel-
oped a powerful ensemble of modular apartment buildings
with a ground-floor layer of commercial space. And across
the street from the Jewish Museum is the site of Berlin’s first
conceptual housing process, where plots were awarded, not
to the highest bidder, but to the best design concept. The re-
sult: several socially and functionally mixed, architecturally
sophisticated buildings. These include Ibeb (by Heide &
von Beckerath and Ifau), a building combining larger and
studio apartments that are both privately financed and
12 Magazin  Reports
genutzten Sockel. Oder gegenüber vom Jüdischen
Museum, wo mehrere Grundstücke in Berlins erstem
Konzeptverfahren nicht nach Höchstpreis, sondern
nach dem besten Entwurfskonzept vergeben wur-
den: Hier entstanden mehrere sozial und funktional
gemischte, architektonisch anspruchsvolle Gebäude
wie zum Beispiel das Wohn- und Atelierhaus Ibeb
(von Heide & von Beckerath und Ifau, 2018), einer
Mischung aus frei finanzierten und genossenschaft­
lichen Wohnungen mit einer großzügigen Rue Intéri-
eure als Erschließung. Das Verfahren konnte bewei-
sen, dass es für eine Stadt durchaus Sinn macht,
nicht immer nur nach dem Geld zu entscheiden. Lei-
der haben steigende Grundstückspreise die Auswei-
tung der Konzeptverfahren verhindert.
So wie auch die große Zeit der Baugruppen
wieder vorbei ist. In dieser Nische sind einige der
konstruktiv, sozial, ökonomisch, ökologisch und
auch architektonisch interessantesten Wohnungs-
bauten vor allem für Mittelstandsfamilien entstanden:
Das Projekt Oderberger Straße 56 etwa (BARarchi-
tekten, 2010) vereint originelle Wohnungstypen auf
einem Restgrundstück, das Wohnhaus e3 (Kaden
Klingbeil, 2008) gehört mit seinen sieben Geschos-
sen zu den höchsten Holzbauten Europas, das
Genossenschaftsprojekt Spreefeld legt Wert auf
öffent­liche Nutzungen in den Erdgeschosszonen
(Carpaneto Schöningh, Fatkoehl und BARarchitek-
Ute Zscharnt
ten, 2014). Aber als man gerade dachte, dass bald
die ganze Stadt in Selbstorganisation entstehen
würde, da erreichten die Grundstückspreise solche
Höhen, dass Baugruppen kaum noch zu finanzieren
sind.
Wie geht es weiter?
Die Nachfrage wird hoch bleiben, die Prognosen
sagen vier Millionen Einwohner bis 2030 voraus.
­Private Investoren drängen derzeit zu Hochhäusern.
Nach dem schon fast vergessenen Masterplan am
Alexanderplatz (Timmermann und Kollhoff, 1993)
sollen nun drei 150 m hohe Wohnhochhäuser von
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­ ooperatively-owned, with a generous Corbusian “rue in-
c
térieure” indoor access ­corridor. The process shows the
benefits to a city when decisions are not based on money
alone. But rising land prices have kept the city from a more
widespread adoption of this approach to housing concepts.
This marks an end to the great era of co-housing
­p rojects. In this niche, some of the most forward-thinking
residential buildings have been built from a socio-eco-
nomic, ­e cological and architectural standpoint, especially
Kein Millimeter wird der Gestaltung
­geopfert, geschweige denn der
­Qualität des öffentlichen Raums. 
­Not a ­millimetre is sacrificed to design,
let alone the quality of public space.
for ­middle-class families. These include Oderberger
Strasse 56 (BARarchitekten, 2010), which combines origi-
nal apartment types on a leftover plot of land; e3 (Kaden
Klingbeil, 2008), which with its seven floors is one of the
tallest timber buildings in Europe; and the Spreefeld
co-op, which prioritizes public use in the ground floor
zones (Carpaneto Schöningh, Fatkoehl and BARarchitek-
ten, 2014). Just when people started thinking that the
An der Planung des
Projekts Spreefeld
­waren auch die Be-
wohner beteiligt. Ge-
meinschaftliche Nut-
zungen waren ihnen
ebenso wichtig wie
­öffentlich zugängliche
Freiflächen.
The Spreefeld project
involved its future resi-
dents in the planning.
Having common areas
was equally important
as having publically
­a ccessible space.
whole city could be built through self-styled organization,
land prices skyrocketed, making co-housing projects
practically impossible to finance.
Where do we go from here?
Demand for housing in Berlin remains high, with four mil-
lion inhabitants predicted by 2030. Private investors are
currently pushing for high-rise buildings. Following a
nearly forgotten master plan at Alexanderplatz (Timmer-
mann and Kollhoff, 1993), three 150 m high residential
towers are to be built by Frank Gehry, Ortner+Ortner and
Sauerbruch Hutton. Two former office towers (Postbank
and Steglitz Kreisel) are being converted into apartments.
Wohnen in Berlin  Living in Berlin
Frank Gehry, Ortner+Ortner und Sauerbruch Hutton
entstehen. Mit dem Postbank-Hochhaus und dem
Steglitzer Kreisel werden außerdem zwei Bürohoch-
häuser zu Wohnungen umgebaut.
Seit dem Antritt des rot-rot-grünen Senats 2016
hat es eine politische 180-Grad-Wende gegeben:
Grundstücke werden möglichst keine mehr verkauft,
Wohnungen wieder in städtischen Besitz zurückge-
holt. Und die Wohnungsgesellschaften bauen wie-
der, allerdings mit Zeit-, Personal- und Geldmangel.
Die Zukunft des Wohnens in Berlin wird sich bei den
großen städtischen Entwicklungsprojekten wie dem
Dragonerareal in Kreuzberg, dem Haus der Statistik
in Mitte oder dem Quartier am Molkenmarkt ent-
scheiden. Vor den nördlichen Stadttoren hat sich
eine gewaltige Initiative gebildet, die die Bürgerstadt
Buch mit 30 000 bis 40 000 Wohnungen – vorrangig
von städtischen Gesellschaften, Genossenschaften
und Baugruppen – zum Ziel hat. Am Anhalter Bahn-
hof plant der Investor Thomas Bestgen einen 100 m
hohen vertikalen Kiez, eine Wohnscheibe mit öffentli-
cher Dachterrasse und einer sozial gemischten Nut-
zerschaft, die an den Planungen beteiligt werden
soll. Vielleicht ist das die Zukunft des Wohnens in
Berlin: die partizipativen Konzepte einer selbstorga-
nisierten Stadt mit Unterstützung von guten Investo-
ren, Wohnungsbaugesellschaften und Genossen-
schaften einfach größer denken.
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In 2016, the left-leaning SPD-Green-Left Party coalition
signalled a 180° political turnaround: wherever possible,
property is no longer being sold off and housing is being
returned to public ownership. Public housing companies
are building again – but are faced with a lack of time, per-
sonnel and money. The future of living in Berlin will be de-
cided by major urban development projects such as the
Dragonerareal in Kreuzberg, Haus der Statistik in Mitte
and the Molkenmarkt Quartier. In the city’s north, a citi-
zens’ initiative is calling for a new quarter with 30,000 to
40,000 apartments (called Bürgerstadt Buch) to be devel-
oped mainly by public housing companies, housing
­associations and co-housing groups. At Anhalter Bahn-
hof, investor Thomas Bestgen is planning a 100 m high
“vertical neighbourhood”, a residential tower with a public
roof terrace and a social mix of users who are to be in-
volved in the planning.
Perhaps this is the future of housing in Berlin: that
the idea of a self-organized city with citizen participation –
supported by good investors, public housing companies,
and cooperatives – should simply be envisaged on a
larger scale.
FLORIAN HEILMEYER mäßig für Zeitschriften and writer. He lives and
ist Architekturkritiker, in Deutschland, Euro- works mainly in Berlin
Journalist und Autor. pa und den USA. and writes regularly for
Er lebt und arbeitet ­s everal magazines in
hauptsächlich in Ber- FLORIAN HEILMEYER Germany, Europe and
lin und schreibt regel- is an architecture critic the USA.